Tau und Gras - Galsan Tschinag - E-Book

Tau und Gras E-Book

Galsan Tschinag

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Beschreibung

Galsan Tschinag erzählt hier die Geschichten, die der Stoff seiner Kindheit sind und die sich in seine Erinnerung eingegraben haben. Geschichten von seiner weitverzweigten Familie, von Festen, Heimsuchungen, Krieg und Liebe. Geträumte Wirklichkeit und als Realität erlebte Märchen verbinden sich und münden in einen Gesang an den Altai.

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Seitenzahl: 188

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Über dieses Buch

Galsan Tschinag erzählt hier die Geschichten, die der Stoff seiner Kindheit sind und die sich in seine Erinnerung eingegraben haben. Geschichten von seiner weitverzweigten Familie, von Festen, Heimsuchungen, Krieg und Liebe. Geträumte Wirklichkeit und als Realität erlebte Märchen verbinden sich und münden in einen Gesang an den Altai.

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Galsan Tschinag, geboren 1943 in der Westmongolei, ist Stammesoberhaupt der turksprachigen Tuwa. Er studierte Germanistik in Leipzig und schreibt viele seiner Werke auf Deutsch. Er lebt in Ulaanbaatar und verbringt die restlichen Monate abwechselnd als Nomade in seiner Sippe und auf Lesereisen.

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Dieses Buch gibt es in folgenden Ausgaben: Taschenbuch, E-Book (EPUB) – Ihre Ausgabe, E-Book (Apple-Geräte), E-Book (Kindle)

Mehr Informationen, Pressestimmen und Dokumente finden Sie auch im Anhang.

Galsan Tschinag

Tau und Gras

Geschichten

E-Book-Ausgabe

Unionsverlag

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Impressum

Diese Erinnerungen an seine Jugend schrieb Galsan Tschinag, begleitend zu seiner schriftstellerischen Arbeit an den Romanen, während der letzten zwanzig Jahre.

Einige erschienen in Eine tuwinische Geschichte (Verlag Volk und Welt, Berlin 1981), die anderen werden in der vorliegenden Ausgabe erstmals veröffentlicht.

© by Galsan Tschinag 2002

© by Unionsverlag, Zürich 2022

Alle Rechte vorbehalten

Umschlag: Amélie Schenk

Umschlaggestaltung: Martina Heuer

ISBN 978-3-293-30352-2

Diese E-Book-Ausgabe ist optimiert für EPUB-Lesegeräte

Produziert mit der Software transpect (le-tex, Leipzig)

Version vom 09.06.2022, 12:13h

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Inhaltsverzeichnis

Cover

Über dieses Buch

Titelseite

Impressum

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Inhaltsverzeichnis

TAU UND GRAS

HeimkehrEiMeine AnkunftMeine erste BestrafungJüngstlingDer FelsgeistJener SommerHara HölPflichtEine salzige GeschichteVaterDas fahrerlose Auto in der SteppeDas Märchen vom unansehnlichen BengelSchwäneDas Ende des Bruders RappeVaters SchnauzbartMein Onkel S.Der vierzehnte Griff beim RingenGipfelEs war, es istFischfleischEins mit der TechnikWie wir unseren Lehrer erzogenDas AbschlussspielDas große SchafDas Märchen von der SchneesturmnachtDer Mann mit dem eigenen SternDie Tamyr1 – Draußen in der großen Welt schrieb man das …2 – Die Zeit, der die alternde Hälfte der Menschen …3 – Im Jahr der Gelben Häsin – 1939 sagte …4 – Sie kehrten heim, siegreiche Helden. Die Freude …Der ÜberzieherDas HasenfleischVaters HeimgangZwiegespräch mit den GegangenenOde auf den AltaiI – Hat nicht jedes Reh seine Mulde? Hat nicht …II – Ein Mensch wird geboren. Sein erster Schrei gibt …III – Die Jurte der Tuwa ist kein Prachtbau …IV – Es war geschehen in der Frühe des Jahres …V – Der Herbst befällt die Welt. Er fällt mit …

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Über Galsan Tschinag

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Heimkehr

Du warst der Jungvogel, der das Nest verließ, kaum dich die Flügel trugen. Und entlang der Uferhaine deiner Flugstraßen waren so viele Lenze verwelkt, dass mittlerweile eine schier unüberwindbare Wüste veräscherten Zeitlaubs zwischen deinem Höhenflug nun und dem Nestchen von einst liegt, in welches du fielest, Ei.

