Die Enkel der Tante Jolesch - Georg Markus - E-Book

Die Enkel der Tante Jolesch E-Book

Georg Markus

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Beschreibung

Es gibt sie, Die Enkel der Tante Jolesch. Georg Markus lernte sie kennen und schrieb ihre besten Aussprüche und Anekdoten nieder, die den unvergessenen Geschichten Friedrich Torbergs in ihrem Witz und Esprit um nichts nachstehen. Die Nachfahren der Tante Jolesch wurden berühmte Schauspieler, Kabarettisten, Ärzte, Anwälte, Musiker und Schriftsteller - oder namenlose Käuze, die die Kunst der geistvollen Pointe ebenso beherrschen. Friedrich Torberg hat mit der "Tante Jolesch" auf einzigartige Weise den "Untergang des Abendlandes in Anekdoten" geschildert. Georg Markus lernte die Enkel kennen, die der Tante Jolesch und ihren Zeitgenossen an Witz und Esprit um nichts nachstehen: Die Enkel der Tante Jolesch sind Originale, die Krieg und Emigration überlebt hatten und berühmte Schauspieler, Kabarettisten, Musiker, Anwälte und Schriftsteller wurden. Aber auch unbekannte Typen, die man in der "Eden" oder in Wiener Cafés treffen konnte. Anhand geistvoller Anekdoten und Ausprüche dieser Generation zeichnet Georg Markus die Atmosphäre und den Humor der Nachkriegszeit bis zum Ende des 20. Jahrhunderts nach.

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GEORGMARKUS

Die Enkel der

Tante Jolesch

1. Auflage September 20012. Auflage November 20013. Auflage Dezember 20014. Auflage Dezember 20015. Auflage Januar 20026. Auflage Februar 2002

© 2001 by Amaltheain der F. A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH,Wien · MünchenAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Wolfgang Heinzel, MünchenUmschlagillustration: Paul FassoldHerstellung und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger& Karl Schaumann GmbH, HeimstettenGesetzt aus der 12,5/17 Punkt GoudyDruck: Jos. C. Huber, DießenBinden: R. Oldenbourg, HeimstettenPrinted in GermanyISBN 3-85002-466-0eISBN 978-3-902998-51-4

Für Daniela

INHALT

ZUM GELEIT

»NICHT VOM LANGLEBIGEN TEIL DER FAMILIE«

Meine Tante Jolesch heißt Flora

»DES TEUFERLS GENERAL«

Torberg, Weigel & Co

»BIS DER BUB IN PENSION GEHEN KANN«

Die Nachfolger des Dr. Sperber

»WAS VERLANGST DU VON MIR BESES, BRUDER?«

Farkas, Bronner, Qualtinger & Co

»NENNEN WIR ES NEUWERTIG«

Geschichten von Käuzen und Originalen

»DA BLIEB DEM AUGE DES GESETZESVOR SCHRECK DER MUND OFFEN«

Redaktionelle Belange

»DER ZWEITLÄSTIGSTE TAPEZIERER«

Theaterstammtische

»WAS HEISST SCHLAPFEN AUF ENGLISCH?«

Politik am Rande

»DAS STÜCK HAT KA GARDEROBER G’SCHRIEBEN«

Schauspieler und ihre Marotten

»WENN ICH DIE EINZI ZUR WITWE HÄTT«

Musikalische Zwischentöne

»IM WINTER VERGISST ER, DASS ES KALT IST«

Der Prawy

»HALLO, HIER OTTO!«

Geschichten aus adeligen Häusern

»ICH SPIEL NUR PÄPSTE«

Von Emigranten und Heimkehrern

»KEIN MASSAKER OHNE HACKER«

Die Seelenforscher in unserer Zeit

»SEHR GEEHRTER HERR KRAUS!«

Ein Brief, der um einhalbes Jahrhundert zu spät kam

ZUM GELEIT

Zwei- oder dreimal bin ich ihm begegnet, dem großen Friedrich Torberg. Es war in seinen letzten Lebensjahren, er war Ende sechzig, ich Mitte zwanzig. Da saß er also, der Kronzeuge einer untergegangenen Epoche, in der er Giganten wie Karl Kraus, Franz Molnár, Anton Kuh und Egon Friedell nahe stand. Und ich daneben, ein junger Reporter, der gar nicht erfassen konnte, wer sein Gegenüber eigentlich war.

»Ich gehe nicht mehr ins Kaffeehaus«, sagte Torberg, »denn es gibt kein Kaffeehaus mehr.«

»Es gibt kein Kaffeehaus?«, wagte ich leise Zweifel anzumelden, zumal unser Gespräch an einem runden Marmortisch im Café Landtmann neben dem Burgtheater in Wien stattfand.

»Ja, ja, es gibt Lokale, in denen man Kaffee ausschenkt«, erklärte er, nahm einen Schluck vom Großen Braunen und zog fast gleichzeitig an seiner Zigarette. »Es gibt noch solche Lokale. Aber das, was ich einmal unter einem Kaffeehaus verstanden habe, das gibt es nicht mehr.«

Torberg sprach von der Spezies jener Literatencafés, die tatsächlich 1938, mit dem Einmarsch der Nazis in Österreich, ihrer Stammgäste und damit auch ihrer Funktion beraubt worden waren. Er sprach vom Café Reichsrat, vom Colosseum, vom Herrenhof und dem Central. Von jenen Cafés, deren »Bewohner« (wie Alfred Polgar die darin tätigen Literaten nannte) zu den Hauptdarstellern seiner »Tante Jolesch« zählten.

Torberg hatte mit diesem Buch aber auch zahllosen anderen Typen und Käuzen – berühmten und unbekannten –, denen er in den Jahren zwischen dem Untergang der Monarchie und dem »Anschluss« an Hitlerdeutschland begegnet war, ein unvergleichliches Denkmal gesetzt.

»Dienstag, 11. Mai 1976«, stand, als ich mit Torberg im Landtmann saß, auf den Tagesblättern, die auf den hölzernen Zeitungsständern des ehrwürdigen Ringstraßencafés hingen. Er erzählte mir auch von dem Plan, seiner im Jahr davor veröffentlichten »Tante Jolesch« einen zweiten Band folgen zu lassen. »Die Erben der Tante Jolesch« sollte er heißen – und er ist dann tatsächlich unter diesem Titel erschienen. Denn als er die fertige »Tante Jolesch« in Händen hielt, erklärte mir Torberg, sei ihm immer wieder etwas eingefallen: »Um Gottes willen, damals hat ja der Friedell gesagt …«

Abgesehen von den Erinnerungen an die wenigen persönlichen Begegnungen bin ich im Besitz einer Ansichtskarte, die Torberg mir von der Frankfurter Buchmesse 1973 schickte, auf der sich nur ein paar Dankesworte für einen über ihn veröffentlichten Artikel finden. Und doch habe ich die Karte aufgehoben, enthält sie doch die Handschrift eines von mir Verehrten, der mit der »Tante Jolesch« ein »Buch der Wehmut« geschrieben hat. Ein Buch der Wehmut, in dem man von der ersten bis zur letzten Seite lächeln und sehr oft auch lachen kann.

