Schwarzer Frühling - Henry Miller - E-Book

Schwarzer Frühling E-Book

Henry Miller

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Beschreibung

Henry Miller: Provokateur, Hedonist und großer Erzähler Wie kein anderer großer Autor zuvor rüttelte Henry Miller an den sexuellen Tabus des 20. Jahrhunderts. In seinen berühmten Novellen erzählt er von den Labyrinthen der Großstädte, von ihren Straßen und Plätzen, von der Armut, Einsamkeit und den erotischen Eskapaden der kleinen Angestellten, Zeitungsboten, Journalisten, Kaffeehausbesucher und Dirnen. «Ein Hymniker, berauscht von der Vielfalt des Lebens und trunken von dem Reichtum der Welt.» Radio Bremen

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Seitenzahl: 330

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Henry Miller

Schwarzer Frühling

Erzählungen

Deutsch von Kurt Wagenseil

Für Anaïs Nin

Kann ich der sein, für den ich mich halte und für den mich andere halten? Hier ist der Ort, wo diese Zeilen ein Bekenntnis angesichts meines unbekannten und unerkennbaren Ichs werden, unbekannt und unerkennbar für mich selbst. Hier ist der Ort, wo ich Legende schaffe, in der ich mich begraben muss. Miguel de Unamuno

1

Der vierzehnte Bezirk

Was nicht auf der offenen Straße ist, ist falsch, abgeleitet, das heißt Literatur.

Ich bin Lokalpatriot – mein Vaterland ist der vierzehnte Bezirk in Brooklyn, wo ich aufwuchs. Der Rest der Vereinigten Staaten existiert nicht für mich, außer als Idee oder Literatur. Mit zehn Jahren wurde ich meinem heimatlichen Boden entrissen und kam auf einen Friedhof, einen lutheranischen Friedhof, auf dem die Grabsteine immer in Ordnung waren und die Kränze nie verwelkten.

Aber auf der Straße wurde ich geboren, und auf der Straße wuchs ich auf. «Die gewöhnliche, offene Straße, wo die schönste und sinnverwirrendste eiserne Vegetation» usw.… Geboren mit dem Widder im Aszendenten, was eine feurige, aktive, energische und ziemlich ruhelose körperliche Verfassung verleiht. Mit Mars im neunten Haus!

Wenn man auf der Straße geboren ist, so bedeutet das, dass man sein ganzes Leben herumwandert, dass man frei ist. Es bedeutet Unfall und Zufall, Drama, Bewegung. Es bedeutet vor allem Phantasie. Eine Harmonie belangloser Tatsachen, die dem Herumschweifen eine metaphysische Sicherheit gibt. Auf der Straße lernt man, was die Menschen wirklich sind; unter anderen Umständen oder später erfindet man sie. Was nicht auf der offenen Straße ist, ist falsch, abgeleitet, das heißt Literatur. Was man gewöhnlich «Abenteuer» nennt, kommt gar nicht an die besonderen Aufregungen heran, die eine Straße mit sich bringt. Es ist gleichgültig, ob man zum Pol fliegt, ob man mit einem Kissen in der Hand auf dem Grunde des Ozeans sitzt, ob man neun Städte eine nach der anderen entwurzelt oder ob man wie Kurtz den Fluss hinauffährt und verrückt wird. Gleichgültig wie aufregend, wie unerträglich die Lage ist, es gibt immer Auswege, Verbesserungen, Bequemlichkeiten, Ausgleichungen, Zeitungen, Religionen. Aber einmal gab es nichts von alldem. Einmal war man frei, wild, mörderisch…

Die Jungens, die man verehrte, wenn man zuerst auf der Straße mit ihnen zusammenkam, bleiben einem fürs ganze Leben. Sie sind die einzigen wirklichen Helden. Napoleon, Lenin, Capone – alles Romanfiguren. Napoleon bedeutet nichts für mich im Vergleich zu Eddie Carney, von dem ich mein erstes blaues Auge bekam. Kein Mann, den ich später getroffen habe, erscheint mir so fürstlich, so königlich, so edel wie Lester Reardon, der allein durch die Tatsache, dass er die Straße hinabspazierte, Furcht und Bewunderung einflößte. Jules Verne führte mich nie an solche Örtlichkeiten, wie sie Stanley Borowski einem zeigen konnte, wenn es dunkel wurde. Robinson Crusoe fehlte es im Vergleich mit Johnny Paul an jeglicher Phantasie. Alle diese Jungens vom vierzehnten Bezirk sind jetzt noch greifbare Wirklichkeit. Sie wurden nicht erfunden oder entsprangen der Einbildung: Sie waren wirklich. Ihre Namen klingen wie Goldmünzen– Tom Fowler, Jim Buckley, Matt Owen, Rob Ramsay, Harry Martin, Johnny Dunne, ganz zu schweigen von Eddie Carney oder dem großen Lester Reardon.

Ja, noch jetzt, wenn ich Johnny Paul sage, hinterlassen mir die Namen der Heiligen einen schlechten Geschmack auf der Zunge. Johnny Paul war die lebende Odyssee des vierzehnten Bezirks. Dass er später einen Lastwagen fuhr, ist ganz nebensächlich.

Vor der großen Veränderung schien niemand zu bemerken, dass die Straßen hässlich oder schmutzig waren. Wenn die Kanalröhren geöffnet wurden, hielt man sich die Nase zu. Wenn man sich schnäuzte, hatte man Rotz im Taschentuch und nicht die Nase. Es herrschten mehr innerer Friede und Zufriedenheit. Die Wirtschaft war da, die Rennbahn, es gab Fahrräder, leichte Frauen und Traberpferde. Das Leben flog noch gemütlich dahin, wenigstens im vierzehnten Bezirk. Keiner dachte daran, sich am Sonntagmorgen besonders fein anzuziehen. Wenn Frau Gorman in ihrem Umschlagtuch dem Priester guten Morgen wünschte – «Guten Morgen, Herr Pfarrer!» – «Guten Morgen, Frau Gorman!»–, war die Straße von allen Sünden rein. Pfarrer McCarren trug sein Taschentuch in den Schößen seines Gehrocks, dort war es gut aufgehoben und immer zur Hand, es passte so gut zu ihm wie das irische Nationalzeichen, das Kleeblatt in seinem Knopfloch. Der Schaum stand auf dem Bier, und die Leute blieben auf der Straße stehen, um miteinander zu schwatzen.

