Raban und Röiven Eine magische Freundschaft - Norbert Wibben - E-Book

Raban und Röiven Eine magische Freundschaft E-Book

Norbert Wibben

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Beschreibung

Raban dreht sich erschrocken um. Was war das für ein Geräusch? Könnte das ein wildes Tier gewesen sein, eine Wildkatze vielleicht? Die sind aber doch nicht zu hören, wenn sie auf ihren Samtpfoten auf Jagd sind! Aus den Augenwinkeln registriert er einen großen Schatten. Der deutet aber auf ein größeres Tier hin! Raban fühlt, wie sich die Härchen in seinem Nacken aufrichten. Lauert hier eine unbekannte Gefahr? Sein Blick irrt hastig umher. Wo ist die mögliche Bedrohung, und wo findet er eine Waffe, um sich zu schützen? Da sieht er den Schatten wieder. Nein, das ist kein Schatten. Es ist ein großer, grauer Hund mit einer langen Rute. Es ist: "Ein Wolf!", weiß er sofort. Der Junge Raban hilft dem verletzten Kolkraben Röiven, der ihn mit auf eine gefahrvolle Reise nimmt. Plötzlich befindet sich der Junge in der Fortsetzung eines Romans, den er vor einiger Zeit gelesen hat. Er soll dem Vogel helfen, die Elfen zu retten. Dafür müssen sie den dunklen Zauberer Baran aufhalten.

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Seitenzahl: 348

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Raban und Röiven

Eine magische Freundschaft

Fantasy Roman

Norbert Wibben

Raban und Röiven

Eine magische Freundschaft

Raban und Röiven, Band 1

Für Maraike

Du bist immer in meinem Herzen.

Ich vermisse dich!

In Erinnerung an viele schöne Vorleseabende mit meinen Kindern verpacke ich auch diese Geschichte in den bekannten Dreizeiler:

Ein Huhn und ein Hahn ‒ …

Ein ganz normaler Junge

Beginn einer Rettungsaktion

Der Kolkrabe berichtet

Minervas Auftrag

Ein Plan entsteht

Ein Missgeschick

Ein Zauberer überlegt

Die Priorei

Der Wolf

Ein neuer Plan

Auseinandersetzung

Ein Angriff

Grübeleien

Ein erneuter Fehlschlag

Ein Alarm

Schlechte Nachrichten

Minervas Ratschlag

Zauberkräfte

Dunkle Zauber

Sorgen

Rettung im letzten Moment

Plötzliche Erkenntnis

Barans Grübeleien

Treffen in Serengard

Solveigs Ratschlag

Lagebesprechung

Im Weidenweg

Zeitungsberichte

Eilas Armreif

Eine Suche

Im Norden

Träume und ein erster Erfolg

Clanführer

Professor Ansaepluma

Erste Tote im Norden

Eine alte Stadt

Die Jagd beginnt

Zurück in den Süden

Verbündete

Überlegungen

Wechsel in den geheimen Wald

Ungewissheit

Rabans Beobachtungen

Rat des Großvaters

Hilferufe

Wieder Zuhause

Zaubersprüche

Danksagung

Ein ganz normaler Junge

Ein Huhn und ein Hahn – die Geschichte fängt an

Es ist Sommer. Die Sonne steht hoch am blauen Himmel, an dem nur wenige, duftig geformte Wolken zu sehen sind. Es ist früher Nachmittag und der erste Ferientag. Was kann es Schöneres geben?

Ein leiser, warmer Windhauch streicht über die sanften Hänge mit dem wenigen Buschwerk im bergigen Norden des Landes. Weiße Schafe mit schwarzen Köpfen grasen friedlich auf den mit Steinmauern eingegrenzten, hügeligen Weiden. Die älteren rupfen gemächlich herumwandernd das fette Gras, um es langsam zu kauen, während die schon recht großen Lämmer verspielt herumtollen. Auch sie haben schwarze Köpfe mit weißen Flecken, aber noch keine Hörner. Gelegentlich versucht eines von ihnen doch noch etwas Milch von seiner Mutter zu ergattern. Es stößt auffordernd mit dem Kopf an den Bauch des Muttertieres und bückt sich tief hinab, um mit dem Maul an eine der Zitzen zu gelangen. Manchmal hat eines Glück, so wie jetzt und kann eine kurze Zeit die nahrhafte Milch genießen, während sich dabei sein Schwänzchen wie ein Propeller dreht.

»So ein kleiner Schlingel«, denkt Raban. »Es ist ja auch viel einfacher, den Bauch mit der fetten Milch zu füllen, als selber Gras zu fressen.« Wohlwollend lächelnd schaut er dem cleveren Lamm zu. Doch nach nicht einmal einer Minute unterbricht das Mutterschaf die Fütterung, indem es sich ein paar Schritte vorwärts bewegt. Das erneute Anstoßen des Lamms an ihren Bauch führt nun nicht zum gewünschten Erfolg. Das Schaf dreht sich vielmehr zu seinem Kind und senkt drohend den Kopf mit den Hörnern. Die Geste wird von diesem verstanden und es tollt in mehreren hohen Sprüngen davon, um anschließend doch etwas vom Gras zu naschen. Raban lacht lauthals beim Anblick dieses übermütigen Verhaltens.

Er wendet sich von der Weide ab und folgt dem Pfad hangaufwärts.

In Gedanken versunken achtet er nicht weiter auf das Gesumm der Insekten, die Nektar von den Blumen am Wegrand sammeln. Das gelegentliche Trillern und Zwitschern der Vögel dringt nur unbewusst zu ihm vor, obwohl gerade Vögel seine Lieblingstiere sind. Eigentlich hätte er sich sofort davon überzeugt, wessen Gesang er gerade hört. Den eines Trauerschnäppers oder ist es vielleicht der einer Gartengrasmücke? Aber nicht heute. Raban überdenkt seine Situation. Er ist froh, in den Ferien machen zu können, was ihm am Liebsten ist: Lesen, Zeichnen, Wandern und Tiere beobachten. Während der Schulzeit hat er dafür nicht so ausgiebig Zeit. Dann bestimmt der Unterricht den ganzen Vormittag, bis hin zum halben Nachmittag.

Raban grübelt darüber nach, was es Schönes für ihn im Schulleben gibt. Na klar, Sport macht er gerne, auch wenn er nicht so talentiert wie die meisten Jungen in seiner Klasse ist. Überall dort, wo Kraft und nicht unbedingt Geschicklichkeit wichtig ist, befindet er sich den anderen gegenüber im Nachteil. Obwohl er wie die meisten seiner Klasse 14 Jahre alt ist, wirkt er neben ihren massigen Staturen eher zierlich. Zum Fußballspiel wird er sehr oft nicht direkt in die Mannschaft gewählt. Meistens ist er der Letzte, der notgedrungen genommen wird, um die Anzahl der Mitspieler auszugleichen. Viele Mädchen werden sogar vor ihm gewählt.

