Sehnsuchtstrilogie: Die Sehnsuchts-Trilogie in einem Band - Frida Luise Sommerkorn - E-Book
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Sehnsuchtstrilogie: Die Sehnsuchts-Trilogie in einem Band E-Book

Frida Luise Sommerkorn

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Beschreibung

Immer wieder im Juni

Clara liebt ihr Leben in Berlin. Doch immer wieder drängt sich diese ungestillte Sehnsucht auf, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet.

Als ihr Vater stirbt und sie ihrer Mutter auf dem Allgäuer Hof zur Hand geht, ahnt sie nicht, dass ausgerechnet sein Vermächtnis ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Denn eines Tages tauchen Briefe einer Unbekannten im Schlafzimmer ihres Vaters auf. Neugierig vertieft sie sich in die geheimnisvolle und irgendwie vertraute Liebesgeschichte. Wer war die Frau, deren Worte sich wie eine Umarmung anfühlen?

Allmählich reift in Clara die Erkenntnis, dass dieses Rätsel nur eine Person lösen kann und dass danach nichts mehr so sein wird, wie es bisher war.

Manchmal ist das Glück ganz nah

Clara fühlt sich hin- und hergerissen: Soll sie ihre wahre Mutter suchen, die sie vor über dreißig Jahren zurückgelassen hat? Oder will Magdalena auch jetzt nichts von ihr wissen? Zum Weihnachtsfest besucht sie ihre Familie im Allgäu und begreift, dass sie ihrer Sehnsucht folgen muss!

Gemeinsam mit Bertram begibt sie sich auf die Reise in Magdalenas Vergangenheit. Doch alle Hinweise führen in eine Sackgasse. Dennoch fühlt sie sich ihrer Mutter näher als je zuvor. Noch ein letztes Mal will sie einer Spur nachgehen, deren Ziel sie magisch anzieht.

Und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse und Clara ist sich nicht mehr sicher, ob sie die Tür überhaupt öffnen will, an die sie nicht zu klopfen wagt.

Endlich schwingt die Liebe mit

Endlich scheinen sich alle Rätsel der Vergangenheit gelöst zu haben und Clara wünscht sich nichts sehnlicher, als die Zeit mit ihrer echten Mutter genießen zu können. Doch Magdalena fällt es schwer, mit der Schuld zu leben, Clara als Baby im Stich gelassen zu haben. Auch Clemens, der Magdalena monatelang den Hof gemacht hat, reagiert nach einem verhängnisvollen Abend auf keine ihrer Nachrichten. Als sie erfährt, dass ihre Tochter schwanger ist, übermannt sie die Erinnerung und sie verschließt sich nicht nur Clara, sondern auch Clemens.

Ein Hilferuf aus dem Allgäu holt Magdalena in das wahre Leben zurück. Auf dem Weg dorthin bekommt sie unerwartete Hilfe. Und erkennt, dass sie die Vergangenheit ruhen lassen muss, damit die Zukunft eine Chance hat.

Doch wird sie es rechtzeitig ins Allgäu schaffen, um ihrer Tochter ein zweites Mal das Leben zu schenken?

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Immer wieder im Juni

Begriffe, die zum Teil nur im Allgäu vorkommen

Prolog

Theresia

Clara

Traudl

Theresia

Clara

Ferdinand

Traudl

Theresia

Clara

M.

Quirin

Traudl

Theresia

Clara

Quirin

Traudl

Theresia

Ferdinand

Traudl

Quirin

Theresia

Clara

Theresia

Quirin

Theresia

Traudl

Epilog

Danksagung

Weitere Veröffentlichungen

Manchmal ist das Glück ganz nah

Prolog

Clara

Theresia

Traudl

Clara

Magdalena

Clara

Ferdinand

Clara

Magdalena

Clara

Theresia

Clara

Magdalena

Traudl

Clara

Ferdinand

Clara

Theresia

Traudl

Clara

Ferdinand

Magdalena

Traudl

Clara

Ferdinand

Traudl

Clara

Magdalena

Epilog

Danksagung

Das Besondere

Weitere Veröffentlichungen

Leseempfehlung

Endlich schwingt die Liebe mit

Prolog

Magdalena

Ferdinand

Sonja

Clara

Ferdinand

Traudl

Sonja

Magdalena

Ferdinand

Clara

Sonja

Magdalena

Clara

Ferdinand

Traudl

Magdalena

Sonja

Clara

Ferdinand

Magdalena

Clara

Sonja

Magdalena

Clara

Magdalena

Ferdinand

Magdalena

Sonja

Clara

Ferdinand

Epilog

Danksagung

Bisherige Veröffentlichungen

Leseempfehlung

Frida Luise Sommerkorn

Sehnsuchts-Trilogie

Die Trilogie in einem Band

Über die Autorin: Frida Luise Sommerkorn alias Jana Thiem schreibt Liebes-, Familien- und Kriminalromane. Dabei sind ihre Geschichten in jedem Genre mit Herz, Humor und Spannung gespickt. Da sie selbst viel in der Welt herumgekommen ist, kennt sie die Schauplätze ihrer Romane und kann sich voll und ganz in ihre Protagonisten hineinfühlen. Ob am Ostseestrand, im fernen Neuseeland oder in ihrer Heimat, dem Zittauer Gebirge, überall holt sich die Autorin neue Inspirationen, um ihre LeserInnen verzaubern zu können.

Texte © 2019 by Jana Thiem / Frida Luise Sommerkorn

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten!

Lektorat / Korrektorat: Dorothea Winterling M.A.

Bildmaterial by Shutterstock

Umschlag: Anne Gebhardt, papierprintit GmbH, Konstanz

Vorwort

Liebe LeserInnen!

In diesem eBook-Sammelband können Sie alle drei Teile der Sehnsuchts-Trilogie lesen:

Teil 1: Immer wieder im Juni

Teil 2: Manchmal ist das Glück ganz nah

Teil 3: Endlich schwingt die Liebe mit

In allen Büchern dürfen Sie sich auf eine Familiengeschichte freuen, deren Höhen und Tiefen zwar den Allgäuer Bergen entspringen, jedoch besonders mit den Verwicklungen der Liebe zu tun haben. Während Clara in Immer wieder im Juni eine geheimnisvolle Entdeckung macht, die ihr Leben verändern wird, begibt sie sich in Manchmal ist das Glück ganz nah auf eine Reise, deren Ziel sie magisch anzieht. Als sie dann in Endlich schwingt die Liebe mit auch noch in Lebensgefahr gerät, kann ihr nur noch eine Person helfen. Aber wird die es schaffen, die Vergangenheit ruhen zu lassen und der Zukunft, und somit auch Clara, eine Chance zu geben?

Ich wünsche Ihnen unterhaltsame Stunden im wunderschönen Allgäu!

Ihre

Frida Luise Sommerkorn

Immer wieder im Juni

Clara liebt ihr Leben in Berlin, ihre Modeboutique und ihren Freund Bertram. Doch immer wieder drängt sich diese ungestillte Sehnsucht auf, die sie schon ihr ganzes Leben lang begleitet. Als ihr Vater stirbt und sie ihrer Mutter auf dem Allgäuer Hof zur Hand geht, ahnt sie nicht, dass ausgerechnet sein Vermächtnis ihr Leben auf den Kopf stellen wird. Denn eines Tages tauchen Briefe einer Unbekannten im Schlafzimmerschrank ihres Vaters auf. Neugierig vertieft sie sich in die geheimnisvolle und irgendwie vertraute Liebesgeschichte. Wer war diese Frau, deren Worte sich wie eine Umarmung anfühlen? Allmählich reift bei Clara die Erkenntnis, dass dieses Rätsel nur eine Person lösen kann und dass danach nichts mehr so sein wird, wie es bisher war.

Begriffe, die zum Teil nur im Allgäu vorkommen

Alpe

Bergweiden inklusive einer Hütte für die Hirten

Sennalpe

Alpe, auf der Kühe gehalten werden, deren Milch direkt vor Ort zur Käse verarbeitet wird

Senn

Hirte, der sich auch um die Herstellung des Käse kümmert

Viehscheid

Rückgabe der einzelnen Tiere an ihre Besitzer, die den Sommer auf der Alpe verbracht haben

Braunvieh

Allgäuer Rindvieh

Schumpen

weibliches Jungvieh

Schellen

Kuhglocken

Grünten

„Wächter des Allgäu“, 1.783 m hoch

Reiberdatschi

Kartoffelpuffer

Prolog

Früher ...

Wehmütig saß sie auf der alten Bank des zugigen Bahnsteigs und hielt ihre Tasche fest umschlungen. Das war jetzt also aus ihr geworden. Eine junge Frau auf der Flucht. Jedenfalls fühlte es sich so für sie an.

Eigentlich war sie voller Euphorie in ihre Heimat zurückgekehrt, wollte im Schoß der Familie Kraft tanken. Ein bisschen auf dem Hof arbeiten, Freunde treffen, eben das Leben ihrer Jugend genießen. Aber nun war schon wieder alles vorbei. So schnell hatte sie nicht wieder Abschied nehmen wollen.

Natürlich wollte sie auch nicht ewig hierbleiben. Noch war ihre Abenteuer- und Entdeckerlust nicht gestillt. Aber das Schicksal hatte andere Pläne mit ihr gehabt. Wer konnte schon ahnen, dass sie ausgerechnet hier ihre große Liebe finden würde. Und nicht nur die, es gab jetzt auch ein kleines Wesen, so zerbrechlich und doch mit einem starken Blick, für das sie hätte da sein müssen.

Wieder überkam sie das tiefe Schluchzen. Sie musste sich jetzt zusammenreißen, wollte nicht auffallen. Auch wenn so früh am Morgen erst wenige Leute unterwegs waren, keiner durfte davon erfahren, dass sie heimlich und widerstrebend aufgebrochen war.