In meinen Träumen kehre ich zum vierzehnten Bezirk zurück, wie ein Besessener zu seinen Zwangsvorstellungen zurückkehrt. Wenn ich an die stahlgrauen Kriegsschiffe auf der Marinewerft denke, sehe ich sie in irgendeiner astrologischen Dimension, und ich bin wieder der Waffenmeister, der Chemiker, der Sprengstofffabrikant, der Sargschreiner, der Leichenbeschauer, der Gelehrte, der unruhige, hirnverbrannte und verwegene Kerl.

Wenn andere bei der Erinnerung an ihre Jugend an einen schönen Garten, eine liebende Mutter, einen Aufenthalt an der Küste denken, erinnere ich mich mit einer Lebhaftigkeit, als wäre alles in Stahl gestochen, an die finsteren, mit Ruß bedeckten Wände und Kamine der uns gegenüberliegenden Blechfabrik, an die runden Stücke Blech, die überall auf der Straße herumlagen, einige hell und glitzernd, andere verrostet, von dunkler Kupferfarbe, und solche Flecke hinterließen sie auch an den Fingern, wenn man sie anfasste. Ich denke an die Eisenwerke, wo der rote Hochofen glühte und Männer mit großen Schaufeln in der Hand auf die Glut zugingen, während draußen die flachen Holzformen wie Särge standen. Durch diese steckte man Stangen, und wenn man nicht aufpasste, stieß man sich das Schienbein wund oder brach sich den Hals. Ich denke an die schwarzen Hände der Eisengießer. So tief war der Gries ihnen in die Haut gedrungen, dass nichts ihn entfernen konnte, weder Seife noch Fett, noch Geld, noch Liebe oder Tod. Er haftete wie ein schwarzes Brandmal an ihnen fest. Mit schwarzen Händen gingen sie in die Flammen wie Teufel – und später, da legte man dann Blumen über sie, kalt und starr lagen sie in ihren Sonntagsanzügen da. Nicht einmal der Regen konnte den Dreck wegwaschen. Alle diese schönen Gorillas gingen zu Gott mit geschwollenen Muskeln, gekrümmten Rücken und schwarzen Händen…

Für mich war die ganze Welt in den Grenzen des vierzehnten Bezirks eingeschlossen. Wenn etwas sich außerhalb desselben ereignete, so war es entweder nicht geschehen, oder es war unbedeutend. Wenn mein Vater aus dieser Welt herausging, um zu fischen, so war das für mich ohne Interesse. Ich erinnere mich nur, dass sein Atem nach Alkohol roch, wenn er des Abends heimkam, den großen grünen Korb öffnete und die zappelnden, glotzäugigen Ungeheuer auf den Boden schüttete. Wenn einer in den Krieg zog, weiß ich nur noch, dass er an einem Sonntagnachmittag zurückkam, vor dem Haus des protestantischen Geistlichen stehen blieb und kotzte und dann das Ganze mit seiner Weste aufwischte. Das war Rob Ramsay, der Sohn des Geistlichen. Jeder hatte ihn gern – er war das schwarze Schaf der Familie. Die Leute hatten ihn gern, weil er ein Taugenichts war und keine langen Umstände machte. Ihm war es gleich, ob Sonntag oder Mittwoch war. Man konnte ihn unter den tief herabhängenden Markisen die Straße herabkommen sehen, die Jacke über dem Arm, während der Schweiß ihm vom Gesicht rann, mit schlotternden Beinen ging er mit dem langen, rollenden Schritt eines Matrosen, der nach einer langen Fahrt wieder festen Boden unter den Füßen fühlt. Der Tabaksaft floss ihm mit warmen, unhörbaren Flüchen aus dem Mund, manchmal hörte man ihn auch laut ganz schlimme ausstoßen. Die unerhörte Faulheit, die Sorglosigkeit dieses Burschen, seine unzüchtigen und gotteslästerlichen Reden! Kein Mann Gottes wie sein Vater. Nein, ein Mann, der Liebe einflößte. Seine Schwächen waren menschliche Schwächen, und er trug sie ganz offen, höhnisch, munter flatternd wie Fähnchen vor sich her. So kam er die heiße, offene Straße herab, die Luft war voll Sonne, es roch nach Kot, Flüche kamen aus seinem Mund, und womöglich war sein Hosenlatz auf, und seine Hosenträger hingen herunter, oder seine Weste war gerade frisch bedreckt. Manchmal kam er die Straße wie ein Bulle auf allen vieren heruntergeschlittert, und dann leerte sich die Straße wie durch Zauberei, wie wenn die Kanallöcher sich geöffnet und den ganzen Abfall verschluckt hätten. Der närrische Willie Maine stand mit heruntergelassenen Hosen auf dem Dach der Malerwerkstatt, auf das er sich geflüchtet hatte, und wichste sich einen ab, als wenn es ums Leben ginge. So standen sie da in dem trockenen, elektrischen Knistern der offenen Straße, während die Gasröhren barsten. Zwei tolle Nummern, die das Herz des Geistlichen brachen.

So war er damals, dieser Rob Ramsay. Ein Kerl, der immer zu tollen Streichen aufgelegt war. Er kam mit Medaillen vom Kriege zurück, aber er hatte den Teufel im Leib. Er kotzte vor seiner eigenen Haustür und wischte die Chose mit seiner Weste auf. Er konnte die Straße schneller als ein Maschinengewehr säubern. Achtung, Feuer!

Und später marschierte er dann einfach in seiner unbekümmerten Art über die Hafenmauer hinaus und ertränkte sich.

