Schuld ist nur das Publikum - Georg Markus - E-Book

Schuld ist nur das Publikum E-Book

Georg Markus

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Beschreibung

Georg Markus blickt hinter die Kulissen: -Die großen Theaterdynastien -Wer war der erste Schauspieler? -Theaterskandale -Künstlerportraits und Begegnungen mit den bedeutendsten Schauspielern der Jahrhunderts -Heiteres und Ernstes vom Theater und seinen Stars -Pointen aus dem Kabarett -Das Geheimnis des Ifflandrings -u. v. m.

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GEORG MARKUS

Schuld ist nurdas Publikum

Geschichtenaus dem Theater

Vorderes Schutzumschlag-Motiv: Charlotte Wolter als Messalina in »Arria und Messalina« von Adolf Wilbrandt, Burgtheater 1874

© 1994 by Amaltheain der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH,Wien · München · BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Bernd und Christel Kaselow, München, unterVerwendung eines Fotos des Österreichischen Theatermuseums, WienHerstellung und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger& Karl Schaumann GmbH, HeimstettenGesetzt aus der 10,5/14 Punkt Simoncini GaramondDruck und Bindung: Wiener Verlag, HimbergPrinted in Austria 1994ISBN 3-85002-360-5eISBN 978-3-902998-48-4

Inhalt

BERUF: SCHAUSPIELER

Von der Steinzeit nach Hollywood

Wer war der erste Schauspieler?

Schauspieler und Tiere sind verboten!

»Ich bitte Sie, um Himmels willen, lachen Sie über mich!«

DYNASTIEN

Hörbiger/Wessely/Thimig/Degischer/Reinhardt/Albach-Retty/Romy Schneider…

Wer mit wem?

Tante Hilda greift ein: Rosa Albach-Retty

Er hat für uns gespielt: Paul Hörbiger

»Was ich bin, verdanke ich der Paula«: Attila Hörbiger

Die Wessely erzählt aus ihrem Leben

»Komme sofort, habe Frau für Dich gefunden«: Die Thimigs

HINTER DEN KULISSEN

Intrigen, Skandale, Verhandlungen, Pointen, Liebesg’schichten

»Mich hätten Sie sehen sollen«

»Ich habe mich entschlossen, mein Amt in ältere Hände zu legen«: Ernst Haeusserman

Der Herr Inspektor und der Opernstar: Ljuba Welitsch

»Ein Theater hat noch nie jemandem den Krieg erklärt«: Theaterskandale

Der Theatermacher: Robert Jungbluth

Figaros Freizeit

MUSIKALISCHES

Echte und falsche Entdeckungen

Brahms lag im Papierkorb

Joseph Haydn dreht sich im Grab um

Das »Weiße Rößl« ist nicht am Wolfgangsee

Richard Strauss und Marcel Prawys Köchin

NEUES ALTES VOM THEATER

Wiener Institutionen und ihre Helden

»Ein verpatzter Bahnhof«: Die Staatsoper

»Alles gerettet!« Der Brand des Ringtheaters

Jongleure, Feuerschlucker und andere Sensationen: Das Ronacher

»Du wirst doch nicht auch auf mich hereinfallen«: Die Großen des Burgtheaters

Vom Wirtshaustisch in den Theaterhimmel: Wiens Theater in der Josefstadt

ÜBER UND UM MAX REINHARDT

Ein Genie schreibt Theatergeschichte

Der Zauberer des Theaters

Jedermann ist Jedermann

GROSSE NAMEN

Schauspieler-Porträts

Alexander Girardi, Naturereignis

Vergessen wir einmal den Kaiser: Die Schratt

»Wie nehm’ ma’n denn?«: Hans Moser

Schauspieler und Renaissancefürst: Curd Jürgens

Der teuerste Ring der Welt: Josef Meinrad

IM KABARETT DARF AUCH GEWEINT WERDEN

Ernstes und Heiteres .

Schau’n Sie sich den an: Karl Farkas

Besuch beim Sohn von Karl Farkas

»In einem kleinen Café in Hernals«: Hermann Leopoldi

Er hätte so gerne gelacht: Maxi Böhm

Wir sitzen in der Eden und reden …… über den Qualtinger

KEIN NACHWORT …

… sondern ein Gespräch mit einem Schauspieler

»Theater stinkt!« Otto Schenk über seinen Beruf

QUELLENVERZEICHNIS

BERUF: SCHAUSPIELER

Von der Steinzeit nach Hollywood

Wer war der erste Schauspieler?

Vom Steinzeit-Mimen zum römischen Theater-Sklaven

Fasziniert hat dieser Beruf immer schon. Ob zu den Urzeiten des Menschen, da Tanz und Grimasse Ausdruck der Fruchtbarkeit waren, ob im klassischen Altertum oder gar erst in unseren Tagen, da die Schauspieler zu Idolen wurden. Der soziale Aufstieg ihrer Profession ist unvergleichlich: Im alten Rom noch Sklaven, im Mittelalter mit dem Teufel im Bunde, versteckte man auch vor hundert Jahren noch »die Wäsch’«, wenn die Komödianten kamen. Heute hingegen wird jede Gelegenheit, an ihrer Seite gesehen und fotografiert zu werden, genützt, auch und vor allem von den Spitzen des Staates. Fast ist man versucht zu sagen: Hielten sich die Könige einst Hofnarren, so hält sich so mancher Hofnarr heute seinen König. Ein Hofnarr hat es gar selbst zum König gebracht: der Westerndarsteller Ronald Reagan, als er 1980 Präsident der Vereinigten Staaten wurde.

Wer aber war der erste Schauspieler auf Erden? Vielleicht Adam, als er Eva das Paradies vorspielte. Natürlich, der Spieltrieb steckt in jedem Menschen, wir aber wollen uns hier mit den Profis, mit jenen, die das Spiel zu ihrem Beruf, oft auch zu ihrer Berufung, gemacht haben, beschäftigen.

