Tief im Herzen - Nora Roberts - E-Book
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Tief im Herzen E-Book

Nora Roberts

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Beschreibung

Nach Jahren in Rennsport und Jet Set kehrt Cameron Quinn zurück an die stürmische Küste Marylands, um ein Versprechen einzulösen. Dort lernt der einstige Draufgänger ein ganz neues Abenteuer kennen...

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Das Buch

Der nahe Tod seines Adoptivvaters ruft Cameron Quinn zurück an die Küste von Maryland, wo er mit seinen beiden Adoptivbrüdern aufgewachsen ist. Nur für kurze Zeit will der erfolgreiche Rennfahrer die aufregende Welt des Jetset gegen die einfache Kleinstadtidylle tauschen. Doch auf dem Sterbebett äußert sein Vater einen letzten Wunsch, der Cams Leben verändern wird: Zusammen mit seinen Brüdern soll er sich um den zehnjährigen Seth kümmern, der aus verwahrlosten Verhältnissen stammt und den ihr Vater erst vor kurzem bei sich aufgenommen hat. Da bei Cam gerade kein Rennen ansteht, ist er es, der sich als Hausmann wider Willen um den Jungen kümmert. Doch Seth ist ein ebenso schwieriges Kind wie Cameron es einst war. Außerdem taucht bald die junge Sozialarbeiterin Anna Spinelli bei den Quinn-Brüdern auf, um zu überprüfen, ob in dem Männerhaushalt die Voraussetzungen für eine Adoption gegeben sind.

Tief im Herzen ist der erste Band der Reihe um die Quinn-Brüder

Die Autorin

Nora Roberts wurde 1950 in Maryland geboren. Ihren ersten Roman veröffentlichte sie 1981. Inzwischen zählt sie zu den meistgelesenen Autorinnen der Welt. Ihre Bücher haben eine weltweite Gesamtauflage von 400 Millionen Exemplaren überschritten. Mehr als 190 Titel waren auf der New-York-Times-Bestsellerliste, und ihre Bücher erobern auch in Deutschland immer wieder die Bestsellerlisten. Nora Roberts hat zwei erwachsene Söhne und lebt mit ihrem Ehemann in Maryland.

Mehr Informationen über die Autorin und ihr Werk finden unter

www.heyne.de/nora-roberts.

NORAROBERTS

Tief im Herzen

Roman

Aus dem Englischenvon Brigitta Merschmann

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Die Originalausgabe SEA SWEPT

erschien bei Jove Books, New York

Vollständige Taschenbuchausgabe 12/2015

Copyright © 1998 by Nora Roberts

Published by Arrangement with Eleanor Wilder

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1999

by Wilhelm Heyne Verlag, München

Copyright © dieser Ausgabe 2015 by Wilhelm Heyne Verlag,

München in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik-Design, München

unter Verwendung von © Bigstock/elenathewise

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-09192-7

www.heyne.de

Für May Blayney,

die solch ein warmes,

großes Herz hat

PROLOG

Cameron Quinn war nicht sinnlos betrunken. Es konnte dazu kommen, wenn er es sich vornahm, aber im Augenblick zog er den angenehmen Zustand des Beschwipstseins vor. Der Gedanke gefiel ihm, dass es genau dieses Gefühl knapp vor dem Vollrausch war, auf dem sein Glück beruhte.

Er glaubte mit aller Kraft an die Macht von Ebbe und Flut, an die Gezeiten des Glücks, und im Augenblick strömte seines schnell und ungehindert dahin. Erst gestern hatte er mit seinem Tragflügelboot die Weltmeisterschaft gewonnen, die Konkurrenten um eine Buglänge geschlagen und den geltenden Geschwindigkeitsrekord gebrochen. Er hatte Ruhm und eine pralle Geldbörse geerntet und beides nach Monte Carlo mitgenommen, um dort die Probe aufs Exempel zu machen.

Beide bewährten sich.

Nach ein paar Runden Bakkarat, zwei Würfelspielen und einer Kartenpartie nahm das Volumen seiner Brieftasche noch zu. Und dank der Paparazzi und einem Reporter von Sports Illustrated wurde auch etwas für seinen Ruhm getan.

Fortuna fuhr fort, ihm zuzulächeln – nein, eher anzüglich anzugrinsen, dachte Cameron –, denn sie führte ihn am selben Tag in dieses kleine Juwel am Mittelmeer, an dem besagte populäre Zeitschrift gerade die Aufnahmen für eine Ausgabe mit Badeschönheiten beendete.

Und das langbeinigste dieser wohlgeformten göttlichen Geschöpfe nahm ihn ins Visier ihrer tiefblauen Augen, spitzte den Schmollmund zu einem einladenden Lächeln, das selbst einem Blinden nicht entgangen wäre, und entschied, noch ein paar Tage länger zu bleiben. Und sie hatte ihm signalisiert, dass er im Handumdrehen noch ein gutes Stück glücklicher werden könnte.

Champagner, glanzvolle Kasinos, heißer, zügelloser Sex. Ja, überlegte Cameron, das Glück war definitiv eine Frau nach seinem Geschmack.

Als sie aus dem Kasino in die milde Märznacht hinaustraten, tauchte einer der allgegenwärtigen Paparazzi auf und knipste hektisch drauflos. Die Schöne schmollte – schließlich war dies ja ihr Markenzeichen –, schüttelte kunstvoll ihre endlos lange, bügelglatte silberblonde Haarmähne und brachte geschickt ihren verführerischen Körper in Positur. Ihr Kleid, rot wie die Sünde und so dünn wie eine zweite Haut, verhieß den Zutritt zum Paradies.

Cameron grinste nur.

»Welch eine Plage«, sagte sie mit der Andeutung eines Lispelns oder eines französischen Akzents. Cameron wusste es nie genau zu sagen. Sie seufzte und ließ sich von Cameron die in Mondlicht getauchte Straße entlangführen. »Wohin ich auch blicke, immer ist eine Kamera da. Ich bin es so leid, nur als Lustobjekt betrachtet zu werden.«

O ja, klar, dachte er. Und weil er fand, dass sie beide oberflächlich waren, lachte er und zog sie in seine Arme. »Warum liefern wir ihm nicht etwas für den Aufmacher auf der Titelseite, Süße?«

Er küsste sie, und ihr Geschmack kitzelte seine Hormone, regte seine Fantasie an, und er freute sich, dass ihr Hotel nur zwei Straßen entfernt lag.

Sie fuhr ihm mit den Fingern durchs Haar. Sie mochte Männer mit üppigem Haar, und seines war voll, dicht und dunkel. Sein schlanker, fester Körper schien ganz aus Muskeln zu bestehen. Sie war sehr wählerisch, was den Körper eines potenziellen Liebhabers betraf, und der seine wurde ihren Ansprüchen vollauf gerecht.

Seine Hände allerdings waren eine Spur zu rau. Nicht wie er zupackte, nein, das war himmlisch, sondern seine Haut. Es waren die Hände eines arbeitenden Mannes, doch sie war bereit, ihrer Geschicklichkeit zuliebe den Mangel an Klasse zu übersehen.