Ich erinnere mich so gut an ihn und an das Haus, in dem er wohnte, weil wir uns an warmen Sommerabenden vor Rob Ramsays Haus zu versammeln pflegten und die Vorgänge in der gegenüberliegenden Wirtschaft beobachteten. Die ganze Nacht über ein unablässiges Kommen und Gehen, und niemand dachte daran, die Vorhänge zuzuziehen. Es war nur einen Steinwurf weit weg von dem kleinen, spaßigen Gebäude, das «Der Stromer» hieß. Rings um den «Stromer» waren die Wirtschaften, und an Samstagabenden stand immer eine lange Schlange an. Das war ein Stoßen und Drängen, dass man ja noch eine Karte erwischte. An Samstagabenden war das Mädchen in Blau in großer Fahrt. Ein wilder Matrose von der Marinewerft sprang dann wohl von seinem Sitz und entriss Millie de Leon ein Strumpfband. Im Laufe des Abends schlenderten sie dann sicher die Straße hinab und gingen beim Privateingang hinein. Bald standen sie dann in dem Schlafzimmer über der Wirtschaft und zogen ihre engen Unterhosen aus, und die Frauen nestelten sich die Korsetts herunter und kratzten sich wie Affen, während man drunten stampfte und schrie, als würde die ganze Bude in die Luft fliegen. All das konnten wir von Rob Ramsays Haustür aus beobachten, während sein Alter oben bei einer Petroleumlampe betete, wie ein Rasender betete, dass alles bald vorüber sein möchte, oder wenn er des Betens müde war, kam er im Nachthemd herunter und vertrieb uns mit dem Besenstiel. Er sah aus wie ein altes, verschrumpftes Heinzelmännchen.

Von Samstagnachmittag bis Montagmorgen wollte es kein Ende nehmen. Bereits am Samstagmorgen – wie das zuging, weiß nur Gott allein – konnte man fühlen, dass die Kriegsschiffe draußen vor der Werft Anker geworfen hatten. Am Samstagmorgen schlug mir das Herz bis in den Hals. Ich konnte sehen, wie die Decks geschrubbt und die Kanonen geputzt wurden. Das Gewicht dieser Seeungeheuer, das auf das schmutzige, glasige Wasser des Bassins drückte, verursachte mir ein wollüstiges Gefühl. Ich träumte schon davon, wegzulaufen und ferne, unbekannte Länder zu sehen. Aber ich kam nur bis zur anderen Seite des Flusses, etwa nördlich bis zur zweiten Avenue und der achtundzwanzigsten Straße. Dort spielte ich den Orangenblütenwalzer, und in den Zwischenakten wusch ich mir an dem eisernen Ausguss die Augen. Das Klavier stand im hinteren Teil der Wirtschaft. Die Tasten waren sehr vergilbt, meine Füße erreichten die Pedale nicht. Ich trug einen Samtanzug, weil Samt damals in Mode war.

Alles, was an der anderen Seite des Flusses passierte, war reiner Irrsinn: der mit Sand bestreute Boden, die Gaslampen mit zylindrischem Docht, die Bilder aus Glimmerschiefer, in denen der Schnee niemals schmolz, die närrischen Deutschen mit ihren fleckigen Händen, der eiserne Ausguss, der eine moosige Schmutzkruste angesetzt hatte, die Frau aus Hamburg, deren feiste Hinterbacken immer über den Stuhlsitz hinüberhingen, der Hof, der mit Sauerkrautfässern vollgestopft war… Und dazu der ewige Dreivierteltakt. Ich gehe zwischen meinen Eltern, die eine Hand im Muff meiner Mutter und die andere im Ärmel meines Vaters. Meine Augen sind fest geschlossen, so fest wie Zangenmuscheln, die ihre Lider nur öffnen, um zu weinen.

Alle die wechselnden Gezeiten des Flusses, das Wetter, das sein Aussehen ständig veränderte, sind in meinem Blut. Ich kann noch das schlüpfrige Nass der großen Geländerstange fühlen, gegen die ich mich in Nebel und Regen lehnte. Wenn ich die Stirn darauflegte, dröhnten mir die schrillen Signale des Fährboots durch den Kopf. Ich sehe noch, wie sich die moosigen Planken der Landungshelligen bogen, wenn der große, runde Bug hart an ihnen vorbeistreifte und das grüne, dicke Wasser durch die sich hebenden, ächzenden Planken schoss. Und darüber die gleitenden und tauchenden Seemöwen mit ihrem heiseren Geschrei, dem Beuteschrei unmenschlicher Gier, den Schnäbeln, die den Abfall aufpickten, schorfigen Beinen, die das grünbrodelnde Wasser streiften.