Der Ur-Schauspieler – Vorfahr von Laurence Olivier, Elisabeth Bergner, Oskar Werner – lebte vor 50 000 Jahren, am Ende der Altsteinzeit. Diese frühen Mimen standen auf keiner Bühne, ihr Spiel inmitten ihrer Stammesbrüder diente vielmehr ganz profanen Zwecken: Im Tanz vermittelten sie der jeweils jüngeren Generation zwei lebenswichtige Erfahrungen: wie man sich Nahrung beschafft und wie man sich – fortpflanzt! Die ersten Schauspieler waren also Lehrer für Jagd und Sexualkunde. Wie die späteren Romeo- und-Julia-Darsteller spielten sie ihrem Publikum die Liebe vor, wenn auch mehr auf das Körperliche als auf das Seelische konzentriert.

Mit seinem phallischen Spiel, zusammengesetzt aus Bewegung, Urlaut und Grimasse, feierte der Steinzeitmensch aber auch die alljährliche Erneuerung der Natur, und er meldete bei den Göttern den Wunsch nach Regen an.

Im dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung wurde die Mimik dann musikalisch untermalt. Bei Ausgrabungen in Mesopotamien fand man Harfen, Flöten und Schalmeien, die aus dieser Zeit stammen. Auf Felszeichnungen zeigten sich die Mimen mit Rentier- und Wolfsköpfen.

Ernste Szenen wurden zur Auflockerung der sich über Tage und Wochen hinziehenden »Vorstellungen« von Spaßmachern unterbrochen, die zum Gaudium des Publikums etwa darstellten, wie sich eine Frau mit einem Mann entfernt, worauf sich der von ihr Gehörnte aus Rache mit einer anderen amüsiert.

Doch wahre Schauspielkunst konnte sich erst mit dem Entstehen der Schriftzeichen entfalten. Waren die frühen Mimen ausschließlich auf ihr Improvisationstalent angewiesen, so schuf die sich im griechischen Altertum neu etablierende Berufsgruppe der Schriftsteller die literarischen Voraussetzungen, um aus vormals kultischen Handlungen Kunstwerke entstehen zu lassen. Die Dichter Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes verhalfen mit ihren Tragödien und Komödien dem Theater zu seinen ersten Höhepunkten. Die Geburtsstunde des Schriftstellers wurde somit auch zur eigentlichen Geburtsstunde des Schauspielers (wobei gerade in den Anfängen viele Autoren die Interpreten ihrer eigenen Werke waren).

Im wesentlichen war das Spiel der griechischen Mimen – vorerst in Chorszenen, später dann auch als Einzeldarsteller – auf zwei Schauplätze beschränkt: das idealisierte Bild der Götter auf der einen Seite und der Alltag der Bürger auf der anderen. Sie charakterisierten Figuren wie den Arzt, den Koch, den Bauern, den Matrosen, den Dieb, den Sklaven, die Kupplerin oder die Hebamme. Die männlichen Darsteller traten nach wie vor mit einem übermächtigen Phallus aus Leder auf, weiters mit dickem Wanst und feistem Hinterteil.

Der wohl bekannteste Name eines altgriechischen Schauspielers ist Thespis, der um 530 v. Chr. lebte und – zu Ehren des Fruchtbarkeitsgottes Dionysos – die erste Tragödie aufführte. In seinen Anfängen angeblich mit einem Wagen (»Thespiskarren«) für eine Art Wanderbühne unterwegs, erhielt er später in Athen ein festes, vom Staat bezahltes Engagement, bei dem er oft – durch Masken unkenntlich gemacht – in drei verschiedenen Rollen hintereinander auftrat.

Freilich mußte Thespis seine Verse eher brüllen als sprechen, faßte doch das riesige Rund des oben offenen Dionysostheaters bis zu 17 000 Zuschauer. Am alten Tanzplatz an der Akropolis gelegen, war die Bühne von Holzgerüsten umgeben, auf denen das Publikum Platz nahm. Als die Sitzreihen bei diversen Vorstellungen mehrmals zusammenbrachen und unter den Zuschauern immer wieder Opfer zu beklagen waren, wurden sie durch steinerne Traversen verstärkt.

Waren die hellenischen Dramen bis zum fünften vorchristlichen Jahrhundert nur bei obszönen Gelagen, auf Märkten und Dorfplätzen aufgeführt worden, so wurden sie etwa hundert Jahre später erstmals auch an den vornehmen, ja sogar an königlichen Höfen gezeigt. Ab diesem Zeitpunkt gab es in Athen auch die ersten Sprechschulen.

Um einen Schritt weiter gingen die Akteure in Rom, die sich bereits zu kleinen Spielgruppen vereinigten, denen ein Direktor – der Archimimus – vorstand. Die Römer waren die ersten, die ohne Masken auftraten. Sie führten also das Mienenspiel ein – und hatten auch ihre »Stars«: von Roscius, Pylades und Bathyllos wird berichtet, daß sie prinzipiell nur Hauptrollen spielten. Es gab Schauspieler, die sich eigene Sklaven hielten, deren Aufgabe es war, zufällig vorbeikommende Passanten durch Zuruf darüber aufzuklären, wer ihnen sogleich begegnen würde.

Doch im Gegensatz zu ihren »Kollegen« in Athen, wo Schauspieler angesehene, vom Kriegsdienst befreite und auch sonst privilegierte Mitbürger waren, gehörte das Heer der römischen Mimen, so sie nicht als »Stars« eine Sonderstellung hatten, dem niedrigsten sozialen Status an. Der Großteil war unfrei – es gab nicht wenige römische Edelmänner, die sehr gut von den Einkünften leben konnten, die ihnen ihre Schauspieler-Sklaven abliefern mußten.

Vielfach hing deren Ansehen auch von den Launen und Interessen des jeweiligen Herrschers ab: Während es Kaiser Tiberius seinen Senatoren untersagte, Schauspieler in ihrem Haus zu besuchen, war Caligula den Mimen sehr gewogen. Nero, der die Komödie liebte, ließ einen Schauspieler hinrichten, weil er in ihm einen Nebenbuhler sah. Prinzipiell war es in allen Epochen des Römischen Reiches erlaubt, einen Schauspieler, der eine Dame verführt hatte, zu töten.