Biologie und Kunstunterricht sind seine Lieblingsfächer. Besonders wissbegierig nimmt er alle Informationen auf, wenn es dabei um Tiere geht. Er ist im Zeichnen von Vögeln sehr begabt und sicher einer der Besten der Schule, nicht nur seines Jahrgangs, obwohl er dafür oft gehänselt wird.

»Du bist ein richtiges Weichei!« und »Zeichnen und Tiere sind doch Dinge, für die sich Mädchen interessieren, aber keine Jungen, die zu echten Männern werden wollen!«, bekommt er immer wieder vorgehalten. Auf dem Schulhof wird er häufig von Klassenkameraden oder Schülern aus den oberen Klassen angerempelt, falls er nicht vorher geschickt ausweichen kann. Er hat keine besonderen Freunde und ist in den Pausen meist allein für sich, wobei er oft abseits sitzt und in einem Skizzenheft zeichnet. Es ist daher nur verständlich, wenn er sich besonders über die Zeit der Ferien freut.

»Da kommt ja unser Weichmichel«, schreckt ihn plötzlich eine bekannte Stimme aus seinen Gedanken. Er folgt dem Pfad um ein Gebüsch herum.

»Hallo Rabine«, neckt gleich darauf eine weitere Stimme.

»Haben wir dich in deinen Träumen gestört?« lacht ihn ein dritter Junge aus.

»Hallo Jungs«, antwortet Raban kurz angebunden und versucht, seine Klassenkameraden nicht weiter beachtend, die bisherige Richtung beizubehalten. Er ist ihnen körperlich nicht gewachsen und befürchtet, sie sind wieder einmal auf eine Balgerei aus.

»Halt, warte doch mal!«, wird er nun von Alexander, dem Anführer der drei, aufgefordert. »Wir haben einen Vogel gefangen, sind uns aber nicht einig, was es für einer ist. Du kennst dich doch ganz gut aus. Derjenige von uns, der Recht hat, kann ihn mit nach Hause nehmen.«

Tatsächlich bleibt Raban jetzt interessiert stehen.

»Wo habt ihr denn den Vogel und wie habt ihr ihn überhaupt gefangen?« Er lässt seinen Blick suchend umherschweifen.

»Bist du denn blind? Schau doch mal da«, weist Alexander mit ausgestrecktem Arm auf das Weißdorn-Gebüsch, unter dem sich etwas im Schatten zu bewegen scheint.

Langsam nähert sich Raban dem Strauchwerk. Als er noch ein paar Meter entfernt ist, hockt er sich abwartend nieder. Er betrachtet forschend den großen, dunklen Vogel. Dieser hat sich so weit wie möglich unter den Strauch gedrückt und lässt seinen rechten Flügel etwas hängen. Sehr dunkle Augen blicken aus einem etwas schräg gehaltenen Kopf zu Raban hoch, um ihn, so sieht es aus, ebenfalls forschend zu betrachten.

Raban hält erschrocken kurz den Atem an. Das kann doch nicht wahr sein.

»Sch, sch! Du musst keine Angst haben, ich tue dir nichts«, versucht der Junge mit leiser Stimme den Vogel zu beruhigen. Langsam bewegt er sich rückwärts, erhebt sich und wendet sich den drei Anderen zu. Er muss einige tiefe Atemzüge machen. Erst einmal ist Ruhe notwendig.

»Nun? Du kennst diese Vogelart wohl auch nicht!«, wird er von Alexander verhöhnt.

»Ich weiß genau, was das für ein Vogel ist«, entgegnet Raban bestimmt. »Ich verstehe nur nicht, wie ihr es wagen konntet, auf ein wehrloses Tier mit euren Steinschleudern zu schießen.« Aufgebracht schaut er in die Gesichter seiner Klassenkameraden und deutet auf die hölzernen Waffen, die halb aus deren Taschen schauen.

»Da ist doch nichts dabei! Wie hätten wir diesen Vogel denn sonst bekommen können?« Brummig blicken die drei zurück. »Außerdem ist das doch bloß ein Tier! Und du kennst es auch nicht.«

»Doch, ich kenne diesen Vogel. Wenn ihr die falsche Art nennt, dann nehme ich ihn mit. Er ist verletzt und muss dringend behandelt werden!«

Als die anderen lauthals zu lachen beginnen, hebt er seine Fäuste und macht drohend einen Schritt auf sie zu. Das Gelächter verstummt sofort. Die drei glauben ihren Augen nicht zu trauen. Dieser schmächtige Junge, der etwa einen halben Kopf kleiner als sie ist, fordert sie heraus? Sie werden auf dem Schulhof von den anderen Kindern gefürchtet, da sie zusammenhalten und keiner Rauferei aus dem Weg gehen. Aber irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht. Raban wirkt heute nicht lächerlich, sondern tatsächlich bedrohlich. Woran es liegt, wissen die Jungen nicht, aber sie treten erschrocken einen Schritt zurück.

»Langsam, du musst nicht gleich aufbrausen«, entgegnet Alexander nun. »Wir machen das so, wie gerade von dir vorgeschlagen.«

»Abgemacht, der Handel gilt«, bestätigt Raban nickend. »Also nennt mir eure Vorschläge.«

»Das ist eine Dohle«, kommt sofort der erste.

»Nein«, entgegnet Raban, »die hätte blaue Augen, wenn sie jung ist, oder hellgraue, wenn sie erwachsen ist, und außerdem wäre sie wesentlich kleiner.«

Nach kurzem Zögern lautet der zweite Vorschlag:

»Das ist ’ne etwas zu groß geratene Schwarzdrossel!«

»Nein!« lacht Raban, »die hätte einen gelben Schnabel und wäre nicht einmal halb so groß.«

Nach einer langen Pause erfolgt die letzte Nennung von Alexander:

»Das ist eine Saatkrähe oder eine Rabenkrähe.«

»Das war jetzt geschummelt, trotzdem hat es dir nichts genutzt. Beide Antworten sind nicht richtig. Augen- und Schnabelfarbe stimmen zwar, aber beide Arten wären kleiner.«

»Was soll das denn dann für ein Vogel sein? Vielleicht ein Rabe, so ähnlich lautet dein Name doch auch?« Alexander ist wütend, da Raban von ihnen den Vogel gewonnen hat. Er hätte ihn nur zu gern zu Hause in einen Käfig gesperrt und sich als großer Jäger gefühlt, wenn andere Jungen einen Blick darauf werfen dürften.

»Es ist ein Kolkrabe! Und jetzt lasst mich das Tier mitnehmen, damit es die notwendige ärztliche Hilfe bekommt. Es soll die von euch verursachten Schmerzen nicht länger als nötig aushalten müssen. Geht!«

Der Blick, den Raban ihnen zuwirft, ist drohend. Erneut sind seine Fäuste geballt und erhoben.