Man gleitet unmerklich von einer Szene, einem Alter, einem Leben in andere über. Plötzlich auf der Straße, mag es wirklich oder mag es ein Traum sein, kommt einem zum ersten Mal zu Bewusstsein, dass die Jahre vorübergeflossen sind, dass dies alles vorbei ist und nur noch in der Erinnerung weiterleben wird, und dann wendet sich die Erinnerung nach innen mit einem sonderbaren, herzumkrampfenden Glanz, und nachdenklich und träumerisch geht man diese Szenen immer wieder durch, während man die Straße entlanggeht, während man bei einer Frau liegt, während man mit einem Fremden spricht… plötzlich, aber immer mit einer erschreckenden Eindringlichkeit und immer mit erschreckender Genauigkeit, dringen diese Erinnerungen ein, stehen wie Geister auf und durchziehen jede Faser unseres Wesens. Von nun an bewegt sich alles auf gleitenden Ebenen – unsere Gedanken, unsere Träume, unsere Handlungen, unser ganzes Leben. Ein Parallelogramm, in dem wir von einer Plattform unseres Baugerüsts auf die andere fallen. Von nun an sind wir in Myriaden Bruchstücke gespalten wie ein Insekt mit hundert Füßen, ein Hundertfüßler mit einem feinen Getrippel, der den Kopf hebt und wittert, ehe er weiterhuscht. Wir schreiten mit empfindlichen Fasern, die gierig aus der Vergangenheit und Zukunft trinken, und alle Dinge schmelzen zu einer melancholischen Musik. Wir marschieren gegen eine vereinigte Welt und behaupten unser Geteiltsein. Während wir weiterschreiten, teilen sich alle Dinge mit uns in Myriaden glitzernder Bruchstücke. Das ist die große Zersplitterung der reiferen Jahre, die große Veränderung. In der Jugend waren wir ganz, und der Schrecken und der Schmerz der Welt gingen uns durch und durch. Es gab keine scharfe Trennung zwischen Freude und Kummer, sie schmolzen ineinander über, wie unser waches Leben in Traum und Schlaf übergeht. Wir standen als ein einziges und einheitliches Wesen morgens auf, und abends tauchten wir in einen Ozean nieder, nahmen die Sterne und das Fieber des Tages mit uns hinunter. Und dann kommt eine Zeit, wo plötzlich alles umgekehrt zu sein scheint. Wir leben im Geiste, in Ideen, in Bruchstücken. Wir trinken nicht mehr die wilde, rauschende Musik der Straßen ein – wir erinnern uns nur. Wie ein Besessener leben wir das Drama der Jugend immer wieder durch. Wir sind wie eine Spinne, die den Faden immer wieder aufnimmt und ihn aufs Neue auswirft, denn sie ist besessen von einem logarithmischen Muster, das sie ausarbeiten muss. Wenn uns ein mächtiger Busen erregt, so ist es der dicke Busen einer Hure, die sich an einem regnerischen Abend zu uns hinabbeugte und uns zum ersten Mal das Wunder der großen, milchigen Kugeln zeigte. Wenn wir durch die Spiegelungen auf einem nassen Pflaster bewegt werden, so deshalb, weil wir mit sieben Jahren von einer Ahnung des kommenden Lebens durchbohrt wurden, als wir gedankenlos in diesen hellen, flüssigen Spiegel der Straße starrten. Wenn uns der Anblick einer hin- und herschwingenden Tür plötzlich ins Blut geht, so ist es die Erinnerung an einen Sommerabend, wo alle Türen sanft hin- und herschwangen und wo das Licht sich niederbeugte, um den Schatten zu liebkosen, in den goldene Waden und Spitzen und glitzernde Sonnenschirme gehüllt waren, und durch den Spalt der schwingenden Tür sickerten wie Sand durch eine Lagerstätte von Rubinen die Musik und der Weihrauchduft mächtiger, unbekannter Körper. Als jene Tür sich öffnete, um uns einen blendenden Blick in die Welt tun zu lassen, empfanden wir vielleicht den ersten Schauder vor dem großen Ansturm der Sünde, erhielten wir vielleicht die erste Ankündigung, dass hier über kleinen, runden, im Licht gleißenden Tischen, während wir mit müßigen Füßen in dem Sägemehl wühlten, während unsere Hände den kalten Stiel eines Glases berührten, dass hier über diesen kleinen, runden Tischen, auf die wir später mit solcher Sehnsucht und Verehrung blicken werden, dass wir hier, sage ich, in den kommenden Jahren die ersten bohrenden Qualen der Liebe fühlen werden, die ersten Rostflecken, den ersten Griff der Klauen des Grabes, die hellen, runden Blechstücke auf den Straßen, die hochragenden, rußigen Kamine, die kahle Ulme, deren Zweige wie Peitschen in den Gewitterwind schlagen und die unter dem niederprasselnden Regen schreit und kreischt, während wie durch ein Wunder die Schnecken aus der warmen Erde kriechen und die Luft blau und schwefelgelb wird. Hier an diesen Tischen, beim ersten Besuch, bei der ersten Berührung einer Hand, wird einmal der bittere, nagende Schmerz kommen, der die Eingeweide durchwühlt. Der Wein wird uns sauer im Leib, ein Schmerz steigt von den Fußsohlen auf, und bei dem Schmerz und dem Fieber in unseren Knochen wirbeln die runden Tischplatten herum bei der sanften, brennenden Berührung einer Hand. Hier liegt Legende auf Legende unserer Jugend vergraben, hier die Melancholie wilder Nächte und geheimnisvoller Busen, die in dem feuchten Spiegel des Pflasters tanzen, die Bilder von Frauen, die glucksend lachen, wenn sie sich kratzen, das Brüllen lärmender Matrosen, das Geschiebe langer, vor dem Bordell anstehender Schlangen, das Rauschen von Schiffen, die im Nebel hart aneinander vorbeifahren, von Schleppern, die wütend gegen die ansteigende Flut anschnauben, während oben auf der Brooklyn-Brücke ein Mann in Verzweiflung steht, der nicht weiß, ob er ins Wasser springen oder ein Gedicht schreiben soll, oder darauf wartet, dass das Blut ihm aus den Adern tritt, weil ihn, wenn er noch einen Schritt tut, der Liebesschmerz töten wird.

Das Plasma des Traumes ist der Schmerz der Trennung. Der Traum lebt weiter, wenn der Körper begraben ist. Wir gehen auf den Straßen mit tausend Beinen und Augen, mit haarfeinen Antennen, welche die leiseste Erinnerung an die Vergangenheit auffangen. In dem ziellosen Auf und Ab bleiben wir dann und wann stehen, warten wie lange, klebrige Pflanzen und verschlingen mit einem Happ die lebendigen Bissen der Vergangenheit. Wir öffnen unsere Kelche sanft und nachgiebig, um die Nacht und die Ozeane von Blut in uns hineinzutrinken, die den Schlaf unserer Jugend überspülten. Wir trinken und trinken mit unstillbarem Durst. Wir werden nie wieder ganz, wir leben in Bruchstücken, und unsere Teile sind durch dünne Membranen getrennt. Wenn daher die Flotte im Pazifik manövriert, blitzt die ganze Saga der Jugend vor unseren Augen auf, der Traum der offenen Straße und das Kreischen der Seemöwen, die niedertauchen und den Abfall in den Schnäbeln tragen, oder es ist der Klang der Trompeten und der Anblick flatternder Fahnen, und die unbekannten Teile der Erde fliegen ohne Namen und feste Bedeutung, wirbelnd wie die runde Tischplatte, in einem glitzernden Schein von Macht und Ruhm vor unseren Augen entlang. Der Tag kommt, wo man auf der Brooklyn-Brücke steht und in schwarze Schornsteine niederschaut, aus denen dicker Rauch quillt, und die Kanonenrohre und die Knöpfe der Matrosen glitzern, und das Wasser teilt sich wundersam unter dem scharfen, schneidenden Bug, und wie Eis und Spitzen, wie krachende Schollen und Rauch schäumt das Wasser grün und blau mit einer kalten Glut, mit der Kühle des Champagners und funkelnder Kiemen. Und der Bug spaltet das Wasser in einer endlosen Metapher: Der schwere Rumpf des Schiffes bewegt sich vorwärts, während der Bug das Wasser teilt, und das Gewicht des Schiffes ist das unwägbare Gewicht der Welt, das Niedersinken in unbekannte barometrische Tiefdruckgebiete, in unbekannte Spalten und Höhlen der Erde, wo die Wasser melodisch rauschen und die Sterne herniederpurzeln und sterben, und Hände strecken sich hoch und greifen und möchten sich anklammern, aber sie fassen nichts und schließen sich nicht, sondern greifen und fuchteln nur, während ein Stern nach dem andern verlischt, Myriaden Sterne, Myriaden von Welten, die in kalte Glut herniedersinken, in rauchschwarze Nacht mit zuckendem Grün und Blau, mit krachendem Eis und zischendem Champagner und dem heiseren Schrei der Seemöwen, die nach Muscheln schnappen, sich mit Abfällen vollschlingen, während das Schiff ruhig weiterzieht.