SIE hatte ihr eindringlich dazu geraten, hatte das neue Leben in den schönsten Farben gemalt und ihr dann aufmunternd auf die Schulter geklopft. So, als wären sie beste Kumpel. Aber das waren sie nicht. Sie waren mehr als das. Nur dass sie SIE enttäuscht hatte und nun dafür büßen musste.

Aber vielleicht hatte SIE recht. Wahrscheinlich war es für alle am besten, wenn sie nicht mehr dazwischenstand. Und so mittellos wie sie war, hätte sie niemals auch noch für ein Kind sorgen können.

Ja, sie wollte die Welt entdecken und frei sein, jedenfalls hatte SIE ihr das eingeredet. Immer und immer wieder, bis sie es selbst glaubte.

Und dann der Abschiedsbrief. Auch den hatte SIE für sie vorgeschrieben. Sie musste ihn nur Wort für Wort übernehmen. Die Schmerzen, die sie dabei empfand, hatte sie verdrängt. So wie alles andere auch.

Warum hatte er sich auch nicht für sie entschieden? Warum konnte er nicht zu ihr stehen und ein gemeinsames Leben mit ihr beginnen? Sie hatten doch so viel zusammen erlebt! Sie hätten eine wunderschöne Zeit miteinander haben können! Sie hätten reden und eine Lösung finden müssen. Aber Reden war noch nie seine Stärke gewesen. Lieber zog er sich zurück und ließ die Dinge auf sich zukommen.

Schluchzend legte sie die Hände vor das Gesicht. Nein, sie wollte diesen Schritt nicht gehen und tat es doch. Sie war genauso wie er, hatte auch zu wenig Mut.

Mit quietschenden Bremsen hielt der Zug an. Automatisch stand sie auf, strich sich ihre Kleidung glatt, nahm die Tasche und bestieg den Zug.

Sie sah nicht ein einziges Mal zurück.

Theresia

»Hast du schon was von Ferdl gehört?«, fragte Traudl und wischte sich mit dem Handrücken über die tränennassen Augen. Ihre brüchige Stimme versagte ihr fast bei dieser Frage.

»Nein, Mutter!«, antwortete Theresia. Genervt schaute sie vom großen Holztisch auf, an dem sie seit einer geschlagenen Stunde saß und versuchte, sich auf die Sitzordnung der nachmittäglichen Trauerfeier zu konzentrieren.

»Und du weißt doch, dass er nicht mehr Ferdl genannt werden möchte. Er ist erwachsen und heißt Ferdinand. So habt ihr ihn jedenfalls vor 26 Jahren getauft.«

Als die Worte raus waren, biss Theresia sich auf die Zunge. Das Wort ihr hatte sie tunlichst vermeiden wollen. Schließlich gab es seit ein paar Tagen kein Ihr mehr. Heute sollte die Beerdigung ihres Vaters sein und sie wusste jetzt schon nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.

Traudl hatte sich auf den einzigen Stuhl im Raum gesetzt, der nicht am Tisch, sondern direkt neben der Küchenarbeitsplatte am Fenster stand. Dort hatte Georg, ihr Vater, immer am liebsten gesessen. Und geschwiegen. Georg war kein Mann der großen Worte, auch wenn alle Leute im Ort immer behaupteten, dass er früher bei jeder Feier die Menge unterhalten konnte. Theresia hatte nie viel darauf gegeben, was die Leute sagten, aber sie konnte sich auch beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihr Vater als Entertainer auf dem Tisch getanzt hätte. Für sie war er ein zurückgezogener Mann. Unter seinen Blicken war sie so manches Mal zur Ameise geworden. Aber er war nie laut geworden, hatte eben seine Arbeit erledigt und sich sonst aus allem rausgehalten.

Theresia schaute an ihrer Mutter vorbei aus dem Fenster. Wenn sie jetzt an ihn dachte, kam ihr immer wieder in den Sinn, dass er trotz des starren Blickes kein böser Mann gewesen war. Egal welche Probleme sie oder ihre Geschwister hatten, er war immer für sie da gewesen. Nur eben zurückhaltend und wortkarg. Bis zu einer Zeit, da er auch diese Nähe nicht mehr zugelassen hatte. Da war sie zwölf oder dreizehn. Plötzlich war sogar das leichte Lächeln, das er noch manches Mal für sie gehabt hatte, verschwunden.

Theresia schüttelte die Gedanken ab. Seitdem sie mit dem Pfarrer wegen der Trauerrede über ihren Vater gesprochen hatte, kamen ihr immer wieder Zweifel, ob sie ihren Vater wirklich gekannt hatte. Aber dafür war es nun zu spät und Theresia war genervt, dass sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Warum stellte der Pfarrer eigentlich immer erst solche Fragen, wenn es zu spät war? Sollte die Kirche nicht vielleicht monatlich solche Gespräche führen? Dann müsste man sich schon eher Gedanken über seine Familie und Mitmenschen machen. Oder nahm ihr Pfarrer diese Aufgabe sogar wahr? Schließlich hatte sie ihn öfter mal auf dem Hof gesehen, aber aus Zeitgründen selten mit ihm gesprochen. Und wenn, dann nur im Vorbeigehen zwischen Tür und Angel.

»Aber, er ist doch mein Ferdl«, hörte Theresia ihre Mutter murmeln und musste sich erst wieder daran erinnern, worüber sie gerade eben gesprochen hatten.

Sie schaute auf die Uhr. Gleich 11 Uhr. Ferdinand und Clara wollten schon längst da sein. Der Jüngste im Geschwisterbunde studierte schon seit ein paar Jahren in Bremen. Meeresbiologie! Ihre Eltern hatten nie verstanden, wie es einen echten bayerischen Buben an die Küste verschlagen konnte. Aber Ferdinand hatte sich durchgesetzt.

Clara dagegen, das Sandwichkind, musste sowieso nie etwas durchsetzen. Sie musste als Kind nicht zur Schule, wenn der Bauch weh tat, sie konnte lieber lernen, wenn sie keine Lust zur Stallarbeit hatte und sie durfte in Berlin Design studieren, ohne dass sich ihre Eltern beschwert hätten. Manchmal kam sich Theresia wie das schwarze Schaf der Familie vor.

Aber eigentlich mochte sie ihre Geschwister sehr. Und auch wenn sie das Gefühl hatte, dass die beiden bevorzugt wurden, hatten sie das nie gegen sie ausgespielt. Clara war viel zu lieb, um sich gegen jemanden zu stellen. Erst recht, seitdem sie Bertram kennengelernt hatte. Auch wenn Theresia ihn erst einmal gesehen hatte, er schien schon der Richtige für ihre Schwester zu sein. Und Ferdinand war zwar ein kleiner Lausbub gewesen, aber er hatte es immer geschafft, sie um den kleinen Finger zu wickeln.

Plötzlich kam Bewegung in die zusammengesunkene Gestalt ihrer Mutter.

»Da ist er«, sagte sie und schob ihren Zeigefinger in die Richtung, aus der ihr Sohn kam.

Theresia seufzte. Endlich! Das Lieblingskind war da und sie konnte sich wieder auf ihren Sitzplan konzentrieren. Natürlich gab es keine Tischkärtchen wie bei einer Hochzeit, aber wenigstens wollte sie den Überblick behalten, sodass nicht plötzlich verfeindete Familien, von denen es einige im Ort gab, nebeneinander saßen.

Als ihre Mutter die Küche verlassen hatte, um ihrem Sohn entgegenzueilen, ließ Theresia den Kopf auf die Arme sinken. Hoffentlich war dieser Tag bald vorbei, damit sie sich wieder den Alltagsdingen widmen konnte. Schließlich warteten in der heimischen Käserei noch Regale voller Käselaibe, die gewendet, gebürstet und verfeinert werden wollten.

Clara

»Noch drei Stunden, dann haben wir es geschafft!«

Bertram aktivierte das Navi und nickte, als er die Ankunftszeit sah.

»Und pünktlich werden wir auch sein. Laut Navi kommen wir ungefähr um 12 Uhr an«, sagte er und schaute Clara lächelnd an.

Dankbar zog Clara ihn zu sich heran und küsste Bertram auf die weichste Stelle der Wange, die sie so liebte. Wie eigentlich alles an ihm.

Während Clara sich anschnallte, lenkte Bertram das Auto vom Rastplatz und reihte sich zügig in die viel befahrene Autobahn ein.

Je näher sie ihrer Heimat kam, umso mulmiger wurde Claras Bauchgefühl. So war es ihr schon immer gegangen. Egal, ob sie von langen Urlaubsreisen kam oder sich kurze Auszeiten vom Studium genommen hatte. Sie hatte nie feststellen können, warum das so war. Eigentlich liebte sie ihre Heimat, die Wiesen, die Berge und ihren Hof. Und natürlich ihre Familie. Trotzdem hatte sie immer das Gefühl gehabt, nicht richtig dorthin zu passen. Vielleicht hatte sie das schlechte Gewissen darüber auch immer wieder in die Ferne getrieben.

Traurig schaute sie aus dem Fenster und betrachtete die vorbeifliegende Landschaft. Der Juli hatte es richtig gut mit ihnen gemeint. Hohe Temperaturen und strahlender Sonnenschein waren Grund genug gewesen, sich auch in Berlin viel im Freien aufzuhalten und die Cafés oder Grünanlagen zu genießen. Oder auch mal einen Ausflug in die märkische Natur zu unternehmen.

Sie hatten sich sogar spontan einen Kurzurlaub auf dem Darß gegönnt und Bertrams Familie besucht. Nachdem seine Schwester Anne ein kleines Häuschen am Bodden geerbt und restauriert hatte, konnten sie dort unbeschwerte Stunden allein oder im Kreise der Familie verbringen. Auch Annes Freundinnen Stine und Caro waren oft dabei.