Einen Moment zögern die Drei, unschlüssig, ob sie sich geschlagen geben sollen. Wenn das die anderen aus der Klasse erfahren, ist ihre bisherige Überlegenheit in Gefahr. Doch dann geschieht das Unerwartete. Sie grummeln leise etwas vor sich hin, zucken mit den Schultern, drehen sich um und schlurfen davon. Alexander blickt sich noch einmal kurz um, spuckt hinter sich auf den Boden und murmelt wütend:

»Weichei, Mädchen!«

Raban atmet auf. Das war aber knapp. Er hatte den Atem angehalten und nicht zu hoffen gewagt, diesen Sieg zu erringen.

Langsam dreht er sich zum Weißdorn-Gebüsch um und traut seinen Augen nicht. Der Kolkrabe kommt aus dem Schutz des Gebüschs hervor und befindet sich nun ganz in seiner Nähe. Der Junge geht in die Hocke. Ihre Blicke begegnen sich. Plötzlich hört er eine knarzige Stimme:

»Danke! Du hast mich gerettet.«

Erschrocken fährt Raban hoch und blickt sich um. Aber der Vogel und er sind die einzigen Lebewesen hier.

»Spinne ich?«, rätselt der Junge, als er erneut die Stimme wahrnimmt.

»Nein, Raban. Du spinnst nicht. Du hörst meine Stimme in deinem Kopf, so wie ich deine Gedanken hören kann. Du hast Recht. Ich bin ein Kolkrabe, so wie ihr Menschen unsere Art nennt. Mein Name ist Röiven. Ich bin dir sehr dankbar, wenn du mir helfen und meinen Flügel wieder richten kannst. Mittlerweile sind die Schmerzen schon unerträglich.«

In diesem Moment schließt der Kolkrabe seine Augen und kippt auf die Seite.

Obwohl Raban sprachlos darüber ist, was der Vogel zu ihm gesagt hat, reagiert er sehr schnell. Er fängt ihn auf, bevor er den Boden berührt. Vorsichtig erhebt er sich mit dem Tier in seinen Armen und rennt in Richtung des Dorfes.

»Kann ich wirklich den Vogel gehört haben?«, überlegt der Junge. »Falls das möglich sein sollte, werde ich davon lieber nichts zu anderen sagen. Ich werde sonst sicher für verrückt erklärt. Jetzt muss ich den Tierarzt um die Behandlung des Vogels bitten. Der Flügel scheint gebrochen zu sein und muss sicher gerichtet werden.«

Beginn einer Rettungsaktion

Es ist Abend und Raban liegt in seinem Bett. Durch das Fenster leuchtet der Mond herein. Gerade als ein Mondstrahl auf das dunkle, blau glänzende Gefieder fällt, bewegt sich der große Vogel. Seine dunkelbraunen Pupillen sind nachdenklich auf den fest schlafenden Jungen gerichtet. Der Kolkrabe hockt auf einem kleinen Tischchen neben Rabans Bett und überlegt. Soll er dem Jungen erzählen, wer er ist und warum er hier ist? Wird er das überhaupt glauben? Menschen sind oft grausam zu Tieren. Doch dieser Junge hat sein Mitgefühl für ihn bewiesen, hat sich sogar mit den anderen anlegen wollen. Er hatte es wohl bemerkt.

»Dabei ist dieser Junge eher schmächtig und macht nicht gerade den Eindruck, ein geübter Kämpfer zu sein. Aber ich habe seinen wachen und forschenden Blick gesehen. Für sein Alter wirkt er bereits sehr klug. Die hellblauen Augen scheinen mir sehr gut zu seinen kurzen, blonden Haaren zu passen. Zusammen mit den wenigen Sommersprossen auf und um seine Nase wirkt er etwas verschmitzt aber freundlich. Was er wohl von mir denken mag?«, grübelt Röiven. »Im Moment, da die Gefahr vorüber ist, falle ich in Ohnmacht. Ich bin in seinen Augen sicher ein Schwächling! Hm, ich glaube, jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Der Mond schickt sein silbernes Licht direkt auf das Gesicht des Jungen.« Leise, unverständliche Worte ertönen.

Raban bewegt sich, reibt verschlafen die Augen und erhebt sich. Sein Blick sucht den Vogel. Erleichtert atmet er auf, als er ihn im Mondlicht erkennt. Der Verband über dessen Schulter zum rechtem Flügel hin ist nicht zu übersehen.

Raban erinnert sich. Der Tierarzt hatte sehr erstaunt geschaut, als er mit dem großen Kolkraben im Arm in der Praxis stand. Die Behandlung verlief schnell und einfach, da der Vogel noch nicht erwacht war. Nach einer gründlichen aber vorsichtigen Abtastung hatte der Arzt ihn beruhigt.

»Zum Glück ist der Flügel nicht gebrochen. Aber ich habe eine heftige Prellung an seinem kleinen Brustmuskel ertastet. Dadurch wird er einige Tage den Flügel nicht heben können. Ich werde ihm einen Schulter-Flügel-Verband anlegen, der diesen fixiert. Dadurch werden Muskelbewegungen vermieden, die sonst heftige Schmerzen verursachen würden. Vorher gebe ich dem Tier eine schmerzstillende und abschwellende Salbe auf den Muskel. In etwa drei bis fünf Tagen kannst du den Verband entfernen und die Reste der Salbe mit lauwarmen Wasser abwaschen, damit der Vogel diese womöglich nicht mit dem Schnabel entfernen muss. Schaffst du das?«

Der Arzt hatte ihn freundlich angesehen und zu seiner Bestätigung genickt. Danach wollte er noch wissen, wie das Tier zu dieser Verletzung gekommen sei. Ohne die anderen zu verraten, erzählte Raban ihm, er habe den Kolkraben betäubt in der Nähe eines Baums gefunden, den dieser vermutlich im Flug gestreift haben musste.

Er erinnert sich noch genau an den forschenden und leicht ungläubigen Blick des Mannes durch die runden Brillengläser. Der Junge weiß genau, Kolkraben sind ausgezeichnete Flugkünstler und würden nie eine derartige Verletzung durch Selbstverschulden bekommen. Viel wahrscheinlicher könnten Menschen den Tieren so etwas antun. Diese betrachten Rabenvögel oftmals negativ als Unglücksboten, als diebisch, ungeschickt oder gefährlich, und gehen gegen sie vor. Nach kurzem Schweigen hatte der Arzt ihm wieder zugelächelt. Er traute Raban offenbar eine das Tier verletzende Tat nicht zu, da er dann nicht mit dem Vogel im Arm zu ihm gekommen wäre.