Der Faden, den du den welken Jahren entspinnen musstest, war so lang geworden, dass sich deinem Gedächtnis vieles abzufasern drohte, so auch die Züge der Muttergestalt. Was du in dir noch wach-frech gegen den Zeitstaub herauskehrtest, war: Sie beugte sich über dich, wenn sie dich zum Abschied beroch.

Wenn die Zeit geht und die Stunde kommt, tragen die ausgewachsenen Flügel das Kind zur Mutter zurück. Eine kleine Greisin eilt dir entgegen. Die Beine vermögen ihrem Willen nicht mehr zu gehorchen, mit dem letzten Schritt stolpert sie und fällt dir in die Arme. Der zittrige, dürre Körper schmiegt sich aufgebend an dich. Und du musst dich über das schneeweiße Köpfchen beugen, um dich von der Mutter zur Begrüßung beriechen zu lassen. Sie tut es auch, beriecht und beküsst dich, benässt dir die Wangen mit Freudentränen. Dabei strömen ihr Dankessprüche aus dem Mund. Sie gelten den heiligen Geistern der Heimat, die ihr das Kind in der Ferne so lange beschützt haben, auf dass es nun wohl erhalten zurückgekommen ist. An der Stimme erkennst du die Mutter wieder. Sie ist dir geblieben.

Dann löst sie sich von dir und beginnt dich zu betrachten. In dem Blick hinter den nassen Wimpern der Mutter erkennst du dich erst: den roten Hirschbullen des Waldes und den braunen Adler des Felsens.

Du nimmst das Bild wahr, es schwindelt dir; du suchst Halt an der zittrigen, dürren Gestalt. Und sie gibt ihn dir auch, denn du spürst, jetzt steht sie fest.

So führt sie dich denn auch an der Hand auf die Jurte nebenan zu, die dir ebenso wie ihre Bewohnerin gealtert und geschrumpft vorkommt. Allein die Mutter macht eine so erlöste und stolze Geste, die scheint deine Wahrnehmung verwischen zu wollen: Hier nun unser Nest, tritt ein, Kind …

O Mutter, wüsste sie, was ihr von ihrem Jungen überhaupt noch geblieben ist!

Ei

Ein Ei finde ich in der Steppe. Ich weiß nicht, welchem Vogel es gehört. So weiß ich nicht, ob ich einen seltenen Fund gemacht habe oder einen ohne weiteren Wert. Vielleicht aber ist ein jedes Ei in der kahlen, kühlen Steppe eine Seltenheit und somit hat es immer seinen Wert?

Auch weiß ich nicht, wie alt das Ei ist. Nicht einmal weiß ich, ob es seine Farbe, Form und Größe überhaupt noch ändert in der Zeit, in der es da draußen liegt. Also weiß ich auch nicht, ob es einem Vogelzwerg oder einem Vogelriesen gehört.

Möglich, ich werde dabei sein, wenn es aufgeht. Dann werde ich erfahren, um was für ein Geschöpf die Steppe reicher wird. Ebenso möglich jedoch, ich werde es nie erfahren, weil ich nicht dazukommen werde, es wieder aufzusuchen oder einfach, weil da nichts herauskommen wird – ein Ei kann taub sein oder verfault.

Oft komme ich mir selber wie ein Ei vor. Ein Ei, das darauf wartet, ausgebrütet zu werden. Noch weiß die Welt nicht, was aus mir wird. Wie sollte sie es auch, wo nicht einmal ich selber es weiß! Aber Ungeduld umlagert mich. Und Vermutungen gibt es. Ich vernehme Stimmen, die zu wissen glauben, dass aus mir etwas wird. Ebenso höre ich welche, die das Gegenteil behaupten. Unter diesen letzteren heben sich die einiger Steifkragen und Fettwänste besonders hervor, denen ich in der Rangordnung allerdings nur gewöhnliche Plätze einräume, denn, so glaube ich, jede Meinung ist nur eine Meinung.