Die Gliederung in einzelne Sparten ist beim römischen Theater schon fortgeschritten. Da ist der Liebhaber, dann der – meist mit kahlem Schädel, Mütze, übergroßen Ohren und pausbäckigem Gesicht – auftretende Narr, der für seine tölpelhaften Streiche mit Maulschellen belohnt wird. Und die ungetreue Ehefrau. Männer zeigten mit erigiertem Penis, daß das Triebhafte nach wie vor im Vordergrund, auch des theatralischen Lebens, stand. Frauen wurden in Rom erstmals auch von Frauen verkörpert. Cicero schreibt von der schönen Mimin Dionysia, »ihr Spiel habe ihr jährlich 200 000 Sesterzen eingebracht«. Die weiblichen Schauspieler trugen prunkvolle Gewänder oder geschickt gebundene Umhängetücher, die ihre Reize kaum verhüllten.

Da die Miminnen zu den schönsten Frauen Roms zählten, waren sie bei den Herrschern überaus begehrt. Eine von ihnen war Cytheris, der man ganz außergewöhnliche Verführungskünste nachsagte. Einst als Sklavin freigelassen, soll sie ein luxuriöses Leben geführt haben, das von Marc Anton finanziert wurde. Sie hatte den großen Feldherrn derart in ihren Bann gezogen, daß er sogar eine Diskussion über sein Verhältnis mit der Schauspielerin in aller Öffentlichkeit zuließ.

Die größte »Karriere« freilich machte die Akteurin Theodora, Tochter eines Bärenwärters im Zirkus, deren Darstellungskünste ebenso witzig wie schamlos waren. Um 520 n. Chr. wurde sie die Gattin Justinians, der als glanzvollster Kaiser des byzantinischen Reichs in die Geschichte einging. Die Rachsucht der ebenso klugen wie grausamen einstigen Mimin war im Volk überaus gefürchtet.

Doch auch Frauen wurden nur selten akzeptiert, die meisten waren nicht »gesellschaftsfähig«. So war es Bäckern verboten, eine Schauspielerin zu heiraten, zumal diese als Dirnen galten. Und ein Senator, dem eine Schauspielerin ein Kind gebar, durfte dieses nicht für legitim erklären.

Schauspieler und Tiere sind verboten!

Die Verfolgung eines Berufsstandes

Durch das Vordringen römischer Legionen nach Norden lernten auch die Germanen das Mimentum kennen. Römische Gaukler gelangten in Begleitung der Truppen über den Rhein und fanden in deutschen Landen ein dankbares Publikum. Es waren vor allem freigelassene und entlaufene Gladiatoren, die in der Fremde ihr Glück suchten, sich mit den germanischen Volkssängern vermischten. Das antike Theater freilich, die Dichter und deren Stücke, gerieten mit dem Untergang des weströmischen Reiches vorerst in Vergessenheit.

Das muntere Völkchen der Possenreißer indes zog musizierend, mimend und tanzend durch die deutschen Lande und fristete ein karges Leben. Die Spielleute, Minnesänger, Troubadoure, Buffones waren nicht nur die Unterhalter, sondern auch die »Journalisten« des frühen Mittelalters, da sie Kriegsereignisse, Moritaten und andere Geschehnisse besangen und so zu den einzigen Informationsträgern der Bevölkerung wurden. Vornehme Haushalte hielten es für ihre Pflicht, Gäste während des Mahls durch Künstler unterhalten zu lassen, wogegen wiederum Priester von der Kanzel herab heftig polemisierten, Schauspieler zu »Genossen des Teufels« erklärten. Das Konzil zu Aachen befahl im Jahre 816 den Geistlichen, »Festlichkeiten, zum Beispiel Hochzeitsfeiern an fürstlichem Hofe, sofort zu verlassen, sobald Gaukler und Spielleute auftreten«. Eine andere Verordnung verbietet Bischöfen, Äbten und Äbtissinnen, sich »Possenreißer, Falken und Habichte zu halten«.

Schauspieler, in einem Atemzug mit Tieren genannt, waren im Mittelalter rechtlos, gehörten keinem Stande an, galten als unehrliche Leute. Welch großer Schritt von hier zu den Stars des 20. Jahrhunderts, die sich dem sie anhimmelnden Publikum in ihren Villen mit Swimmingpool und goldener Badewanne, im Rolls-Royce und im Privatjet präsentieren. Die mittelalterlichen Gaukler parodierten in übertriebener, grober und obszöner Form Berufsstände, traten in passender Verkleidung als Richter, Quacksalber, Ritter, Bettler, Mönche oder Nonnen auf. Sie zogen von Haus zu Haus, stellten auf Straßen und öffentlichen Plätzen Gerüste auf, von wo aus sie, lebhaft gestikulierend, ihre Texte deklamierten. Nur die meist sehr primitive Grundhandlung stand vor Beginn der Aufführung fest, Monologe und Dialoge wurden improvisiert.

Wurde das Theater lange Zeit von der Kirche bekämpft, so war gerade sie es, die im 11. und 12. Jahrhundert der Schauspielkunst zu neuer Blüte verhalf. Ursprünglich nur von Geistlichen und Klosterschülern vorgetragen, wurde das Mysterienspiel bald auch zur künstlerischen Heimat religiöser Laien. Mit dem Wachstum der Städte in dieser Zeit und dem Aufblühen eines neuen Bürgertums, insbesondere der Handwerker, konnten die ersten Mimen seßhaft werden.

Die Texte wurden jetzt immer weniger gesungen, wurden realitätsbezogener. Man unterschied Haupt- und Nebenrollen, schrieb den Inhalt der Szenen nieder, führte Proben ein. Ab dem 13. Jahrhundert erhielten die ersten Gaukler staatliche »Gnadengeschenke« als Spielhonorar, etwa zweihundert Jahre später standen einige bereits im Solde einer Stadt. Das Bürgerrecht freilich hatten sie noch immer nicht.