Der Junge betrachtet den Vogel, der wieder mit leicht schräg gestelltem Kopf und wachen, dunkelbraunen Augen zurückblickt. Der Kolkrabe hat eine Körperlänge von weit mehr als 50 cm und eine schlanke Statur. Sein Schnabel ist sehr groß und kräftig, der Oberschnabel ist deutlich nach unten gebogen. Das Gefieder ist einfarbig schwarz und glänzt im Mondschein metallisch. Beine und Schnabel sind ebenfalls schwarz.

»Bist du jetzt fertig mit meiner Musterung?«, vernimmt er die leicht knarzende Stimme.

»Entschuldige bitte, Röiven! Ich wollte dich nicht so anstarren. Aber ich konnte noch nie einen Kolkraben aus der Nähe betrachten. Ich hoffe, ich habe deine Gefühle nicht verletzt.«

»Ähem, ist schon gut. Ich möchte dir noch danken. Die Schmerzen sind weg. Aber leider ist mein rechter Flügel jetzt unbeweglich. Hast du ihn mit Absicht festgebunden?« Die Augen des Vogels scheinen aufzuglimmen, so, als ob dort ein unsichtbares Feuer lodert.

»Das hat der Arzt, zu dem ich dich gebracht habe, gemacht, um deinen Flügel, also die Muskulatur zu schonen. Aber, keine Angst, in drei Tagen werde ich ihn entfernen.«

»Ich habe keine Angst, nie!«, vernimmt der Junge jetzt eine aufgebrachte Stimme. »Aber ich habe einen dringenden Auftrag, den ich erfüllen muss. Jetzt wird es sehr schwierig werden, Baran aufzuhalten.« Der große Vogel klappert mit seinen Augendeckeln.

»Ich brauche meinen rechten Flügel nicht nur zum Fliegen«, fügt er nach einer kleinen Pause erläuternd hinzu. »Ich benötige ihn auch, damit ich mit voller Kraft zaubern kann! Meine Magie ist in meinem derzeitigen Zustand vielleicht sogar gefährlich für mich, wer weiß das schon so genau.«

»Magie und Zauberei? Träume ich vielleicht noch?« Raban reibt sich erneut die Augen. Der Vogel beugt sich von dem kleinen Tischchen zu ihm herüber und zwickt ihn kurz mit dem kräftigen Schnabel in die Schulter.

»Autsch, was soll das denn jetzt?«, fährt der Junge auf.

»Ich wollte dir beweisen, du träumst nicht!« Ein leises Lachen, das wie rollende Steine auf einem sandigen Fels klingt, folgt.

»Also, du kannst zaubern? Zumindest, wenn du nicht derart eingepackt bist?«, will der Junge, immer noch etwas ungläubig wissen.

»Na klar. Das ist doch nicht in Frage zu stellen. Wie hätte ich dich denn sonst finden können?« Der Vogel klingt selbstbewusst. Der Junge versteht aber immer noch nicht.

»Wie? Du hast mich gefunden? Ich meine eher, ich habe dich gerettet, oder meinetwegen auch gefunden, wenn das deine Ehre kränken sollte.« Jetzt lacht Raban leise.

»Ach, sei’s drum. Der Mond wandert weiter. Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen, wenn wir noch etwas retten wollen!«, lenkt der Kolkrabe unerwartet aber drängend ein.

»Was? Wir müssen zu einer Rettungsaktion aufbrechen? Da solltest du mich aber erst besser informieren, worum es überhaupt geht!«

»Dazu ist keine Zeit. Wir müssen sofort aufbrechen. Jetzt!« Der schwarze Vogel berührt den verdutzten Jungen mit seinem linken Flügel.

»Portaro!«

Raban hört die knarzende Stimme. Das Zimmer beginnt sich zu drehen. Es flimmert kurz.

Als das Gleißen aufhört, steht er im Freien, auf einem Bergrücken. Der Kolkrabe läuft schimpfend auf einem schmalen Pfad hangabwärts:

»Elender, blöder, nichtsnutziger Verband. Völlig ungeeignet zum Zaubern. Wir sollten eigentlich direkt bei Minerva angekommen sein.« Der schwarze Vogel blickt sich kurz nach dem Jungen um, der noch immer dort steht, wo sie angekommen sind. »Nun schau dich kurz etwas um. Aber beeile dich und folge mir schnell nach!«, hört er Röivens Stimme.

Was der Junge sieht, verschlägt ihm den Atem. Er befindet sich auf einem beeindruckenden Bergrücken. Die langen Abhänge hinter ihm leuchten hell im Mondlicht. Auf der vor ihm liegenden Seite liegen dagegen graue Schatten. So weit er den Weg vor und hinter sich sowie das umgebende Land überblicken kann, ist nirgends ein Haus oder eine Ansiedlung zu sehen. Der sich vor ihm abwärts windende Weg verläuft in Richtung eines Moorgebietes, auf dem nur schwach vereinzelte Büsche zu erkennen sind. Ein leichter Dunst liegt auf dem Gebiet. Über die gesamte Weite ist kein Ton zu hören oder die geringste Bewegung zu erkennen. Lediglich der schwarze Vogel schreitet auf dem Weg vor ihm abwärts.

»Wie sind wir hierher gekommen und wohin willst du so schnell?« Der Junge holt den Vogel kurz darauf ein, um sich ihm in den Weg zu stellen. »Du gibst mir jetzt sofort eine Erklärung für das alles.«

Nach einer kurzen Pause fordert er: »Und wenn du schon zaubern kannst, besorge mir doch meine Hose, Shirt und Schuhe. In meinem Schlafzeug ist es reichlich kalt. Außerdem möchte ich nicht derart gekleidet umherwandern!« Herausfordernd blickt Raban in Röivens Augen.

»Ist ja gut. Ich versuch es mit deinen Sachen.«

Der Junge hört ein kurzes, unverständliches Gemurmel, dann ist er normal gekleidet, so wie er gestern unterwegs war.

»Danke, das ging ja mal schnell. Aber jetzt solltest du meine Fragen beantworten und mir sagen, worum es geht. Und bitte, fang vorne an.«

Lächelnd nimmt er den Vogel auf seine Arme und folgt dem Pfad in der bisherigen Richtung.

»Wir sind mit dem magischen Sprung hierher gekommen. Wenn sich ein Zauberer einen ihm bekannten Ort vorstellt und »Portaro« spricht, verlässt er den bisherigen Ort und befindet sich sofort an dem aus seinen Gedanken.«

»Das Reisen mittels magischem Sprung kenne ich aus einem Buch. Dass das tatsächlich funktioniert, hätte ich nicht gedacht«, staunt der Junge verblüfft. »Aber warum sind wir hier auf diesem unwirtlichen Berghang?«

Der Kolkrabe berichtet

Röiven klingt bei der folgenden Erläuterung etwas verlegen:

»Ich sagte dir bereits, dass ich mit dem festgebundenen Flügel vielleicht nicht so gut zaubern kann. Es ist zwar auf unserem Weg hierher nichts passiert …« Die nächsten Laute klingen, als könnten es Schimpfworte sein, formen sich aber zu keinen sinnvollen Worten in Rabans Kopf:

»… aber wir sind zu weit oberhalb des Ziels angekommen. Wir müssen eine Höhle am Fuß dieses Berges erreichen, bevor der Mond untergegangen sein wird.« Der Rabe klappert erneut mit seinen Augendeckeln, wobei er seinen Kopf etwas schräg hält.