Jedes Mal, wenn Clara an die Zeit auf dem Darß und Bertrams Familie dachte, setzte sich ein wohlig warmes Gefühl in ihr fest. Sie war froh, ein Teil dieser Familie geworden zu sein. Auch wenn Bertram und sie noch nicht verheiratet waren, so fühlte es sich doch so an, als hätte sie schon immer dazugehört.

Ganz anders musste sich Bertram bei ihrer Familie gefühlt haben. Sie hatte ihn nie darauf angesprochen, da sie Angst vor seiner Antwort hatte. Was sollte sie tun, wenn er sich nicht akzeptiert fühlte? Sie wollte sich weder von ihm trennen noch von ihrer Familie lossagen. Und wenn sie jetzt so darüber nachdachte, hatte das auch noch nie jemand von ihr verlangt. Was war das also? Alles Einbildung?

Clara schüttelte den Kopf. Sie musste diese miesen Gedanken loswerden. Sie brauchte nicht über Entscheidungen nachzudenken, wenn es gar nichts zu entscheiden gab.

Außerdem war ihr Vater tot. Er war derjenige gewesen, der sie manchmal mit seinem Blick durchbohrt hatte. Clara hatte nie verstanden, was diese Blicke zu bedeuten hatten. Oft schien er dabei in einer ganz anderen Welt zu sein. Besonders schlimm wurde es, wenn sich diese tiefe Traurigkeit dazu mischte. Dann wäre sie am liebsten immer aufgesprungen und hätte ihn geschüttelt, ihn angeschrien oder einfach nur in den Arm genommen. Wie oft war sie sich sicher gewesen, dass seine Gedanken jeden Moment in Worte gefasst zum Vorschein kommen würden. Sie hatte minutenlang seinem Blick standgehalten, heimlich gebetet, dass er endlich reden würde, aber er hatte es nie getan. Im Gegenteil! Mit jedem dieser Dämmerzustände wurde seine Zurückhaltung größer. Manchmal fühlte sie sich danach wochenlang unsichtbar neben ihm.

Clara hatte diese Zwiespältigkeit nie verstanden. Einerseits konnte er ein liebevoller Vater sein, der sich für seine Kinder Zeit nahm und ihnen die Welt erklärte. Aber dann waren da diese Momente, in denen sie sich von ihm weggestoßen fühlte. Ob es ihren Geschwistern auch so ergangen war? Sie konnte sich nicht daran erinnern, mit ihnen darüber gesprochen zu haben. Anfangs war sie zu klein, dann zu rebellisch und dann nur noch auf der Flucht.

Trotz allem fühlte Clara tiefe Dankbarkeit, wenn sie an ihre Eltern dachte. Im Gegensatz zu Theresia hatte sie sich viel mehr leisten können. Im positiven wie im negativen Sinne. Über ihre Streiche, die sie mit ihren Freundinnen ausgeheckt hatte, ließen sie oft kein Wort verlauten. Strafen gab es kaum welche. Und wenn sie Lust hatte, das Wochenende bei einer Freundin in Sonthofen zu verbringen, war das nie ein Problem gewesen. Sie hatte sich schon immer gewundert, warum ihre Eltern die Geschwister so unterschiedlich behandelten. Theresia bekam sofort geschimpft, wenn auch nur eine Kleinigkeit nicht nach ihren Vorstellungen lief. Und Übernachtungen bei Freundinnen waren schon deshalb nicht drin, weil Theresia auf dem Hof helfen musste.

Es war nicht so, dass sie selbst nicht auch oft geholfen hätte. Clara erinnerte sich noch genau daran, wie umständlich sie ihre erste Kuh gemolken hatte. Da stellte sich Theresia viel geschickter an. Und als sie dann auch noch versehentlich die Milchkanne umgekippt hatte und die halbe Milch auf den Stallboden geflossen war, gab es nur eine kleine Rüge. Im Gegensatz dazu wurde Theresia aber nicht gelobt, dass sie die Dinge viel besser konnte.

Wenn Clara jetzt so darüber nachdachte, wunderte sie sich, dass Theresia und sie trotzdem in der Kindheit unzertrennlich gewesen waren. Theresia hatte alles mit einer Ruhe weggesteckt, die Clara nie hätte aufbringen können. Sie waren in vielen Dingen so verschieden und hatten dennoch immer zusammengehalten.

Vielleicht hatten ihre Eltern in Theresia den Sohn gesehen, der einmal alles erben und fortführen würde. Denn schon früh war klar gewesen, dass Ferdinand, der Jüngste im Bunde, dazu nie bereit wäre. Er war das Nesthäkchen und ihre Mutter verhätschelte ihn, wo sie konnte. Natürlich hätte sie sich gewünscht, dass er, wenn schon nicht auf dem Hof, dann doch wenigstens in ihrer Nähe geblieben wäre. Aber schon in der Grundschule hatte Ferdinand verkündet, dass er einmal die Tiefen der Meere erforschen würde. Das halbe Kinderzimmer hatte aus Aquarien bestanden, die er sich allesamt zusammengespart hatte. Natürlich musste auch er auf dem Hof helfen, aber sobald er damit fertig war, holte er sich sein Fahrrad aus dem Schuppen und radelte nach Burgberg. Sicherlich wäre er lieber ins Meeresaquarium nach Konstanz gefahren. Aber da das wegen der Entfernung überhaupt nicht in Frage kam, half er im Burgberger Tierparadies aus, wo es ging. Und sparte sich damit seine Unterwasserwelt zusammen. Zum Leidwesen des Vaters. Als Ferdinand dann nach dem Abitur direkt nach Bremen gegangen war, hatte Vater dafür gesorgt, dass alle Aquarien aus dem Haus verschwanden. Die Enttäuschung war ihm wochenlang anzusehen gewesen. Umso mehr wunderte es Clara, dass er bei ihr damals keinen Aufstand gemacht hatte. Als sie verkündet hatte, dass sie in Berlin Design studieren würde, hatte ihr Vater nur genickt und einen Glückwunsch gemurmelt.

Bertrams plötzliche Berührung schreckte Clara aus ihren Gedanken.

»Wir sind gleich da, mein Schatz«, sagte er leise und schaute sie lächelnd an.

Clara setzte sich aufrechter hin. Sie versuchte, sich zu orientieren. Konnte es sein, dass sie so lange in Gedanken versunken gewesen war? Gerade verließen sie die A7, um der B19 zu folgen. Blieben ihr also noch ein paar Minuten Zeit, sich zu sammeln. Sie hatte schon ewig nicht mehr so viel über ihre Familie nachgedacht. Aber das war bei einer Beerdigung sicher verständlich.

Die Beerdigung! Auch hier war Clara wieder froh, dass Theresia vor Ort wohnte und sich um alles gekümmert hatte. Sie hatte auch Claras Angebot abgelehnt, eher zu kommen, um ihr unter die Arme greifen zu können. Das schaffe sie jetzt auch schon allein, war ihr Argument. Clara wusste nicht genau, was sie davon halten sollte. Vielleicht steckte ja doch ein kleiner Vorwurf mit drin? Na ja, sie würde es merken, wenn sie gleich auf den Hof einbogen. Für die nächste Woche hatte sie jedenfalls Urlaub eingeplant, um für ihre Familie da zu sein.

Traudl

»Mein herzliches Beileid, Traudl! Er war so ein Guter«, schluchzte die ältere Dame und drückte Traudls Hand so fest, dass sie sie schnell zurückzog. Mit einem Kopfnicken bedankte sie sich. Lächeln konnte sie schon lange nicht mehr. Die Schlange der Kondolierenden wollte kein Ende nehmen. Traudl war froh, dass Theresia ihr irgendwann einen Stuhl hingeschoben hatte und seitdem einen Regenschirm als Sonnenschutz über sie hielt. Der Friedhof lag am Grab ihres Mannes ungeschützt in der prallen Sonne und sicher hätten ihre Knie irgendwann nachgegeben.

Als die letzten Beileidsbekundungen überbracht waren, half Theresia ihrer Mutter auf. Sie hakte sich bei ihr unter und wollte sie zum Ausgang führen.

»Ach, lass mich doch noch ein bisschen beim Schorsch bleiben«, bat Traudl. Sie klammerte sich an Theresias Unterarm.

»Mutter, die Gäste werden zuhause warten«, mahnte Theresia. »Schau, wie lange wir jetzt schon hier gestanden haben. Da sind die ersten sicher schon bei uns auf dem Hof.«

»Sollen sie halt warten«, murmelte Traudl und löste sich vorsichtig vom Arm ihrer Tochter.

Sie beugte sich hinunter und richtete die Schleife des größten Kranzes, den Theresia für die Familie ausgesucht hatte.

»Hatten die keinen Flieder, den sie hätten mit reinbinden können?«, fragte Traudl und kam ächzend wieder nach oben.

Theresia seufzte leise.

»Nein, Mutter, Anfang August gibt es keinen Flieder mehr. Da hätte der Vater im Mai sterben müssen.«

Kaum war der Satz über ihre Lippen gekommen, schlug sich Theresia die Hand auf den Mund.

»Entschuldige ...«, murmelte sie erschrocken.

Traudl musterte ihre Tochter missbilligend, sagte aber kein Wort. Stattdessen schaute sie zum Grab ihres Mannes und schüttelte unmerklich den Kopf.

Die Resi war noch nie einfühlsam gewesen, dachte Traudl und schluckte. Aber ihrem Vater jetzt auch noch vorzuschreiben, wann er zu sterben hätte, nur damit er mit seinen Lieblingsblumen beerdigt werden könnte, war noch weniger als das. Trotzdem wusste Traudl, dass dem Schorsch die Bemerkung gefallen hätte. Auch wenn er es sich hätte nicht anmerken lassen. Schon gar nicht mehr seit damals, aber solche unbedachten Äußerungen seiner Großen hatten ihn immer amüsiert. Leider hatte er der Resi nie zeigen können, wie sehr er sie geliebt hat, dachte Traudl traurig. Lieber spannte er sie in die Hofarbeit ein und verband so das Angenehme mit dem Nützlichen, sie war in der Nähe und er hatte Hilfe. Als Resi dann auch noch Quirin kennengelernt hatte und der auf dem Hof mit einstieg, war sein Glück perfekt. Wenigstens würde ihm ein Kind erhalten bleiben. Noch dazu, wo sie nach ihm geraten war.

»Mutter, wir müssen los«, mahnte Theresia leise.

Traudl winkte ab. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie sich den Leichenschmaus gespart. Wo waren denn die ganzen Leute gewesen, als es dem Schorsch so schlecht gegangen war? Vereinzelt waren ein paar halbherzige Anfragen gekommen, aber letztendlich hatte ihnen niemand unter die Arme gegriffen. Hätte sie sowieso nicht gewollt.

Traudl setzte sich wieder auf den Gartenstuhl, der noch immer in der Nähe des Grabes stand.

»Ihr könnt schon rübergehen«, bot Ferdinand flüsternd an. »Ich komme so schnell wie möglich mit ihr nach.«

Mit dem Kopf deutete er auf die trauernde Mutter hinter sich.

»Meinst du wirklich? Die Mutter muss doch dabei sein ...«, begann Theresia.

»Ach komm, lass Mutter noch ein bisschen hier. Die Leute freuen sich jetzt auf Kaffee und Kuchen oder eine Brotzeit und ein Bier. Da ist es wahrscheinlich egal, wann sie nachkommt«, sagte Clara.

Die drei Geschwister standen im Halbkreis neben dem Grab und betrachteten ihre Mutter.

»Na gut, aber bleibt nicht zu lange, ja?«

Theresia drückte Ferdinand die Hand und hakte sich bei Clara unter. Langsam bewegten sie sich auf den Ausgang des Friedhofs zu, an dem Bertram mit Theresias Kindern wartete.

»Endlich haben wir Ruhe«, sagte Traudl unvermittelt und schaute ihren Töchtern nach. Sie hatte sich in der Zwischenzeit den Regenschirm wieder aufgespannt und legte ihn auf der Schulter ab, sodass ihr Kopf fast ganz darunter verschwand.

Lautlos trat Ferdinand neben sie.

»Dein Vater hat dich sehr geliebt, weißt du das?«, fragte Traudl nach einer langen Stille.

Ferdinand wusste nicht recht, was er sagen sollte. Ihm war es nicht immer so vorgekommen. Erst recht nicht mehr, seitdem er zum Studium in den Norden gezogen war. Mit seinem »Meeresbiologietick« sollte er seinem Vater gestohlen bleiben. Das waren jedenfalls die Worte, die er von ihm mit auf dem Weg nach Bremen bekommen hatte.

»Also, wusstest du das?«, fragte Traudl nach.

Ferdinand seufzte innerlich. Die Wahrheit konnte er seiner Mutter wohl in diesem Moment kaum sagen.

»Kann schon sein«, antwortet er vage.

»Nein, das war so! Er hat jedes seiner Kinder geliebt, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise.«

Nachdrücklich nickte Traudl dazu.

»Weißt du noch, als du dein erstes Aquarium in deinem Zimmer gefunden hast? Das war doch eine schöne Überraschung, was?«

Noch immer nickte Traudl.

»Ja, aber das hast du mir dahin gestellt«, antwortet Ferdinand vorsichtig.

Jetzt verlagerte Traudl die Schwingung des Kopfes in die andere Richtung. Unaufhörlich schüttelte sie ihre grauen Locken. Dabei bewegte sich der Regenschirm im Gleichklang mit.

Ferdinand musste sich ein Grinsen verkneifen.

»Tja, das sollten alle glauben. Dein Vater hat das Aquarium heimlich gekauft. Ich wusste nichts davon. Aber er wollte nicht, dass das jemand erfährt. Also sollte ich es auf meine Kappe nehmen.«

Als Ferdinand nichts sagte, lugte Traudl unter dem Regenschirm hervor und versuchte, das Gesicht ihres Jüngsten zu erkennen. Da aber die Sonne so blendete, verkroch sie sich schnell wieder unter dem schützenden Dach.

»Das war nicht das einzige Mal, dass er so etwas gemacht hat. Ich könnte euch Sachen erzählen«, legte Traudl nach.

»Aber warum hat er das gemacht? Ich hätte mich doch riesig gefreut, wenn ich gewusst hätte, dass er mir dieses Geschenk gemacht hat.«

Ferdinand trat um den Stuhl herum und ging neben seiner Mutter in die Hocke.

Traudl nestelte an ihrer Jackentasche und zog ein zerknülltes Papiertaschentuch hervor. Erleichtert schaute ihr Ferdinand zu. Er war froh, dass sie endlich von ihren bestickten Stofftaschentüchern abgelassen hatte. Es hatte ihn immer geschüttelt, wenn seine Mutter mit so einem durchweichten Tuch in der Hand auf ihn zukam.

»Hm, Mutter? Warum war er so?«, hakte Ferdinand nach.

»Ach, er war doch nicht so. Jedenfalls nicht immer. Und damals schon gar nicht. Aber seitdem ist eben ...«

Traudl hielt inne und schaute Ferdinand erschrocken an.

»Seit damals?«, fragte Ferdinand. Kleine Falten bildeten sich auf seiner Stirn.

Nun begann Traudl richtig zu schluchzen. Das erste Mal heute. Eigentlich hatten die Geschwister erwartet, dass sie die Beerdigung vor Traurigkeit kaum überstehen würde. Aber sie hatte sich erstaunlich tapfer gehalten.

Unbeholfen versuchte Ferdinand, seine Mutter in den Arm zu nehmen. Er kniete vor ihrem Stuhl und schlang seine Arme um ihren Hals. Das Zucken des schmächtigen Körpers berührte ihn.

Plötzlich versteifte sich Traudl.

»Das habe ich jetzt davon. Wir hätten das gemeinsam regeln sollen. Aber nun hat er sich aus dem Staub gemacht. Und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll.«

Ferdinand hatte die gemurmelten Worte seiner Mutter kaum verstanden. Noch weniger ihren Inhalt.

»Womit musst du umgehen?«

Er war aufgestanden und putzte die Hosen in Höhe der Knie sauber.

Auch Traudl hatte sich erhoben.

»Das ist egal«, sagte sie mit trotziger Stimme. »Wir sollten jetzt besser gehen.«

Nachdenklich schaute Ferdinand seine Mutter an, ließ sich aber von ihr einhaken und fragte auch nicht nach.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, marschierte Traudl am Arm ihres Sohnes über den Friedhof. Wie hatte sie sich denn so verplappern können. Das war alles der Ärger darüber, dass Schorsch die Sache nicht eher angegangen war. Es nie wirklich wollte. Aber sie konnten doch nicht beide ohne ein Wort unter der Erde verschwinden!

Traudl seufzte. Darüber konnte sie sich auch noch morgen den Kopf zerbrechen. Jetzt musste sie erst mal den Leichenschmaus hinter sich bringen.

Theresia

»Ich finde es trotzdem schade, dass Quirin heute nicht dabei war. Schließlich habt ihr den Hof und alles geerbt«, sagte Clara in die geschäftige Stille hinein.

Seit fast zwei Stunden waren sie nun schon dabei, die Spuren des Leichenschmauses zu beseitigen. Mittlerweile ging es auf Mitternacht zu.

Bei Claras Bemerkung hielt Theresia kurz inne. Sie war gerade dabei, die Arbeitsplatte von den letzten Resten des Buffets zu befreien.

»Ja genau, und deshalb hätte es der Vater sicher nicht gerne gehabt, dass er das Braunvieh auf der Alpe auch nur für einen Tag jemandem anderen überlässt. Oder hättest du hochgehen wollen?«, gab Theresia bissig zurück, bevor sie sich wieder der Arbeitsplatte widmete.

»Natürlich nicht!«, antwortete Clara. »Das war ja auch gar nicht so gemeint. Ich dachte ja nur, dass es schöner gewesen wäre, wenn wir uns alle zusammen vom Vater hätten verabschieden können.«

Theresia spülte den Putzlappen nach, drückte ihn sorgfältig aus und hängte ihn dann über den Wasserhahn. Sie wischte sich beide Hände an der verschlissenen Schürze ab und drehte sich langsam Clara zu.

»Hast du noch Zeit zum Reden? Ihr werdet ja sicher morgen abreisen müssen ...«

Theresia hatte es absichtlich so klingen lassen, dass Clara nur zugreifen und kein schlechtes Gewissen haben musste. Sie konnte jetzt einfach keinen Besuch ertragen. Auch wenn sie ihre Schwester liebte, so brauchte sie dringend ihren Alltag wieder. Die letzten Tage waren schon anstrengend genug gewesen. Diese ganze Organisation der Beerdigung hatte sie völlig aus ihrem Rhythmus gebracht. In der Käserei ging es bestimmt drunter und drüber, auch wenn Bille, ihre Angestellte und Freundin, etwas anderes behauptete.

Sie waren noch immer in der Umstrukturierung. Als der Vater nach seinem Herzinfarkt plötzlich ausgefallen war, musste Quirin seine Aufgaben übernehmen. Dabei schien es Theresia so, als ob er den Job auf der Alpe nur zu gerne übernommen hätte. Drei Monate in den Bergen, kein Stress auf dem Hof, nur die Kühe und sonst absolute Stille. Auch wenn Theresia wusste, dass die tägliche Arbeit dort oben kein Zuckerschlecken bedeutete, konnte sie Quirins Gesichtsausdruck nicht vergessen. Mit einem unterdrückten Lächeln war er losgezogen, als klar war, dass so schnell kein Ersatz für den Vater gefunden werden konnte.

Mit Grausen erinnerte sich Theresia daran, wie plötzlich nachts das Telefon klingelte und der Bertl, der mit dem Vater auf der Alpe war, zusammenhangloses Zeug schrie. Irgendwann hatte sie verstanden, dass es um den Vater ging und er in die Immendorfer Herzklinik geflogen worden war. Und dann war alles ganz schnell gegangen. Der Vater lag im Sterben, der Quirin musste hoch zu den Kühen und an ihr blieb alles andere hängen.

Clara hatte sich in der Zwischenzeit an den großen Holztisch gesetzt und eine Flasche Wein geöffnet. Sie waren beide keine Biertrinker. Sie klopfte mit der Hand auf den Platz neben sich und schaute ihre Schwester aufmunternd an.

Erschöpft ließ sich Theresia auf die Eckbank fallen. Sie brauchte Ruhe, viel Schlaf und einen geregelten Alltag. Dann würde sie schon alles schaffen.

»Wir wollten eigentlich noch ein paar Tage bleiben«, begann Clara vorsichtig. »Dir und Mutter unter die Arme greifen. Ich weiß, dass ich die Sachen nicht so gut erledigen kann wie du, aber zur Hand gehen kann ich dir. Ich habe bestimmt nicht alles verlernt.«

Theresia seufzte. So etwas hatte sie schon geahnt. Es war ja lieb von Clara, dass sie helfen wollte, aber dann musste sie ja noch jemandem über die Schulter schauen. Schließlich war sie jetzt die Einzige auf dem Hof, die wusste, was gemacht werden musste. Ihre Mutter wollte sie so gut es ging schonen. Das hätte sie beim Vater auch tun sollen, aber der war durch nichts davon abzubringen gewesen, auch mit knapp 70 noch die Knochenarbeit auf der Alpe zu übernehmen. Könnte ja das letzte Mal sein, hatte er noch gesagt.

»Hey, ich weiß, dass dir dein geregelter Ablauf heilig ist, aber ich glaube einfach, dass sogar du jetzt mal Hilfe gebrauchen könntest. Ferdinand will auch noch ein paar Tage dranhängen. Dann kannst du ihm und Bertram die Männerarbeit überlassen und ich helfe dir in der Käserei. Was meinst du?«

Clara hatte ihre Hand auf Theresias Arm gelegt und schaute sie eindringlich an.

Zögernd nickte Theresia. Vielleicht hatte Clara ja recht. Auch wenn sie nicht wusste, ob es für sie leichter würde, aber die Arbeit würde wenigstens erledigt werden. Und für die beiden Männer hätte sie tatsächlich etwas zu tun. Quirin war gerade dabei gewesen, ein Stück der Hofeinfahrt wieder zu richten. Regen und Schlamm verwüsteten die leicht schräg liegende Einfahrt regelmäßig. Und das zu erledigen hatte sie nun wirklich keine Zeit.

»Gut, dann machen wir es so«, sagte sie nur kurz und prostete Clara zu. Dann fiel ihr etwas ein.

»Sag mal«, begann sie. »Ist dir an der Mutter etwas aufgefallen?«

Clara überlegte.

»Nein! Wieso?«

»Mhm, ich dachte ja nur ...«, antwortete Theresia unbestimmt.

»Was meinst du denn?«, hakte Clara nach.

Theresia rang mit sich.

»Ach, vielleicht ist es einfach noch zu früh.«

»Was ist noch zu früh? Theresia, jetzt red doch mal Klartext«, sagte Clara.

Theresia spürte die Angst in Claras Stimme. So war das doch gar nicht gemeint gewesen. Sie holte tief Luft.

»Ich dachte eigentlich, die Mutter würde jetzt aufatmen. Also, natürlich nicht, weil der Vater tot ist. Eher, weil sie jetzt keinen Druck mehr bekommt.«

Jetzt war es raus, was sie schon so lange beschäftigte.

»Du meinst, der Vater hat unsere Mutter unter Druck gesetzt? Aber womit?«, fragte Clara.

»Ist dir denn nicht aufgefallen, dass irgendwas mit den beiden nicht stimmen konnte? Wenn die Leute von früher erzählen, da waren unsere Eltern lebenslustige Menschen, die keine Gelegenheit zum Feiern ausließen. Natürlich sind sie älter geworden und hatten den Hof und uns, aber hast du nie das Gefühl gehabt, dass da noch was anderes sein könnte?«

»Doch, schon! Aber meinst du, der Vater war daran schuld?«, fragte Clara. Sie rieb sich mit der Hand über die Stirn.

Theresia musste schmunzeln. Das hatte Clara von klein auf getan, wenn sie über etwas grübeln musste.

»Irgendwie habe ich das die ganze Zeit gedacht, ja. Du kennst doch seinen Blick. Wenn er zum Abendessen in die Küche kam, dann hat er uns immer erst der Reihe nach fixiert. So, als könnte er in unseren Blicken lesen, was wir ausgefressen hatten. Und statt der Mutter einen Kuss zu geben, nickte er ihr zu, so als wollte er fragen, ob sie alles im Griff hätte«, sagte Theresia. Sie nippte an ihrem Wein.

»Ich glaube, es ist noch zu früh, um eine Veränderung an unserer Mutter feststellen zu können. Der Vater wurde heute erst beerdigt. Und sie sah weder erleichtert noch glücklich aus. Auch wenn sie sich nicht mehr geliebt haben sollten, ich hatte heute das Gefühl, dass Mutter wirklich traurig war«, antwortete Clara.

Theresia nickt bedächtig. »Bist du eigentlich traurig?«, fragte sie plötzlich.

Clara schluckte.

»Ehrlich gesagt habe ich mich das auch schon den ganzen Tag gefragt. Irgendwie schon, aber er war kein Vater wie andere, oder? Ich kann mich nicht entsinnen, mit ihm gekuschelt oder Geheimnisse anvertraut zu haben«, sagte sie.

»Und Mutter? War es bei ihr anders?«, hakte Theresia nach.

Clara zuckte mit den Achseln.

Eine Weile blieb es still in der Küche.

»Ich habe vor einiger Zeit Bertrams Familie kennengelernt, bei denen gelacht und sich umarmt wird. Einfach so zwischendurch. So etwas hat es bei uns nicht gegeben. Manchmal hat Mutter noch über Ferdinand gelacht, aber sonst ...?«

Während Clara das sagte, schaute sie nicht auf.

»Ja, das Leben ist nicht lächerlich, wie Mutter immer sagte. Und wie oft habe ich ihr gesagt, dass das Lachen nichts mit lächerlich zu tun hat. Aber das war ihr egal. Wir wüssten schon, was sie meinte«, sagte Theresia und stierte ebenfalls auf die Tischplatte unter ihren Händen. »Aber ich habe ehrlich gesagt nie verstanden, was sie damit meint.«

Plötzlich sah Clara auf.

»Warum haben wir uns eigentlich früher nie über so etwas unterhalten? Wir haben doch beide darunter gelitten.«

»Weil du immer, sobald es ungemütlich auf dem Hof wurde, verschwunden bist. Entweder zu Freundinnen, auf lange Reisen oder zum Studium. Und das hast du richtig gemacht! Du durftest wenigstens. Ich nicht! Aber ich wäre an deiner Stelle auch abgehauen«, ereiferte sich Theresia.

Wieder lag eine lange Stille im Raum. Nur die Wanduhr tickte leise.

»Und nun?«, fragte Clara.

»Nun geht’s ins Bett«, kam es von der Tür. Bertram stand im Schlafanzug und alten Pantoffeln im Türrahmen und rieb sich die Augen.

»Es ist mitten in der Nacht! Ihr müsst doch beide total erschlagen sein«, fügte er hinzu.

Erschrocken waren Clara und Theresia aufgesprungen. Fast so wie früher, wenn sie bei etwas Verbotenem erwischt wurden.

Ertappt begann Clara zu lachen und Theresia stimmte erleichtert mit ein. Sie umarmten sich kopfschüttelnd, immer noch das Grinsen im Gesicht.

Plötzlich wurde Theresia wieder ernst.

»Wir können ja schauen, wie es Mutter in der nächsten Zeit geht und ob etwas dran ist an unserer Theorie.«

Sie hielt kurz inne.

»Trotz allem könntest du versuchen, mit ihr zu reden. Mir würde sie nie im Leben irgendetwas anvertrauen, aber vielleicht dir. Was meinst du?«

Zögernd nickte Clara. Theresia sah ihr an, dass sie sich bei der Aussicht nicht wohlfühlte.

Clara

Als Clara die Augen öffnete, schien die Sonne schon intensiv in das Zimmer. Erschrocken setzte sie sich auf. Sie startete ihr Handy und wartete ungeduldig, bis es endlich hochgefahren war. 8:22 Uhr stand ganz groß auf dem Display.

Seufzend lehnte sie sich an die Rückenlehne des Holzbettes. Nun war sie sowieso schon zu spät. In Berlin würde sie sich noch einmal an Bertram kuscheln und weiter dämmern. Aber hier wurde mit den Hühnern aufgestanden. Bloß dass die schon seit Stunden wach waren.

Lächelnd schaute Clara auf den schlafenden Bertram. Seit ihrer Ankunft gestern hatten sie kaum Zeit füreinander gehabt. Erst die Beerdigung und dann gab es ständig irgendwas zu tun. Auch Bertram hat es sich nicht nehmen lassen und die Gäste bewirtet.

Clara musste an das Gespräch mit Theresia denken. Sie hatte in der Nacht kaum ein Auge zumachen können, war erst gegen Morgen eingeschlafen. Was war nur mit ihrer Familie los? Warum schienen alle so unterschiedliche Wahrnehmungen von ihrem Zusammenleben zu haben? Obwohl sie in vielen Dingen Theresia beipflichten musste, hatte sie zu manchen von ihnen andere Ansichten.

Nie hätte sie vermutet, dass sich ihre Mutter ändern würde, wenn der Vater nicht mehr wäre. Sie konnte schwer nachvollziehen, warum Theresia so dachte. Sollte ihre Mutter so unter dem Einfluss des Vaters gestanden haben? Aber Vater hatte auch weiche Seiten gehabt. Sie musste sich nur an die verschiedenen Blicke erinnern, die er ihr zuwarf. Von Traurigkeit bis voller Liebe war alles dahbei gewesen. Letzteres sehr selten, aber ab und an hatte es durchgeblitzt.

Clara ließ die Gedanken kopfschüttelnd los. Sie musste zu Theresia in die Käserei. Wahrscheinlich war sie sowieso schon sauer, weil Clara nicht früher erschienen war. Zärtlich strich sie Bertram über die Wange und schlüpfte leise aus dem Bett.

In ihrem Zimmer hatte sich nicht viel verändert. Noch immer lagen ihre Kinderbücher im Regal, der alte Schreibtisch stand auf wackeligen Beinen unter dem Fenster und selbst die Kuscheltiere saßen auf dem Ohrensessel, als hätte Clara noch gestern mit ihnen gespielt. Wenigstens hingen die Poster ihrer Lieblingsbands von damals nicht mehr an der Wand. Und das Bett war durch ein Doppelbett ausgetauscht worden. Das helle Holz leuchtete warm in der Sonne, die sich durch sämtliche Ritzen zwischen den Fensterläden ihren Weg bahnte. Und Ritzen gab es jede Menge. Das Haus sah zwar von außen gepflegt aus, was sicher auch an der üppigen Blumenpracht lag, die auf jedem Balkon blühte, aber wenn man genauer hinsah, entdeckte man vergessene Spuren des Alters. Sicher waren nie die Zeit und das Geld übrig gewesen, um sich darum zu kümmern.

Als Clara vor der Küchentür stand, holte sie noch einmal tief Luft. Zaghaft schob sie die Tür auf und ließ die Luft wieder langsam aus ihren Lungen. Die Küche war leer.

Natürlich hätte sie sich auch gerne mit Mutter und Theresia unterhalten, aber Vorwürfe oder anklagende Blicke hätte sie im Moment nicht ertragen können. Erst brauchte sie einen Kaffee und etwas Festes im Magen.

Gerade als sie den Tisch gedeckt und den Kaffee in eine Thermoskanne gegossen hatte, schlurfte Bertram in die Küche. Verschlafen schaute er sich um.

»Keiner da?«, fragte er und streckte sich.

Clara hielt den Kopf schief und lächelte ihn an.

Schnell kam Bertram näher und schloss sie in die Arme.

»Guten Morgen, mein Schatz«, flüsterte er in ihr Haar.

Clara schmiegte sich an ihn und erwiderte mit geschlossenen Augen seinen Gruß.

»Wo Mutter ist, weiß ich nicht, aber Theresia ist sicher schon lange in der Käserei. Und ich sollte auch schon längst dort sein«, sagte Clara, als sie sich endlich von Bertram lösen konnte.

»Meinst du wirklich, dass sie das heute so eng sehen? Einen Tag nach der Beerdigung?«, fragte Bertram und setzte sich an den gedeckten Tisch.

Clara goss beiden Kaffee ein. Beim Setzen schob sie Bertram die Milch zu.

»Das war hier immer so. Ob es ein besonderer Tag war oder nicht, der Hof verlangt frühes Erscheinen. Vaters Worte ... Ich bin ja froh, dass das Braunvieh im Moment auf der Alpe versorgt ist, sonst wäre hier noch ganz anderes Treiben.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Jetzt sind wir sowieso schon zu spät dran, also können wir auch noch das Frühstück genießen.«

»Urlaub müsste man haben«, erklang es in diesem Moment von der Tür her.

Erschrocken schaute sich Clara um und sah, wie ihre Mutter schnurstracks auf den Stuhl am Fenster am anderen Ende der Küche zusteuerte.

»Guten Morgen«, riefen Clara und Bertram wie aus einem Munde.

Traudl nickte und setzte sich umständlich.

»Setz dich doch zu uns! Magst du noch einen Kaffee?«, fragte Clara und war schon auf dem Sprung.

»Ach was, Kaffee am späten Vormittag. Wo denkst du hin?«, antwortete Traudl, ohne ihren Blick von der Landschaft vor dem Fenster zu nehmen.

Clara sah, wie Bertram versuchte, sich das Grinsen zu verkneifen. Später Vormittag war auch wirklich ziemlich übertrieben. Es war gerade mal 9 Uhr.

»Wo warst du denn?«, fragte Clara beiläufig. Auch wenn sie sich viel lieber mit Bertram unterhalten hätte, hatte sie das Gefühl, ihre Mutter miteinbeziehen zu müssen.

»Na, wo soll ich schon gewesen sein, Clara? Ich war bei deinem Vater auf dem Friedhof!«

Clara schluckte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Mutter schon so früh am Morgen wieder auf den Friedhof wollte.

»Und wie geht’s dir jetzt?«, fragte sie.

Traudl winkte ab. »Wie soll es mir schon gehen? Ich habe gestern meinen Mann beerdigt. Da kann es mir nicht gut gehen!«

Clara seufzte tonlos. Natürlich konnte es ihr nicht gut gehen. Keinem ging es gut, auch wenn jeder den Tod des Vaters anders verkraftete. Für sie selbst war es schwierig, angemessen zu trauern. Seitdem sie das Reisen für sich entdeckt hatte und danach direkt zum Studium nach Berlin gegangen war, hatten sie sich immer weiter entfremdet. Selbst bei den kurzen Besuchen zwischendurch hatte sie das Gefühl gehabt, dass ihr Vater ihr eher aus dem Weg gegangen war. Gespräche gab es schon lange keine mehr. Hatte es eigentlich auch nie richtig gegeben. Immer nur diese Blicke.

Als sie an die gestrige Beerdigung dachte, kroch eine traurige Kälte über ihren Rücken. Es waren zwar sehr viele Menschen da gewesen, aber Tränen waren ganz wenige geflossen. Am wenigsten bei den Angehörigen. Mutter hatte ein zerknautschtes Gesicht gezogen, das keinen Blick hinter die Fassade zuließ. Theresias Augen waren überall herumgehuscht, so als hätte sie Angst, den Überblick zu verlieren. Clara hatte die Befürchtung, dass sich Theresia hinter der Organisation versteckte, um der Trauer keinen Raum zu lassen. Schließlich musste sie direkt weiter funktionieren. Aber genau konnte sie es nicht sagen. Allein Ferdinand stand mit gesenktem Blick am Grab und hatte die Fäuste geballt, so als wollte auch er die Tränen nicht zulassen.

Vaters Brüder würden sowieso nie in der Öffentlichkeit weinen und Mutters Schwester hatte immer wieder ängstlich auf Traudl geschaut und sich mit dem Taschentuch die Augen getupft. Clara hatte nicht sehen können, ob sie wirklich feucht waren.

Bevor sie weiter grübeln konnte, ging die Küchentür wieder auf und Theresias Kinder traten zögernd ein. Die dreizehnjährige Mia erfasste kurz die Lage, ging zur Großmutter, um sie zu begrüßen, und ließ sich dann erleichtert am Küchentisch bei Clara und Bertram nieder. Ihr achtjähriger Bruder Linus folgte ihr wie ein Schatten.

»Na, ihr beiden? Wollt ihr mit uns frühstücken?«, fragte Clara lächelnd. Sie wuschelte Linus durchs Haar und drückte gleichzeitig Mia den Arm.

Als die Geschwister nickten, machte sich Clara daran, weitere Brötchen aufzubacken. Sie holte Marmelade und Schokocreme aus dem Kühlschrank und stellte es auf den Tisch. Bertram und sie aßen morgens lieber Schinken und Käse. Zumal es hier den hauseigenen Käse gab.

»Tante Clara, erzählst du uns wieder was von deinen Abenteuern?«, fragte Linus mit gedämpfter Stimme, als Clara sich wieder gesetzt hatte. Dabei schaute er kurz zu seiner Großmutter. Aber Traudl blickte noch immer ohne Regung aus dem Fenster.

Clara war Linus‘ Blick gefolgt. Sie lächelte ihren Neffen bedauernd an.

»Ich glaube, wir verschieben das besser. Ich muss auch gleich zu eurer Mutter in die Käserei«, sagte sie.

»Habt ihr Lust, mir den Hof zu zeigen?«, fragte Bertram, als er sah, dass Linus enttäuscht ins Brötchen biss.

»Das kann Linus alleine machen. Ich will eh noch zu meiner Freundin«, antwortete Mia kauend.

»Man spricht nicht mit vollem Mund!«, kam es prompt vom Fenster her. »Und du könntest besser deiner Mutter zur Hand gehen, statt immer nur mit deinen Freundinnen rumzulachen. Als ich so alt war wie du, hatte ich schon jede Menge Pflichten auf dem Hof. Und wehe, ich habe sie nicht erledigt. Da gab’s was mit dem Gürtel.«

Clara zwinkerte Mia zu, die den Ton ihrer Großmutter aber gewohnt zu sein schien. Ungerührt aß sie weiter. Macht sie richtig so, dachte Clara. Die Geschichten hatten sie sich, als sie noch Kinder waren, auch schon immer anhören müssen. Erst später waren die versteckten Drohungen an ihnen abgeprallt. Mia schien es schon jetzt nicht mehr an sich heranzulassen.

»Geh ruhig, Mia«, sagte Clara. »Ich helfe der Mama in der Käserei.«

Sie nahm den letzten Schluck Kaffee und stand auf. Das abfällige Schnauben ihrer Mutter ging dabei fast unter. Entschuldigend drückte sie Bertram einen Kuss auf die Wange. Schon wieder hatten sie nicht miteinander plaudern können.

Als Clara um halb zehn in die Käserei trat, schlug ihr der säuerliche Duft entgegen, den sie noch von früher kannte. Da der kleine Hofladen erst um 10 Uhr öffnete, nahm Clara an, dass Theresia noch in der Käserei war. Sie zog die vorgeschriebene Hygienekleidung über, wusch und desinfizierte ihre Hände und öffnete die Tür zu Theresias heiligen Hallen. Auf den ersten Blick sah alles so aus, wie sie es aus der Kindheit kannte. Erst beim genauen Hinsehen entdeckte sie, dass die Arbeitsplatten, Kessel und Geräte im saubersten Edelstahl glänzten. Alles Holz war aus diesem Raum verbannt worden. Hygiene und Ordnung waren für Theresia oberstes Gebot. Hier lag kein Ding nicht dort, wo es hingehörte.

Im hinteren Teil des Raumes sah Clara, wie Bille, Theresias Mitarbeiterin, gerade die eingedickte Milch prüfte, um dann die Harfe in dem großen Kessel in Gang zu setzen, die die Gallerte in Käsebruchgröße schnitt. Theresia war nirgends zu sehen. In diesem Moment hob Bille den Kopf und lächelte Clara freundlich an. Sie hatten sich gestern kurz auf der Beerdigung begrüßt, kannten sich aber sonst nur flüchtig. Mit dem Kopf deutete Bille Richtung Lagerraum und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

Beim Betreten des Raumes, in dem die Käselaibe nach dem Salzbad im ersten Reifeprozess gelagert wurden, war Clara froh, dass sie sich einen Fleecepulli übergezogen hatte. Bei gerade mal 13 Grad ging es sicher dem Käse gut, der Unterschied zur sommerlich warmen Außentemperatur aber war für Clara unangenehm. Sie spürte sofort die Gänsehaut unter ihrem Pulli. Reflexartig zog sie die Schultern nach oben.

»Kannst gleich mitmachen, dann wird dir warm«, rief Theresia, die sich an dem großen Holztisch zu schaffen machte. Gerade hatte sie einen Käselaib mit Salzwasser abgewischt und hievte ihn wieder zurück in das Regal, in dem der Käse auf Holzbrettern ruhte. Dabei schaute sie demonstrativ zur großen Uhr, die neben der Eingangstür hing.

»Entschuldige, ich hatte mir keinen Wecker gestellt. Und von alleine wache ich nicht mehr so früh auf«, antwortete Clara schnell und holte sich ebenfalls einen Käselaib aus dem Regal.

»Vorsichtig ablegen ...«, sagte Theresia. Sie schien Claras Entschuldigung stillschweigend zu akzeptieren.

Umständlich begann Clara, den Käse abzureiben. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das zum letzten Mal gemacht hatte. Es musste eine Ewigkeit her sein.

»Rubbel nicht so doll«, hörte sie Theresia sagen.

Behutsamer glitten ihre Hände über die schmierige Oberfläche. Dabei spürte sie den aufmerksamen Blick ihrer Schwester auf ihr ruhen. Es hatte sich also nichts geändert. Noch immer konnte sie Theresia nichts recht machen.

Als sie ihr Werk beendet hatte, schob sie den Käse wieder an seinen ihm zugedachten Ort. Dabei blieb sie mit dem unteren Rand am Holzbrett hängen und brauchte einen zweiten Anlauf, um den Käse an seinen Platz zu schieben. Prompt hörte sie ein genervtes Schnauben hinter ihrem Rücken.

So arbeiteten sie eine Weile schweigend nebeneinander her. Theresia mit der doppelten Geschwindigkeit wie Clara. Aber das war Clara egal. Die eintönige Arbeit hatte etwas Meditatives für sie. Wenn Theresia nicht ständig über ihren ungeschickten Umgang mit den schweren Käselaiben seufzen würde, könnte sie ungestörter ihren Gedanken nachhängen. Noch viel lieber hätte sie mit Theresia geplaudert, aber das mochte ihre Schwester nicht. Clara wusste zwar nicht, was dagegen sprechen würde, denn es erforderte keine wirkliche Konzentration, die Laibe hin- und herzutransportieren. Oder lag es daran, dass Clara sich ab und an ungeschickt anstellte? Wollte Theresia deshalb nicht mit ihr reden?

»Wusstest du, dass Mutter schon an Vater Grab war?«, fragte sie probehalber.

»Nein«, kam die einsilbige Antwort.

»Was machen deine Kinder eigentlich in den Ferien? Schickst du sie in eine Freizeit oder in ein Sportcamp?«, legte Clara nach.

»Nein«, antwortete Theresia, ohne aufzuschauen.

»Warum nicht?« Clara wusste, dass Theresia und Quirin selten den Hof für einen Urlaub verließen. Es gab einfach zu viel zu tun. Wenigstens trafen sie sich an Sonntagen ab und an mit befreundeten Bauern, aber sie waren mit den Kindern zum Beispiel noch nie am Meer gewesen. Deshalb hatte sie irgendwann vorgeschlagen, die Kinder doch in Freizeiten zu schicken oder sie mit dem Sportverein mitreisen zu lassen.

Theresia hievte gerade den letzten Käse in der Längsreihe ins Regal. Dann drehte sie sich um, wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn und schaute zur Uhr.

»Ich muss rüber, Essen kochen! Komm lieber mit, alleine will ich dich hier nicht lassen«, sagte sie und schob Clara im Vorbeigehen mit der Hand auf dem Rücken aus dem Kühlraum.

Clara fühlte sich wie ein unmündiges Kind. Sie wusste ja, dass sie sich nicht so geschickt anstellte, aber diese ständige Überwachung ihrer Schwester ging ihr ziemlich auf die Nerven. Wenn Clara daran dachte, wie sie Theresia in die Kunst des Skizzierens eingeweiht hatte, hätte sie ihr auch sämtliche Stifte aus der Hand reißen können. Theresia hatte viel zu stark aufgedrückt. Der Stift musste über das Papier schweben und dabei die Ideen hinausfließen lassen. Aber sie hatte es nicht getan und Theresia machen lassen, bis sie es selbst aufgegeben hatte. Das war jetzt schon fast zwanzig Jahre her. Wehmütig lächelte Clara, als sie über den Hof zum Wohnhaus gingen.

In der Küche wurden sie schon von ihrer Mutter erwartet, die demonstrativ auf die Uhr schaute.

»Ihr seid spät dran! Müsst euch sputen, wenn das Essen pünktlich um zwölf auf dem Tisch stehen soll«, sagte sie.

»Ja, ja, Mutter«, antwortete Theresia lapidar und machte sich nach ausgiebigem Händewaschen daran, die Kartoffeln zu schälen.

Clara schluckte. Hier lief alles nach einem anderen Plan ab als in ihrem Leben. Pünktlichkeit schien ein bestimmender Faktor zu sein, und die entsprechenden Vorwürfe dazu, wenn dem nicht so war.

»Was kann ich helfen?«, fragte sie.

Theresia zuckte mit den Schultern. »Du kannst deinen Bertram und die Kinder holen. Ich habe sie nicht auf dem Hof gesehen. Wer weiß, wo die sich schon wieder rumtreiben«, antwortete sie schließlich.

»Ach, die können nicht weit sein. Ich kann Bertram später anrufen und dir jetzt lieber zur Hand gehen, oder?«, versuchte es Clara mit freundlicher Stimme.

»Ach was, da gibt’s nicht viel zu helfen. Reiberdatschi sind schnell gemacht«, antwortete Theresia.

»Wärst du früher rübergekommen, bräuchtest du nicht schon wieder Reiberdatschi zu machen, sondern könntest was Anständiges kochen«, schnarrte Traudl.

Theresia hielt beim Schälen inne. Langsam richtete sie sich auf und wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab.

»Weißt du was, Mutter? Du hast recht! Ab heute kochst du wieder, dann kommt das Essen pünktlich auf den Tisch. Jetzt, wo der Quirin auf der Alpe ist, bleibt draußen sowieso alles an mir hängen. Vielleicht tut dir das auch gut, damit du nicht so viel über Vaters Tod nachgrübeln musst.«

Theresia schob die verdatterte Traudl an die Arbeitsplatte und drückte ihr das Schälmesser in die Hand.

»Ich gehe mit Clara die Kinder holen. Bis gleich«, setzte sie nach und schob Clara eilig aus der Küche hinaus.

»... an mir hängen bleibt ...«, hörten sie ihre Mutter noch brummen, bevor sie auf den Hof traten.

Die Sonne schien von einem knallblauen Himmel. Schnurstracks ging Theresia quer über den Hof, bog am Stall ab und kam erst wieder dahinter zum Stehen. Die ganze Zeit über hatte sie Clara hinter sich hergezogen. Endlich ließ Theresia ihre Hand los. Strahlend schaute sie Clara an.

»Was sagst du? Wie früher?«, grinste sie.

Clara schaute unsicher an dem riesigen Kastanienbaum hinauf, unter dem sie standen. Dann ließ sie sich von Theresias Grinsen anstecken.

»Okay, dann los«, sagte sie, obwohl ihr nicht ganz geheuer war.

Als sie Kinder waren, hatten sie oft unter dem Baum gelegen und in die schwankenden Äste geschaut. Bis Theresia auf die Idee kam, sich ein geheimes Plätzchen zu bauen.

Sie hatten Bretter und Nägel aus dem Schuppen geholt und zwei Äste ausgesucht, die gleich stark schienen und gegenüber lagen. Mit einem dritten Ast verbunden bildeten die Sitzflächen ein offenes Dreieck, sodass für jede genug Platz zum Sitzen blieb.

Behände stieg Theresia auf die unteren Äste und machte es sich auf ihrer Seite bequem. Clara staunte, wie beweglich ihre Schwester noch war. Sie selbst machte zwar regelmäßig Sport und war auch schlanker als Theresia, aber sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal irgendwo hochgekraxelt war. Theresia war schon immer die Mutigere von ihnen beiden gewesen. Wenn sie, was selten genug vorkam, allesamt in Familie auf den Grünten wanderten, lief Theresia immer vorneweg. Sie blieb nie auf dem Weg, sondern suchte sich immer abseits schwierigere Routen. Manchmal durfte sie mit einem Freund ihrer Eltern klettern oder bergsteigen gehen. Und jedes Mal kam sie mit einem Strahlen im Gesicht zurück.

Als Clara endlich auf ihrem Sitz angekommen war, schaute sie bange nach unten.

»Meinst du, das hält uns noch aus?«, fragte sie.

Theresia lachte.

»Ich habe die Bretter vor einiger Zeit ausgetauscht. Schließlich hocken meine Kinder auch öfter hier oben.«

»Ach wirklich? Sind die auch so kletterverrückt wie du?«, fragte Clara. Sie lehnte sich vorsichtig zurück, hielt sich aber sicherheitshalber an einem anderen Ast fest. Auch wenn ihr das bei einem Absturz wahrscheinlich nicht viel bringen würde.

Theresias Blick verfinsterte sich und Clara hätte sich auf die Zunge beißen können, dass sie das Thema angeschnitten hatte. Sie wusste, wie sehr Theresia darunter litt, keine Zeit für ihre Leidenschaft zu haben. Und nicht nur das, sie hatte in der Familie auch niemanden, der dafür Verständnis aufbrachte. Hier zählte der Hof und die Tiere, sonst nichts.

»Wenn ich jetzt da bin, kannst du doch mal für einen Tag in die Berge verschwinden. Was meinst du?«, fragte Clara schnell, um ihre Schwester wieder aufzuheitern. Leider löste es das Gegenteil aus.

»Clara, ganz ehrlich! Der Quirin ist auf der Alpe, die Mutter in Trauer und du hast hier auf dem Hof zwei linke Hände«, antwortete Theresia mit geschlossenen Augen. Sie hatte sich ganz zurückgelegt und ließ die Beine baumeln.

Clara wurde schon bei dem Anblick schwindelig.

»Bertram und Ferdinand sich doch auch noch da«, legte sie halbherzig nach. Sie wusste, dass sie ihre Schwester nicht würde umstimmen können. Es fühlte sich nur so gut an, sie endlich mal wieder lächeln zu sehen. Dabei erkannte Clara noch das Kind in ihr. Ansonsten schien Theresia hier unter enormem Druck zu stehen.

»Clara, ihr seid Stadtkinder! Wie wollt ihr denn alleine auf dem Hof und mit der Käserei klarkommen? Täglich bringen die Bauern ihre Milch vorbei, die sofort verarbeitet werden muss. Die Bille schafft das nicht alleine. Ich bin schon froh, dass wir die Hanna stundenweise für den Laden haben, aber auch dort müssen wir öfter aushelfen, weil Hannas Kinder noch klein und öfter krank sind. Wenn der Vater noch leben würde, wäre der Quirin hier und dann sähe das Ganze schon anders aus. Dann wäre jemand da, der über alles schauen könnte, aber so ...«

Clara konnte Theresias Traurigkeit spüren. Hier unter dem schützenden Blätterdach legte sie sich wie eine Decke über sie.

»Ach Theresia, was ist nur aus deinem Leben geworden?«, fragte Clara leise. »Ich meine, du hast einen netten Mann, zwei tolle Kinder und ein Auskommen, aber bist du denn glücklich?«

Zögerlich hatte Clara ihre Hand in Theresias geschoben. Sie hatte erwartet, dass Theresia sie abschütteln würde, aber das tat sie nicht.

Clara blickte zur Seite. Ihre Schwester hatte noch immer die Augen geschlossen, nur eine Träne bahnte sich ihren Weg über die Wange und lief den Hals hinab. Theresia ließ es geschehen.

Als Clara vorsichtig mit dem Daumen über Theresias Handrücken strich, hörte sie ihre Mutter rufen.

»Theresia, das Essen wartet nicht!«, schallte es vom Hof herüber.

»Das ist aus meinem Leben geworden!«, antwortete Theresia mit einem lauten Seufzer. Schnell entzog sie Clara ihre Hand und machte sich daran, den Baum hinunterzuklettern.

Unten angekommen drehte sie sich noch einmal um.

»Was hat der Vater immer gesagt? Die Berge kommen gut alleine zurecht, aber wir sind deine Familie und brauchen dich! Also, bleib da.«

Für einen Moment blieb Theresia stehen und schaute in die Ferne Richtung Allgäuer Hochalpen.

»Er hat nie begriffen, worum es wirklich geht«, sagte sie sehnsuchtsvoll. »Es ist doch nicht die Anstrengung oder die Schwierigkeit oder das Obensein. Ich muss den Gipfel nicht erklimmen, ich möchte einfach da sein. Die Ruhe genießen, die Nähe zum Himmel, die Ferne zum Alltag, die Berührung mit meinem eigenen puren Leben, das lässt mich freier atmen.«

Clara hatte Theresia noch nie so gesehen. Es fühlte sich an, als würde sie in diesem Moment ganz tief in sich ruhen.

»Endlich einmal wieder vom Nebelhorn aus den Hindelanger Klettersteig gehen, das würde schon reichen«, legte Theresia flüsternd nach.

Abrupt drehte sie sich um und schüttelte unwirsch den Kopf.

»Komm lieber, Mutter ist eh schon verschnupft«, sagte sie über die Schulter und stapfte mit den Händen in den Hosentaschen davon.

Aber Clara konnte nicht vom Baum steigen und ihrer Schwester folgen. Sie musste das eben Erlebte erst einmal verdauen. Klar, sie wusste, dass Theresia die Berge liebte. Deshalb war sie ja auch nie hier weggezogen. Aber dass es das Bergsteigen war oder besser das Einssein mit dem Berg, das hatte Clara noch nie so stark bei ihr gespürt. Ob das überhaupt jemand wusste? Hatte sich Theresia ihrem Mann einmal so geöffnet? Waren sie und Quirin mal zusammen in den Bergen gewesen? Clara konnte sich nicht erinnern.

Vielleicht war die immerwährende Unzufriedenheit auch ein Grund, warum Theresia so sprunghaft sein konnte. Noch vor einer Stunde in der Käserei hätte sie es sich nicht träumen lassen, kurz darauf mit ihr auf ihrem Lieblingsbaum zu sitzen. Und vor allem nicht, Theresia so nahe zu kommen.

Clara kämpfte mit den Tränen. Das Leben lief an Theresia vorbei, ohne dass sie selbst groß Einfluss darauf nehmen konnte. Sie war zum Spielball zwischen Familie, Hof und Käserei geworden und dabei selbst auf der Strecke geblieben.

Clara dachte an ihr Leben in Berlin und was sie alles schon erlebt hatte. Und auch Ferdinand war seinem Traum gefolgt und studierte Meeresbiologie. Und allen rundherum war immer schon klar gewesen, dass Theresia auf dem Hof bleiben würde. Ihn einmal sogar übernehmen würde. Ganz einfach, weil sie schon immer diejenige war, die den Eltern zur Hand gegangen war. Von ihr wurde es sogar verlangt. Clara und Ferdinand konnten sich entwickeln. Theresia nicht. Aber warum war das so? Warum hatten ihre Eltern die Arbeit auf dem Hof nicht gleichmäßig auf die Kinder verteilt? Warum durfte Clara bei Freundinnen sein, reisen und weggehen, ohne einen Vorwurf zu hören? Und warum hatte sie in all den Jahren nie gespürt, dass Theresia dabei ganz vergessen wurde?

Traurig kletterte Clara vom Baum. Sie wusste nicht, ob sie jetzt die Kraft hatte, Theresia und Mutter gegenüberzutreten. Unschlüssig drehte sie sich im Kreis und entdeckte zu ihrer Erleichterung, wie Bertram mit den Kindern über die üppige Blumenwiese rannte. Ihr Herz macht einen Sprung, als sie sah, wie fröhlich die drei herumtollten. Sie sollte versuchen, Theresia noch mehr zu unterstützen, solange sie hier waren. Dann konnte sie vielleicht auch etwas mit ihren Kindern unternehmen. Und eventuell doch mal wieder einen Berg besteigen. Und wenn es der Grünten wäre. Hauptsache raus aus dem Alltag.

Als Bertram, Mia und Linus bei ihr ankamen, hakte sie sich glücklich bei ihrem Freund unter.

»Es gibt Reiberdatschi«, rief sie den Kindern zu. »Wer zuerst da ist, muss nicht spülen.«

Das ließ sich selbst die 13jährige Mia nicht zweimal sagen und sprintete Richtung Küche.

Ferdinand

»Ferdl, iss, mein Junge! Ich kann auch noch was nachmachen«, munterte Traudl ihren Sohn auf, der noch immer müde kauend am Tisch saß.

»Och Mutter, ich habe doch schon so viel gegessen. Mehr geht nicht!«

Demonstrativ lehnte sich Ferdinand weit zurück und strich sich dabei über seinen Bauch.