Sein Gesicht war faszinierend. Nicht hübsch. Sie würde sich niemals mit einem Mann einlassen geschweige denn fotografieren lassen, der hübscher war als sie. Sein Gesicht hatte etwas Hartes, was nicht nur an der gebräunten Haut lag, die sich über den Knochen spannte. Es waren seine Augen, dachte sie, während sie leise lachte und sich von ihm löste. Graue Augen, die eher die Farbe von Flintsteinen als von Rauch hatten, und voller Geheimnisse waren. Sie mochte Männer mit Geheimnissen, da keiner imstande war, sie lange vor ihr zu verbergen.

»Du bist ein böser Junge, Cameron.« Die Betonung lag auf der letzten Silbe. Sie berührte mit dem Finger seinen Mund, einen Mund, der nichts Weiches an sich hatte.

»Das hat man schon oft zu mir gesagt …« Er musste kurz nachdenken, da ihm ihr Name entfallen war. »Martine.«

»Vielleicht erlaube ich dir heute Nacht, böse zu sein.«

»Ich rechne fest damit, Schätzchen.« Er wandte sich dem Hotel zu. Mit ihren eins achtzig war sie fast so groß wie er. »Meine Suite oder deine?«

»Deine«, säuselte sie. »Wenn du noch eine Flasche Champagner bestellst, erlaube ich dir vielleicht, mich zu verführen.«

Cameron bat an der Rezeption um seinen Schlüssel. »Ich brauche noch eine Flasche Cristal, zwei Gläser und eine einzelne rote Rose«, sagte er zu dem Portier, ohne Martine aus den Augen zu lassen. »Jetzt gleich.«

»Ja, Monsieur Quinn. Ich kümmere mich darum.«

»Eine Rose.« Sie warf ihm einen verführerischen Blick zu, als sie zum Aufzug gingen. »Wie romantisch.«

»Oh, wolltest du auch eine?« Ihr verwirrtes Lächeln sagte ihm, dass Humor nicht ihre starke Seite war. Also keine witzigen Gespräche, dachte er, und konzentrierte sich auf das Wesentliche.

Sobald der Aufzug sie von der Außenwelt abschirmte, zog er sie an sich und drückte die Lippen auf ihren Schmollmund. Die Begierde überwältigte ihn. Er war zu beschäftigt gewesen, zu besessen von seinem Boot und dem Rennen, um sich Zeit für Erholung zu gönnen. Jetzt wollte er zarte, duftende Haut spüren, üppige weibliche Rundungen. Eine Frau, irgendeine Frau, solange sie nur willig und erfahren war und die Grenzen kannte.

In dieser Hinsicht war Martine vollkommen.

Sie stieß einen Seufzer aus, der nicht nur geheuchelt war, um ihn zu beeindrucken, dann bog sie den Kopf zurück und bot ihm ihren Hals dar. »Du fährst wohl auf der Überholspur.«

Seine Hand glitt über die Seide. »So verdiene ich mir meinen Lebensunterhalt. Auf der Überholspur. Ich kenne es gar nicht anders.«

Ohne sie loszulassen, tänzelte er aus dem Aufzug und durch den Korridor zu seiner Suite. Ihr Herz schlug heftig, ihr Atem stockte, und ihre Hände … sie wusste genau, was sie tat.

Soviel zum Thema Verführung.

Er sperrte die Tür auf und drückte dann Martine von innen dagegen. Er streifte ihr die Spaghettiträger von den Schultern und hielt ihren Blick fest, während er mit ihren herrlichen Brüsten spielte. Ihr Schönheitschirurg hatte eine Medaille verdient.

»Willst du es langsam oder schnell?«

Ja, seine Hände fühlten sich rau an, aber – Gott – wie erregend! Sie hob eines ihrer langen Beine und schlang es um seine Taille. Beweglich war sie, das musste er ihr lassen. »Ich will es jetzt.«

»Gut. Ich auch.« Er griff unter ihren Rock und zerrte die hauchdünne Spitze herunter. Ihre Augen weiteten sich, ihr Atem ging schneller.

»Tier. Biest.« Sie grub die Zähne in seinen Hals.

Noch während er nach seinem Schritt griff, klopfte es diskret an der Tür. Jeder Blutstropfen war aus seinem Kopf unter seine Gürtellinie gewandert. »Himmel, so schnell kann der Zimmerservice doch nicht sein. Stellen Sie’s vor die Tür«, rief er und bereitete sich darauf vor, die göttliche Martine gleich dort an der Tür zu nehmen.

»Monsieur Quinn, entschuldigen Sie bitte. Für Sie ist ein Fax gekommen. Mit dem Vermerk ›dringend‹.«

»Sag ihm, er soll gehen.« Martines Hand umschloss ihn wie eine Eisenklammer. »Sag ihm, er soll zur Hölle gehen. Ich will, dass du mich vögelst.«

»Halt mal. Ich meine, warte einen Moment«, bat er und löste ihre Finger, bevor er nicht mehr klar denken konnte. Er schob sie hinter die Tür, überzeugte sich kurz, dass sein Reißverschluss zugezogen war, dann öffnete er.

»Entschuldigen Sie die Störung …«

»Kein Problem. Danke.« Cameron kramte in seiner Tasche nach einem Geldschein, ohne nachzusehen, wie viel es war, und tauschte ihn gegen den Umschlag. Ehe der Page etwas sagen konnte, schob Cameron die Tür wieder zu.

Martine warf den Kopf zurück. »Du interessierst dich mehr für ein albernes Fax als für mich. Als für das hier.« Geschickt streifte sie ihr Kleid ab, wie eine Schlange, die ihre alte Haut abwirft.

Cameron dachte, was immer sie auch für diesen Körper bezahlt haben mochte, er war jeden Penny wert. »Nein, glaub mir, Kleines, das stimmt nicht. Es dauert nur eine Sekunde.« Er riss den Umschlag auf, bevor er dem Impuls nachgeben konnte, ihn zu zerknüllen und sich blindlings auf sie zu stürzen.

Dann las er die Nachricht, und seine Welt, sein Leben, sein Herz blieben stehen.

»O Gott.« Der Wein, den er im Laufe des Abends achtlos konsumiert hatte, stieg ihm zu Kopf, rumorte in seinem Magen und ließ seine Knie weich werden. Er musste sich gegen die Tür lehnen, als er es noch einmal las.

Cam, warum hast du keinen unserer Anrufe erwidert? Wir versuchen seit Stunden, dich zu erreichen. Dad liegt im Krankenhaus. Es steht schlecht, so schlecht, wie man es sich nur vorstellen kann. Keine Zeit für Details. Er entgleitet uns allmählich. Beeil dich. Phillip.

Cameron hob die Hand – die Hand, mit der er das Steuer dutzender Boote, Flugzeuge, Rennwagen gehalten hatte und die einer Frau himmlische Vergnügungen bereiten konnte. Seine Hand zitterte, als er sich durchs Haar fuhr.

»Ich muss nach Hause.«

»Du bist zu Hause.« Martine beschloss, ihm noch eine Chance zu geben, und rieb ihren Körper an seinem.