Ja, wohl muss ich ein Ei sein, das darauf wartet, ausgebrütet zu werden.

Meine Ankunft

Zwei Jahre vor meiner Ankunft im Leben hat Mutter Zwillinge geboren. Die beiden älteren Geschwister waren damals zwei und vier Jahre alt. Sie waren also schon in der Lage, sich über das Auftauchen von den Brüderchen zu erfreuen. Allein die Freude dauerte nicht lange, denn nach zehn Tagen brachen die Frischlinge ihr Dasein ab, beide zur gleichen Stunde. Eine Russin, Sowjetmensch und dazu noch auch Doktor genannt, hatte vorher hereingeschaut und durch einen Dolmetscher die Hochschwangere ausgeschimpft, weshalb sie denn zögerte mit der Niederkunft, die Frucht sei überreif und auf dem Wege nun, im Mutterleib zu altern. Darauf hatte man sie mit Arzneien gefüttert, auf dass diese die träge Frucht hinaustrieben, was auch geschah – nur, anstatt des angenommenen Überreifen fielen zwei unreife, an der ganzen Haut verknitterte und behaarte Jüngchen ab. Aber sie hingen nur noch zehn Tage am Leben.

Und nachdem der Lebensfaden abgerissen war, haben die Eltern, wie immer in solchen Fällen, den Kindern erzählt, die Brüderchen seien ins Salz gegangen und würden bald wieder zurückkehren. Somit war Anlass gegeben zu einer endlosen Fragerei, auf die keiner eine Antwort wusste, bis die Mutter wieder in guter Hoffnung war. Ab da konnte man den längst ungeduldig gewordenen Kindern die ungefähre Länge der noch verbleibenden Frist nennen. Und als es so weit war, stürzten sich die beiden jedes Mal aus der Jurte hinaus, sobald der Hund bellte, und schauten voller Ungeduld auf den Nordsattel, über den der Weg herführte. Darauf waren sie enttäuscht, gleich, ob jemand von dorther kam oder nicht, denn es war ja nicht das, was sie erwarteten. Und wenn jemand kam, rannten sie ihm trotzdem entgegen und fragten ihn aus, ob dieser unterwegs doch nicht ihre Brüderchen gesehen hätte, die mit Salz auf dem Heimweg wären.

An einem frühen Morgen im Spätwinter war ich dann angekommen, und mein erstes Schreckensgeschrei muss die Geschwister aus dem Schlaf gerissen haben. Die Schwester, die Ältere von den beiden, hatte mich zuerst entdeckt und den Vater gefragt, wem das da wäre. Der Vater, der genug zu tun hatte und außerdem annahm, das andere Kind würde noch schlafen, hatte ihr erwidert, damit sie ihn nicht weiter störte: »Dir natürlich.« In dem Augenblick aber meldete sich der Bruder: »Hole meines auch schnell her!«

Es soll dann manche Tränen gegeben haben, da das Kind nicht glauben konnte, dass es unmöglich war, auch seines herbeizuschaffen, und andererseits die Schwester das ihre mit ihm nicht teilen wollte, unter Berufung auf den Vater.

Doch seit ich mich besinnen konnte, war ich immer beider Brüderchen und bin es wohl bis auf den heutigen Tag geblieben.

Meine erste Bestrafung

Zwei ältere Geschwister erwarteten mich, als ich im Leben ankam. Sie hätten mich am liebsten zweimal gehabt, wie vormals die Zwillinge, die aber bald wieder gehen mussten. Ich erschien nicht nur allein, sondern zudem mit einiger Verspätung. Ob die Last für zwei, die ich zu tragen hätte, wie das schamanische Orakel es vorhergesagt hatte, der Grund dafür gewesen ist, war noch nicht zu erkennen. Dafür schien die Freude, die meine Ankunft ausgelöst hatte, erst einmal groß genug. Doch musste ich ein hilfloses, denn auch langsames Wesen gewesen sein, gleich den Lämmern, die zeitgleich mit mir angekommen waren. So war ich immer noch glitschig und schwächlich, lag lallend in der Holzwiege, als die vierbeinigen Zeitgenossen längst dröhnend über die steinige Steppe jagten.