Die Lieder, Fastnachtsspiele, Tragödien und Komödien des Nürnberger Schuhmachers und Meistersingers Hans Sachs (1494 bis 1576) bilden den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Sie wurden von verschiedenen Truppen, deren Interpreten in ihren Zivilberufen Bürstenbinder, Schneider, Kürschner, Glaser oder Bäcker waren, in geräumigen Privathäusern, Klöstern und Gasthaussälen, meist ohne Dekoration, aufgeführt. Wenn die Darstellung sagenumwobener Gestalten wie Odysseus, Tantalus oder Fortunatus durch die Handwerker auch oft unfreiwilliger Komik nicht entbehrte, trug sie doch viel zur Popularisierung des Theaters beim Stadtbürgertum bei. Ob sie Väter oder jugendliche Liebhaber spielten, ob Anstandsdamen oder Naturburschen, die »Meistersinger« agierten in allen Rollen im gleichen Tonfall, mit den gleichen Gesten und Gebärden.

Wirklich professionell wurde das Theaterspielen neuerlich in Italien, wo – etwa zur selben Zeit – die Commedia dell’arte entstand. Die in der Renaissance wiederentdeckten Inhalte der Antike wurden mit aktuellen Themen aufgefrischt und von maskierten Stegreifspielern dargestellt. »Signori comici sono arrivati!« rief ein Mitglied der Theatergesellschaft aus und schlug auf die Trommel, um für die abendliche Vorstellung im Palazzo der Stadt, in der Osteria oder einer zur Bühne umfunktionierten Jahrmarktbude zu werben. Ihm folgten mit ohrenbetäubendem Lärm die schönsten Künstlerinnen und andere Mitglieder der Truppe.

Zum ersten Mal nach tausend Jahren erlangten die Komödianten sowohl in der Bevölkerung als auch bei Hof wieder eine gewisse Form der Anerkennung. Tourneen führten sie durch Europa, sie spielten in London, Paris, Dresden, Prag, Wien. Im norditalienischen Ferrara entstand um 1530 das erste öffentliche Theater.

Francesco Andreini, 1548 in Mantua geboren, war einer der berühmtesten Vertreter der Commedia dell’arte. Er erfand den »Capitano Spavento della Val d’Inferno«, dessen mörderische Abenteuer das Publikum ebenso begeisterten wie die von ihm kreierte Figur des sizilianischen Dottore. Andere schufen den venezianischen Kaufmann Pantalone, die Diener Arlecchino und Truffaldino, das verführerische Dienstmädchen Colombina, Juristen, Philosophen, diverse Liebespaare, Bauernlümmel und Plebejer, die allesamt bald zu den ständig auftretenden Typen der Commedia dell’arte wurden.

Ein legendärer Commedia-Darsteller war auch der Neapolitaner Tiberio Fiorelli, der sich Scaramuccio nannte und mit seiner Frau, der Schauspielerin Marinetta, zahlreiche Tourneen unternahm. Der Herzog von Toskana schenkte dem populären Ehepaar einen prächtigen Landsitz. Als sich Marinetta auf diesen zurückzog, reiste Tiberio Fiorelli ohne sie von einem Engagement ins andere. Bereits sechzigjährig, verliebte er sich in die Soubrette Anna Doffan, die ihm 1673 einen Sohn gebar. Mit zweiundsiebzig erlag er der erotischen Ausstrahlung der 22jährigen Pariser Grisette Marie Duval, die – nach dem Tod Marinettas – seine zweite Frau und auch Mutter eines weiteren Kindes wurde. Marie machte dem alternden Commedia-Star die letzten Jahre seines Lebens zur Hölle, bestahl und verprügelte ihn, setzte ihm Hörner auf, die, nach ihrer eigenen Aussage vor Gericht, »so hoch wie die beiden Türme von Notre-Dame« waren. Tiberio Fiorelli, der einst gefeierte Scaramuccio, starb achtundachtzigjährig. Selbst das zügellose Leben mancher Comici dell’arte spielte jetzt keine Rolle mehr, sie bildeten einen anerkannten Berufsstand, dessen hervorragende Vertreter an königlichen Höfen und vor dem Kaiser in Wien gastierten oder als Hofnarren sogar fest angestellt waren.

Die Entfaltungsmöglichkeiten des Schauspielers waren letztlich immer abhängig von den Dichtern ihrer Zeit und ihrer Sprachregion. Goldoni in Italien, Lope de Vega in Spanien, Shakespeare in England, Molière in Frankreich, Goethe in Deutschland und Grillparzer in Österreich schufen unsterbliche Meisterwerke, die den Schauspielern die Grundlagen ihrer Kunst lieferten.

Shakespeare, 1564 in Stratford-on-Avon als Sohn eines Handschuhmachers geborenes Universalgenie, war Dichter und Schauspieler. Er selbst wies seine Kollegen Taylor und Lowin, die als erste seinen Hamlet und seinen Heinrich VIII. verkörperten, in ihre Rollen ein. Die Leseproben fanden im Wirtshaus statt, die Aufführungen in dem von seiner Truppe gegründeten Globe Theatre in London. Die Zeit der Commedia dell’arte und ihre Stegreifspiele gehörte der Vergangenheit an, Shakespeares realistische Figuren eroberten die Bühnen in aller Welt.

Anfangs freilich ohne jeden literarischen Anspruch. Die Kunde von Shakespeares Dramen sprach sich unter den Theaterleuten anderer Länder zwar schnell herum, doch sollten seine Texte noch lange nicht über den Kanal gelangen. So wurden die Inhalte von Romeo und Julia, König Richard III., Der Kaufmann von Venedig, Ein Sommernachtstraum oder Was ihr wollt in freiem Spiel und ohne Nennung des Autors »nachempfunden«, unter anderen auch von der Truppe des berühmten »Kursächsischen Hofkomödianten« Magister Johannes Velten. Es muß schrecklich gewesen sein!