Man blickt von der Brooklyn-Brücke auf einen Schaumfleck nieder, auf eine Lache Öl oder ein Stück Holz oder ein leeres Boot. Die Welt zieht drunten im Wasser kopfstehend vorbei, und der Schmerz, wie ein Licht aufblitzend, verzehrt die Eingeweide, die Seiten bersten, alle Knorpel werden von Speeren durchbohrt, das ganze Gerüst des Körpers löst sich in nichts auf. Durch uns hindurch ziehen seltsame Worte aus der alten Welt, Zeichen und Vorbedeutungen, die Schrift an der Wand, die Spalten der Tür in der Wirtschaft, die Kartenspieler mit ihren Tonpfeifen, der gegen den Hintergrund der Blechfabrik aufragende hagere Baum, die schwarzen Hände, die selbst im Tode die Flecken nicht verlieren. Man geht nachts durch die Straße, wenn die Brücke wie eine Harfe gegen den Himmel gestellt ist, und die schlafverklebten Augen brennen sich in die Häuser ein, deflorieren die Wände, die Treppen brechen in einer Rauchwolke zusammen, und die Ratten trippeln über die Decke, eine Stimme wird an die Tür genagelt, und lange, kriechende Wesen mit haarfeinen Antennen und tausend Beinen fallen wie Schweißtropfen von den Röhren nieder. Man marschiert in runden Käfigen auf gleitenden Ebenen, die Wände des Käfigs, durch welche die Sterne und Wolken schimmern, drehen sich, und die Männer und Frauen haben alle Schwänze oder Klauen, während über allen Dingen die Buchstaben des Alphabets in Eisen und Manganit geschrieben sind. Man rennt in einem runden Käfig unter dem Rollen des Trommelfeuers herum. Das Theater brennt, aber die Schauspieler sprechen weiter. Die Blase platzt, die Zähne fallen aus, das Wehklagen des Clowns ist wie das Geräusch fallender Haarschuppen. In mondlosen Nächten wandert man im Kratertal, im Tal erloschener Feuer und gebleichter Schädel, von Vögeln ohne Flügel. Rund und rund geht man und sucht die Nabe und den Knoten der Dinge, aber die Feuer sind zu Asche ausgebrannt, das Geschlecht der Dinge ist im Finger eines Handschuhs verborgen.

Und dann brüllt eines Tages die ganze Welt wieder auf, und es ist, als wenn plötzlich das Fleisch von den Knochen fiele und das Blut unter den Knochen mit der Luft zusammenflösse, und sogar das Skelett des Körpers schmilzt zusammen wie Wachs. Solch ein Tag mag es sein, wenn man zuerst auf Dostojewskij stößt. Man erinnert sich an den Geruch des Tischtuchs, auf dem das Buch liegt. Man sieht auf die Uhr, und es ist erst fünf Minuten vor der Ewigkeit. Man zählt die Gegenstände auf dem Kaminsims, weil der Klang der Zahlen ein gänzlich neuer Klang in unserem Mund ist, weil alles, Neues und Altes, Berührtes und Vergessenes, Feuer und Magnetismus ist. Alle Türen des Käfigs stehen jetzt auf, und welchen Weg man auch geht, er führt direkt in die Unendlichkeit, eine gerade, tolle Linie, über die brüllend Sturzwellen brechen und auf die indigoblaue Marmorblöcke niedersausen, um ihre fieberglühenden Eier abzulegen. Aus den phosphoreszierenden Wellen steigen stolz und schnaubend die wie glasiert aussehenden Pferde, die mit Alexander marschierten, ihre straffgespannten Bäuche leuchten wie im Kalklicht, von ihren Nüstern träufelt Opiumtinktur. Jetzt wimmelt alles von Schnee und Läusen, während das große Band des Orion sich um die Biegung des Ozeans schlingt.

Es war genau fünf Minuten nach sieben an der Ecke des Broadway und der Kosciusko-Straße, als Dostojewskij zuerst an meinem Horizont aufblitzte. Zwei Männer und eine Frau dekorierten ein Schaufenster. Von der Mitte der Oberschenkel an waren die Gliederpuppen ganz aus Draht. Leere Schuhschachteln lagen in Haufen gegen das Fenster wie halb abgeschmolzene Schneehaufen.