Zur Berechtigung – oder nennen wir’s lieber: Frechheit –, die »Tante Jolesch« um einen dritten Teil zu erweitern, hinterlässt uns Friedrich Torberg auf Seite 275 der »Erben« einen Satz, den er im Anschluss an eine Schwejk’sche Geschichte, ganz in der Diktion von Jaroslav Hašeks »Bravem Soldaten«, formulierte: »Wenn ich jetzt nicht bald Schluss mache, bleibt mir noch übrig auf eine dritte ›Tante Jolesch‹.«

Die Worte zeigen, dass Torberg einen dritten Band nicht ausschloss. Dieser sollte ihm und uns nicht vergönnt sein, denn er starb 1979, wenige Monate nach dem Erscheinen der »Erben«.

Hatte er im ersten Band von den Originalen und dem jüdischen Bürgertum des versinkenden Kaiserreichs und der Ersten Republik – um die Zeit ganz grob zu umreißen – erzählt, so ist der zweite um deren Töchter und Söhne erweitert, die emigriert waren oder hier dem Tod entkamen. »Die Erben«, das waren Max Reinhardt und die Werbezirk, Alma Mahler-Werfel und Armin Berg, man findet aber auch Geschichten, die ebensogut im ersten Teil hätten stehen können, Torberg jedoch erst später einfielen.

Fest steht, dass uns die Tante Jolesch nicht nur »Erben« der ersten, sondern auch der zweiten Generation hinterlassen hat. Jene »Enkel« also, die einen grausamen Krieg und die Gaskammern der Nazis überlebten. Die es nach London, Shanghai, Genf, Buenos Aires oder Los Angeles verschlagen hatte. Und von denen viele, als der Spuk vorbei war, zurückkehrten und Österreich wieder aufzubauen halfen.

Da gab’s keine Köchinnen und keine Kinderfräuleins mehr, keinen Pferde-Omnibus und keine Gutshöfe der böhmischen Verwandtschaft, wie Torberg sie auf unnachahmliche Weise beschrieben hatte. Und es gab keinen Friedell und keinen Karl Kraus, keinen Anton Kuh und all die anderen, die Wien um jene heiter-besinnliche Atmosphäre jüdischen Geisteslebens bereichert hatten. Und das war auch der Grund, warum Torberg »Die Tante Jolesch« mit dem Untertitel »Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten« versehen hatte.

Teile dieses Abendlandes sind in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder auferstanden. Und von dieser Zeit – um auch sie wieder nur ganz grob zu umreißen – und ihren Originalen handelt dieses Buch. Bad Ischl, St. Gilgen, der Semmering, Reichenau, Baden, Vöslau, Gastein und Aussee wurden wieder Sommerfrischen, und Wien blieb wieder Wien (auch wenn ihm das, laut Hans Weigel, ganz recht geschieht). Ja, und da sind oder waren noch Karl Farkas und Hugo Wiener, Maxi Böhm, Ernst Waldbrunn, Helmut Qualtinger, Gerhard Bronner, Attila und Paul Hörbiger, Friedrich Hacker, Ernst Haeusserman, Billy Wilder, Marcel Prawy, Otto Schenk, Fritz Muliar und viele, viele andere, auch mit weniger klangvollen Namen, aber nicht minder ausgeprägtem Sinn für die Kunst des geistvollen Pointensetzens. Was sie uns diesbezüglich hinterließen – und ihre Erinnerungen reichen bis an den Beginn des Jahrhunderts zurück – darf nicht verloren gehen.

Darum hab ich’s jetzt niedergeschrieben, wissend, dass mir der eine oder andere die Anlehnung an Torbergs »Tante Jolesch« zum Vorwurf machen wird. Es ändert nichts daran, dass ich’s ewig schad fände, die Sprüche und Anekdoten ihrer Enkel und Urenkel in Vergessenheit geraten zu lassen.

Was immer uns die Tante Jolesch Zitierenswertes hinterlassen hat, ist längst sprichwörtlich geworden. »Was ein Mann schöner is wie ein Aff, is ein Luxus« ebenso wie »Ein Gast ist ein Tier« oder »Alle Städte sind gleich, nur Venedig is e bissele anders«. Und das, obwohl sie genau genommen gar nicht die Hauptdarstellerin der Torberg’schen Erinnerungen ist, sondern – wie er selbst es schreibt – »sozusagen die Gallionsfigur des Narrenschiffes ›Abendland‹, als es Kurs auf Untergang nahm«. Im Mittelpunkt seines Buches stehen ganz andere Käuze dieser Zeit, die Redakteure des »Prager Tagblatts«, Schauspieler, Schriftsteller, Kaffeehaus-Gäste und Oberkellner, Advokaten und Seelenärzte, Meisterschwimmer und Kartenspieler …

Torberg in jeder Weise treu bleibend, will ich den Ablauf ähnlich gestalten, und bei der mir bekannten Tante Jolesch beginnen, um später dann auf die Käuze und Originale unserer Zeit – seien sie berühmt geworden oder nicht – zu sprechen zu kommen.

Ich hatte das Glück, vielen von ihnen begegnet zu sein. Ihre Geschichten haben mein Leben bereichert. Ich hoffe, mit diesem Buch ein wenig von dieser Bereicherung weitergeben zu können.

GEORG MARKUSWien, im Juli 2001

»NICHT VOM LANGLEBIGENTEIL DER FAMILIE«

Meine Tante Jolesch heißt Flora

Torberg war der Tante Jolesch vermutlich nie begegnet, er verdankte die Kenntnis ihrer Existenz ihrem Neffen, den er als »Seiner Majestät schönster Leutnant« beschreibt. Ich hingegen bin »meiner« Tante Jolesch sehr wohl begegnet, mehr noch, sie war eine wirkliche Tante von mir. Meine Tante Jolesch hieß Flora, und sie war eine der beiden älteren Schwestern meiner Mutter.