Dafür kann Velten (1640 bis 1693), der »Stammvater der deutschen Berufsschauspieler«, für sich das Verdienst in Anspruch nehmen, als erster Molière in korrekter Übersetzung auf deutschen Bühnen aufgeführt zu haben. Er war es auch, der Frauenrollen ausschließlich von Frauen interpretieren ließ (was damals noch gar nicht selbstverständlich war). Freilich saß er auch an der Quelle: Seine Ehefrau und deren Schwester gehörten dem Ensemble an.

Als Othello im 18. Jahrhundert dann in der ersten deutschen Übersetzung des Originals aufgeführt wurde, fielen die Hamburgerinnen reihenweise in Ohnmacht, und König Lears Flüche, die auf seine Töchter niederprasselten, verursachten mehrere Fehlgeburten. Man mußte sich mit der neuen Form der dramatischen Kunst erst vertraut machen.

»Ich bitte Sie, um Himmels willen,lachen Sie über mich!«

Warum das Publikum schuld ist

Sechsundzwanzig Jahre alt war er damals, der Herr von Goethe, als er in Weimar eine Dilettantenbühne gründete, die sich bald zur Wirkungsstätte von Berufs- und Hofschauspielern entwickeltn sollte. Herr von Schiller unterstützte ihn als Dramaturg, wobei die Dichterfürsten gegenseitig die Werke des jeweils anderen inszenierten.

Während der Generalprobe von Shakespeares Macbeth in der Bearbeitung von Schiller müssen die beiden Herren feststellen, daß Heinrich Voß, der Darsteller der Titelrolle, seinen Text mehr als mangelhaft beherrscht. Während Goethe zornig aus seiner Loge »Der Mann kann ja kein Wort von seinem Text« brüllt, versucht Schiller einzulenken. Überraschenderweise geht die Premiere anderntags, man schreibt den 14. Mai 1800, gut über die Bühne, worauf Schiller zu seinem Regisseur Anton Genast sagt: »Sehen Sie, Genast, ich habe recht gehabt. Er hat zwar ganz andere Verse gesprochen, als ich geschrieben habe, aber er ist vortrefflich!«

Goethe ließ seinen treuen Helfer Johann Peter Eckermann später in 91 Paragraphen »Regeln für Schauspieler« niederschreiben, in denen er auf die Beherrschung der Sprache und der Bewegung (§ 1) ebensolchen Wert legt wie auf »gesteigerte Rezitation« (§ 20) und »Körperhaltung: Brust herausgekehrt, die obere Hälfte der Arme bis an die Ellbogen etwas an den Leib geschlossen« (§ 37). Um schließlich zusammenzufassen: »Alle diese technischgrammatischen Vorschriften mache man sich zu eigen nach ihrem Sinne und übe sie stets aus, daß sie zur Gewohnheit werden. Das Steife muß verschwinden und die Regel nur die geheime Grundlinie des lebendigen Handelns werden.« Wer gegen Goethes Regeln verstieß, mußte in Weimar mit drakonischen Strafen rechnen. Bei Zuwiderhandeln gab es für Schauspieler Stubenarrest, dessen Einhaltung von einer vor der Haustüre postierten Schildwache überprüft wurde!

Naturgemäß ist die Schauspielkunst in jeder Generation neuen Strömungen unterworfen. Einst zählte es zu den edelsten Pflichten des Mimen, sich »durch Verleugnen des eigenen Ichs« der Kunst des Dichters zu unterwerfen. Für den Komödianten und Theaterdirektor Friedrich Haase galt vor hundert Jahren als Kennzeichen des guten Schauspielers, »so weit hinter der Rolle verborgen zu bleiben, daß man oft minutenlang den Spieler nicht erkennt«. Und der Burgschauspieler Josef Lewinsky meinte am Beginn unseres Jahrhunderts: »Wir dürfen nie vergessen, daß wir nur die Diener der Dichter sind, deren Gestalten wir darzustellen haben!«

Ganz anders Max Reinhardt, fündfundzwanzig Jahre später: »Das Heil kann nur vom Schauspieler kommen, denn ihm und keinem anderen gehört das Theater.«

Daß die Stimmen Albert Bassermanns oder Alexander Moissis, auf Platte konserviert, in ihrem übertriebenen Pathos heute schwer verständlich sind, ist nicht deren »Schuld«, sondern liegt an den Strömungen ihrer und unserer Zeit. Lebte Josef Kainz heute, wäre er selbstverständlich modern, knapper, sachlicher, schlichter, würde er »unsere Sprache sprechen«.

»Die Probe hat angefangen«, soll ein Inspizient des alten Burgtheaters einmal gesagt haben, »und schon wird unnatürlich geredet.« Heute wird an Schauspielschulen gelehrt: »Man deklamiert nicht, man rezitiert nicht – man spricht!«

Wien hatte sein erstes »Comödi-Haus« bereits 1651 in der Himmelpfortgasse (auf dem Platz, an dem das Winterpalais des Prinzen Eugen, das heutige Finanzministerium, steht), weitere »Ballhäuser« am Franziskanerplatz und in der Teinfaltstraße folgten. Sie alle waren sehr unsicher gebaut, so daß sich die Stadt Wien 1708 entschloß, am Kärntnertor einen richtigen Theaterbau für Komödianten zu errichten. Josef Anton Stranitzky war sein erster Schauspieler und Prinzipal, dessen berühmte Maxime lautete: »Die Bühne ist so heilig wie der Altar, die Probe wie die Sakristei.«

Weniger »heilig« waren die lasziven Stegreifburlesken, die er aufführte. In die Geschichte der Schauspielkunst ging der von ihm geschaffene Hanswurst ein, der seine Wurzeln im Harlekin der Commedia dell’arte hat. War Stranitzkys Hanswurst noch eine bäuerliche Volkstype, so wurde diese unter seinem Schüler und Nachfolger Gottfried Prehauser zutiefst wienerisch. Seit 1752 in Wien das Extemporieren staatlich verboten wurde – offensichtlich weil man der »frechen« Schauspieler überdrüssig war –, mußten Bühnentexte Wort für Wort niedergeschrieben und von der Zensur »abgenommen« werden. In den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts wurden das Theater in der Leopoldstadt, das Theater an der Wien und das Theater in der Josefstadt gegründet, an denen die Wiener Lokalposse entstehen konnte. Ferdinand Raimund und Johann Nestroy waren deren wichtigste Schöpfer und Interpreten. Im Mittelpunkt ihrer Stücke – typisch wienerisch: der Komiker.