Und als ich endlich im Stande war, den Kopf anzuheben, durften mich die Geschwister auf den Schoß nehmen, abwechselnd: Sobald ich bei dem einen unruhig wurde und anfing zu quengeln, wurde ich dem anderen abgetreten. In dieser Zeit hörte mich einmal Mutter, die draußen gewerkt hatte, in der Jurte hell aufschreien, so, als wäre mir etwas zugestoßen. Sie eilte hinein und fand mich heil, aber grässlich schreiend auf dem Schoß der Schwester wieder, die ihrerseits arg verängstigt dasaß.

Erst viele Jahre später kam ans Licht, woher jenes plötzliche Geschrei gekommen war. Ich war für die Schwester einfach zu lange auf dem falschen Schoß sitzen geblieben; sie hatte gehofft, ich möchte endlich anfangen zu quengeln, sodass sie mich dem Bruder abnehmen dürfte. Und als sie mich dann endlich hatte, konnte sie den Groll nicht ablegen, den sie mir gegenüber empfunden hatte – und biss mich ins Ohr. Mutter konnte sich noch sehr gut an den Vorfall erinnern. Glaubte nun sogar eine blasse Narbe, die Spuren der Mäusezähne des Kindes, das meine Schwester war, sehen zu können. Dabei zeigte sie sich verwundert und beschämt darüber, dass sie ihr in all den Jahren nicht aufgefallen war.

Jüngstling

Die beiden Jungkraniche, die man schon als Eier gekannt hat, wuchsen heran, und ich wusste, dass bald auch bei uns jemand ankommen und aufwachsen würde. Ich war wohl so um die vier Jahre alt.

Morgens und abends wurde es immer kühler, und eines Nachts hatte es geschneit. Da wusste man, dass der Sommer zu Ende und die Zeit des Umzuges gekommen war. Ein oder zwei Tage darauf tauchten an den Jurten überall Kamele auf. An der unserigen standen sechs.

Den nächsten Morgen wurde ich aus dem Schlaf gerissen, und ich spürte kühlen Wind an der Haut, sah einen dämmerigen Himmel über mir und hörte hastende, lärmende Menschen ringsum. Ich erhob mich sogleich und schlüpfte in aller Eile in meine Sachen. Und während ich mich erleichtern ging, sah ich, was los war: Die Jurten waren überall abgebaut, lagen in Bündel und Packen bereits; die ersten Kamele wurden beladen; die Pferde standen längst gesattelt; die Schafherde war weg, war schon auf den Weg gegangen; die Yakkühe wurden gerade gemolken.

Als sich die beladenen Kamele erhoben, den Nasenstrick des einen hinter die Fuhre des anderen lose eingesteckt, und der Treck sich in Bewegung setzte, war die Sonne noch nicht aufgegangen. Ich war noch zu klein, um allein reiten zu dürfen auf den Umzugsstrecken mit manch rutschigen Abhängen und steilen Pässen und auch angesichts der Gefahr, dieses oder jenes der Lasttiere könnte durchgehen und die anderen scheu machen. So kam ich immer zu einem Erwachsenen und teilte mit ihm den Sattel. An dem Tage wollte Mutter, dass ich zu ihr käme. Aber ich wollte unbedingt zu Vater. Und dies aus einer bestimmten Überlegung: Bei ihr, die den Treck anführte, musste man die ganze Zeit nur Schritt reiten; bei ihm, der die Yakherde trieb, konnte man dagegen alles Mögliche erleben, da einige Tiere sich zu fremden Herden gesellten oder andere gar zurückliefen. Da es nun so weit war, wollte mich Mutter zu sich nehmen, doch ich ließ den Kopf über die linke Schulter hängen, wie immer in solchen Fällen, um die anderen merken zu lassen, wie unwillig ich sei und drauf und dran war zu greinen. Man erkannte dies rechtzeitig und gab meinem Willen nach, da man beim Umzug keine Tränen sehen wollte.