Tante Flora hat dieser Welt in ihrem langen Leben einige Aussprüche hinterlassen, die die Tante Jolesch durchaus für sich reklamieren hätte können. Ehe ich sie zitiere, muss ich auf einen weiteren Verwandten, meinen Onkel Franz, zu sprechen kommen, der aus dem alten Österreich-Ungarn stammte, den Großteil seines Lebens aber in den USA verbracht hat. Onkel Franz machte in Hollywood unter dem Namen Francis Lederer eine beachtliche Karriere als Filmschauspieler – und hat dort im November 1999 in erstaunlicher Frische seinen 100. Geburtstag gefeiert.

Die ganze Familie sollte sich zu diesem besonderen Anlass in Los Angeles einfinden, weshalb die Vorbereitungen für das seltene Fest schon ein Jahr davor auf Hochtouren liefen. In einem eher frühen Stadium der Geburtstagsplanung informierte ich Tante Flora vom bevorstehenden Wiegenfest ihres Cousins.

Sie kommentierte das mit den Worten: »Was, der Franz wird hundert? Dabei ist er doch gar nicht vom langlebigen Teil unserer Familie!«

Hätte schon dieser Ausspruch der echten Tante Jolesch entstammen können, so ließ Tante Flora ein paar Tage später einen ihr nicht minder angemessenen folgen. Als Flora mich nämlich – sie selbst zählte stolze 97 Jahre – um die Adresse von Onkel Francis bat, weil sie ihm zu seinem runden Geburtstag gratulieren wollte, erwiderte ich: »Du hast noch Zeit, Tante Flora, sein hundertster Geburtstag wird erst im nächsten Jahr gefeiert.«

»Ah so, im nächsten Jahr«, überlegte die Tante Flora. »Na ja, da werde ich nicht mehr leben. Wenn du ihm dann gratulierst, lass ihn bitte schön grüßen von mir.«

Aufgrund der relativen Langlebigkeit (auch des »nicht langlebigen Teils«) meiner Familie habe und hatte ich außergewöhnlich viel Kontakt mit alten und sehr alten Menschen. Fasziniert hörte ich meinen Eltern, Großeltern, Tanten und Onkeln zu, wenn sie von gestern und vorgestern erzählten. Die Verbindung zu einer fernen Welt, der ich auf diese Weise recht nahe kam, sollte sich später für meinen Beruf und mein Leben als prägend erweisen.

Der Name Francis Lederer wurde in meiner Kindheit immer mit großer Ehrfurcht genannt. Wer hat schon einen Onkel, der ein richtiger Hollywoodstar ist? Als ich ihn in den späten fünfziger Jahren, als Kind noch, in Wien zum ersten Mal sah, schien er mir wie von einem anderen Stern gekommen. Ein berühmter Schauspieler, ein Bild von einem Mann, dem die Frauen zu Füßen lagen und dessen Cabriolet – was mich damals am meisten beeindruckte – mit elektrisch versenkbarem Dach vor dem Hotel Sacher parkte.

Erst später lernte ich ihn als liebenswürdigen Herrn der alten Schule kennen. Onkel Francis war 1899 als Franz Lederer in Prag zur Welt gekommen. Er ist für den Kaiser in den Weltkrieg gezogen und hat sich von frühester Jugend an fürs Theater begeistert. Die Sommermonate verbrachte der strahlende Jüngling im mährischen Städtchen Trebitsch, in dem seine (und meine) Familie lebte, aber auch die des späteren österreichischen Bundeskanzlers Bruno Kreisky.

»Als sich das Gerücht verbreitete, dass Franz Lederer nach Trebitsch komme, um dort seinen Urlaub zu verbringen«, schreibt Kreisky in seinen Memoiren, »hätte man meine sehr hübschen Cousinen am liebsten eingesperrt. Der Tag kam, er erschien, und es war wie aus einem Film. Er trug einen Strohhut, den berühmten Girardihut, einen karierten Anzug mit einer auffallenden Krawatte und schwarze Lackschuhe. Die Blicke der Frauen richteten sich nur noch auf ihn.«

Fast ebenso hübsch war Franz’ jüngerer Bruder Rudi, von dem erzählt wird, er sei als kleiner Bub mit seinem Kindermädchen durch den Stadtpark von Trebitsch spaziert. Ein Herr kam des Weges, brachte den Vierjährigen durch Grimassen zum Lachen und sagte dann zu der Gouvernante: »Was für ein schönes Kind!«

»Das ist noch gar nichts«, erwiderte die Erzieherin. »Da müssten Sie ihn erst einmal auf einer Fotografie sehen!«

Franz Lederer arbeitete in einem Prager Tuchwarengeschäft und verdiente sich abends als Statist am Deutschen Theater ein paar Kronen dazu, mit denen er seinen Sprechunterricht finanzierte. Um als Schauspieler ein Engagement zu erhalten, musste man damals einen Smoking besitzen, wovon natürlich keine Rede sein konnte. Also borgte er sich für seine erste Rolle bei einem Friseur eine weiße Jacke aus, die als Dinnerjacket zum Einsatz kam. Auf diese Weise startete Lederer seine Karriere, die ihn über Brünn, Breslau und Wien nach Berlin führte. Dort wurde er von Max Reinhardt entdeckt, in dessen legendärer Inszenierung er – neben Elisabeth Bergner als Julia – den Romeo spielte. Bald auch ein Star des deutschen Stummfilms, holte man ihn Mitte der dreißiger Jahre zuerst an den Broadway und dann nach Hollywood. Wo er in zahlreichen Liebhaberrollen Ikonen wie Ginger Rogers, Maureen O’Hara und Olivia de Havilland betörte.

Als ich zum Fest seines hundertsten Geburtstags nach Los Angeles kam, konnte ich einfach nicht glauben, was ich da erlebte. Francis war trotz seines biblischen Alters immer noch berufstätig: Er unterrichtete mit seinen hundert Jahren jeden Dienstagabend von sieben bis zehn in der »Academy of Performing Arts« eine Schauspielklasse. Nun fanden aus Anlass seines Geburtstags (an dem ich ihn tatsächlich von der mittlerweile verstorbenen Tante Flora »schön grüßen« lassen musste) zahllose Partys statt. Eine Woche lang wurde er als eine der letzten lebenden Legenden der alten Traumfabrik gefeiert, und Francis ließ keines der Feste aus, er war jedesmal bis in die späten Nachtstunden dabei und zeigte eine unglaubliche Kondition.

Dann kam der eigentliche Geburtstagsabend und damit die Hauptfeier. Francis war, wie wir alle übrigens, schon ein wenig ermattet, erhob sich aber dennoch, um die x-te Rede in dieser Woche zu halten. Einmal noch dankte er für die guten Wünsche und sprach darüber, dass er mit seinem Leben rundum zufrieden sei.