»Was weißt du über Elfen?«, beginnt der Kolkrabe seinen Bericht danach unerwartet mit einer Frage, worauf Raban sofort stehen bleibt. »Halt, ähem, ich meine natürlich: nicht anhalten. Die Zeit drängt. Während ich dir die geforderten Informationen gebe, musst du so schnell wie möglich weitergehen.«

Der Junge setzt sich sofort wieder in Bewegung. Auch wenn der Vollmond sein Licht ungehindert zur Erde schicken kann, gibt es auf dieser Seite des Berghangs mehr Schatten als Licht. In der unsicheren Beleuchtung bewegt sich der Junge so schnell wie möglich, was aber nicht so einfach ist. Er muss sehr oft um größere Steine herum ausweichen oder sich vorsichtig auf losem Geröll abwärts vortasten. Mit dem Vogel auf den Armen ist es nicht so einfach, das Gleichgewicht zu behalten. Raban möchte unbedingt vermeiden hinzufallen, wodurch sie aber relativ langsam den Hang hinunterkommen. Manchmal meint er, ein Aufseufzen des Kolkraben zu hören, so, als ob dieser wegen des gemächlichen Tempos fast verzweifelt.

»Könnte ich doch nur fliegen!«, stöhnt dieser einmal, als der Junge abermals vorsichtig die Beschaffenheit des Bodens prüft, bevor es weiter geht.

»Also, was kannst du mir über Elfen sagen?«, wiederholt Röiven seine Frage.

»Das sind menschenähnliche Wesen aus Märchen und Geschichten, die gegenüber Menschen oft unnahbar und stolz sind. Sie besitzen manchmal Zauberkräfte und wohnen an geheimen Orten.«

»Für einen Menschen ist dein Wissen gar nicht so schlecht, obwohl es lückenhaft und ein Teil deiner Antwort nicht richtig ist. Elfen gibt es wirklich, nicht nur in Märchen!«

Raban atmet ungläubig ein, wird aber vom Vogel an einer Äußerung gehindert, indem er schnell fortfährt.

»Ja, ja, es gibt sie. Früher lebten sie überall in unserem Land, doch heute halten sie sich meistens versteckt. Ihr größtes zusammenhängendes Gebiet befindet sich in einem geheimen Wald im Norden. Dort lebt ihre Anführerin Solveig mit vielen von ihnen in ihrer Festung Serengard.«

»Aber kann das sein?«, unterbricht ihn der Junge. »Diese Elfe lebt in dem von dir genannten Schloss im geheimen Wald, aber nur in einer Geschichte. Ich habe das vor einiger Zeit in einem Buch gelesen. Wie hieß es doch gleich? Richtig: »Eila – Die Leuchtende«.«

»Oh. Du kennst die Geschichte?«, will der Vogel erstaunt wissen. »Nicht viele haben das Buch bisher gelesen, wie ich gehört habe.«

»Ich kenne es.«

»Gut, dann brauche ich dir ja zu Elfen nichts mehr zu erläutern.«

»Aber das ist doch nur eine Geschichte, ein erdachter Roman!«

»Nein. Das ist eine wahre Geschichte, verpackt in einen Roman.«

»Dann gibt es die darin beschriebenen Personen, also: Eila, Finley, Rose Hlin, Sorcha und Knuth wirklich?« Raban ist erstaunt stehengeblieben.

»Bitte weiterlaufen, die Zeit drängt. Gut so. – Ja, diese Personen hat es tatsächlich gegeben, vor etwas mehr als 100 Jahren, auch die bösen und die guten Zauberer.«

»Aber, wie kannst du das wissen? Kolkraben werden nicht so alt und die Bücher wirst du sicher nicht gelesen haben.«

Raban will noch immer nicht glauben, was er gerade gehört hat.

»Auch wenn wir relativ alt werden können, wenn man nicht gerade von schießwütigen Menschen angegriffen wird«, fügt der schwarze Vogel grollend hinzu, »hatte ich damals noch nicht mein Nest oder die schützende Eierschale verlassen. Meine Großmutter hat mir erzählt, was wirklich passierte. Sie lebt heute im geheimen Wald. Großmutter hat das von Solveig erfahren, als das Buch von einem Verwandten Eilas geschrieben wurde. Der Autor und Solveig haben damals in regem Austausch miteinander gestanden.« Röiven schweigt kurze Zeit, genauso wie Raban, der das Gehörte erst verarbeiten muss.

Nach einem kurzen, rollenden Räuspern fährt der Kolkrabe fort:

»Somit kennst du die wichtigsten Fakten aus den Büchern.«

»Woher weiß ich aber, ob vielleicht etwas dazu gedichtet wurde und was wahr ist?«

»Das ist eigentlich unerheblich für meinen Auftrag. Die Zauberkräfte aller Menschen wurden damals aufgehoben, das ist real. Die Elfen behielten aber ihre magischen Fähigkeiten, Solveig natürlich auch. Obwohl Elfen länger leben und langsamer altern als Menschen, ist sie mittlerweile auch für Elfen schon sehr alt. Ich bin mir nicht sicher, aber sie könnte die letzte Elfe sein, die zaubern kann.« Der Kolkrabe bekommt einen nachdenklichen Blick. Nach einer längeren Pause schreckt er auf. Raban wäre beinahe gestürzt und bewegt ruckartig seine Arme, um das Gleichgewicht zu halten.

»Äh, wo war ich? Genau. Die dunklen Zauberer hatten es in der Vergangenheit darauf abgesehen, alle anderen Lebewesen zu unterwerfen. Gegen die Elfen hegten sie immer einen besonderen Groll oder sogar Widerwillen, wie du sicher aus den Büchern weißt.

Zaubern konnten die Bösen seit damals nicht mehr, trotzdem arbeiteten ihre Nachkommen weiter daran, die Herrschaft in diesem Land zu übernehmen. In der Vergangenheit standen die Elfen immer auf Seiten der Guten und waren erbitterte Gegner der dunklen Zauberer. Den Hass auf die Elfen haben diese offenbar immer an ihre Kinder weitergegeben. Der Urenkel des damaligen Oberhauptes der bösen Zauberer, sein Name war Bearach, sinnt noch heute auf Möglichkeiten zur Rache.«

Eine große Pause entsteht, bis Röiven fortfährt:

»Jetzt kommen wir zu einer unrühmlichen Tat von einem meiner Vettern.« Die nächsten Laute bilden keine sinnvollen Worte in Rabans Kopf, obwohl er den Eindruck hat, Schimpfworte zu vernehmen.