Dort lernte ich so ganz nebenbei Dostojewskijs Namen kennen. Es wurde nicht mehr Aufhebens davon gemacht als von einer alten Schuhschachtel. Der Jude, der seinen Namen aussprach, hatte dicke Lippen, er konnte zum Beispiel nicht Wladiwostok oder Karpaten sagen, aber Dostojewskijs Namen sprach er göttlich aus. Noch jetzt, wenn ich Dostojewskij sage, sehe ich seine dicken, plusterigen Lippen und den dünnen, sich wie ein Gummiband ausstreckenden Speichelfaden, als er den Namen aussprach. Zwischen seinen beiden Vorderzähnen war ein mehr als gewöhnlicher Abstand. Genau in der Mitte dieses leeren Raumes zitterte und streckte sich das Wort Dostojewskij, ein dünnes, funkelndes Speichelband, in dem sich das ganze Gold des Zwielichts gesammelt hatte, denn die Sonne ging gerade über der Kosciusko-Straße unter, und der Verkehr brach in einen Frühlingstau auseinander, ein kauendes und knirschendes Geräusch, wie wenn die Gliederpuppen mit ihren Drahtbeinen sich gegenseitig bei lebendigem Leibe zerkauten. Ein wenig später, als ich in das Land der Houyhnhnms kam, hörte ich über mir dasselbe Kauen und Knirschen, und wieder zitterte der Speichel im Mund eines Mannes und funkelte in einer sterbenden Sonne. Diesmal ist es im Rachen des Drachen. Ein Mann steht mit einem spanischen Rohr über mir und fuchtelt mit einem wilden arabischen Lächeln drauflos. Wieder bersten die Wände der Welt, als wäre mein Gehirn ein Uterus. Der Name Swift war wie ein harter, klarer Strahl, der gegen den Verschlussdeckel der Welt zischte. Über mir der grüne Feuerfresser, die zarten Eingeweide in geteertes Segeltuch gehüllt. Zwei ungeheure, milchweiße Zähne beißen auf einen Gurt mit schwarzem Fett geschmierter Zahnräder nieder, die mit dem Schießstand und dem türkischen Bad in Verbindung stehen. Der Treibriemen bewegt sich über einem Rahmen gebleichter Knochen. Der grüne Drache Swift bewegt sich mit einem endlosen, pissenden Ton über die Zahnräder und zermahlt die menschengroßen Mücken, die wie Makkaroni verschluckt werden. Die Speiseröhre schluckt sie ein und aus, die Schulterknochen und die Rippen mahlen sie hinein, sie fallen durch die bodenlose Grube der Eingeweide, erbarmungslos mahlen die Zahnräder, zerkauen all die feinen Makkaronistränge, die an dem Backenbart des gierigen Drachenschlundes niederhängen, lebendig in Stücke. Ich blicke in das milchweiße Lächeln des Kläffers, dieses fanatische arabische Lächeln, das aus dem Feuer des Traumlandes kam, und dann trete ich ruhig in den offenen Bauch des Drachen. Zwischen den Platten des Skeletts, welche die mahlenden Zahnräder halten, breitet sich das Land der Houyhnhnms vor mir aus, der zischende, pissende Ton klingt mir in die Ohren, als wäre die Sprache der Menschen aus Selterwasser gemacht. Das Fauchen im Haus der Winde, die fetten, mahlenden Zahnräder, himmelblaue Wasser, Silberkugeln, die auf flüssiger Pechkohle tanzen, Banjos, flatternde Kopftücher und schwarze Zigarren, berstende Bierflaschen, in feine Glasfäden auseinandergezogener Sirup, Brandungsgebrüll und kochendes Gezisch, Schaum und Eukalyptus, Dreck, Kreide, Konfetti, ein weißer Frauenschenkel, ein zerbrochenes Ruder, der Lärm herumwirbelnder Holzplatten, das immerwährende Lächeln, das wilde arabische Lächeln, der rote Schlund und die grünen Eingeweide…

O Welt, erwürgte und zusammengestürzte Welt, wo sind die starken weißen Zähne? O Welt, die zugleich mit den Silberkugeln, den Korkstücken und den Rettungsringen versinkt, wo sind die rosigen Skalpe? O öde und kahle Welt, du zu einem Fetzen zerkaute Welt, unter welchem toten Mond liegst du kalt und glitzernd?

2

Der dritte oder vierte Frühlingstag

Warm pissen und kalt trinken, wie Trimalchio sagt, weil unsere Mutter, die Erde, in der Mitte ist, rund, rundlich wie ein Ei, und alle guten Sachen in sich hat, gleich einer Honigwabe.

Das Haus, in dem ich die wichtigsten Jahre meines Lebens verbracht habe, hatte nur drei Zimmer. Eines war das Zimmer, in dem mein Großvater starb. Bei der Beerdigung empfand meine Mutter einen so heftigen Kummer, dass sie meinen Großvater fast aus dem Sarg zerrte. Er sah lächerlich aus, mein Großvater, wie er mit den Tränen seiner Tochter weinte. Er sah aus, als weine er über sein eigenes Leichenbegängnis.

In einem anderen Zimmer gebar meine Tante Zwillinge. Als ich hörte, dass es Zwillinge waren, obgleich sie doch so mager und dürr war, fragte ich mich: Warum Zwillinge? Warum nicht Drillinge? Warum nicht Vierlinge? Warum überhaupt aufhören? So mager und abgezehrt war sie, und das Zimmer so klein – mit grünen Wänden und einem schmutzigen eisernen Ausguss in der Ecke. Und doch war es das einzige Zimmer im Haus, in dem Zwillinge zur Welt kommen konnten – oder Drillinge oder Esel.

Das dritte Zimmer war eine Kammer, wo ich mir die Masern holte, die Windpocken, Scharlach, Diphtherie und so weiter, alle die lieblichen Kinderkrankheiten, welche die Zeit so schön lang machen in ewig dauernder Seligkeit und Angst, besonders wenn die Vorsehung für ein Gitterfenster über dem Bett gesorgt hat, an dem sich Menschenfresser hochziehen, und für Schweißtropfen, so dick wie Karbunkel, Schweiß, der dahinströmt wie ein reißender Flug, üppig wuchernde Schweißperlen, als wenn immer tropischer Frühling wäre, mit Händen, dick wie Lendenfilets, und Füßen, schwerer als Blei oder leichter als Schnee, Füße und Hände getrennt durch Zeitozeane oder unberechenbare Lichtbreitengrade, der kleine Gehirnpickel in der Masse verborgen wie ein Sandkorn, während die Zehennägel selig unter den Ruinen Athens vermodern. In diesem Zimmer habe ich nur fade Redensarten gehört. Bei jeder neuen liebenswerten Krankheit wurden meine Eltern immer idiotischer. («Denk dir nur, als du ein ganz kleines Kindchen warst, habe ich dich zu dem Ausguss getragen und zu dir gesagt: Du willst doch jetzt sicher nicht mehr aus der Flasche trinken, mein Liebling, nicht wahr? Da hast du nein gesagt, und da habe ich die Flasche im Ausguss zerschlagen.») In dieses Zimmer trat mit Engelsschritten («mit Engelsschritten», sagte General Smerdiakow) Fräulein Sonowska, eine Jungfrau unbestimmten Alters in einem grün-schwarzen Kleid. Sie führte den Geruch alten Käses mit sich – ihr Geschlecht war unter dem Kleid ranzig geworden. Aber Fräulein Sonowska brachte auch die bei der Plünderung Jerusalems angefallene Beute mit, vor allem die Nägel, die Christi Hände so durchbohrten, dass die Löcher nie wieder verschwanden. Nach den Kreuzzügen der schwarze Tod, nach Kolumbus die Syphilis, nach Fräulein Sonowska die Schizophrenie.