»Man müsste nur ein bisschen jünger sein«, sagte er und hob sein Glas. »So neunzig!«

Sein Vater und seine Großeltern hatten, sofern sie den Konzentrationslagern der Nazis entkommen waren, auf dem Jüdischen Friedhof in Prag ihre letzte Ruhestätte gefunden. Francis fuhr in seinen späten Jahren noch einmal zu ihren Gräbern, um sie restaurieren zu lassen. Lächelnd erzählte er mir von jener zweisprachigen Tafel auf dem Prager Friedhof, die beweist, wie schnell man in Tschechien nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die Prinzipien kapitalistischen Denkens erkannt hatte. War doch am Eingangstor des alten Jüdischen Friedhofs zu lesen:

»Vstup: 50 Koruni. Entrance: 100 Crowns.«*

Francis ist dann im Mai 2000 im 101. Lebensjahr in seinem Haus in Palm Springs ruhig entschlafen – er hat sich am Abend niedergelegt und ist nicht mehr aufgewacht.

Er hatte drei Jahrhunderte erlebt.

Ich bin überzeugt davon, dass ein Satz wie der vom »nicht langlebigen Teil unserer Familie« einer genetischen Vorbereitung bedarf. Und die hatte Tante Flora. Ihre Mutter – meine geliebte Großmama Ida (auch sie wurde 97 Jahre alt) – ist im bürgerlich-jüdischen Milieu des erwähnten Städtchens Trebitsch als eines von 16 Kindern aufgewachsen. Ihr Vater hatte eine »Kolonialwarenhandlung en gros und en detail«, der die »Erste Trebitscher Kaffeegroßbrennerei mit elektrischem Betrieb« angeschlossen war. Wenn er mit seiner riesigen Familie beim Mittagstisch in seinem Haus auf dem Trebitscher Karlsplatz saß und die Kinder ein paar Freunde mitgebracht hatten, fiel ihm das weiter gar nicht auf.

Das Leben einer aus achtzehn Personen plus Personal bestehenden Familie muss auch damals recht ungewöhnlich verlaufen sein. Mein Urgroßvater Leopold Ornstein, so erzählte man, sei während eines Spaziergangs durch Trebitsch einem kleinen Mädchen begegnet, das ihn höflich grüßte. Als er das Kind fragte »Wem gehörst du denn?«, soll er als Antwort erhalten haben:

»Na dir, Papa!«

Von Josephine Ornstein, meiner Urgroßmutter, wiederum ist überliefert, dass sie eines Tages per Bahn nach Wien fahren wollte. Sie ging – in jenen Tagen der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, als von den k. u. k. Staatsbahnen die ersten Expresszüge zwecks schnellerer Reiseverbindung eingeführt wurden – zum Bahnhof in Brünn, um eine Fahrkarte zu lösen.

»Wollen Sie express fahren?«, fragte der Beamte am Kartenschalter.

»Express«, wunderte sich die alte Dame, »was ist das?«

»Mit dem Expresszug kommen Sie schneller nach Wien. Wollen Sie also express fahren?«

»Nein«, entgegnete meine Urgroßmutter. Und lieferte dann noch die für die Frau eines jüdischen Geschäftsmannes logische Begründung nach:

»Für mei Geld möcht ich lange reisen.«

Ich bin natürlich nicht der Einzige, der über die eine oder andere Tante Jolesch verfügte. Viele hatten eine, und so mancher ist vielleicht in der glücklichen Lage, immer noch eine zu haben – was freilich, wie ich fürchte, die Ausnahme sein wird. Einer davon war der Schriftsteller und Kabarettist Hugo Wiener, mit dem ich in jungen Jahren einige Drehbücher verfasste, und den ich als ebenso klugen wie sympathischen alten Herrn in Erinnerung behalte.

Ich weiß nicht mehr, wie seine Tante hieß, aber ich habe mir eine von ihm erzählte Geschichte gemerkt, die uns berechtigt, ihr den Ehrentitel Jolesch zu verleihen.

Auch Hugo Wiener, dessen Vater als Pianist noch bei den legendären Soireen des Walzerkönigs Johann Strauß auftrat, hatte eine weit verzweigte Verwandtschaft. Zu dieser gehörte besagte Tante, deren hervorstechende Eigenschaft eine geradezu pathologische Sparsamkeit war.

Und so sagte sie zu ihrem kleinen Neffen Hugo, wann immer er auf Besuch kam, als erstes gleich: »Willst an Kakao, aber nein!«

Das Schöne an der Geschichte, die – wie manch andere – besser zu erzählen als niederzuschreiben ist, war das Tempo, in dem Hugo Wieners Tante Frage und Antwort zu verbinden wusste:

»Willst-an-Kakao-aber-nein« wurde von ihr als ein Wort gesprochen, damit dem Visavis nur ja keine Chance blieb, mit »Ja« zu antworten.

In Buchform nicht wiederzugeben ist auch die wegwerfende Handbewegung, mit der sie das »Aber-nein« optisch verdeutlichte.

Eine Tante Jolesch befand sich schließlich auch im Familienverband des unvergessenen Volksschauspielers Paul Hörbiger. Seine diesbezügliche Verwandte hieß Karoline und wurde mir von ihm als auffallend naive alte Dame beschrieben.

Als nun Soldaten der sowjetischen Besatzungsarmee 1945 plündernd durch Wien zogen und Tante Karolines Wohnung in Mauer stürmten, fiel ihnen als erstes deren goldene Armbanduhr auf. Sofort brüllten sie die Tante an: »Uhra, Uhra!«

Worauf diese ihrer ebenfalls anwesenden Schwester zurief:

»Leopoldine, die Herren Russen wollen wissen, wie spät es ist.«

Die meisten dieser Tanten verfügten über einen passenden Ehemann. Ein solcher mag Herr Georg Tintner – seines Zeichens Direktor eines großen Wiener Versicherungsinstituts – gewesen sein. Sein Urenkel Lucian O. Meysels erzählte mir, dass es zu Herrn Tintners strikt einzuhaltendem Lebensplan gehörte, einmal im Monat – was immer da kommen mochte – zu den Zusammenkünften seiner Freimaurerloge nach Preßburg zu fahren. Anders als zur Zeit der Kaiserin Maria Theresia – deren Mann Franz Stephan selbst einer Loge angehört hatte – war der Geheimbund in der Ära Kaiser Franz Josephs in der österreichischen Reichshälfte verboten, weshalb Wiens Freimaurer in die nächstgelegene Loge auswichen. Und die befand sich im damals ungarischen Preßburg, wohin Urgroßvater Tintner regelmäßig reiste, um an den obligaten Treffen der dortigen Vereinigung teilzunehmen. Vierzig Jahre lang, bis an sein Lebensende, nahm Herr Tintner Monat für Monat, mit eiserner Disziplin, die beschwerliche Fahrt nach Preßburg auf sich. Nichts, weder Krankheit noch Unwetter, konnte ihn davon abhalten.