Apropos: In der Hierarchie des Theaters gibt es den Ersten und den Zweiten Helden, die Intriganten und jugendlichen Liebhaber, den Bösewicht, die Bonvivants, Offiziere und Aristokraten, die Mütter, Salondamen und Töchter, die Soubrette und die Naive . . ., die allesamt mit unterschiedlichem Status agieren. Vielfach unterschätzt wird aber der Komiker – manchmal gar despektierlich als Vertreter des »Charleytantismus« bezeichnet. Und das, obwohl gerade sein Geschäft, das Publikum zum Lachen zu bringen, zum schwierigsten gehört. »Hanswurst« Prehauser warf sich, als das Publikum am Kärntnertor einmal auf seine Scherze nicht reagierte, auf die Knie und flehte es inständig an: »Ich bitte Sie, um Himmels willen, lachen Sie über mich!« Von einem anderen Komiker, der nicht ankam, sind die Worte überliefert: »Herrschaften, lacht’s bitte. Es hat doch alles so viel gekostet!«

Sind Schauspieler »nur« reproduzierende Künstler oder – wie die Dichter – nicht auch produzierende? Immerhin steht fest, daß der Mime die vom Dichter erfundenen Figuren in seiner Interpretation neu schafft. Wenn drei Schauspieler den Hamlet spielen, dann bringen sie drei grundverschiedene Hamlets auf die Bühne. Oder, wie der dichtende Physiker Georg Christoph Lichtenberg es formulierte: »Wer gut nachahmen kann, ahmt nicht nach!«

In einem Streitgespräch versuchten Josef Kainz und der Schriftsteller Leo Feld (der uns diesen Dialog hinterlassen hat) dieser Frage nachzugehen.

KAINZ: »Die Schauspielkunst ist die edelste Kunst, sie arbeitet mit dem edelsten Instrument, mit dem Menschen!«

FELD: »Der Schauspieler ist an das Wort gebunden, daher ist seine Kunst eine unfreie Kunst.«

KAINZ: »Der Dichter ist auch unfrei. Er ist an die Natur gebunden.«

FELD: »Sie sind ungerecht! Glauben Sie wirklich, daß das Gehirn des Mephisto-Darstellers und das des Mephisto-Dichters gleichwertig sind?«

KAINZ: (springt auf, rennt durchs Zimmer, schreit): »Das ist die interessanteste Frage, die jemals an mich gerichtet wurde. Nehmen Sie meinen Carlos. Der ist mein Persönlichstes, mein Eigenstes, die Rolle, in der ich mich ganz fühle. Also: wenn man eine Gestalt so erlebt und so lebendig macht, alle Äderchen und alle Fäserchen, alle Übergänge und alle Zusammenhänge – die der Dichter gar nicht angedeutet hat –, und wenn der Mensch dann so dasteht, so überzeugend, so zwingend, darf ich dann nicht sagen, daß sich mein Carlos neben den des Dichters stellen darf? Daß in ihm so viel schöpferische Kraft frei geworden ist wie in der Gestalt des Dichters?«

Der Schriftsteller wagte nicht zu widersprechen. Nicht, weil Kainz ihn überzeugt hätte, sondern weil er »die schöne Emphase eines großen Künstlers nicht stören wollte«. Klar in der nie enden wollenden Auseinandersetzung zwischen Dichter und Schauspieler ist nur, wer von den beiden früher da war; das erkannte schon ein Zeitgenosse des im 18. Jahrhundert wirkenden großen Shakespeare-Interpreten David Garrick, als er diesen Zweizeiler verfaßte:

Die Dichter sind der Mimen Väter,

Shakespeare kam erst, Garrick später.

Gerade in der Zeit, als David Garrick in dem von ihm geleiteten Londoner Drury Lane Theatre eine epochale Shakespeare-Renaissance einleitete, erhielt auch Wien ein Bühnenhaus, das bald zum bedeutendsten im deutschsprachigen Raum werden sollte: das 1776 von Kaiser Joseph II. gegründete Hof-Burgtheater.

Der »kleine Mann« freilich kam dort nie hin, er sah nichts anderes als Schmierenkomödianten – Schauspieler, die von einem Dorf zum anderen zogen, in Schuppen und Wirtshäusern auftraten, ehe sie sich, so genügend Talent vorhanden, in die viel angesehenere »Provinz« oder gar in ein städtisches Theater hochspielten. Die soziale Stellung des »fahrenden Volkes« (das eigentlich ein »gehendes« war) beleuchtet eine Episode um Emanuel Schikaneder, der in seinen jungen Jahren bei einer Wanderbühne war:

In der Nähe von Krain bat der spätere Librettist der Zauberflöte nach stundenlangem Fußmarsch, schwitzend und zum Umfallen erschöpft, auf dem Feld arbeitende Bauern um einen Krug Wasser, den man ihm und seinen Kollegen auch reichte. Als kurz danach heftig einsetzender Hagelschlag das Getreide vernichtete, glaubten die Bauern, das Gewitter sei die Strafe Gottes dafür, daß sie »den Komödianten« geholfen hatten. Sie liefen ihnen nach, griffen sie mit ihren Sensen und Heugabeln an, wobei mehrere Mitglieder der Truppe verletzt wurden.

So tief unten im gesellschaftlichen Leben standen die Schauspieler, daß man sich vor einem Kontakt mit ihnen fürchten mußte!

Der berühmteste aller Schmierenkomödianten hat nie gelebt – und doch gab es ihn tausendfach: »Wissen Sie denn überhaupt, was ’ne Schmiere ist?« fragt der sächsische Theaterprinzipal Emanuel Striese in dem Schwank Der Raub der Sabinerinnen. »Ja, ich gebe zu, wir ziehen von eenem Ort zum anderen und meine Schauspieler kriegen fast keene Gage, aber dafür leisten sie mehr als manche Hofschauspieler! Mein erster Heldendarsteller, der früher Schneider war, der macht Ihnen aus ’nem Bettlerkleid ’ne römische Toga, daß Sie keen’ Unterschied merken. Meine Frau kocht für das ganze Ensemble. Magenschmerzen kuriert unser Beleuchter, der früher Apotheker war . . . Und wie anhänglich mir die Leute sind. Meine jugendliche Naive, die bereits achtzehn Jahre bei mir engagiert ist, die legt Ihnen noch heute ’n Gretchen hin, daß der Faust ihr ’n Kind machen muß, ob er will oder nicht. Und der Gute ist auch keen Jüngling mehr, das können Sie mir glauben. Sehen Sie, das wird an eener Schmiere geleistet!«

Immerhin haben Josef Kainz, Werner Krauß, Emil Jannings und Hans Moser auf dieser untersten Stufe des Theaterbetriebs begonnen.

War einst am Theater, auch auf den großen Bühnen, vieles dem Zufall überlassen, so stieg in unseren Tagen der Regisseur aufs Podest, um jeden Schritt, jeden Ton, jede Träne, jedes Lächeln präziser denn je zu kalkulieren. Zum Vergleich: Dauerten die Proben im vorigen Jahrhundert, in der Ära des Burgtheaterdirektors Heinrich Laube, sechs bis acht Tage, so probiert man heute bis zu drei Monaten, ehe man sich an die Premiere heranwagt. Es war Max Reinhardt, der diese Revolution am Theater einleitete.

Was Reinhardt für die deutschsprachige Bühne, das ist Stanislawski für Rußlands Theaterkunst. Der Schauspieler Konstantin Stanislawski (1863 bis 1938) gründete das Moskauer Künstlertheater, dessen Ensemble er als autoritärer Regisseur führte. Er inszenierte Tschechow, Gorki und Turgenjew, wobei es ihm darum ging, daß seine Schauspieler so wirklichkeitsgetreu wie nur irgend möglich »in der Rolle leben«.

Eine Episode macht seine Arbeitsweise deutlich: eine Schauspielschülerin soll Erwartung, Ungeduld, Spannung zeigen. Sie beginnt heftig zu spielen, läuft aufgeregt herum, mimt Verzweiflung, gibt sich große Mühe – und es wird nichts.

Stanislawski schüttelt den Kopf: »Moment mal, ich gebe Ihnen eine andere Aufgabe.« Er nimmt sein Notizbuch aus der Tasche, blättert, sucht. Die junge Schauspielerin steht – wartend – daneben.

»Großartig«, sagt Stanislawski, »jetzt waren Sie gut.«

»Aber ich habe doch gar nichts gemacht.«

»Eben darum. Jetzt haben Sie wirklich gewartet. Halten Sie diesen Ausdruck bitte fest.«

Film und Fernsehen gaben dem Schauspieler des 20. Jahrhunderts ein neues Betätigungsfeld. Dabei war es vorerst verpönt, »für den Kintopp« zu arbeiten. Werner Krauß genierte sich für seinen ersten Film dermaßen, daß er sich einen Bart anklebte, »damit mich der Reinhardt nicht erkennt, wenn er ins Kino geht«. Der war damals auf den Film auch wirklich schlecht zu sprechen. Als Anfang der zwanziger Jahre etliche Theater zusperren mußten, machte Reinhardt – neben Krieg und Wirtschaftskrise – auch das Kino und die »untreuen« Schauspieler dafür verantwortlich: »Durch alle Risse des schwankenden Gebäudes dringt der Film mit seinen materiellen Lockungen und verführt selbst die besten Elemente. Sie verkaufen ihre Seele um viel schmutziges Papier und haben nicht einmal Zeit, den Besitz zu genießen. Sie weisen die größten Rollen zurück, sie verlassen die Proben und kommen abends vollkommen erschöpft und übermüdet zu den Vorstellungen, wenn sie überhaupt kommen.«

Inzwischen haben Film und Theater zwei Kategorien geschaffen, nur in seltenen Fällen agieren Schauspieler da wie dort.

Viele Namen, für alle Zeiten mit der Geschichte des Theaters und des Schauspielerberufs verbunden, wären noch zu nennen. Lessing, Ibsen, Gerhart Hauptmann, Strindberg, Wedekind und Bert Brecht; die Duse, Gustaf Gründgens und Therese Giehse; Piscator und Leopold Lindtberg; Thomas Bernhard, Wolfgang Bauer, Peter Handke . . . – Dichter, Regisseure, Schauspieler, Kostüm- und Bühnenbildner, Dramaturgen, Kritiker – sie alle machen das Theater aus. Nur sie?

Ach ja, richtig, das Publikum ist auch noch da. Ohne Publikum geht’s am Theater nicht.

Oder doch?

Bayerns Ludwig II. ließ für sich Separatvorstellungen ansetzen. Das Haus war leer, der König saß allein in seiner Loge. Die Schauspieler agierten nur für ihn. Sie sprachen ihren Text, wie an den anderen Abenden auch. Dieselben Akteure, dieselben Worte, dieselben Kostüme und Kulissen, alles war wie immer. Und doch: die Mitwirkenden hinterließen uns, daß ihre Stimmen kläglich dahinschmolzen, daß ihre Bewegungen abbrachen, die Gebärden ausdruckslos im Nichts zerflatterten. Ihren Aktionen fehlte Leben. Die dunkle, menschenleere Höhle, in deren Abgrund sie blickten, verbreitete Kälte, ließ sie erschauern. Sie sprachen ihren Text, aber sie fühlten ihn nicht. Ohne Publikum geht’s nicht, ohne Publikum kann man nicht spielen.

Schuld ist nur das Publikum.

DYNASTIEN

Hörbiger/Wessely/Thimig/Degischer/Reinhardt/Albach-Retty/Romy Schneider. . .

Wer mit wem?