Wir erreichten das Ziel nicht. Wie enttäuscht war ich, als unsere sechs Kamele abfielen, während der ganze Treck weiterzog. Zu uns stieß eine alte Frau, die keinen eigenen Herd hatte und von Jurte zu Jurte zog. Mutter wurde wehleidig und mühselig vom Sattel heruntergeholt und blieb liegen. Ein paar Gitterwände wurden um sie herum aufgestellt, und einige Filzdecken wurden darüber geworfen. Während ich versuchte, so weit meine Kräfte reichten, da und dort mit anzupacken, hörte ich Mutters weinerliche Stimme: »Habe ich doch den Bengel vor mich nehmen wollen als Polster gegen den spitzen Sattelknauf!« Dem folgte die fremde, tadelnde Stimme, die Vater galt, hatte er doch das feurige Pferd ausgerechnet für die Hochschwangere gesattelt.

In der Nacht darauf kam das Kind, ein Junge – tot. Als ich erwachte, war helllichter Tag, alles war längst vorüber. Doch bekam ich nach und nach alles mit. Bitter enttäuscht stand ich da! Und welches vernichtende Schuldgefühl überkam mich dabei!

Ja, ich, das dumme, ahnungslose Wesen von einem vierjährigen Kind, empfand den galligen Geschmack des Lebens so deutlich mit einem Mal, dass es mir auch heute noch, Jahrzehnte später, übel wird, wenn ich mich an jenen Herbsttag inmitten der Bergödnis und der von Trauer verstummten Menschen erinnere. Dabei komme ich mir schuldig vor am voreiligen, unzeitgemäßen Fortgang eines Ankömmlings, ja, wie ein Brudermörder, dies wohl besonders, da es sich dort um unseren Jüngsten gehandelt hat und ich nun seine Stelle, eben eine besondere mit manchem Vorrecht, einnehmen durfte. In solchen Augenblicken bitte ich jenen in Gedanken um Vergebung und nenne ihn zärtlich Brüderchen Jüngstling.

Und doch: Weder einer der Menschen noch das Reittier konnte freilich etwas dafür; einzig das harte Nomadenleben war es, dessen Schönheit sich manchmal so grausam rächte. Allein ich kann das Gewissen mit Überlegungen solcher Art nicht zur Ruhe zwingen. So scheint es eine Last zu sein, die ich eben bis zu meinem Ende zu tragen habe.

Manchmal jedoch hilft es, ernüchtert. Zumal der jetzige Alltag in einer nun anderen Zeit und anderen Welt auf einem immer schwerer zu lasten scheint und ich längst dabei bin, mich nach dem Verflossenen, dem lichten Morgen meines Lebens, krankzusehnen.

Der Felsgeist

Eines Tages führten Bruder Galkaan und ich den Hund Basar über eine aufgespannte Falle. Dies als Strafe, da er, seit langem ein guter Jäger, mit einem Mal faulenzte und uns keine Ziesel mehr fangen wollte. Wir wurden bei dem Unfug ertappt, und Mutter kam auf uns zu, mit einer Rute in der Hand.

Der Bruder lief auf den großen dunklen Felsen zu. Ich rannte in eine andere Richtung, da ich aus Erfahrung wusste, dass in solchen Fällen immer der Ältere die Schuld trug und nun verfolgt werden müsste. Zu meinem Entsetzen jedoch merkte ich wenig später, dass Mutter mir, wie man sagt, auf den Fersen war. Darauf wurde ich gefasst und musste viele Tränen lassen.

Indessen saß der Bruder vor dem Felsen und schien wohl seine Freude nicht verbergen zu wollen, darüber dass endlich einmal ich es war, der für unser gemeinsames Vergehen geradezustehen hatte. Als es dann Abend wurde, musste man ihn sogar herbitten, gegen die Versprechung, ihm würde nichts geschehen. Was mir seltsam vorkam. Und ich fragte den Bruder, wie das zuginge. Der Fels wäre heilig, wurde ich aufgeklärt, weil unter ihm die Heilquelle entsprang, und er hätte einen strengen Geist, den man nicht stören dürfte; Mutter wollte eben nicht, dass einer dort weinte und ihn erzürnte. Seitdem wusste ich: Drohte eine körperliche Züchtigung, brauchte man nur auf den heiligen Felsen zuzulaufen, und man wurde nicht weiterverfolgt.