Als er 1924 starb, schickte seine Witwe sämtlichen Mitgliedern der Preßburger Loge eine Parte, damit diese sich, möglichst vollzählig, beim Begräbnis ihres Mannes einfinden mögen.

Sie war dann sehr enttäuscht, dass kein einziger von ihnen nach Wien kam, zumal sie wusste, dass die Teilnahme an der Beisetzung eines Logenbruders zu den obersten Ehrenpflichten der Freimaurer gehört. Frau Tintner war dermaßen vergrämt, dass sie nach der Trauerfeier in Preßburg anrief, um nachzufragen, warum denn keiner gekommen sei, wo ihr Mann doch vierzig Jahre lang in vierwöchigem Rhythmus Frau und Kinder im Stich gelassen hatte, um seine Freunde in der Loge aufzusuchen.

Da teilte man der staunenden Witwe mit, dass ihr Mann niemals Mitglied der Preßburger Loge gewesen sei.

Wohin er vierzig Jahre lang einmal im Monat gefahren ist – das wird wohl für alle Zeiten ein Rätsel bleiben.

Zu Preßburg kommt mir ein Aperçu des großen Karl Farkas in den Sinn, dem wir in diesem Buch noch öfter begegnen werden.

Niemand sonst konnte wie er ein ihm zugerufenes Stichwort zu einer brillant gesetzten Pointe führen. Diese hier, scheinbar auf Preßburg bezogen, ging in Wahrheit weit über die Bedeutung des Städtchens am linken Donauufer hinaus. Schildert sie doch in wenigen Worten die politischen Irrwege eines ganzen Jahrhunderts:

»Ich hab einen Onkel gehabt«, sagte Farkas, »der ist in Österreich geboren, hat in Ungarn studiert, in der Tschechoslowakei gearbeitet und ist in Deutschland gestorben. Dabei ist er sein Leben lang nie aus Preßburg herausgekommen.«*

Zurück aber zu meiner Tante Flora, die ihre Tante-Jolesch-Qualitäten nicht nur von ihren Ahnen ererbt, sondern offensichtlich auch an ihre Nachfahren weiter gegeben hat – unter anderem an ihre Tochter Lise, die mit dem seinerzeit bekannten Maler Frederic Schiff verheiratet war. Lise zeigte mir einmal das Aquarell einer wunderschönen, spärlich bekleideten Frau, das ihr Mann in den fünfziger Jahren angefertigt hatte und erzählte mir die dazugehörende Geschichte:

Fred hatte den Akt in seinem Wiener Atelier gemalt und war nach Fertigstellung des Bildes mit dem Mädchen in ein Kaffeehaus gegangen. Lise tobte, als sie davon erfuhr, und machte ihrem Mann eine schreckliche Eifersuchtsszene.

»Aber, Liebling«, rechtfertigte er sich, »warum sollte ich nicht mit einer jungen Frau Kaffee trinken, die ich vorher zwei Stunden lang nackt gemalt habe?«

»Das ist etwas anderes«, schrie Lise mit Tränen erstickter Stimme. »Beim Kaffee war sie ja schon angezogen.«

Die Familienanekdote erinnert mich, wie manch andere, die das Leben schreibt, an einen Witz: Ein Maler küsst im Atelier sein junges, schönes Modell und hört plötzlich, wie der Schlüssel in der Eingangstür umgedreht wird. Da ruft er dem Mädchen zu:

»Schnell ausziehen! Meine Frau kommt.«

* Die Übersetzung aus dem Tschechischen lautet: »Eintritt: 50 Kronen«, die Übersetzung aus dem Englischen: »Eintritt: 100 Kronen«.

* Hätte der Onkel länger gelebt, wäre er auch noch Bürger der ČSSR und – nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – der Republik Slowakei geworden.

»DES TEUFERLS GENERAL«

Torberg, Weigel & Co

Friedrich Torberg hält sich in seinen Erinnerungen an die Tante Jolesch – die in Wahrheit auch seine eigenen sind – bescheiden im Hintergrund. Obwohl wir wissen, dass er im Umgang mit Freunden und Mitarbeitern überaus originell sein konnte. Lassen wir hier also Torberg durch seine eigene Schlagfertigkeit zu Wort kommen, in der er den von ihm zahlreich zitierten Kaffeehausliteraten um nichts nachstand. Der Karikaturist Rudolf Angerer erzählte mir von einer Autofahrt, die er einmal mit Torberg unternommen hatte. Als irgendwo in Währing, am Stadtrand von Wien, die Ampel »Rot« zeigte, mussten sie mit ihrem Wagen gezwungenermaßen stehen bleiben. Da schaute Torberg zum Fenster hinaus und entdeckte das Portal einer Süßwarenhandlung mit der Aufschrift »Zuckerl-Mayer«.

Worauf er trocken sagte: »Das ist der, der ›Des Teuferls General‹ geschrieben hat!«

Der solcherart minimierte Carl Zuckmayer zählte ebenso zu Torbergs Freundeskreis wie Thomas Mann, Fritz von Herzmanovsky-Orlando und Franz Werfel, denen er sich aufgrund des Erfolgs seines Erstlingswerks »Der Schüler Gerber hat absolviert« schon im Alter von 21 Jahren zugehörig fühlen durfte. Weit weniger Aufsehen erregte sein zweiter Roman »Die Mannschaft«, der – wie Torberg selbst bekannte – »für die Sportler zu g’scheit und für die G’scheiten zu sportlich« war.

Auch wenn seine Liebe zum Sport für viele im Gegensatz zum intellektuellen Anspruch des Dichters stand, blieb der athletisch gebaute Torberg lange als Schwimmer und Wasserballer (der in seinen Jugendtagen für die »Hakoah« einen Meistertitel errang) aktiv. Seine fanatische Hingabe zum Fußballklub »Austria« spiegelt sich in einer skurrilen Episode im Exil wider: Als Fritz Molden 1947 nach New York kam, um dort im Auftrag der österreichischen Regierung die Zeitschrift »Austria Information« zu gründen, konnte sich Torberg des Eindrucks nicht erwehren, Molden würde seine Position dafür missbrauchen, die aus Wien eintreffenden Sportnachrichten in übler Weise zu manipulieren. Knappe Siege der von Molden bevorzugten »Vienna« seien in dem Blättchen aufgebauscht und deren Niederlagen vertuscht worden, wohingegen die Erfolge der von Torberg favorisierten »Austria« angeblich sträflich vernachlässigt wurden. In der »Austria Information«-Redaktion langten zahllose Leserbriefe eines James B. McNussenblatt ein, der sich als ausgezeichneter Kenner der österreichischen Fußballszene erwies. McNussenblatt ging so weit, die in der Zeitschrift wiedergegebene Tabelle der Fußballergebnisse als glatte Fälschung und Molden als »Agent eines primär zur Vernichtung der ›Austria‹ geschaffenen Geheimdienstes« zu bezeichnen.