»Nein, ich muss weg.« Er stieß sie zur Seite und ging zum Telefon. »Lass mich allein. Ich muss ein paar Anrufe erledigen.«

»Du glaubst, du kannst mich einfach so wegschicken?«

»Tut mir leid. Verschieben wir es auf ein anderes Mal.« Er konnte sich einfach nicht auf sie konzentrieren. Zerstreut zog er mit einer Hand Geldscheine aus seiner Tasche, mit der anderen griff er zum Hörer. »Für das Taxi«, sagte er und vergaß dabei, dass sie im selben Hotel abgestiegen war.

»Du Schwein!« Nackt und wutentbrannt stürzte sie sich auf ihn. Hätte er fest auf den Beinen gestanden, dann hätte er dem Schlag ausweichen können. So war es ein Volltreffer. Seine Ohren klingelten, seine Wange brannte, und er verlor endgültig die Geduld. Er schlang die Arme um sie, was sie als einen Annäherungsversuch auslegte. Angewidert schleifte er sie zur Tür. Er nahm sich noch die Zeit, ihr Kleid aufzuheben, dann beförderte er sie zusammen mit dem Seidenfähnchen in den Korridor. Von ihrem Gekreische dröhnte ihm der Schädel, als er den Riegel vorlegte. »Ich werde dich töten. Du Schwein! Dafür werde ich dich töten. Für wen hältst du dich eigentlich? Du bist ein Niemand! Ein Niemand!«

Cameron ließ Martine schreien und gegen die Tür hämmern, er ging ins Schlafzimmer, um das Nötigste einzupacken.

Es sah so aus, als hätte ihn sein Glück plötzlich im Stich gelassen.

1. KAPITEL

Cam verhandelte, bettelte und warf mit Geld nur so um sich. Es war nicht leicht, um ein Uhr nachts eine Transportmöglichkeit von Monaco nach Maryland aufzutreiben.

Er fuhr nach Nizza und brauste über die gewundene Küstenstraße zu einer kleinen Landebahn, von der aus ihn ein Freund gegen tausend amerikanische Dollar nach Paris fliegen wollte. In Paris charterte er eine Maschine zum Eineinhalbfachen des üblichen Preises, und er verbrachte die Stunden über dem Atlantik in einem Nebel aus Müdigkeit und nagender Angst.

Gegen sechs Uhr früh erreichte er den Washington Dulles Airport in Virginia. Der Mietwagen wartete schon, und im kühlen Morgengrauen fuhr er los Richtung Chesapeake Bay.

Als er schließlich zu der Brücke gelangte, die sich über die Bucht spannte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Cam hatte einen großen Teil seines Lebens damit zugebracht, in der Bucht, auf Flüssen und Binnengewässern dieses Teils der Welt zu segeln. Der Mann, an dessen Krankenbett er jetzt eilte, hatte ihm viel mehr beigebracht als zwischen Steuerbord und Bug zu unterscheiden. Alles, was er besaß, was er geleistet hatte und ihn mit Stolz erfüllte, hatte er Raymond Quinn zu verdanken.

Er war dreizehn Jahre alt gewesen, als Ray und Stella Quinn ihn vor dem völligen Absturz bewahrt hatten. Die Liste seiner Verfehlungen las sich bereits wie ein Lehrbuch über den Einstieg in eine kriminelle Karriere.

Raub, Einbruch, illegaler Alkoholkonsum, unerlaubtes Fernbleiben vom Unterricht, tätlicher Angriff, Vandalismus – er hatte gemacht, was er wollte, und dabei sehr oft Glück gehabt, nicht erwischt worden zu sein. Aber der glücklichste Moment seines Lebens war, als man ihn dann doch auf frischer Tat ertappte.

Dreizehn Jahre alt, dürr wie eine Bohnenstange, übersät mit blauen Flecken von der letzten Abreibung, die sein Vater ihm verabreicht hatte. Das Bier war alle. Was sollte ein Vater da schon anderes tun?

In jener heißen Sommernacht, als das Blut noch auf seinem Gesicht trocknete, hatte Cam sich geschworen, nie wieder in den heruntergekommenen Wohnwagen zurückzukehren, nie wieder in dieses Leben, zu dem Mann, zu dem ihn die Fürsorge immer wieder zurückschickte. Er würde weggehen, egal wohin. Vielleicht nach Kalifornien, vielleicht nach Mexiko.

In seinen Träumen sah er damals alles klar vor sich, wenn seine Sicht dank eines blauen Auges auch verschwommen war. Er besaß sechsundfünfzig Dollar und ein wenig Kleingeld, die Kleider, die er am Leibe trug, und er hatte die Einstellung, dass die Welt ihn mal konnte. Was er jetzt brauchte, so dachte er, war ein fahrbarer Untersatz.

Er fuhr als blinder Passagier im Güterzug nach Baltimore. Er wusste nicht, wohin der Zug fuhr, und es war ihm auch egal. Er wollte nur weit weg. Im Dunkeln zusammengekauert, von jedem Stoß bis ins Mark durchgerüttelt, schwor er sich, sich eher umzubringen oder umbringen zu lassen als zurückzugehen.

Als er sich aus dem Zug stahl, roch er Wasser und Fisch und wünschte inständig, er hätte daran gedacht, sich irgendwo Proviant zu beschaffen. Sein Magen knurrte. Ihm war schwindelig, und er war verwirrt, doch er marschierte los.

Hier gab es nicht viel zu sehen. Er befand sich in einer verschlafenen Kleinstadt, in der nachts die Gehsteige hochgeklappt wurden, in der Boote gegen durchhängende Docks schlugen. Hätte er klar denken können, dann hätte er vielleicht den Plan gefasst, in einen der Läden an der Uferpromenade einzubrechen, aber dieser Gedanke kam ihm erst, als er die Stadt bereits hinter sich gelassen hatte und sich auf Marschland wiederfand.

Die Schatten und Geräusche der Marsch waren ihm unheimlich. Die Sonne erschien am östlichen Horizont und tauchte die sumpfige Ebene und das hohe, feuchte Gras in goldenes Licht. Ein großer weißer Vogel schwang sich empor, bei dessen Anblick sich Cams Herz weitete. Er hatte noch nie zuvor einen Reiher gesehen, er kam ihm fast unwirklich vor. Aber der Vogel schlug mit den Flügeln und stieg hoch in die Luft auf. Aus einem unerfindlichen Grund folgte Cam ihm entlang der Marsch, bis er zwischen dichten Bäumen verschwand.

Er verlor den Überblick, wie weit und in welche Richtung er gegangen war, aber sein Instinkt sagte ihm, dass er sich an die schmale Landstraße halten sollte, wo er sich leicht im hohen Gras oder hinter einem Baum verstecken konnte, falls ein Streifenwagen vorbeikam.

Er musste einen Schlupfwinkel finden, einen Ort, an dem er sich zusammenrollen und schlafen, das unangenehme Ziehen des Hungers und die Übelkeit vergessen konnte. Als die Sonne höher stieg, fiel ihm wegen der Hitze das Atmen schwerer. Das Hemd klebte ihm am Rücken, und seine Füße begannen zu schwitzen.

Den Wagen sah er zuerst, eine strahlend weiße Corvette, ein Bild von Kraft und Eleganz, der wie ein Schatz im dunstigen Licht der Morgendämmerung glitzerte. Daneben war ein Lieferwagen abgestellt, verrostet, verkratzt, fast schäbig verglichen mit der arroganten Raffinesse des Sportwagens.