Eines Tages hatte Vater seine Schnupftabaksflasche am Öffnungsrand angeschlagen vorgefunden. Der blank geschliffene Behälter aus Achat mit augenrunden und dunklen Flecken war wertvoll, muss man wissen, hatte seinerzeit drei junge Pferde gekostet. Groß war nun die Aufregung. Wir wurden vernommen. Als ich daran war, kicherte ich los. Weshalb, wusste ich selber nicht. Vielleicht war ich so übermütig zu denken, dass man mir auch dann nichts anhaben könnte, selbst wenn die Schuld mich getroffen hätte – ich wähnte mich wohl zu sicher vor möglichen Strafen im Schutz des heiligen Felsens. Also kicherte ich los und bekam darauf eine schallende Ohrfeige verpasst. Einen Augenblick stutzte ich, da der Schlag mich so unerwartet getroffen hatte. Im nächsten aber rannte ich aus der Jurte hinaus, denn mein Verstand hatte erfasst, welch gemeines Unrecht mir geschehen war. Ich konnte es nicht länger erdulden, wollte lieber von dem Felsgeist weggeholt werden.

Es war für die Eltern zu spät, als sie merkten, was ich tat: Ich war schon am Felsen angekommen und brüllte längst los, wieder und wieder: »Felsgeist! Felsgeist! Hol mich zu dir!« Und als mir einfiel, dass dies allein nicht ausreichen könnte, ihn zu erzürnen, stampfte ich mit den Füßen auf die Erde, bewarf den Felsen mit Steinen und spuckte sogar in die Heilquelle. Und brüllte und brüllte: »Erschau mich, erhör mich, wenn du nicht schon erblindet und ertaubt bist, du, blöder Geist!«

Unterdessen kam Vater schon bei mir angetrabt, außer sich, umklammerte mich, drückte mir mit einer Hand den Mund zu und jammerte mit tränenweicher Stimme: »Was hast du getan, mein Kindchen? Was hast du getan, mein Dummchen?« Und kaum sah und hörte und spürte ich ihn so, war aller Zorn dahin, wie weggeblasen, und es fing mir an, Leid zu tun, wie ich mich da soeben benommen hatte. Mich überkam die Angst, als mir bewusst wurde, ich könnte vom Felsgeist tatsächlich weggeholt werden. Und am Abend lag ich schon in Fieber.

Vater war ausgeritten, war unterwegs zu unserer Schamanin. Sie kamen spät in der Nacht an. Aber ich lag noch wach, wartete. Mutter und Geschwister bewachten mich, verängstigt und verstummt. Und als endlich der Wacholderrauch die Jurte füllte und wenig später der vertraute Gesang erklang, wurde mir wohler ums Herz, und als ich dann die prasseln-den Schläge der Schawyd, der Schamanenpeitsche aus lauter Stoffstreifen, vernahm und um die Schultern flattern spürte, fing ich an zu weinen. Und meine Tränen schienen die Schamanin anzustecken, denn sie weinte auch. Oder sie hatte einen anderen Grund – denn ihre Geister kamen und kamen nicht, so sehr sie auch nach ihnen rief, bat und bettelte, endlich doch zu erscheinen. Am Ende wurde ihre Stimme ganz heiser. Die Angst, die jedermann ohnehin gepackt hatte, wuchs noch mehr. Aber dann, zu guter Letzt erschienen sie doch. Die Hockende, Rauchende und Bettelnde lachte mit einem Mal schallend auf, fuhr in die Höhe und wirbelte aus der Jurte. Man bekam mit: Sie entfernte sich und kam nach einer Weile zurück in die Jurte, wirbelte, einer Windhose gleich bis zum Bett, wo ich lag. Es waren gute Nachrichten, die jetzt hörbar wurden. Aber ich war indes unter dem Gesang, dem Geklirr und Geprassel, das mich umhüllte und über mich niederging, eingeschlafen.

Am nächsten Morgen rückten wir alle feierlich auf den heiligen Felsen zu. Wir trugen Opfergaben hin, vielerlei frische Milchspeisen auf Tellern und in Schalen, dampfenden Tee in einer Kanne, kalten Milchbranntwein in einer Flasche sowie verschiedenfarbige Stoffstreifen und trockene Wacholderbüschel. Mutter ging dem Zug voran und besprenkelte den ganzen Weg mit Milch, Vater trug mich in den Armen und die Geschwister folgten uns.