Nach intensiven Recherchen gelang es Fritz Molden, James B. McNussenblatt als Friedrich Torberg zu entlarven.

Man stelle sich vor, wie groß die Liebe des aus der Heimat Vertriebenen zu Österreich gewesen sein muss, wenn ihm nach fast zehnjährigem Aufenthalt in der Fremde die Reputation des Fußballklubs »Austria« derartige Sorgen bereiten konnte. Darüber hinaus wurde das New Yorker Penthouse des Ehepaares Friedrich und Marietta Torberg in der 55. Straße, Ecke 7. Avenue, von Besuchern als bewohnbar gemachte Kopie des einstigen Café Herrenhof beschrieben.

Torberg kehrte ein Jahr nach der McNussenblatt-Episode zurück nach Wien, um hier wieder als Kritiker zu arbeiten und die von ihm gegründete Kulturzeitschrift »Forum« herauszugeben. In Wien wurde, als Torberg bereits etabliert war, oft die Frage gestellt, ob der zum Romancier Berufene sein Genie vergeudet hätte, weil er im Journalismus verblieben war.

»Nein«, antwortete Hans Weigel, »er hat zwar gewiss darunter gelitten, dass er vor lauter ›Forum‹ kaum zu anderer Arbeit kam, aber er hat es gleichzeitig genossen, dass er darunter gelitten hat.«

In der Tat blieb für seine schriftstellerische Tätigkeit wenig Zeit. Einzig sein Roman »Süßkind von Trimberg«, die »Tante Jolesch« und deren »Erben« sowie die Übersetzungen der Satiren Ephraim Kishons zeugen von seinem späten literarischen Schaffen. Während Torberg gegen Ende seines Lebens »mit Entsetzen vermerkte, dass es sehr viele Leute gibt, die mich überhaupt nur als Kishon-Übersetzer kennen«, widerlegte Kishon dies mit der Feststellung, »dass Torberg gar nicht das übersetzt, was ich geschrieben habe, sondern das, was er übersetzen möchte«.

Friedrich Torberg, der einstige Kaffeehausliterat, hatte sich mittlerweile in sein Landhaus in Breitenfurt bei Wien zurückgezogen, wo er täglich bei exzessivem Kaffee- und Zigarettenkonsum bis in die frühen Morgenstunden hinein schrieb und erst nach Mittag wieder aufstand. Er könnte seine Freunde »am Daumen einer Hand abzählen«, erklärte Torberg die Abgeschiedenheit seiner späten Jahre.

Sollte er zeitweise wirklich einsam gewesen sein, dann dürfte wohl der von ihm inszenierte »Brecht-Boykott« einiges dazu beigetragen haben. Als der Schriftsteller und Parodist Robert Neumann in jenen Tagen vermutete, »dass Torberg zu jedem Frühstück einen Kommunisten verspeist«, entgegnete Marcel Reich-Ranicki:

»Das stimmt natürlich nicht. Denn erstens ist Torberg Vegetarier und zweitens Feinschmecker.«

Torbergs treuester Mitstreiter in der Ablehnung gegenüber Bert Brecht war Hans Weigel. So einig sich die beiden Kritiker in Sachen Brecht auch waren, so konträr dachten sie in anderen Fragen – ganz besonders in einer: Während man Weigel wiederholt seine Einstellung zum Judentum und die Bagatellisierung eines möglicherweise wieder aufkommenden Antisemitismus vorwarf, schrieb Torberg unermüdlich gegen das Vergessen in der Geschichte an. Und fand über seinen Widersacher die Worte:

»Der Weigel ist der einzige Mensch in Österreich, der glaubt, dass der Weigel kein Jud ist!«

Hans Weigel war zeitweise nicht nur auf Torberg, sondern – nebst anderen – auch auf Marcel Prawy schlecht zu sprechen. Das muss man wissen, um die folgende Geschichte, die sich in den fünfziger Jahren im Café Volksoper zugetragen hat, verstehen zu können.

Als Weigel dort eines Abends neben der Schauspielerin Louise Martini saß, betrat ein stattlicher, gut aussehender Herr das Lokal und grüßte sehr höflich – zuerst Louise Martini und dann Hans Weigel. Worauf die beiden den Gruß ebenso höflich erwiderten.

Kaum war der stattliche Herr außer Sichtweite, fragte Weigel – der extrem kurzsichtig war und daher oft gleichzeitig mehrere Brillen auf Stirn und Nase platziert hatte –, Weigel also fragte seine Tischnachbarin, wer der Herr gewesen sei, den sie gerade gegrüßt hätten.

»Das war der Prawy«, antwortete Louise Martini.

Nach Erhalt dieser Auskunft begann Weigel aufgeregt in seiner Aktentasche irgendwelche Papiere zu suchen. Als er sie endlich gefunden hatte, sprang er auf und lief Prawy nach. Sobald er ihn eingeholt hatte, hielt er diesem die mitgebrachten Unterlagen vors Gesicht und sagte:

»Das sind ärztliche Atteste, die bescheinigen, dass ich schlecht sehe. Nur so konnte es passieren, Herr Doktor Prawy, dass ich Sie gegrüßt habe.«

Sprach’s und ging – diesmal selbstverständlich grußlos – zurück an seinen Tisch.

Wo bitte sehr, trifft man fünfzig Jahre später einen Herrn, der einer solchen Aktion fähig wäre?

Zwei Begebenheiten noch, die typisch für Weigels Humor sind. In der Zeit, als Hans Dichand Chefredakteur des »Kurier« war, schrieben dort gleichzeitig Weigel, Torberg und Heimito von Doderer. Weigel ging des Öfteren mit Dichand und der Kulturredakteurin Hedi Schulz zum Mittagessen. Als er einmal, in einem Lokal am Stadtrand von Wien, Kaiserschmarrn bestellte, wunderte sich Dichand:

»Herr Weigel, Sie essen Kaiserschmarrn? Es weiß doch jeder, dass Sie gegen die Monarchie sind!«

»Schmarrn in Verbindung mit Kaiser«, replizierte Weigel, »das geht!«

Und als der durch seine Fernsehserien populär gewordene Schauspieler und Regisseur Fritz Eckhardt mit dem Ehrentitel »Professor« ausgezeichnet wurde, telegrafierte ihm Weigel:

»Hiermit lege ich meinen Professorentitel zurück. Albert Einstein.«

Zu Weigel fällt mir aber auch eine Begebenheit ein, die ich aus nächster Nähe miterlebte. Im Gegensatz zu Torberg – den ich nur einige wenige Male getroffen hatte – kannte ich Weigel sehr gut, fast könnte ich sagen, mit ihm befreundet gewesen zu sein. Das war wohl auch der Grund, weshalb ich einige Jahre nach seinem Tod von einem Grazer Verlag eingeladen wurde, einen Beitrag über den Doyen der Wiener Theaterkritik zu schreiben.