Wiens Schauspieler sind (fast) alle miteinander verwandt

Wien ist keine Theaterstadt, Wien ist eine Schauspielerstadt. Geht man in Berlin ins Deutsche Theater, in Hamburg ins Thalia Theater, in München ins Residenztheater, so schaut man sich in Wien den Lohner, den Voss, die Dene, den Schenk an. Egal, ob die gerade an der »Burg«, in der »Josefstadt« oder sonstwo spielen. Ja sicher, Stück, Regisseur und Bühnenbild sind auch interessant. Aber wirklich wichtig ist der Star.

Kein Wunder, ist diese Stadt doch viele Generationen lang reicher an Stars gewesen als irgendeine andere. Für Nachwuchs sorgte man in den eigenen Reihen. Denn ein Großteil der Publikumslieblinge ist irgendwie miteinander verwandt-verschwägert-verheiratet (oder voneinander geschieden).

Spricht man von einer Schauspielerdynastie, meint man in erster Linie die Hörbigers. Eine wahrhaft legendäre Dynastie. Bestehend aus Paul (1894 bis 1981), seinem Bruder Attila (1896 bis 1987), dessen Frau Paula Wessely (*1907). Und deren Töchter Elisabeth Orth, Christiane und Maresa Hörbiger stehen heute ebenso in der ersten Reihe des deutschsprachigen Theaters wie einst ihre Eltern.

In Paula Wesselys Burgtheatergarderobe hing einst das Bildnis einer schönen jungen Frau, der »Tant’ Josefin«. Auch Josefine Wessely (1860 bis 1887) – die Schwester ihres Vaters – zählte zu jenen Künstlern, die dem alten Burgtheater zu Weltruhm verhalfen.

Die Hörbiger-Theaterfamilie ist noch größer. Angeheiratete Mitglieder waren der verstorbene Burgschauspieler Hanns Obonya – Elisabeth Orths Ehemann. Der Regisseur Wolfgang Glück – der erste Mann von Christiane Hörbiger. Und der Burgschauspieler Dieter Witting – in erster Ehe verheiratet mit Maresa Hörbiger. Auch der Nachwuchs strebt zur Bühne: Pauls Enkelsohn Christian Tramitz ist Schauspieler in Deutschland, Christiane Hörbigers Sohn Sascha Bigler ist Regisseur, Elisabeth Orths Sohn Cornelius Obonya ist als Schauspieler in Deutschland und Österreich bereits etabliert. Und Maresa Hörbigers Sohn Manuel Witting will ebenfalls zur Bühne.

Es geht noch weiter: Durch Heirat/Scheidung sind die Hörbigers auch mit anderen Wiener Bühnendynastien »verbandelt«: Paul Hörbigers Ehefrau Pippa war selbst Schauspielerin und ist die Tochter des Raimundtheater-Direktors Ernst Gettke. Pauls Tochter Christl – auch sie spielte einst am Burgtheater – ist mit dem Antiquitätenhändler Bibi Ptack verheiratet. Dessen erste Frau wiederum war Susi Nicoletti. Womit wir bei einem weiteren Clan angelangt wären.

In zweiter Ehe war die Nicoletti, eine andere Große des Burgtheaters, mit Ernst Haeusserman (1916 bis 1984) verheiratet. Dieser wiederum zählte als Sohn des Burgschauspielers Reinhold Häussermann (1884 bis 1947) und als Direktor sowohl der Burg als auch der Josefstadt viele Jahre zu den Drahtziehern des Wiener Theaterlebens. Vor seiner Ehe mit Susi Nicoletti war Ernst Haeusserman mit Hansi Lothar, der Tochter des ehemaligen Josefstadt-Direktors Ernst Lothar (1890 bis 1974), verheiratet, der später wiederum Ehemann der Schauspielerin Adrienne Gessner (1896 bis 1987) wurde. Zusammengefaßt gehörten Hörbiger/Wessely/Nicoletti/Haeusserman/Gessner, wenn auch zum Teil auf sehr verschlungenen Wegen, demselben Clan an. Der freilich teilweise untereinander dermaßen zerstritten war, daß man nur auf der Bühne miteinander verkehrte.

Ernst Haeusserman begann seine Karriere als Sekretär Max Reinhardts. Doch der gehört schon wieder zur nächsten Dynastie: Die Bedeutung der Familie Thimig ist für Wiens Bühnenleben ähnlich groß wie die der Hörbigers. Hugo Thimig (1854 bis 1944), der Gründer des Theaterclans, war fünf Jahre Direktor des Burgtheaters. Wie er haben auch seine Kinder Helene (1889 bis 1974), Hermann (1890 bis 1982) und Hans (1900 bis 1991) Theatergeschichte gemacht.

Hermann Thimigs Frau war Vilma Degischer (1911 bis 1992), die jahrzehntelang die Grande Dame des Theaters in der Josefstadt war. Auch deren Tochter Johanna ist Schauspielerin.

Helene Thimig war mit Max Reinhardt, dem wohl bedeutendsten Theatermann des Jahrhunderts, verheiratet. Er war von 1924 bis 1935 Direktor des Theaters in der Josefstadt.

Apropos Josefstadt: Zum Ensemble dieses Theaters gehörte eine Zeitlang Wolf Albach-Retty (1906 bis 1967), der vor allem an der Burg und im Film Karriere machte. Der Sohn der legendären Hofschauspielerin Rosa Albach-Retty (1874 bis 1980) war in erster Ehe mit Magda Schneider (*1909) und in zweiter mit der Schauspielerin Trude Marlen verheiratet. Ehefrau Nummer eins schenkte ihm Tochter Romy Schneider (1938 bis 1982), Österreichs berühmteste Filmschauspielerin.

»Verbandelt« war man in Theaterkreisen immer schon. Von dem berühmten Burgschauspieler Carl La Roche (1794 bis 1884) hieß es, er wäre ein natürlicher Sohn Goethes. Ferdinand Raimund (1790 bis 1836) war mit der Schauspielerin Luise Gleich verheiratet. Und Johann Nestroy (1801 bis 1862) schloß Bühnenverträge nur unter der Bedingung ab, daß auch seine langjährige Lebensgefährtin, die Schauspielerin Marie Weiler, engagiert würde.