»Verflucht sei der Tag, an dem er aus dem Ei geschlüpft ist! Grimur, das ist sein Name, wollte schon immer etwas Besseres sein. Ich habe den Verdacht, er wollte unser König werden, aber lassen wir das. Er trieb sich viel mit Krähen und Elstern herum, bis er auf Baran traf.

Wie ich dir bereits sagte, kann ich zaubern. Das ist für die Mitglieder meiner Familie nichts Ungewöhnliches, für die meisten Kolkraben aber schon. Meine Familiengeschichte reicht sehr weit zurück, bis zu den Anfängen der Zauberei in diesem Land.

Also, Grimur hatte das Talent zum Zaubern geerbt und wurde ein hochbegabter Magier. In seinem Machtstreben waren diese Fähigkeiten solange nützlich, bis er Baran kennenlernte. Das ist ein böser Mensch und der bereits genannte Urenkel von Bearach, dem obersten der dunklen Zauberer.

Obwohl es ein ungeschriebenes Gesetz gibt, niemals unsere Fähigkeit des Zauberns an Menschen weiterzugeben, konnte Grimur nicht widerstehen. Er erlag den Schmeicheleien Barans und unterrichtete diesen in Magie. Eines Tages wurde er von ihm in einen silbernen Käfig gelockt.

Du musst wissen: Silber unterbindet unsere Fähigkeiten zu zaubern.

Wider besseren Wissens glaubte Grimur den Versprechungen Barans, dass er freigelassen und belohnt werden würde, wenn er die letzten Zaubergeheimnisse auf ihn übertragen würde. Erst weigerte sich mein Vetter, doch nach Tagen des Nahrungsentzugs wurde er wieder einmal aus dem Käfig geholt und übertrug die geforderten Kräfte. Den versprochenen Lohn erhielt Grimur natürlich nicht. Er wurde statt dessen in eine Steinfigur verwandelt.«

In der erneuten Pause stellt Raban fest:

»Also gibt es jetzt wieder einen Menschen, der zaubern kann. Und das ist noch dazu ein böser Mensch?«

»Genau. Weil mein so überheblicher und verblendeter …« Erneut formen sich die nächsten Laute zu keinen sinnvollen Worten in Rabans Kopf. Dann seufzt Röiven und fährt fort: »Ich wurde von der weisen Eule Minerva aufgefordert, eine Rettungsaktion für die Elfen zu starten, da ihnen jetzt großes Unheil von Baran droht. Ich sollte bis zum Ende der heutigen Nacht einen bestimmten Menschen zu ihr bringen, und das bist du. So, jetzt kennst du meinen Auftrag.«

Der Kolkrabe dreht seinen Kopf und schaut dem Jungen in die Augen. Er erkennt darin sowohl Staunen als auch Unverständnis.

»Soweit habe ich das verstanden, aber warum sollte ich helfen können? Ich bin doch nur ein kleiner Junge, der nicht einmal im Raufen geübt ist. Wie soll ich da etwas gegen einen bösen Zauberer ausrichten können?«

»Warum ich dich hierher holen sollte, werden wir sicher gleich von der Eule erfahren. Jedenfalls wurde mir genau beschrieben, wo ich einen Menschen mit Namen Raban finden würde. Dieser Name ist eher selten unter euch Menschen, aber Minerva wusste, in eurem Ort gibt es ihn. Und jetzt ist die Nacht fast vorüber, also beeile dich!« Die letzten Worte klingen flehend.

Raban hastet weiter abwärts. Beinahe strauchelt er über einen quer über dem Pfad liegenden, herabgefallenen Ast einer riesigen Eiche, die hoch über ihnen aufragt.

»Das hat aber lange gedauert, fast sogar zu lange!«, erklingt eine neue Stimme von hoch oben.

Der Junge schaut sich überrascht um. Sie sind am Fuß des Berghangs angelangt und stehen vor einer offenbar uralten Eiche. Im Hintergrund erkennt er undeutlich den schmalen Eingang einer Höhle. Sollten sie am Ziel sein?

»Hallo Minerva«, erklingt Röivens Stimme. »Es ging leider nicht schneller. Einige Menschenkinder hatten es auf mich abgesehen und verletzten mich. Wenn Raban nicht …«

Hier wird er unterbrochen:

»Das ist ja schön und gut, aber wir haben keine Zeit für ausschweifende Erklärungen.«

Minervas Auftrag

Ein dunkler Schatten scheint aus dem Wipfel des Baums herunterzufallen. Er bleibt aber in Höhe eines der unteren Äste hängen. Jetzt erkennt Raban einen herzförmigen, helleren Fleck in dem Schatten. Er strengt seine Augen an und tritt näher an den Baum heran. Ja, es stimmt. Eine Schleiereule sitzt dort und schaut mit ihren dunklen Augen in seine Richtung.

»Hallo Raban«, wird er angesprochen.

»Hallo … Minerva. Woher kennst du mich und warum bin ich hier?«

»Ich kenne dich nicht. Aber du musst Raban sein, da Röiven den Auftrag hatte, einen Menschen mit diesem Namen zu mir zu bringen.« Jetzt schaut die Eule zum Kolkraben, der bestätigend seinen Kopf ein wenig senkt.

»Also gut. Dann werde ich dir, bzw. euch beiden erklären, warum ihr hier seid.«

Beide, der Junge und der große Vogel auf seinem Arm, schauen gespannt zur Eule.

»Hat Röiven dir erklärt, dass die Elfen von Baran, einem bösen Zauberer bedroht werden?«

»Ja. Und Baran ist ein Urenkel des letzten oberen Dubharan.«

Erstaunt klappt die Eule ihre Augendeckel mehrmals auf und zu.

»Ich höre, du hast bereits einige Informationen erhalten.«

»Er kennt aber auch das Geschehen von vor 100 Jahren, da er die Bücher gelesen hat«, ergänzt der schwarze Vogel mit krächzender Stimme.

»Das freut mich, dann kennt er sich ja bestens aus.« Raban spürt, wie er von der Schleiereule gemustert wird. »Intelligent sieht er aus, aber ist er auch mutig genug? Hm«, überlegt Minerva. »Da wir nicht viel Zeit haben, muss es gewagt werden.

Röiven und Raban, ich erteile euch den Auftrag, die Elfen vor ihrer größten Gefahr zu retten. Nun, was sagt ihr?«

»Ähem, darf ich etwas fragen?«, erkundigt sich der Junge vorsichtig.

»Natürlich, wenn es nicht zu lange dauert. Was willst du wissen?«

»Weshalb weißt du, dass den Elfen Gefahr droht?«

»Kurz zusammengefasst kann ich das so erklären: Jedes Lebewesen kennt die große Weisheit der Eulen. Alle Eulen versammeln sich mehrmals im Jahr zu einer großen Beratung. Bei unserer letzten Zusammenkunft wurde uns klar, dass die Elfen in großer Gefahr schweben. Ich wurde von unserem Rat beauftragt, etwas dagegen zu unternehmen.« Ihre Augendeckel klappern mehrmals zur Bestätigung.

»Das führt mich zu meinen nächsten Fragen«, entgegnet Raban. »Warum soll ich in der Lage sein, die Elfen aus ihrer größten Gefährdung zu retten und wie sieht die Gefahr nun eigentlich aus?«

»Genau. Das möchte ich auch wissen«, bekräftigt der Vogel auf seinem Arm, »und warum soll ich dabei helfen?«

Minerva schaut beide ernst an.

»Hab ich das noch nicht gesagt? – Die Elfen werden von Baran bedroht. Er will nicht nur ihre Festung zerstören, sondern sie auch alle vernichten.« Zum Kolkraben gewendet erklärt sie: »Grimur gehörte zu deiner Familie. Er hat uns das eingebrockt. Es ist nicht nur eine Frage der Ehre, aber du musst helfen, das wieder geradezubiegen.« Sie blickt nun zum Jungen. »Du solltest das verhindern können, weil dein Name Raban ist.«

»Was hat das mit meinem Namen zu tun?«

»Er ist aus denselben Buchstaben gebildet, wie »Baran«. Eure Namen sind Anagramme! Er ist böse und du bist gut. Das stimmt doch?« Die dunklen Augen scheinen ihn zu durchdringen.

»Er ist ein mitfühlender Mensch, der sich um andere kümmert. Das habe ich am eigenen Leib erfahren«, bestätigt Röiven.

»Aber kann ich es deshalb mit einem bösen Zauberer aufnehmen? Wenn man mal außer Acht lässt, dass ich kein Erwachsener bin, ist nicht zu übersehen: ich bin für mein Alter nicht einmal besonders kräftig. Zaubern kann ich natürlich auch nicht.«

Die Eule antwortet erst nach einer kurzen Pause:

»Trotzdem weiß ich, Gleiches bekämpft man am besten mit Gleichem. Wenn irgendwo ein Feuer ausgebrochen ist, sagen wir mal in einem Wald, dann werden von euch Menschen Gegenfeuer gelegt, um eine Ausbreitung zu verhindern.

Für Gegenzauber ist Röiven zuständig, für die möglicherweise notwendigen Kenntnisse eines Menschen dann du, Raban.

Baran wird somit durch euch beide an der Ausführung seiner Pläne gehindert werden können.« Die nächsten Laute ergeben für den Jungen keinen Sinn.

»Was, das hoffst du also nur?« vernimmt er statt dessen die Stimme des Kolkraben.

»Oh. Ich habe ganz vergessen, wie klug ihr Raben seid. Natürlich konntest du mich jetzt verstehen. Ich will also ehrlich sein. Genau weiß ich natürlich nicht, ob sich das in diesem Fall anwenden lässt. Dafür können zu viele Faktoren eure Aufgabe beeinflussen. Aber ich kenne keine andere Möglichkeit, um die Elfen zu retten.«

In einer kurzen Pause klappert Minerva entschuldigend mit den Augendeckeln.

»Solveig ist mittlerweile sehr alt und zeitweise schon enorm vergesslich. Falls sie sich mittels Zauber verteidigen müsste, wüsste sie vermutlich nicht, welche zu nutzen wären. Andere Elfen mit Zauberkräften gibt es im geheimen Wald nicht mehr. Aber die Gefahr besteht nicht unbedingt in einem direkten Zauberangriff. Dann würde es ausreichen, wenn du, Röiven, vorsorglich dort wohnen würdest. Deine Zauberkräfte sind gewaltig und können es vermutlich mit denen Barans aufnehmen, der sie ja von deinem Vetter erhalten hat. Aber es ist auch wichtig, Unterstützung durch einen Menschen zu erhalten.«

Raban räuspert sich, bevor er unbehaglich fragt:

»Worin besteht die andere Möglichkeit, die Elfen zu vernichten?«

Gespannt warten beide, der Junge und der schwarze Vogel, auf die Antwort.

»Habt ihr schon einmal von der Legende über die Raben im Tower von London gehört? Sie lautet: Der Weiße Turm, die Monarchie und das gesamte Königreich, würden zugrunde gehen, falls die Raben jemals den Tower verlassen.

Ob die Sage für London zutrifft, weiß ich nicht genau. Möglicherweise ist die ursprüngliche Aussage durch die lange Zeit der Überlieferungen verfälscht worden. In einem alten Buch der Mythen und Sagen ist der mögliche Kern zu finden, der sich aber auf die Elfen bezieht. Dort steht geschrieben: so lange Kolkraben in diesem Land existieren, sind die geheimen Plätze der Elfen vor den Menschen verborgen, wodurch sie und ihre Festung vor Vernichtung geschützt sind.«

Plötzlich umgibt sie unheimliche Stille. Keiner wagt auszusprechen, was er gerade denkt. Der Junge äußert sich noch vor dem Raben:

»Was sagst du? Jemand könnte beabsichtigen, alle Kolkraben des Landes zu töten? Wer würde so eine ungeheure Tat nur zu denken wagen?« Empört steht er stocksteif da.

»Oh … glaube mir, vielen Menschen ist so etwas zuzutrauen«, beginnt der Kolkrabe, erst mit leiser, trauriger, aber dann mit fester, lauter Stimme. »Für die meisten von ihnen sind wir Unglücksboten, möglicherweise eine Gefahr für deren Tiere, auf jeden Fall aber ohne Nutzen für sie.«

»Darum ist Eile geboten«, ergänzt nun Minerva. Mit jedem Augenblick der vergeht, stirbt vielleicht irgendwo in unserem Land ein Rabe. Vielleicht erfolgte der Angriff auf dich«, hierbei blickt sie zu Röiven, »bereits als Folge von Barans Plan. Er wird sicher nicht alleine alle Kolkraben töten können. Aber er kann die Einstellung der Menschen zu diesen Vögeln beeinflussen, zumal er Zauberkräfte besitzt!«

»Ja …« Schweigen.

»Aber …« Erneutes Schweigen.

»Wo sollen wir denn dann anfangen?«, fragen der Junge und der Kolkrabe gleichzeitig.

»Beginnt da, wo es die meisten Kolkraben gibt und bringt sie in den geheimen Wald. Dort sollten sie vorläufig sicher sein.«

Die große Schleiereule klappert mit den Augendeckeln, nickt beiden kurz zu und breitet die Flügel aus. Ohne ein hörbares Geräusch oder eine spürbare Luftbewegung, schwebt sie über Raban hinweg. Sie will sich nach der langen Rede mit einer leckeren Maus stärken.

»Ich glaube, Minerva wird langsam gaga. Wie soll denn das zu schaffen sein?«, krächzt Röiven ungläubig.

»Das habe ich gehört!«, ist aus der Ferne noch zu hören.

»Ja, wie?«, überlegt der Junge. »Können wir vielleicht zuerst zurück in mein Zimmer? Ich glaube, ich könnte noch etwas Schlaf vertragen. Und du sicher auch, mit deiner Verletzung. Nach einem guten Frühstück schmieden wir dann einen Plan.«

»Wenn du meinst? Hunger hätte ich wohl …«, und schon krächzt der schwarze Vogel: »Portaro!«

Der Berghang und die Eiche beginnen sich zu verwischen. Es flimmert kurz.

Als das Gleißen aufhört, liegt Raban mit geschlossenen Augen in seinem weichen Bett, die Decke bis zum Kinn hochgezogen.

Der Kolkrabe hockt wieder auf dem Tischchen neben dem Bett. Er hält seinen Kopf leicht schräg und sieht die Schuhe des Jungen unter der Decke hervorschauen.

»Da ist ja wieder etwas schiefgegangen«, denkt er und gibt einige, knarzende Laute von sich.

Danach sieht er zufrieden zum Bett hinüber, vor dem nun die Schuhe auf dem Boden stehen. Hose und Shirt liegen ordentlich gefaltet auf dem Stuhl.

»Was für eine Nacht«, denkt der Vogel noch, dann schließt auch er die Augen und schlummert ein.

Ein Plan entsteht

Erschrocken öffnet Raban die Augen. Hat er geträumt? Schnell richtet er sich auf und blickt zum Tischchen. Den schwarzen Vogel mit dem weißen Schulterverband gibt es also wirklich.

»Das war aber sicher geträumt. Gespräche mit Eulen und Raben gibt es ebenso wenig, wie Zauberer und Reisen mit Magie!«, grübelt er verwirrt.

»Das gibt es, so wahr ich hier hocke und auf dein Erwachen warte«, holt ihn die knarzige Stimme in die Wirklichkeit zurück.

»Aber … was bedeutet das? Warum kann ich dich verstehen? Offenbar habe ich auch die Eule verstanden. Wie ist das möglich?«

In diesem Moment hört Raban eine Stimme von unten. Seine Mutter Ciana ruft die Treppe hinauf:

»Hör auf, dich mit dem Vogel zu unterhalten. Der versteht dich nicht. Komm lieber herunter, wenn du etwas frühstücken möchtest. Das Essen wartet nicht länger. Ich räume gleich ab.«

Hastig springt Raban aus dem Bett, zieht sich an und sprintet kurz ins Badezimmer. Es dauert nicht lange, dann ist er wieder in seinem Zimmer, nimmt den Kolkraben auf seinen linken Arm und stürmt die Treppe abwärts. Er reißt die Tür zur Küche auf.

»Hallo Mom. Ich habe wohl verschlafen, entschuldige bitte.« Ein Blick zum Tisch genügt: »Danke, du hast ja auch etwas für Röiven bereitgestellt.«

»Für wen? Ach, du meinst den Vogel. Ich hoffe, er mag Cornflakes.«

»Mit Milch!«, fordert eine knarzige Stimme.

»Da steht sie ja«, ist Rabans Antwort.

»Was? Sie steht da?« Hellblaue Augen blicken fragend aus einem freundlichen Gesicht zum Jungen.

»Mutter kann das Tier wohl nicht hören«, erkennt der Junge.

»Sag nicht: »das Tier«, das ist herabwürdigend. Vogel ist ja noch soeben ok. Besser als Rabe, Kolkrabe, Corvus …«

»Das reicht, Ruhe!«, fordert Raban.

»Was ist los mit dir?«, will seine Mutter wissen, sich erschrocken umdrehend. »Du bist wohl noch im Traumland unterwegs?«

»Entschuldige, ich habe wirklich ein tolles Durcheinander geträumt.«

»Also, das war kein …«, knarzt der Rabe.

»RUHE!«, denkt der Junge zum Glück jetzt. »Wir sprechen uns nach dem Essen.«

An seine Mutter gewendet erläutert er: »Ich fühle mich, als wäre ich die halbe Nacht in den Bergen unterwegs gewesen. Ja, Cornflakes sind gut, wenn ich darüber noch Milch gebe, wird er sie vermutlich gerne nehmen.«

Der Junge führt bereits aus, was er gerade sagte. Der Kolkrabe hüpft von seinem Arm auf den Tisch und senkt seinen Schnabel in die Schale mit den Flocken.

Ciana schaut kurz zu und lächelt:

»Das ist aber ein schönes und kluges Tier!«

»Also, schon wieder Tier, aber diesmal lasse ich das durchgehen. Der Rest stimmt jedenfalls.«

»Jetzt möchte ich aber in Ruhe essen. Wir unterhalten uns gleich.« Nun nimmt Raban einen großen Schluck heißen Kakao und beißt dann genüsslich in das Toastbrot mit Schokoladencreme.

Nach einem recht schnellen Frühstück, es dauert vielleicht gerade 15 Minuten, hilft Raban beim Abräumen und geht dann, Röiven auf einem Arm, nach draußen. Hinter dem Haus setzt er sich in den warmen Sonnenschein auf eine bereits erwärmte Steinbank. Den Kolkraben setzt er auf einer gegenüberliegenden Bank ab.

»Jetzt möchte ich zuerst wissen, warum ich dich und ebenso Minerva verstehen kann.«

»Ich kann doch zaubern. Weil ich das wollte, können wir über Gedankenaustausch miteinander sprechen, bis ich das durch einen anderen Zauberspruch wieder unterbinde. Minerva konntest du verstehen, weil sie sich der Rabensprache bediente, die ich mit dir spreche.«

»Gut, das verstehe ich. Wir sollten dringend überlegen, wie wir zur Rettung der Kolkraben und Elfen vorgehen wollen.«

»Ja, wo fangen wir an?«, knarzt es zurück.

»Wo gibt es die größte Kolonie von Kolkraben?«

»Die was?«

»Kolonie. Äh, oder Schwarm? Ich meine, wo halten sich die meisten deiner Art gleichzeitig auf?«

»Das ist gar nicht so einfach, da wir Fithich, das ist unsere eigene Bezeichnung, eigentlich nicht sehr gesellig sind. Nur in der Jugend schließen wir uns, nach dem Verlassen des elterlichen Reviers, zu Trupps zusammen. Mit einem Partner bleiben wir als Paar ein Leben lang zusammen. Im Frühjahr werden wir als Eltern mit der Aufzucht von zwei bis sieben, überwiegend drei bis sechs, Jungen beschäftigt sein. Jetzt im Sommer haben die Jungen bereits Trupps gebildet. Im folgenden, spätestens dann im darauf folgenden Sommer, lösen sich diese Verbände aber auf.«

»Wir können wählen, kümmern wir uns um die jungen Fithich, retten wir in kurzer Zeit mehr von euch, als wenn wir einzelne oder Paare suchen.«