Ich war einer von mehreren Autoren, die sich in dem geplanten Buch an Weigel erinnern sollten. Zu ihnen zählten neben seiner Lebenspartnerin Elfriede Ott auch die Schauspieler Otto Schenk und Helmuth Lohner, die Kabarettisten Gerhard Bronner, Georg Kreisler und Werner Schneyder, die Journalisten und Autoren Hans Dichand, Trude Marzik und Marcel Reich-Ranicki. Aber auch die Politiker Rudolf Kirchschläger, Franz Vranitzky, Peter Marboe, Helmut Zilk.

Und Franz Olah.

Bei der Präsentation des Weigel-Erinnerungsbandes im Wiener Rabenhof-Theater blätterte ich in dem druckfrischen Werk und blieb bei dem ein wenig eigentümlich anmutenden Beitrag »Irritationen des Lebens«, verfasst von Franz Olah, hängen. Im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren war der ehemalige Innenminister und Gewerkschaftspräsident jedoch nicht anwesend.

Hatte er überhaupt einen Beitrag für dieses Buch geschrieben?

Und wenn nicht: Wer war dann der geheimnisvolle Autor des Kapitels, über dem »Franz Olah« stand?

Nun, im burgenländischen Markt Deutschkreutz lebt ein Bundesbahnbeamter gleichen Namens, der auf äußerst sonderbare Weise zum Weigel-Chronisten wurde: Franz Olah, 35 Jahre alt und am Kartenschalter des Bahnhofs Wr. Neustadt tätig, erhielt ein Jahr vor Erscheinen des Buches – wie wir alle, die sich an Weigel erinnern sollten – einen Brief des steirischen Verlagshauses, mit der Bitte, einen Beitrag zum 90. Geburtstag des verstorbenen Literaturpapstes zu schreiben.

»Ich hab mich eh sehr g’wundert«, sagte Olah, der Bahnbeamte, als ich ihn nach der Präsentation des Buches ausfindig machte. »Ich hab mich g’wundert, weil ich den Weigel weder gekannt noch je etwas von ihm gelesen habe.«

Daher nahm der biedere Beamte das Verlagsschreiben zunächst nicht weiter ernst und legte es beiseite.

Bis nach einigen Monaten ein weiterer Brief kam, diesmal mit der dringlichen Anfrage, wann endlich mit dem Manuskript zu rechnen wäre.

Worauf er an der Sache Geschmack zu finden begann. Wer hat schon Gelegenheit, seinen Namen nebst so illustren Persönlichkeiten in einem Buch wiederzufinden? Also las Herr Olah (der mit dem Politiker weder verwandt noch verschwägert ist) in Weigels Werken nach. Und verfasste ein Kapitel, das er dem Verlag schickte und das dann auch tatsächlich so erschienen ist.

Im Verlag suchte man, als ich die Verwechslung in einem Zeitungsartikel »aufgedeckt« hatte, eine Erklärung für die ein wenig peinliche Angelegenheit.

Die da lautete: Eine Mitarbeiterin war beauftragt worden, Franz Olahs Adresse herauszufinden. Als man ihr bei der Telefonauskunft die Adresse des Herrn in Deutschkreutz nannte, begann die Posse ihren Lauf zu nehmen.

Immerhin kommt »der falsche Olah« auf zwei Buchseiten zu dem Schluss: »Nehmen wir den 90. Geburtstag Hans Weigels zum Anlass, darauf hinzuweisen, welche Werte in den Werken der österreichischen Dichtung und vor allem in den Werken Hans Weigels liegen.«

Tatsächlich. Welche Werte liegen dort. Der Nestroy, der Qualtinger und der Weigel selbst sind wohl am Tag der Buchpräsentation auf einer Wolke gesessen und haben sich gefreut, dass in Österreich alles so geblieben ist, wie sie’s immer so trefflich beschrieben hatten.

Hans Weigels »Watschenaffäre« wurde zwar vielfach beschrieben, wir wollen ihr aber hier noch die eine oder andere der Tante Jolesch adäquate Facette anfügen. Die Schauspielerin Käthe Dorsch hatte dem Kritiker 1956 bekanntlich – nachdem er sie für damalige Weigel-Verhältnisse ohnehin eher sanft verrissen hatte – auf offener Straße eine schallende Ohrfeige verpasst. Worauf Weigel sie klagte. Der Ausrutscher hätte gar nicht so viel Aufsehen erregt, wäre Käthe Dorsch nicht Wiederholungstäterin gewesen – sie hatte vor Weigel schon den deutschen Kritiker Harich geohrfeigt.

Vergleichsweise milde kam ein anderer Journalist davon, der aus Anlass von Käthe Dorschs angeblich 65. Geburtstag einen Artikel verfasst hatte. Teilte die Schauspielerin dem Interviewer doch nach Erscheinen der Würdigung in einem groben Brief mit, »um einige Jahre jünger« zu sein, als von ihm angegeben. Als der Redakteur nun höflich anfragte, um wie viele Jahre er sich geirrt hätte, antwortete die Dorsch: »Genug Jahre, um Ihnen, in Ohrfeigen ausgezahlt, die Lust am Schreiben zu nehmen!«

Wahr ist, dass Käthe Dorsch, Jahrgang 1890, bei Erscheinen des Zeitungsberichts nicht 65, sondern 64 Jahre alt war.

Um aber aufzuzeigen, welch enorme Bedeutung Schauspieler ihrem eigenen Beruf beimessen, muss hier die Aussage Raoul Aslans, der in der »Watschenaffäre« Dorsch vs. Weigel als Zeuge einvernommen wurde, zitiert werden. Forderte der große Mime doch mit vollem Ernst und dem der Angelegenheit angemessenen Pathos vor Gericht »die Todesstrafe für Hans Weigel«.

Verurteilt wurde dann aber doch die Dorsch, und zwar »zu einer Geldstrafe von S 500,-, im Nichteinbringungsfalle drei Tage Arrest«.