Schizophrenie! Niemand denkt sich mehr, wie wunderbar es ist, dass die ganze Welt krank ist. Man hat keinen Vergleichspunkt, keinen Gesundheitsmaßstab mehr. Gott könnte auch der Typhus sein. Nichts Absolutes mehr. Nur Lichtjahre verzögerten Fortschritts. Wenn ich an all die Jahrhunderte denke, in denen Europa sich mit dem schwarzen Tod herumgeschlagen hat, begreife ich, wie herrlich das Leben sein kann, wenn wir nur an der richtigen Stelle gebissen werden. Tanz und Fieber inmitten jenes Verderbens! So ekstatisch wird Europa vielleicht nie wieder tanzen. Und erst die Syphilis! Das Erscheinen der Syphilis! Wie ein Morgenstern ging sie auf, der über dem Saum der Welt hängt.

Im Jahre 1927 saß ich in der Bronx und hörte einem Mann zu, der aus dem Tagebuch eines Rauschgiftsüchtigen vorlas. Der Mann brachte kaum ein Wort heraus, so lachte er. Zwei gänzlich verschiedene Phänomene: ein Mann, der in Luminal liegt, so gestreckt, dass seine Füße zum Fenster herausragen, während sein Oberkörper in Ekstase ist, und der andere (der derselbe Mensch ist) sitzt in der Bronx und hält sich vor Lachen den Bauch, weil er nicht begreift.

Ah, der große Stern der Syphilis ist im Untergehen. Schlechte Sicht: Wetterbericht für die Bronx, für Amerika, für die ganze moderne Welt. Schlechte Sicht, begleitet von Lachstürmen. Keine neuen Sterne am Horizont. Katastrophen – nichts als Katastrophen.

Ich denke an jene kommende Zeit, wenn Gott wiedergeboren wird, wenn die Menschen für Gott kämpfen und töten werden, wie sie jetzt und noch lange um Nahrung kämpfen. Ich denke an diese zukünftige Zeit, wenn die Arbeit vergessen sein wird und die Bücher den ihnen zukommenden Platz im Leben einnehmen, wo es dann vielleicht keine Bücher mehr geben wird, sondern nur ein großes Buch – eine Bibel. Für mich ist das Buch der Mensch, und mein Buch ist der Mensch, der ich bin, der verstörte, nachlässige, unbesonnene, wollüstige, obszöne, lärmende, nachdenkliche, gewissenhafte, lügnerische, teuflisch aufrichtige Mensch, der ich bin. Ich glaube, dass ich in jener kommenden Zeit nicht übersehen werde. Dann wird meine Geschichte wichtig werden, und die Narbe, die ich im Gesicht der Welt zurücklasse, wird dann ihren Sinn erhalten. Ich kann nicht vergessen, dass ich Geschichte mache, eine Geschichte ganz auf der Seite, die wie ein venerisches Geschwür die andere sinnlose Geschichte wegfressen wird. Ich betrachte mich nicht als Buch, als Schallplatte, als Dokument, sondern als eine Geschichte unserer Zeit – aller Zeiten. Wenn ich unglücklich in Amerika war, wenn ich mich nach mehr Raum, mehr Abenteuern, mehr Ausdrucksfreiheit sehnte, so deshalb, weil ich diese Dinge brauchte. Ich bin Amerika dankbar, dass es mir meine Bedürfnisse zu Bewusstsein gebracht hat. Ich habe dort meine Strafe abgebüßt. Gegenwärtig habe ich keine Bedürfnisse, ich bin ein Mensch ohne Vergangenheit und ohne Zukunft. Ich bin – das ist alles. Ich pfeife auf das, was euch gefällt oder nicht gefällt. Es macht mir wenig aus, ob ihr überzeugt oder nicht überzeugt seid, dass das, was ich sage, so ist oder nicht so ist. Es ist mir vollständig gleichgültig, ob ihr mich gegenwärtig fallenlasst. Ich bin kein Zerstäubungsapparat, aus dem ihr ein dünnes Hoffnungsstrählchen herausdrücken könnt. Ich sehe, wie Amerika Unheil ausstreut. Ich sehe Amerika als schwarzen Fluch über der Welt. Ich sehe, wie sich eine lange Nacht über die Welt niedersenkt und wie dieser Pilz, der sie vergiftet hat, an den Wurzeln abstirbt.

Und so schreibe ich mit einer Vorahnung des Endes – ob es nun morgen oder erst in dreihundert Jahren eintritt – fieberhaft dieses Buch. So kommt es auch, dass ich meine Gedanken dann und wann stoßweise ausspucke, dass ich die Flamme immer wieder anzünden muss, nicht allein mit Mut, sondern auch mit Verzweiflung – weil es keinen gibt, der diese Dinge für mich sagen könnte. Ich schwanke und taste, mein Suchen nach allen möglichen Ausdrucksmitteln ist so etwas wie göttliches Stottern. Ich bin von dem mächtigen Zusammenbruch der Welt geblendet.

Jeden Abend nach dem Essen bringe ich den Abfall in den Hof. Wenn ich wieder nach oben komme, bleibe ich mit leerem Eimer an dem Treppenfenster stehen und schaue mir Sacré-Cœur an, hoch auf dem Montmartrehügel gelegen. Jeden Abend, wenn ich den Abfall nach unten bringe, stelle ich mir vor, wie ich selbst in blendender Weiße auf einem hohen Hügel stehe. Kein heiliges Herz inspiriert mich, ebenso wenig denke ich an Christus. Ich denke an etwas Besseres als Christus, an etwas Größeres als ein Herz, an etwas, das noch über Gott den Allmächtigen geht – an mich selbst. Ich bin ein Mensch. Das scheint mir genug.

Ich bin ein Gottmensch und ein Teufelsmensch. Jedem, was ihm gebührt. Nichts Ewiges, nichts Absolutes. Vor mir immer das Bild des Körpers, unser dreieiniger Gott, Penis und Hoden. Auf der Rechten Gott Vater, auf der Linken und ein wenig tiefer Gott Sohn, inmitten und über ihnen der Heilige Geist. Nie kann ich vergessen, dass diese Heilige Dreieinigkeit Menschenwerk ist, dass sie unendlichen Veränderungen unterliegt – aber solange wir mit Armen und Beinen aus der Gebärmutter kommen, solange Sterne über uns sind, uns rasend zu machen, und Gras unter unseren Füßen wächst, um die Wunder in uns mit weichem Polster zu empfangen, so lange wird dieser Körper zu allen Melodien tanzen, die wir pfeifen mögen.

Es ist heute der dritte oder vierte Frühlingstag, und ich sitze im vollen Sonnenschein an der Place Clichy. Heute, wo ich so in der Sonne sitze, sage ich euch, dass es einen Dreck ausmacht, ob die Welt vor die Hunde geht oder nicht, dass es gar nichts bedeutet, ob die Welt recht oder unrecht hat, ob sie gut oder schlecht ist. Sie ist – und das genügt. Die Welt ist, was sie ist, und ich bin, was ich bin. Ich sage das nicht mit gekreuzten Beinen wie ein dahockender Buddha, sondern aus einer fröhlichen und gutfundierten Weisheit heraus, aus einer inneren Sicherheit. Dieses Äußere dort und dieses Innere in mir, all dieses, alles, ist das Ergebnis unerklärlicher Kräfte. Ein Chaos, dessen Ordnung über unser Fassungsvermögen geht – über das menschliche Fassungsvermögen.

Als menschliches Wesen, das im abendlichen Zwielicht, in der Morgendämmerung, zu sonderbaren unirdischen Stunden einherwandelt, stärkt mich das Gefühl, allein und einzigartig zu sein, in einem solchen Maße, dass, wenn ich mit der Menge gehe und kein menschliches Wesen mehr zu sein scheine, sondern nur noch ein Staubkörnchen, ein Fleckchen Spucke – dass ich mir vorstelle, ich wäre allein im Raum, ein einzelnes Wesen, umgeben von den prächtigsten leeren Straßen, ein menschlicher Zweifüßler zwischen Wolkenkratzern, aus denen alle Bewohner geflohen sind, während ich allein singend einherschreite und der Erde Befehle erteile. Ich brauche nicht in der Westentasche zu suchen, um meine Seele zu finden, ich spüre sie die ganze Zeit, wie sie gegen meine Rippen hämmert, anschwillt und sich aufbläht, weil sie voll von Liedern ist. Wenn ich gerade eine Versammlung verließe, wo man sich darüber geeinigt hätte, dass alles, wenn ich jetzt allein und Gott gleich durch die Straßen gehe, tot ist, wüsste ich, dass das eine Lüge ist. Die Tatsache des Todes steht mir beständig vor Augen, aber dieser Tod der Welt, der ununterbrochen weitergeht, bewegt sich nicht von der Peripherie her auf mich zu, um mich zu verschlucken, dieser Tod ist mir direkt vor den Füßen, er bewegt sich von mir weg nach außen hin, mein eigener Tod ist mir stets um einen Schritt voraus. Die Welt ist der Spiegel meines eigenen Todes, wobei die Welt nicht mehr stirbt als ich, denn ich werde in tausend Jahren lebendiger sein als in diesem Augenblick und die Welt, in der ich jetzt meinen Geist aushauche, dann ebenfalls lebendiger als jetzt, obschon sie tausend Jahre tot ist. Wenn jedes Ding bis zum Ende durchlebt wird, gibt es keinen Tod, kein Bedauern, ebenso wie es keinen falschen Frühling gibt. Jeder gelebte Augenblick öffnet einen größeren, weiteren Horizont, dessen einziger Ausweg das Leben ist.

Die Träumer träumen nur vom Hals ab, während ihr übriger Körper fest an den elektrischen Stuhl geschnallt ist. Eine neue Welt erdenken heißt sie täglich leben, jeder Gedanke, jeder Blick, jeder Schritt, jede Gebärde tötet und schafft neu, wobei der Tod immer einen Schritt voraus ist. Auf die Vergangenheit zu spucken genügt nicht. Die Zukunft zu verkünden genügt nicht. Man muss handeln, als ob der nächste Schritt der letzte wäre, was er ja ist. Jeder Schritt vorwärts ist der letzte, mit ihm stirbt eine Welt, das eigene Selbst eingeschlossen. Wir sind hier auf einer Erde, die niemals enden wird, die Vergangenheit hört nie auf, die Zukunft wird nie beginnen, die Gegenwart nie enden. Diese Welt des Niemals– Niemals, die wir in unseren Händen halten und sehen und die doch nicht wir selbst ist. Wir sind das, was nie ein Ende findet, nie zu erkennbarer Form gestaltet wird, alles ist darin und doch nicht das Ganze, die Teile so viel größer als das Ganze, dass nur der Mathematiker Gott sich dabei auskennt.

Lachen!, riet Rabelais. Für alle deine Leiden– Lachen! Aber bei Jesus, es ist schwer, nach all den Quacksalbereien, die wir haben hinunterschlucken müssen, sich diese Weisheit der heiligen Heiterkeit anzueignen! Wie kann man lachen, wenn die innere Magenhaut zerfressen ist? Wie kann man lachen nach all dem Jammer, mit dem uns die teiggesichtigen, hohlwangigen, traurigen, schmerzlich dreinblickenden, feierlichen, ernsten, seraphischen Geister vergiftet haben? Ich verstehe die Perfidie, mit der sie zu Werke gegangen sind. Ich verzeihe ihnen ihr Genie. Aber es ist schwer, sich von all der Trauer zu befreien, die sie geschaffen haben.

Wenn ich an all die Fanatiker denke, die gekreuzigt wurden, und an jene, die keine Fanatiker, sondern reine Idioten waren und die alle um einer Idee willen hingemetzelt wurden, so stiehlt sich ein Lächeln auf mein Gesicht. Versperrt jeden Fluchtweg, sage ich. Schlagt mir den Sargdeckel über das neue Jerusalem fest zu! Lasst uns hart gegen sie losgehen, Bauch gegen Bauch, ohne Hoffnung. Gewaschen oder ungewaschen, Mörder und Evangelisten, die Teig- und die Dreiviertelmondgesichter, die Wetterfahnen und die Ohrfeigengesichter – treibt sie nur nahe zusammen, lasst sie für ein paar Jahrhunderte in dieser Sackgasse schmoren!

Entweder ist die Welt zu schlaff, oder ich bin nicht hart genug. Wenn ich unverständlich würde, würde man mich sofort verstehen. Der Unterschied zwischen Verstehen und Nichtverstehen ist haarfein, noch feiner, ein Unterschied von einem Millimeter, ein Raumfaden zwischen China und dem Neptun. Wie sehr ich auch aus dem Gleichgewicht gerate, das Verhältnis bleibt dasselbe, es hat nichts mit Klarheit, Genauigkeit und so weiter zu tun – das Und-so-weiter