Cam kauerte sich hinter einen blühenden Hortensienstrauch und betrachtete ihn. Begehrte ihn.

Mit diesem Ding würde er bis nach Mexiko kommen, ja, an jeden Ort, zu dem er wollte. Scheiße, bei der Leistung, die diese Maschine brachte, hätte er die Hälfte des Weges zurückgelegt, bevor noch jemand merkte, dass er ausgerückt war.

Er verlagerte sein Gewicht, blinzelte heftig, um klarer sehen zu können, und starrte auf das Haus. Es verblüffte ihn immer wieder, welch geordnetes Leben andere Leute führten. Sie wohnten in blitzsauberen Häusern mit gestrichenen Fensterläden, Blumen und gestutzten Sträuchern im Hof. Das Haus erschien ihm riesig, ein moderner weißer Palast.

Anscheinend waren die Leute reich, dachte er, und Ärger wallte in ihm auf, der zusammen mit dem Hunger an ihm nagte. Solche Leute konnten sich feine Häuser und feine Autos leisten und führten ein geruhsames Leben. Und ein Teil von ihm, der Teil, genährt von dem Mann, der von Hass und Budweiser lebte, wollte zerstören, die Sträucher plattwalzen, all die funkelnden Fenster einschlagen und das hübsch gestrichene Holz zertrümmern.

Er wollte ihnen wehtun, weil sie alles hatten, während er gar nichts besaß. Doch als er sich aufrichtete, verwandelte sich sein bitterer Zorn in Schwindel und Benommenheit. Er drängte seine Gefühle zurück, biss die Zähne zusammen, bis sie schmerzten, doch zumindest wurde sein Kopf wieder klar.

Sollen die reichen Mistkerle ruhig weiterschlafen, dachte er. Er würde sie nur um den heißen Schlitten erleichtern. Der war nicht mal abgeschlossen, stellte er fest und lachte über ihre Dummheit, als er die Tür aufzog. Eine der wenigen nützlichen Fähigkeiten, die sein Vater ihm mitgegeben hatte, war, einen Wagen schnell und geräuschlos kurzzuschließen. Diese Fähigkeit erwies sich als sehr praktisch, wenn man seinen Lebensunterhalt zu einem großen Teil damit verdiente, gestohlene Autos an Hehler zu verscherbeln.

Cam kroch unters Lenkrad und machte sich an die Arbeit.

»Es gehört Mumm dazu, jemandem den Wagen direkt aus der Einfahrt zu klauen.«

Ehe Cam reagieren oder wenigstens fluchen konnte, packte ihn eine Hand hinten an der Jeans, riss ihn hoch und wirbelte ihn herum. Cam holte aus, doch seine Fäuste schienen an einem Steinblock abzuprallen.

Das war seine erste Begegnung mit dem Großen Quinn. Der Mann war ein Hüne, mindestens eins neunzig groß und gebaut wie der Stürmer der Baltimore Colts. Sein breites Gesicht war wettergegerbt und wurde von einem dichten blonden Haarschopf eingerahmt, in dem hier und da Silber aufblitzte. Die durchdringend blauen Augen loderten vor Zorn. Es kostete ihn nicht viel Kraft, den Jungen festzuhalten. Der wog nicht mal hundert Pfund, schätzte Quinn. Sein Gesicht war schmutzig und übel zerschunden, ein Auge fast zugeschwollen, während aus dem anderen, das von dunklem Schiefergrau war, eine Bitterkeit sprach, die nicht zu einem Kind passte. Getrocknetes Blut klebte an seinem spöttisch verzogenen Mund. Mitleid und Zorn regten sich in ihm, doch er ließ nicht locker. Sonst wäre dieses Kaninchen blitzschnell verschwunden.

»Sieht ganz so aus, als hättest du beim Raufen den kürzeren gezogen, mein Sohn.«

»Nehmen Sie Ihre beschissenen Hände weg. Ich hab’ nichts getan.«

Ray hob kaum merklich eine Braue. »Du hast heute, Samstag gegen sieben Uhr früh, im neuen Wagen meiner Frau gesessen.«

»Ich hab’ bloß ein bisschen Kleingeld gesucht. Was soll das Scheißtheater?«

»Du willst es dir doch nicht zur Gewohnheit machen, das Wort ›Scheiße‹ ausschließlich als Schimpfwort zu benutzen?«

Sein dozierender Ton war zu viel für Cam. »Hören Sie, Mann, ich wollte bloß einen Vierteldollar schnorren. Den hätten Sie nicht mal vermisst.«

»Nein, aber Stella hätte ihren Wagen vermisst, wenn du ihn geklaut hättest. Und mein Name ist nicht ›Mann‹. Ich heiße Ray. Also, meiner Ansicht nach hast du jetzt folgende Alternativen. Nummer eins: Ich schaffe dich ins Haus und rufe die Cops. Was hältst du davon, die nächsten paar Jahre in einem Heim für schwer erziehbare Jugendliche zu verbringen?«

Aus Cams Gesicht wich alle Farbe. Sein leerer Magen revoltierte, und seine Handflächen wurden plötzlich feucht. In einem Käfig würde er es nicht aushalten. Er war sicher, dass er dort sterben würde. »Ich sagte doch, ich wollte den verdammten Wagen nicht klauen. Er hat vier Gänge. Wie zum Teufel soll ich einen Wagen mit vier Gängen fahren?«

»Oh, ich habe den Eindruck, damit wärst du schon klargekommen.« Ray blies die Backen auf, dachte kurz nach und atmete wieder aus. »Also, Wahlmöglichkeit Nummer zwei …«

»Ray! Was machst du da draußen mit diesem Jungen?«

Er blickte zur Veranda hinüber, wo eine Frau mit wilder roter Haarmähne in einem verschossenen blauen Morgenmantel stand und die Hände in die Hüften gestemmt hatte.

»Wir unterhalten uns nur. Er wollte deinen Wagen klauen.«

»Um Himmels willen!«

»Er ist brutal zusammengeschlagen worden. Ist noch nicht lange her, würde ich sagen.«

»Na.« Stella Quinns Seufzer war über den taufeuchten sattgrünen Rasen hinweg zu hören. »Bring ihn rein, dann schaue ich ihn mir mal an. Ein übler Start in den Tag. Ganz übel. Nein, du gehst da rein, du dummer Hund. Du bist vielleicht eine Niete, bellst nicht mal, wenn man meinen Wagen klauen will.«

»Meine Frau, Stella.« Ray lächelte strahlend. »Sie hat dir gerade Wahlmöglichkeit Nummer zwei genannt. Hungrig?«

Die Stimme summte in Cams Kopf. In der Ferne kläffte hell fröhlich ein Hund. Vögel sangen schrill und viel zu nahe. Seine Haut wurde flammend heiß, dann eiskalt, und er sah nichts mehr.

»Sachte, sachte, mein Sohn. Ich stütze dich.«

Er fiel in einen schwarzen Abgrund und hörte Rays leisen Fluch nicht mehr.

Als er erwachte, lag er auf einer festen Matratze in einem Zimmer. Eine Brise bauschte die Seidenvorhänge auf und brachte den Duft von Blumen und Wasser mit herein. Panik stieg in ihm auf. Als er sich aufsetzen wollte, hielten ihn zwei Hände fest.

»Bleib noch einen Moment still liegen.«

Er sah das längliche, schmale Gesicht der Frau, die sich über ihn beugte und abtastete. Es war mit unzähligen goldenen Sommersprossen übersät, die ihn aus irgendeinem Grund faszinierten. Ihre Augen waren dunkelgrün und nachdenklich, ihr Mund bildete einen dünnen, ernsten Strich. Sie hatte ihr Haar straff zurückgebunden und roch schwach nach Puder.

Plötzlich bemerkte Cam, dass man ihn bis auf seine zerschlissene Unterhose ausgezogen hatte. Scham überwältigte ihn.

»Lassen Sie mich los.« Seine Stimme war ein angstvolles Krächzen, was seine Wut noch steigerte.

»Jetzt entspann dich mal. Entspann dich. Ich bin Ärztin. Sieh mich an.« Stella kam näher. »Sieh mich an. Sag mir deinen Namen.«

Das Herz hämmerte in seiner Brust. »John.«

»Smith, vermutlich«, meinte sie trocken. »Na, wenn du die Geistesgegenwart hast, mich anzuschwindeln, dann geht es dir wohl nicht allzu schlecht.« Sie leuchtete mit einer Lampe in seine Augen. »Ich würde sagen, du hast dir eine leichte Gehirnerschütterung eingehandelt. Wie oft bist du ohnmächtig geworden, seit man dich geschlagen hat?«

»Das war das erste und einzige Mal.« Er spürte, wie er unter ihrem festen Blick rot wurde, und er kämpfte mit sich, um sich ihr nicht zu entziehen. »Glaube ich. Sicher bin ich nicht. Ich muss hier weg.«

»Ja, natürlich, und zwar ins Krankenhaus.«

»Nein.« Die Angst verlieh ihm die Kraft, ihren Arm zu packen, bevor sie sich aufrichten konnte. Wenn er ins Krankenhaus ging, würde es Fragen geben. Und mit den Fragen kamen die Cops. Mit den Cops kamen die Sozialarbeiter. Und dann wäre er im Handumdrehen wieder in dem Wohnwagen, der nach abgestandenem Bier und Pisse stank, bei einem Mann, dem es Freude bereitete, auf einen Jungen einzuschlagen, der nur halb so groß war wie er.

»Ich gehe nicht ins Krankenhaus. Das tue ich nicht. Geben Sie mir einfach meine Klamotten. Ich habe Geld. Ich bezahle Sie für Ihre Mühe. Ich muss weg.«

Sie seufzte wieder. »Sag mir deinen Namen, deinen richtigen Namen.«

»Cam. Cameron.«

»Cam, wer hat dir das angetan?«

»Ich weiß es …«

»Lüg mich nicht an«, fuhr sie auf.

Und er brachte es tatsächlich nicht fertig. Seine Angst war zu groß, und sein Kopf begann so heftig zu schmerzen, dass er um ein Haar gewimmert hätte. »Mein Vater.«

»Warum?«

»Weil er es gern tut.«

Stella presste die Finger auf ihre Augen, dann ließ sie die Hände sinken und blickte aus dem Fenster. Sie sah das blaue Wasser, die dicht belaubten Bäume und den Himmel, wolkenlos und wunderschön. Und in dieser herrlichen Welt, dachte sie, gab es Eltern, die ihre Kinder schlugen, weil es ihnen Spaß machte, und niemand hinderte sie daran.

»Na schön, jetzt mal eins nach dem anderen. Dir war schwindelig, du kannst nur verschwommen sehen?«

Vorsichtig nickte Cam. »Ja, zum Teil. Aber ich habe seit einer ganzen Weile nichts gegessen.«

»Ray ist unten und kümmert sich darum. Er kocht besser als ich. Deine Rippen sind gequetscht, aber nicht gebrochen. Um das Auge steht es am schlimmsten«, murmelte sie und berührte sanft die Schwellung. »Das können wir hier behandeln. Wir waschen und verarzten dich, und dann sehen wir mal, wie es dir geht. Ich bin Ärztin«, wiederholte sie und lächelte, als sie ihm mit ihrer wohltuenden, paradiesisch kühlen Hand das Haar aus der Stirn strich. »Kinderärztin. Darunter fällst du auch noch, du harter Bursche. Wenn sich dein Zustand nicht bessert, müssen wir dich röntgen lassen.« Sie griff in ihre Tasche und holte ein Antiseptikum heraus. »Es wird jetzt ein wenig brennen.«

Er zuckte zusammen und sog die Luft ein, als sie sein Gesicht verarztete. »Warum tun Sie das?«

Sie konnte nicht anders. Mit ihrer freien Hand strich sie ihm eine wirre Locke aus dem Gesicht. »Weil ich es gern tue.«

Sie hatten ihn dabehalten. So einfach war das gewesen, dachte Cam jetzt. So einfach war es ihm zumindest damals vorgekommen. Erst Jahre später hatte er erkannt, wie viel Arbeit, Mühe und Geld sie investiert hatten, um ihn erst in Pflege zu nehmen und dann zu adoptieren. Sie hatten ihm ein Heim gegeben, ihren Namen und alles, was seinem Leben einen Sinn gab.

Vor knapp acht Jahren hatten sie Stella durch Krebs verloren, der sich in ihrem Körper ausgebreitet und ihn allmählich von innen zerfressen hatte. Ein Teil des Lichts, womit sie das Haus am Rand von St. Christopher’s, der kleinen Stadt am Wasser erfüllt hatte, war in Ray, in Cam und den beiden anderen verlorenen Jungen, die sie zu ihren Söhnen gemacht hatten, erloschen.

Cam hatte sich in seine Rennen gestürzt – egal was, egal wo. Und jetzt brauste er nach Hause zu dem Mann, der für ihn zum Vater wurde.

Er war unzählige Male in jenem Krankenhaus gewesen – in der Zeit, als seine Mutter dort gearbeitet hatte, und später, als sie wegen ihrer Krankheit dort behandelt wurde, an der sie schließlich starb.

Jetzt ging er von Panik erfüllt hinein und fragte den Pförtner nach Raymond Quinn.

»Er liegt auf der Intensivstation. Nur die Familie hat Zutritt.«

»Ich bin sein Sohn.« Cameron wandte sich ab und steuerte auf den Aufzug zu. Man brauchte ihm nicht zu sagen, welche Etage. Er wusste es nur zu gut.

Er sah Phillip, als sich die Türen zur Intensivstation öffneten. »Wie schlimm ist es?«

Sein Bruder reichte ihm einen der beiden Becher mit Kaffee, die er in den Händen hielt. Sein Gesicht war bleich vor Müdigkeit, sein normalerweise sehr gepflegtes rotbraunes Haar war zerwühlt. Sein längliches, fast engelhaftes Gesicht war voller Bartstoppeln, und tiefe Schatten lagen unter seinen Augen.

»Ich war nicht sicher, ob du es schaffen würdest. Es sieht übel aus, Cam. Mann, ich muss mich mal kurz hinsetzen.«

Er betrat einen kleinen Warteraum und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Einen Moment lang starrte er blind auf die Morgensendung, die im Fernsehen lief.

»Was ist passiert?«, wollte Cam wissen. »Wo ist er? Was sagen die Ärzte?«

»Er war auf dem Heimweg von Baltimore. Zumindest glaubt Ethan, dass er nach Baltimore gefahren war. Aus welchem Grund auch immer. Er ist gegen einen Telefonmast geprallt. In voller Fahrt.« Phillip drückte die Hand auf sein Herz, weil es jedes Mal wehtat, wenn er es sich vorstellte. »Sie sagen, dass er eventuell einen Herzanfall oder Schlaganfall erlitten und die Kontrolle über den Wagen verloren hat, aber ganz sicher sind sie noch nicht. Er ist schnell gefahren. Zu schnell.«

Phillip musste die Augen schließen, weil sein Magen revoltierte. »Zu schnell«, wiederholte er. »Sie haben fast eine Stunde gebraucht, um ihn aus dem Wrack zu schneiden. Fast eine Stunde. Die Sanitäter sagen, er habe immer wieder das Bewusstsein verloren. Es ist nur ein paar Kilometer von hier entfernt passiert.«

Er erinnerte sich an die Coladose in seiner Tasche. Er öffnete sie und trank. Dabei versuchte er, das Bild von dem Unfall aus seinem Kopf zu verbannen, sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren und auf das, was als Nächstes geschehen würde. »Sie haben Ethan ziemlich schnell erreicht«, fuhr Phillip fort. »Als er hier ankam, wurde Dad gerade operiert. Jetzt liegt er im Koma.« Er schaute auf und begegnete dem Blick seines Bruders. »Sie rechnen nicht damit, dass er wieder aufwacht.«

»Das ist doch Blödsinn. Er ist so stark wie ein Pferd.«

»Sie sagen …« Phillip schloss wieder die Augen. Sein Kopf war leer, das Nachdenken fiel ihm schwer. »Ein schweres Trauma. Eine Hirnschädigung. Innere Verletzungen. Sie erhalten ihn künstlich am Leben. Der Chirurg … er … Dad hat einen Organspenderausweis.«

»Scheiß drauf!« Cams Stimme war leise und zornig.

»Meinst du etwa, ich will darüber nachdenken?« Phillip erhob sich, ein großer, kräftiger Mann in einem zerknitterten Tausend-Dollar-Hemd. »Sie sagen, es sei höchstens eine Sache von Stunden. Die Geräte helfen ihm beim Atmen. Verdammt, Cam, du weißt, was Mom und Dad gesagt haben, als sie krank wurde. Keine besonderen Maßnahmen. Sie haben diesen Wunsch schriftlich festgehalten, und wir missachten seinen Willen, weil … weil wir nicht damit fertigwerden.«

»Du willst den Stecker ziehen?« Cam packte Phillip an den Aufschlägen seiner Jacke. »Du willst den verfluchten Stecker ziehen?«

Müde und traurig schüttelte Phillip den Kopf. »Ich würde mir lieber die Hand abhacken. Ich will ihn ebenso wenig verlieren wie du. Aber sieh ihn dir selbst an.«

Er wandte sich ab und lief durch den Korridor voraus. Ethan saß in einem Stuhl am Bett, als sie das Zimmer betraten. Seine breite, schwielige Hand lag unter dem Plastikschutz auf der von Ray. Sein großer, drahtiger Körper war vornübergebeugt, es schien, als hätte er gerade zu dem bewusstlosen Mann im Bett gesprochen. Langsam stand er auf und sah Cam an. Seine Augen waren vor Müdigkeit geschwollen.

»So so, du hast dich also entschlossen, uns mit deiner Gegenwart zu beehren. Die Kapelle sollte einen Tusch spielen.«

»Ich bin so schnell wie möglich gekommen.« Er wollte es sich nicht eingestehen, wollte es nicht glauben. Der alte, erschreckend hinfällige Mann in dem schmalen Bett war sein Vater. Für ihn war Ray Quinn immer riesig, stark und unbesiegbar gewesen. Doch jetzt war das Gesicht seines Vaters eingefallen, bleich und still wie der Tod.

»Dad.« Er trat seitlich ans Bett und beugte sich tief hinunter. »Hier ist Cam. Ich bin da.« Er wartete, überzeugt, dass sein Vater die Augen aufschlagen, ihm verschwörerisch zuzwinkern würde. Aber er rührte sich nicht, und es war kein Geräusch zu hören außer dem monotonen Piepsen der Geräte.

»Ich will mit seinem Arzt sprechen.«

»Doktor Garcia.« Ethan rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und fuhr sich durch die sonnengebleichten Haare. »Der Hirnschnipsler, den Mom früher Mr. Magische Hände genannt hat. Die Schwester wird ihn für dich anpiepsen.«

Cam richtete sich auf, und erst jetzt bemerkte er den Jungen, der zusammengerollt auf einem Stuhl in der Ecke schlief. »Wer ist der Kleine?«

»Der letzte der verlorenen Jungen von Ray Quinn.« Ethan brachte ein leises Lächeln zustande. Unter normalen Umständen hätte es sein ernstes Gesicht weicher gemacht, die sanften blauen Augen erwärmt. »Er hat ihm von dir erzählt. Seth. Dad hat ihn vor etwa drei Monaten in seine Obhut genommen.« Er wollte noch mehr sagen, fing jedoch Phillips warnenden Blick auf und zuckte die Achseln. »Darüber reden wir später noch.«

Phillip stand wippend am Fußende des Betts. »Und wie war Monte Carlo?« Auf Cams ausdruckslosen Blick hin hob er eine Schulter. Diese Geste benutzten sie alle drei anstelle von Worten. »Die Schwester sagte, wir sollten mit ihm sprechen, miteinander reden. Er könne es vielleicht … Sicher wissen sie es nicht.«

»Es war toll.« Cam setzte sich, tat es Ethan nach und griff nach Rays Hand. Da sie schlaff und leblos war, hielt er sie vorsichtig fest und versuchte durch schiere Willenskraft zu erzwingen, dass sie die seine drückte. »Ich habe eine Stange Geld in den Kasinos gewonnen und hatte gerade ein heißes französisches Model bei mir in meiner Suite, als euer Fax kam.« Dann sprach er direkt zu Ray. »Du hättest sie sehen sollen. Sie war fantastisch. Beine bis zum Hals, herrliche, von menschlicher Hand geformte Brüste.«

»Hatte sie auch ein Gesicht?«, fragte Ethan trocken.

»Eines, das hervorragend zu dem Körper passte. Ich sag’ euch, sie war eine Wucht. Und als ich ihr erklärte, ich müsse gehen, wurde sie eine klitzekleine Spur gemein.« Er zeigte auf die Kratzer, die seine Wange entstellten. »Ich musste sie aus dem Zimmer schmeißen, bevor sie mich vollends fertigmachen konnte. Aber ich hab’ noch daran gedacht, ihr das Kleid nachzuwerfen.«

»Sie war nackt?«, wollte Phillip wissen.

»Wie ein Neugeborenes.«

Phillip grinste, dann musste er seit fast zwanzig Stunden zum ersten Mal lachen. »Gott, das sieht dir wieder mal ähnlich.« Er legte die Hand auf Rays Fuß. »Er wird diese Geschichte lieben.«

In der Ecke des Raums tat Seth so, als schliefe er. Er hatte Cam hereinkommen hören und wusste, wer er war. Ray hatte oft von Cameron gesprochen. Er besaß zwei dicke Fotoalben, die mit Zeitungsausschnitten, Artikeln und Fotos von Cams Rennen und Eroberungen gefüllt waren.

Jetzt sah er nicht so abgebrüht und wichtig aus, dachte Seth. Der Typ wirkte krank, blass und hohläugig. Er würde sich seine eigene Meinung über Cameron Quinn bilden, beschloss er.

Ethan mochte er ganz gern, obgleich er sich für den Kerl die Finger wundarbeiten musste, wenn er mit ihm zum Fischen oder Muschelsammeln rausfuhr. Aber Ethan machte einem nicht immerzu Vorschriften, und er hatte ihm noch nie eine runtergehauen oder ihn angeschrien, selbst dann nicht, wenn Seth einen Fehler gemacht hatte. Und er entsprach ganz gut dem Bild, das Seth von Fischern hatte.

Wettergegerbt, gebräunt, dichtes gelocktes Haar mit blonden Strähnen in dem Braun, straffe Muskeln, gepfefferte Sprache. Ja, Seth mochte ihn gern.

Gegen Phillip hatte er auch nichts. Gewöhnlich gab er sich glatt und geschniegelt. Seth vermutete, dass er sechs Millionen verschiedene Schlipse besaß, obwohl er sich nicht vorstellen konnte, warum ein Mann auch nur einen haben wollte. Aber Phillip hatte irgendeinen Klassejob in einer Klassefirma in Baltimore. Werbung. Ließ sich aalglatte Sprüche einfallen, um Dinge an Leute zu verkaufen, die sie vermutlich überhaupt nicht brauchen konnten. Seth fand, dass dies eine ziemlich coole Art war, einen Riesenschwindel durchzuziehen.

Und jetzt Cam. Er war derjenige, der im Rampenlicht stehen wollte, der ein Leben auf Messers Schneide führte und gern Risiken einging. Nein, er sah nicht so abgebrüht aus, er sah nicht aus wie ein Draufgänger.

Plötzlich drehte Cam den Kopf und fing Seths Blick auf, hielt ihn fest, ohne zu blinzeln, unverwandt, bis sich dem Jungen der Magen umdrehte. Um Cam zu entkommen, schloss er einfach die Augen und stellte sich vor, wieder in dem Haus am Wasser zu sein und ein Stöckchen für den tollpatschigen Welpen zu werfen, der auf den Namen Foolish hörte.

Obwohl er wusste, dass der Junge wach war und seinen Blick spürte, fuhr Cam fort, ihn zu betrachten. Sieht gut aus, dachte er, mit seinem dunkelblonden Haarschopf und einem Körper, der gerade anfing, in die Höhe zu schießen. Wenn er seiner Schuhgröße entsprechend wuchs, wäre er ein Hüne, noch ehe er voll ausgewachsen war. Er hatte ein trotziges Kinn, stellte Cam fest, und einen Schmollmund. Wenn er zu schlafen vorgab, sah er so unschuldig aus wie ein Welpe und war fast ebenso niedlich. Aber die Augen … Cam hatte diesen gewissen Funken in ihnen gesehen, dieses Misstrauen, das an ein scheues Tier erinnerte. Er hatte diesen Blick bei sich im Spiegel gesehen. Die Farbe hatte er nicht erkennen können, aber sie waren dunkel. Dunkelblau oder braun.

»Sollten wir den Kleinen nicht irgendwo anders hinbringen?«

Ethan blickte zu ihm hinüber. »Ihm geht’s doch prima hier. Es ist ohnehin niemand da, bei dem wir ihn abgeben könnten. Und wenn er sich selbst überlassen bliebe, würde er bloß Ärger kriegen.«

Cam zuckte die Achseln, sah weg und vergaß ihn. »Ich will mit Garcia sprechen. Sie müssen doch Testergebnisse vorliegen haben oder so. Er fährt wie ein Profi, also falls er einen Herzanfall oder einen Schlaganfall hatte …« Er verstummte – der Gedanke war einfach zu viel für ihn. »Wir müssen Bescheid wissen. Hier herumzustehen bringt uns doch nicht weiter.«

»Wenn du etwas tun musst«, sagte Ethan, und in seiner leisen Stimme lag eine Spur unterdrückter Wut, »dann geh und tu’s. Wichtig ist es, hier zu sein.« Er starrte seinen Bruder über die bewusstlose Gestalt im Bett hinweg an. »Nur das war immer wichtig.«

»Ich wollte eben nicht nach Austern wühlen oder mein Leben lang in Krabbentöpfe starren«, konterte Cam. »Sie haben uns ein neues Leben geschenkt und von uns erwartet, dass wir damit anfangen, was wir wollen.«

»Also hast du getan, was du wolltest.«

»Das haben wir doch alle getan«, warf Phillip ein. »Ethan, wenn in den letzten Monaten mit Dad etwas nicht gestimmt hat, hättest du es uns sagen sollen.«

»Woher zum Teufel sollte ich das wissen?« Aber er hatte etwas gewusst, hatte nur nicht den Finger darauf legen können. Das fraß jetzt an ihm, als er dasaß und den Geräten lauschte, die seinen Vater am Leben erhielten.

»Weil du da warst«, sagte Cam zu ihm.

»Ja, ich war da. Und du nicht, seit Jahren nicht.«

»Und wenn ich in St. Chris geblieben wäre, dann wäre er nicht gegen einen verflixten Telefonmast geprallt? Himmel noch mal.« Cam fuhr sich mit den Händen durchs Haar. »Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Wenn du dich wenigstens hin und wieder hättest blicken lassen, dann hätte er nicht versucht, so vieles allein zu machen. Sobald ich ihm den Rücken zukehrte, stand er oben auf einer blöden Leiter, schob eine Schubkarre oder strich sein Boot an. Und er hat immer noch an drei Tagen in der Woche Unterricht am College gegeben, hat den Tutor gespielt, Referate gehalten. Er ist fast siebzig, um Himmels willen.«

»Er ist erst siebenundsechzig.« Phillip spürte, wie eine Eiseskälte in ihm hochkroch. »Und er war immer so stark wie ein ganzes Pferdegespann.«

»In letzter Zeit eben nicht. Er hat abgenommen und wirkte müde und ausgelaugt. Du hast es doch selbst gesehen.«

»Schon gut, schon gut.« Phillip rieb sich das Gesicht und spürte den Anflug eines Bartes. »Also hätte er vielleicht ein bisschen kürzertreten sollen. Den Kleinen bei sich aufzunehmen war vermutlich zu viel, aber man konnte es ihm ja nicht ausreden.«

»Immerzu streitet ihr.«

Die Stimme, matt und schwerfällig, ließ die drei Männer ruckartig aufmerken.

»Dad.« Ethan beugte sich als Erster vor, sein Herz schlug heftig. »Ich hole den Arzt.«

»Nein. Bleib hier«, murmelte Ray, bevor Phillip aus dem Zimmer stürzen konnte. Es war eine mörderische Kraftanstrengung, diese wenn auch kurze Rückkehr. Und Ray wusste, dass ihm nur noch wenige Augenblicke blieben. Sein Verstand und sein Körper schienen bereits voneinander getrennt zu sein, obgleich er fremde Hände auf seinen Händen spüren konnte, die Stimmen seiner Söhne hörte, ihre Angst und ihren Zorn.

Er war müde, o Gott, so müde. Und er wollte zu Stella. Doch ehe er ging, hatte er noch eine letzte Pflicht zu erfüllen.

»So.« Seine Lider schienen etliche Pfund zu wiegen, doch er zwang sich, die Augen offenzuhalten, kämpfte darum, klar zu sehen. Seine Söhne, dachte er – drei wunderbare Geschenke des Schicksals. Er hatte sein Bestes für sie getan, hatte ihnen zu zeigen versucht, wie man zum Mann wurde. Jetzt brauchte er sie noch für einen vierten, wollte, dass sie ohne ihn eine Einheit blieben und für das Kind sorgten.

»Der Junge.« Sogar die Worte hatten ein Gewicht. Er zuckte zusammen, als er sie hervorpresste. »Mein Junge. Jetzt eurer. Behaltet den Jungen, was auch geschieht, kümmert euch um ihn. Cam, du wirst ihn am besten verstehen.« Die große Hand, einst so stark und voller Leben, versuchte verzweifelt, Druck auszuüben. »Dein Wort darauf.«

»Wir werden uns um ihn kümmern.« In diesem Augenblick hätte Cam versprochen, den Mond und die Sterne vom Himmel herunterzuholen. »Wir werden uns um ihn kümmern, bis du wieder auf den Beinen bist.«

»Ethan.« Ray sog die Luft ein, die pfeifend aus dem Sauerstoffgerät kam. »Er wird deine Geduld brauchen, dein Herz. Deswegen bist du auch ein so ausgezeichneter Fischer.«

»Mach dir keine Sorgen um Seth. Wir passen auf ihn auf.«

»Phillip.«

»Hier.« Er trat näher heran, beugte sich tief hinunter. »Wir sind alle hier.«

»So kluge Köpfe. Ihr werdet herausfinden, wie es am besten funktioniert. Lasst den Jungen nicht gehen. Ihr seid Brüder. Denkt immer aneinander. Bin so stolz auf euch. Auf euch Quinns.« Er lächelte und sagte leise: »Jetzt müsst ihr mich gehen lassen.«

»Ich hole den Arzt.« Von Panik erfüllt eilte Phillip hinaus, während Cam und Ethan versuchten, ihren Vater durch schiere Willenskraft ins Leben zurückzuholen.

Niemand achtete auf den Jungen, der zusammengekauert im Stuhl saß und fest die Augen zudrückte, um die heißen Tränen zurückzudrängen.

2. KAPITEL

Sie kamen allein und in Gruppen, um Ray Quinn die letzte Ehre zu erweisen und zu Grabe zu tragen. Er war mehr gewesen als nur ein Einwohner dieses Punktes auf der Landkarte mit Namen St. Christopher’s. Er war Lehrer, Freund und Vertrauter gewesen. In Jahren magerer Austernfänge hatte er beim Organisieren von Spendenaktionen geholfen, oder er hatte plötzlich Dutzende kleiner Arbeiten ausfindig gemacht, die erledigt werden mussten, um die Fischer über einen harten Winter zu bringen.

Wenn ein Student Probleme hatte, fand Ray einen Weg, eine zusätzliche Stunde für Nachhilfe herauszuschlagen. Seine Literaturkurse an der Universität waren stets vollbesetzt, und nur wenige vergaßen Professor Quinn.

Er hatte an die Gemeinschaft geglaubt und entsprechend danach gelebt. Mit seiner Menschlichkeit hatte er seine Umgebung beeinflusst.

Und er hatte drei Jungen, die niemand sonst wollte, zu Männern erzogen.

Sein Grab war mit Blumen übersät und von Tränen benetzt. Als das Getuschel begann, wurde es deshalb meistens schnell zum Verstummen gebracht. Wenige wollten den Klatsch hören, der ein schäbiges Licht auf Ray Quinn warf. Zumindest zeigten sich die meisten uninteressiert, wobei sie gleichzeitig die Ohren spitzten, um sich von den Gerüchten nichts entgehen zu lassen.

Sexskandale, Ehebruch, illegitimes Kind. Selbstmord.

Lächerlich. Unmöglich. Die meisten sagten das und meinten es auch so. Aber andere hörten etwas genauer hin und flüsterten es dem nächsten ins Ohr.

Cam bekam nichts davon mit. Sein Kummer war so groß, so gewaltig, dass er kaum seine eigenen trüben Gedanken wahrnahm. Als seine Mutter starb, war er damit fertiggeworden. Er war darauf vorbereitet gewesen, hatte sie leiden sehen und gebetet, es möge ein Ende haben. Aber dieser Verlust kam zu schnell, zu willkürlich, und er konnte nicht dem Krebs die Schuld geben.

Es waren zu viele Menschen im Haus, Menschen, die Mitgefühl bekunden oder sich in Erinnerungen ergehen wollten. Er wollte ihre Erinnerungen nicht, konnte sich nicht mit ihnen konfrontieren, ehe er nicht mit seinen eigenen ins Reine gekommen war.

Er saß allein auf dem Anlegesteg, den er im Laufe der Jahre Dutzende Male mit Ray zusammen ausgebessert hatte. Neben ihm schwamm die hübsche sechs mal eins zwanzig Meter große Schaluppe, auf der sie alle unzählige Male gesegelt waren. Cam erinnerte sich an das Boot, das Ray in jenem ersten Sommer besessen hatte – eine kleine Sunfish, ein Catboat aus Aluminium, nicht viel größer als ein Korken, wie er damals dachte.

Und mit wie viel Geduld Ray ihm beigebracht hatte, wie man segelte, wie man mit der Takelage umging, wie man Kurs hielt. Und der Nervenkitzel, erinnerte sich Cam, als Ray ihn das erste Mal die Ruderpinne bedienen ließ.

Es war eine lebensverändernde Erfahrung für einen Jungen, der auf rauem Pflaster aufgewachsen war – salzige Luft im Gesicht, im Wind knatternde weiße Leinwand, die Schnelligkeit und Freiheit, übers Wasser zu gleiten. Aber vor allem anderen war es das Vertrauen, das in ihn gesetzt wurde. Hier, hatte Ray gesagt, sieh zu, was du aus ihr herausholen kannst.

Vielleicht war es dieser eine Moment an jenem dunstigen Nachmittag gewesen, als das Laub so dicht und grün war und die Sonne schon als strahlend weißer Ball hinter den Nebelschleiern stand, der den Jungen in den Mann verwandelt hatte, der er jetzt war.

Und Ray hatte dabei gelächelt.

Cam hörte Schritte auf dem Steg, drehte sich jedoch nicht um. Er schaute weiter aufs Wasser hinaus, als Phillip neben ihm stehen blieb.

»Die meisten sind schon gegangen.«

ENDE DER LESEPROBE