Weigel wurde in den Redaktionen, für die er schrieb, nicht nur wegen der brillant formulierten Schärfe seiner Kritiken geschätzt, sondern auch wegen deren pünktlicher Ablieferung. »Wenn ich mein Manuskript für 12 Uhr versprochen habe«, sagte er, »und es ist um 12.01 Uhr noch nicht da, können Sie schon die Parte aufsetzen lassen.«

Ich wäre, ehrlich gesagt, nicht gern Schauspieler in den Tagen der Torberg’- und Weigel’schen Vernichtungsfeldzüge gewesen (es konnte ja auch kein Trost sein, dadurch einmal in die Geschichte der Literaturkritik Eingang zu finden). Als ich die beiden Kritikerpäpste viel später dann kennen lernte, zeigten sie sich als gütige ältere Herren, die keiner Fliege etwas zuleide hätten tun können.

Geschweige denn einem Schauspieler.

Am Ende des Kapitels lasse ich noch einmal Friedrich Torberg zu Wort kommen. Mit einer Aussage, die – stammte sie nicht von ihm selbst – in die Zitatensammlung seiner »Tante Jolesch« gepasst hätte. Gelangte er doch, als man den so ungesund Lebenden gefragt hatte, ob es nicht vernünftig wäre, Nikotin- und Koffeingenuss einzuschränken, zu der Erkenntnis:

»Ich rauche, trinke schwarzen Kaffee, schlafe zu wenig, mache zu wenig Bewegung und bin auf diese Weise 70 Jahre alt geworden. Vielleicht wäre ich bei gesünderer Lebensführung heute schon 75 oder 80, aber das lässt sich schwer feststellen.«

Es war die letzte Torberg-Pointe, die uns überliefert ist. Eine Pointe, bei der man, wie so oft bei ihm, nicht recht wusste, ob man lachen oder weinen soll.

Denn er starb wenige Monate später, gerade 71 Jahre alt, an den Folgen einer Thrombose.

»BIS DER BUB IN PENSIONGEHEN KANN«

Die Nachfolger des Dr. Sperber

Zu den populärsten Figuren der »Tante Jolesch« zählt der Wiener Rechtsanwalt Dr. Hugo Sperber, dessen Werbeslogan geradezu Kultstatus erlangte:

»Räuber, Mörder, Kindsverderber,

Gehen nur zu Doktor Sperber.«

Sage mir keiner, es hätte nach dem Krieg in Wien keinen zweiten Doktor Sperber gegeben. Sperber II. hieß Dr. Michael Stern und ist heute fast so legendär wie das Original. Auch für ihn gab’s einen Werbespruch, der freilich von Karl Farkas stammte und von diesem in einer »Simpl«-Conférence verbreitet wurde:

»Bleibst du gern dem Häfen fern,

Nimm dir nur den Doktor Stern.«

Stern hat eine außergewöhnliche Biografie, war er doch einer von dreißig jüdischen Rechtsanwälten, die man nach 1938 weiter als »Rechtskonsulenten« in Wien arbeiten ließ. Dass er bis Kriegsende »nichtarische Klienten« vertreten durfte, verdankte Stern der Ehe mit seiner nichtjüdischen Frau Edith, die sich trotz des enormen Drucks, der auf sie ausgeübt wurde, standhaft weigerte, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen und ihn damit vor der sicheren Verfolgung schützte.

Nach dem Krieg erlangte Michael Stern Ansehen als Anwalt prominenter Klienten, aber auch in spektakulären Strafprozessen – allen voran gegen Adrienne Eckardt, die »Mörderin mit dem Engelsgesicht«. Wir aber wollen hier Dr. Sterns Talent nachgehen, seine Gesprächspartner durch Anekdoten aus dem Gerichtssaal in den Bann zu ziehen. So telegrafierte er einmal einem Mandanten nach Abschluss seines Prozesses: »Die gerechte Sache hat gesiegt.«

Worauf dieser antwortete: »Sofort Berufung einlegen!«

Mit seinem Aufstieg zum berühmtesten Advokaten des Landes stieg auch das Vermögen des alten Stern, das er sehr geschickt in Immobilien anzulegen verstand. Seine Villen in Grinzing und Zinshäuser in der Wiener Innenstadt führten dazu, dass man im Landesgericht für Strafsachen schon in den sechziger Jahren munkelte: »Wenn der alte Stern stirbt, trägt das Grundbuch Trauerflor.«

Er aber dachte lange nicht ans Sterben. Michael Stern wurde 92 Jahre alt. Der Tod ereilte ihn im Dezember 1989 – eben dort, wo er es sich gewünscht hatte: in seiner Kanzlei auf der Wiener Seilerstätte, in der er jeden Tag ab vier Uhr früh anzutreffen und bis zur letzten Stunde seines Lebens tätig war.

Als er hoch in den Achtzigern stand, schlief er schon mal während einer Verhandlung ein, wachte aber stets dann auf, wenn es darum ging, seinen Mandanten mit einem brillanten Plädoyer vor der sicher scheinenden Verurteilung zu bewahren. Zur Höchstform gelangte der als »Wunderrabbi des Gerichtssaals« bezeichnete Dr. Stern stets in der Schlussphase seiner Verteidigungsreden, wenn er die Geschworenen in eindringlichen Worten aufforderte, dem Angeklagten zu einem Freispruch zu verhelfen, da dieser garantiert schuldlos sei. Dies müsste man einem alten Anwalt glauben, dessen nächster Prozess sicher schon vor dem Jüngsten Gericht stattfinden würde, da er bereits mit einem Fuß im Grab stünde.

In diesem »stand« er gut zwanzig Jahre, und ebenso lang zog die Masche, die selbst geeichte Kiebitze zu Tränen zwang.

Auch in einem Terroristenprozess wies der damals 85-jährige Staranwalt wieder einmal auf sein demnächst zu erwartendes Ableben hin, um dann noch mit einem Blick zu seinem »erst« achtzigjährigen Kollegen Dr. Obendorfer – der einen Komplizen seines Mandanten vertrat – anzufügen: »Ich, meine Damen und Herren Geschworenen, bin nicht hier, um mein Honorar zu verdienen, wie dies bei meinem jungen Kollegen Dr. Obendorfer der Fall sein mag.«

Der neben ihm auf der Verteidigerbank sitzende »Jüngling« erstarrte derweilen zur Salzsäule.

Auf die Tränendrüse drückte der alte Stern auch im Fall einer der Abtreibung verdächtigten Hebamme. Obwohl viele Indizien gegen die »Engelmacherin« sprachen, gelang es dem Strafverteidiger mit dem ihm eigenen Geschick, einen Freispruch zu erwirken. Leider erklärte die Frau dem Richter zum Entsetzen ihres Advokaten nach der Urteilsverkündung: