TODESJAGD - Eberhard Weidner - E-Book
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Eberhard Weidner

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Beschreibung

Für Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg von der Vermisstenstelle der Kripo München sieht zunächst alles nach einem gewöhnlichen Vermisstenfall aus, nachdem ein zwanzigjähriger Jura-Student spurlos verschwunden ist. Rasch stellt sich heraus, dass der junge Mann Liebeskummer hatte. Auf dem Laptop des Vermissten findet die Polizistin einen Abschiedsbrief und außerdem einen Hinweis auf einen sogenannten Selbstmord-Club. Und in der "Ruhmeshalle" des Clubs entdeckt Anja schließlich ein Foto des Studenten. All diese Indizien deuten somit eindeutig auf einen Suizid hin. Nach Ansicht der Ermittlerin ist es daher nur noch eine Frage der Zeit, bis man die Leiche des jungen Mannes findet. Doch als die Kriminalbeamtin die Seite der Ruhmeshalle genauer in Augenschein nimmt, entdeckt sie das Zeitungsfoto einer weiteren Vermissten. Sie bittet daraufhin ihre Kollegen, sich die Fotos anzusehen. Es stellt sich heraus, dass es neben dem vermissten Studenten vier weitere Vermisstenfälle gibt, die mit dem mysteriösen Selbstmord-Club in Verbindung zu stehen scheinen. Alle fünf Personen sind innerhalb der letzten zweieinhalb Wochen verschwunden. Und alle waren todkrank, querschnittsgelähmt, depressiv oder schlicht und einfach nur lebensmüde. Um den Hintermännern des Clubs auf die Spur zu kommen, bleibt Anja nichts anderes übrig, als sich unter falscher Identität anzumelden und selbst an einer sogenannten Suicide-Challenge teilzunehmen. Im Rahmen dieser Challenge muss sie innerhalb von 23 Stunden ebenso viele Aufgaben bewältigen, die sie auf die letzte Aufgabe, ihren Selbstmord, vorbereiten sollen. Doch die Suicide-Challenge stellt sich für Anja als viel gefährlicher heraus, als sie anfangs wahrhaben will.

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Seitenzahl: 542

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

PROLOG

Tag 1: NEMESIS

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

Tag 2: CHARON

11

12

13

14

15

16

17

Tag 3: KASSANDRA

18

19

20

21

Tag 4: HADES

22

23

24

25

26

27

28

29

30

EPILOG

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

PROLOG

1

2

3

4

5

PROLOG

Regen tropfte von den Bäumen. Ein Blitz tauchte ihre Umgebung für den Bruchteil eines Augenblicks in gleißendes Licht, sodass sie geblendet die Augen schließen musste. Sekunden später folgte das dumpfe Grollen des Donners.

Sie öffnete die Augen sofort wieder und rannte weiter durch den Wald.

Wenn sie normalerweise lief, tat sie das zu ihrem Vergnügen. Aber nicht heute.

Heute rannte sie um ihr Leben!

Als sie an ihren Verfolger dachte, wandte sie den Kopf und sah sich gehetzt nach ihm um. Doch zwischen den dicht stehenden Bäumen hinter ihr war nichts von ihm zu entdecken.

Im Umkehrschluss bedeutete das, dass er sie ebenfalls nicht sehen konnte. Und wenn er sie nicht sah, konnte er auch nicht auf sie schießen. Denn er war mit einem Gewehr bewaffnet, während sie nichts bei sich hatte, das sie als Waffe gegen ihn einsetzen konnte.

Als sie ihren Kopf wieder nach vorn wandte, stolperte sie über die aus der Erde ragende Wurzel eines Baumes. Sie konnte einen Sturz aber gerade noch verhindern, indem sie sich an dem dazugehörigen Baumstamm festklammerte. Schwer atmend verharrte sie einen Augenblick, um zu verschnaufen. Dabei lauschte sie aufmerksam, denn die Geräusche, die sie bei ihrer Flucht verursacht hatte, hatten bislang die ihres Jägers übertönt.

Jetzt konnte sie neben dem stetigen Tropfen des Regens das Rascheln von Blättern und das Knacken von Ästen unter seinen Stiefeln hören. Und das, obwohl sie keuchend Atem holte, das Blut in ihren Schläfen überlaut pochte und ihr Herz heftig schlug. Ihr wurde jäh bewusst, dass er deutlich näher als zuvor war. Bald hätte er sie eingeholt, wenn sie nicht schneller rannte.

Sofern die Arbeit und das Wetter es ihr erlaubten, lief sie möglichst regelmäßig. Sie war daher eine geübte und ausdauernde Läuferin. Doch der Verfolger stand ihr in dieser Hinsicht anscheinend in nichts nach.

Außerdem war sie gehandikapt. Sie hatte eine schlimme Nacht hinter sich, litt unter Kopfschmerzen und immer stärker unter Muskelkrämpfen. Ihr war zudem leicht übel. Und die Lauferei trug auch nicht unbedingt dazu bei, dass sie sich besser fühlte. Im Gegenteil: Obwohl der nasse Waldboden weich und nachgiebig war, erschütterte sie jeder einzelne Schritt bis ins Mark. Und jede Erschütterung sandte ein weiteres schmerzhaftes Hämmern durch ihren Schädel, das jedem Schmied an seinem Amboss ein anerkennendes Nicken entlockt hätte. Und als wäre das noch nicht genug, schlug Ihr Magen im Rhythmus ihrer Schritte Purzelbäume.

Lange halte ich das nicht mehr durch!

Doch was sollte, oder besser, was konnte sie dagegen tun? Im Moment konnte sie nur eins tun: weiterlaufen!

Sie schüttelte den Kopf. Zum wiederholten Male wunderte sie sich, wie sie überhaupt in diese ausweglose Lage geraten war. Dabei hatte am Anfang nichts darauf hingedeutet, dass es so enden würde.

Sie setzte sich wieder in Bewegung und floh vor ihrem bewaffneten Verfolger. Während sie das tat, dachte sie unweigerlich über die turbulenten Ereignisse der vergangenen drei Tage nach, die sie schlussendlich an diesen Ort und wieder einmal in tödliche Gefahr gebracht hatten.

Tag 1

NEMESIS

In der griechischen Mythologie die Göttin des »gerechten Zorns«, auch: »ausgleichenden Gerechtigkeit«. Sie wurde dadurch ebenfalls zur Rachegottheit.

(Wikipedia)

1

Die vermisste Person hieß Christian Stumpf. Er war zwanzig Jahre alt und studierte im dritten Semester an der Juristischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität Rechtswissenschaften.

Kriminalhauptkommissarin Anja Spangenberg von der Vermisstenstelle der Kripo München betrachtete eins der Fotos des Vermissten. Wie ein Dutzend andere auch war es über dem Schreibtisch an die Wand gepinnt worden. Obwohl es nicht nur den vermissten Studenten, sondern auch eine junge Frau zeigte, war es besser als das Foto aus der Vermisstenakte, das etwas zu dunkel und zudem leicht unscharf war. Die beiden jungen Leute posierten lächelnd Wange an Wange für den Fotografen. Das ließ darauf schließen, dass sie miteinander vertraut waren. Entweder handelte es sich um gute Bekannte oder unter Umständen sogar um ein Liebespaar.

Christian Stumpf war ein gut aussehender junger Mann mit kurz geschnittenen blonden Haaren und markanten, erstaunlich makellosen Gesichtszügen. Auf dem Foto trug er eine Brille mit schwarzem Kunststoffgestell im Wayfarer-Stil der Firma Ray Ban. Er wirkte damit wie ein erblondeter Clark Kent, der sich jeden Moment die Kleidung vom Leib reißen könnte, sodass darunter das Superman-Kostüm zum Vorschein käme.

Aus der Akte wusste Anja, dass er ein Meter fünfundachtzig groß war und aus einer Kleinstadt südwestlich von München stammte. Obwohl die Ähnlichkeit nicht allzu groß war, erinnerte der vermisste Student Anja dennoch ein wenig an ihren verstorbenen Mann Fabian. Sie seufzte missmutig und unterdrückte jeden weiteren Gedanken, der in diese im Moment unerwünschte Richtung ging. Stattdessen konzentrierte sich wieder voll und ganz auf ihren aktuellsten Vermisstenfall.

Er war ihr erst an diesem Morgen zugeteilt worden. Als sie ins Büro gekommen war, das sie sich mit ihrem Kollegen, Kriminaloberkommissar Daniel Braun, teilte, war dieser entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten bereits anwesend gewesen.

»Was machst du denn schon hier?«, fragte Anja irritiert. Sie zog ihre schwarze Lederjacke aus und hängte sie an den Garderobenständer, der neben der Tür stand.

»Wieso?« Braun tat so, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dass er vor seiner Kollegin im Büro war; dabei war es eher die Ausnahme, weil er nahezu ständig zu spät kam. Er sah aus, als könnte er nur mit viel Mühe ein selbstzufriedenes Grinsen unterdrücken.

»Ach was, ist nicht wichtig.« Anja winkte ab und schüttelte den Kopf, während sie zu ihrem Schreibtisch ging, der dem des Kollegen unmittelbar gegenüberstand. Diesmal war sie es, die nur mühsam ein Lächeln unterdrückte, als sie die Enttäuschung in Brauns Augen sah, weil sie das Thema nicht weiterverfolgte. Erst dann entdeckte sie die Vermisstenakte, die mitten auf der Schreibtischplatte lag. Sie stöhnte verhalten. »Ein neuer Fall?«, fragte sie und ließ sich auf den Drehstuhl fallen, der vernehmlich ächzte, als wollte er sie nachäffen. Das lag aber nicht daran, dass sie zu viel wog, sondern eher daran, dass der Stuhl bereits so betagt war.

Die Kriminalbeamtin hatte vor anderthalb Monaten ihren fünfunddreißigsten Geburtstag gefeiert. Sie maß vom Scheitel bis zu den Fußsohlen exakt einhundertzweiundsiebzig Zentimeter. Allerdings hatte sie keinen Scheitel, denn ihr kurzes dunkelblondes Haar war zu ihrem Verdruss auch an diesem Morgen wie immer arg zerzaust. Dadurch sah sie aus, als wäre sie auf dem Weg ins Büro durch einen schweren Sturm marschiert. Sie hatte ein herzförmiges Gesicht und hohe markante Wangenknochen; dazu grüne Augen, eine schmale Nase und einen ihrer Ansicht nach etwas zu breiten Mund mit dünnen Lippen.

»Die Akte lag da schon, als ich kam«, erklärte Braun.

Anja vermutete, dass er erst wenige Minuten oder allenfalls Sekunden vor ihr das Büro betreten hatte und jetzt so tat, als handelte es sich um Stunden. »Hast du auch einen neuen Fall zugeteilt bekommen?«

Er schüttelte den Kopf, schürzte die Lippen und zuckte gleichzeitig mit den Schultern, als würde er diesen Umstand bedauern, was er allerdings mit Sicherheit nicht tat.

»Und wieso dann ich?« Es war eine rhetorische Frage, daher erwartete und erhielt sie auch keine Antwort von ihm. »Ich habe momentan schon so viele offene Fälle, dass ich einen weiteren ungefähr ebenso dringend gebrauchen kann wie einen Pickel am Hintern.«

Ihr Kollege lachte. Im Grunde kamen Anja und er gut miteinander aus. Allerdings vermisste Anja ihre ehemalige Zimmerkollegin Rebecca Oberweger, mit der sie sich ausgezeichnet verstanden hatte. Doch Rebecca, mit der Anja einmal im Monat telefonierte, befand sich in Elternzeit, seitdem sie eine Tochter zur Welt gebracht hatte.

Braun war achtundzwanzig Jahre alt und ein Meter zweiundachtzig groß. Er hatte kurzes dunkelbraunes Haar, einen dichten Vollbart und eine Hakennase.

»Vermutlich habe ich keinen neuen Vermisstenfall zugeteilt bekommen, weil ich ab übermorgen im Urlaub bin«, sagte er nun. »Schon vergessen?«

»Ach ja, richtig.« Anja schlug mit den ausgestreckten Fingern der rechten Hand leicht gegen ihre Stirn, als müsste sie die Zahnräder ihres Gehirns erst mit einem Klaps mechanisch in Gang setzen. »Wo geht es denn diesmal hin? Endlich nach Kalifornien zum Badwater Ultramarathon? Oder dieses Mal in die Atacama-Wüste in Chile, die Wüste Gobi in China, die Sahara in Ägypten und schließlich die Eiswüste der Antarktis zum legendären Vier-Wüsten-Rennen?«

Braun lief in seiner Freizeit am liebsten sogenannte Ultramarathons, deren Laufstrecken länger waren als die normale Marathondistanz. Das sah man ihm auch an, denn er war extrem schlank, ja geradezu hager und knochig. Bei einem Ultramarathon liefen die teilnehmenden Sportler hundert oder mehr Kilometer am Stück oder in Tagesetappen. Oder sie unterzogen sich Stundenläufen, die 72 Stunden oder noch länger dauern konnten.

Anja kannte die Namen der Marathons und die Orte, an denen sie stattfanden, mittlerweile in- und auswendig. Braun erzählte ihr ständig mit funkelnden Augen und kaum zu zügelnder Begeisterung von den Ultramarathons, die er in den letzten Jahren erfolgreich absolviert hatte. Oder er schwärmte ihr von den Läufen vor, die er noch machen wollte. Sowohl der Badwater Ultramarathon als auch das Vier-Wüsten-Rennen fehlte noch in der Sammlung ihres Kollegen.

»Weder noch«, sagte er und lächelte verträumt. »An diese beiden legendären Rennen wage ich mich im Moment noch nicht heran. Stattdessen geht es diesmal zur Transvulcania auf der Kanarischen Insel La Palma. Der Ultramarathon beginnt um 6 Uhr morgens im Süden La Palmas am Leuchtturm von Fuencaliente mit dem Aufstieg zur Vulkanroute. Da es um diese Uhrzeit noch dunkel ist, muss man sich den Weg selbst mit einer Taschen- oder Stirnlampe ausleuchten. Ziel ist nach 74,34 Kilometern Los Llanos de Aridane. Da während des Laufs ein Höhenunterschied von insgesamt 8.525 Metern – 4.415 Meter bergauf und 4.110 Meter bergab – überwunden werden muss, braucht man eine ausgezeichnete Kondition. Jeder Läufer muss daher erst einmal nachweisen, dass er in den letzten 18 Monaten bei einem mehr als 40 Kilometer langen Rennen ins Ziel gekommen ist. Der Ultramarathon der Transvulcania bringt außerdem Punkte im World-Ranking der International Skyrunning Federation.«

Braun war wieder einmal ins Schwärmen geraten. Nachdem er seinen Vortrag beendet hatte, nickte Anja anerkennend. Sie war beeindruckt, was ihr Kollege sich jedes Mal zumutete, wenn er derartige Plagen auf sich nahm, anstatt sich an einem wunderschönen Strand irgendwo auf dieser Welt in die Sonne zu legen und von seinem oftmals stressigen Job bei der Vermisstenstelle zu erholen. Anja versuchte möglichst jeden Tag je nach Lust, Laune und Wetter manchmal mehr und manchmal weniger Runden durch den Westpark zu laufen. Dabei legte sie pro Runde etwa 6 Kilometer zurück. Sie hielt aber alles für übertrieben, was deutlich über ihr durchschnittliches Pensum hinausging.

»Dann wünsche ich dir jetzt schon mal viel Spaß und Erfolg.«

»Danke. Obwohl ich vermutlich nicht allzu viel Spaß haben werde. Aber das ist ja auch nicht der Sinn der Sache. Wenn ich Spaß haben will, kann ich ins Kino gehen und mir eine Komödie angucken.«

»Oder einen Marathon über die normale Distanz laufen, bei dem es weder steil bergauf noch durch eine Wüste geht«, schlug Anja vor.

Braun lachte. »Oder das.«

Sie verstummten. Braun lächelte. Er sah verträumt aus, als würde er in Gedanken einen seiner geliebten Ultramarathons laufen. Anja wiederum senkte den Blick. Sie las den Namen auf der Vermisstenakte, die auf ihrem Schreibtisch lag: CHRISTIAN STUMPF.

Sie seufzte. »Dann werde ich wohl mich mal meinem neuesten Vermisstenfall widmen müssen.«

Braun war daraufhin ins Hier und Jetzt zurückgekehrt und hatte mit einem Nicken gesagt: »Ich muss auch noch einiges erledigen, bevor ich morgen für zwei Wochen von hier verschwinden kann.«

Im Zimmer des vermissten Studenten nahm Anja nun das Foto von der Wand und legte es zu dem anderen in die Akte. Dann rief sie sich noch einmal die wesentlichen Details der Vermisstenanzeige ins Gedächtnis.

Christian Stumpf war vorgestern Abend zum letzten Mal gesehen worden, und zwar von seinem Mitbewohner Ferdinand Baumbach. Die beiden Studenten bewohnten eine helle 2-Zimmer-Altbauwohnung in Untersendling in unmittelbarer Nähe des Südbads. Laut Aussage des Mitbewohners, der an der Technischen Universität München Mathematik studierte, stürmte Stumpf gegen 22 Uhr aus seinem Zimmer. Baumbach, der an diesem Tag Küchendienst hatte, war gerade dabei, die Spülmaschine auszuräumen. Da er annahm, es wäre etwas passiert, ließ er augenblicklich alles stehen und liegen und eilte in den Flur. Stumpf hetzte jedoch wortlos an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er war kreidebleich und bewegte fortwährend die Lippen, als führte er Selbstgespräche, gab allerdings keinen einzigen Laut von sich. Baumbach sprach ihn daraufhin an und fragte, was los sei. Doch Stumpf reagierte noch immer nicht auf seine Gegenwart, so als sähe und hörte er ihn nicht. Er rannte zur Wohnungstür, riss sie auf und verließ die Wohnung. Baumbach starrte noch eine Weile auf die geschlossene Tür, durch die sein Mitbewohner verschwunden war. Er versuchte sich einen Reim auf dessen ungewohntes und merkwürdiges Verhalten zu machen. Doch dann schüttelte er den Kopf und kehrte in die Küche zurück, um endlich seine Küchenarbeit zu beenden. Er wollte möglichst bald fertig werden, damit er noch ein oder zwei Folgen seiner Lieblingsserie Numb3rs ansehen konnte, von der er alle sechs Staffeln auf DVD besaß. Aus diesem Grund grübelte er auch nicht länger über seinen Mitbewohner nach. Am darauffolgenden Morgen klopfte er an Stumpfs Zimmertür, um sich zu erkundigen, ob es ihm gutgehe. Als keine Reaktion erfolgte, öffnete er die Tür und stellte fest, dass Stumpf nicht da war. Wie es schien, war er in der Nacht nicht zurückgekommen, denn das Bett sah unberührt aus. Als Baumbach dann am Nachmittag von seinen Vorlesungen zurückkehrte, war Stumpf noch immer nicht da. Und es sah nicht danach aus, als wäre er zwischenzeitlich in der Wohnung gewesen. Da Baumbach ihn darüber hinaus auch nicht auf seinem Handy erreichen konnte und sich allmählich Sorgen machte, rief er die Eltern seines Mitbewohners an. Gemeinsam beschlossen sie, dass Baumbach unverzüglich zur Polizei gehen und Stumpf als vermisst melden sollte. Also hatte er nach dem Telefonat ein Foto seines Mitbewohners von der Wand über dem Schreibtisch genommen, auf dem dieser allein abgebildet war. Damit war er schnurstracks zur nächstgelegenen Polizeidienststelle marschiert. Und da aufgrund des merkwürdigen Verhaltens von Christian Stumpf nicht auszuschließen war, dass das Leben oder die Gesundheit des jungen Mannes in Gefahr war, hatte der zuständige Beamte der Polizeiinspektion 15 in Sendling die Vermisstenakte umgehend an die Vermisstenstelle weitergeleitet. Dort war sie dann am heutigen frühen Morgen wie durch Geisterhand auf Anjas Schreibtisch gelandet.

Bevor die Polizei sich mit dem Fall eines vermissten Erwachsenen befassen und Fahndungsmaßnahmen einleiten kann, müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt sein. Erstens muss die gesuchte Person ihren gewöhnlichen Lebensbereich verlassen haben und zweitens ihr derzeitiger Aufenthaltsort unbekannt sein. Doch vor allem ist es erforderlich, dass eine Gefahr für Leib oder Leben des oder der Vermissten besteht. Denn volljährige Personen haben grundsätzlich das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu bestimmen. Sie sind niemandem Rechenschaft darüber schuldig. Erst wenn die ernsthafte Befürchtung besteht, sie könnten in Gefahr sein, hat die Polizei eine Handhabe, um nach ihnen zu fahnden. Sei es, weil die vermisste Person krank, hilflos oder auf Medikamente angewiesen ist, weil sie vor ihrem Verschwinden Selbstmordabsichten äußerte oder weil sie möglicherweise Opfer einer Straftat wurde.

Der Fall hatte Anja zunächst an einen Vermisstenfall erinnert, den sie vor einem halben Jahr bearbeitet hatte und der sie beinahe das Leben gekostet hätte. Damals war sie auf der Suche nach einer Studentin gewesen, die auf der Fahrt von ihren Eltern in Nürnberg zu ihrer Studenten-WG in München spurlos verschwunden war. Doch bis auf die Tatsache, dass es sich in beiden Fällen um Studenten handelte, gab es ansonsten nach ihren bisherigen Erkenntnissen keine weiteren Gemeinsamkeiten.

Anja seufzte und sah sich noch einmal um. Sie hatte das Zimmer gründlich unter die Lupe genommen, die Schränke und Schubladen durchsucht und an allen Orten nachgesehen, an denen die Leute ihrer Erfahrung nach Dinge versteckten, die nicht jeder sehen sollte. Doch nichts von dem, was sie entdeckt hatte, gab ihr auch nur den geringsten Aufschluss darüber, warum Christian Stumpf vorgestern kreidebleich und fluchtartig die Wohnung verlassen hatte, um anschließend so spurlos zu verschwinden, als hätte er sich in Luft aufgelöst.

Was ist an jenem Abend hier passiert?, stellte sie sich unwillkürlich die Schlüsselfrage.

Denn irgendetwas musste geschehen sein! Völlig grundlos hatte der nach Aussage seines Mitbewohners ansonsten höchst zuverlässige und besonnene junge Mann bestimmt nicht so panisch reagiert und war nachgerade kopflos davongerannt. Doch was hatte diese für seine Verhältnisse ungewöhnliche Reaktion überhaupt erst hervorgerufen?

Ein Telefonanruf, eine SMS oder eine E-Mail?

Vieles sprach nach Anjas Meinung dafür, dass Stumpf am Abend eine dieser Nachrichten bekommen hatte, denn wenn er Besuch gehabt hätte, dann hätte Baumbach das zweifellos mitbekommen.

Trotz ihrer gründlichen Suche hatte Anja allerdings kein Mobiltelefon gefunden. Das hieß, dass Stumpf es vermutlich bei sich gehabt hatte, als er die Wohnung verlassen hatte. Doch offensichtlich war es ausgeschaltet, denn Anja hatte immer dann, wenn sie seine Nummer gewählt hatte, die Mitteilung bekommen, dass der Teilnehmer momentan nicht erreichbar wäre.

Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, sich unbedingt die Verbindungsdaten zu besorgen, sobald sie wieder im Büro war. Unter Umständen konnte sie auf diese Art herausfinden, ob und von wem Stumpf am Abend seines Verschwindens angerufen oder anderweitig kontaktiert worden war.

Da sie im Zimmer des Vermissten alle Möglichkeiten ausgeschöpft hatte und nichts mehr finden würde, das in der Lage wäre, Licht ins Dunkel zu bringen, zog sie ihre Einweghandschuhe aus und steckte sie in die Jackentasche. Anschließend nahm sie Stumpfs Laptop und die Vermisstenakte und verließ den Raum.

Ferdinand Baumbach saß in der kleinen Küche an einem winzigen Tisch und hatte einen halbvollen Kaffeebecher vor sich stehen. Als Anja eintrat, sah er in einer Art und Weise auf, die vermuten ließ, dass er bis soeben tief in Gedanken versunken gewesen war. Rasch nahm er den Mittelfinger der linken Hand, an dessen Nagel er gedankenverloren geknabbert hatte, vom Mund.

»Kaffee?«, fragte er und deutete auf seinen eigenen Becher.

Normalerweise wäre Anja nicht abgeneigt gewesen, denn sie liebte guten Filterkaffee und konnte nicht genug davon bekommen. Doch erstens wollte sie sich nicht mehr so lange hier aufhalten, und zweitens hatte sie das Glas mit löslichem Kaffee neben der Spüle entdeckt. Somit wusste sie, dass sie hier keinen Filterkaffee bekommen würde. Sie schüttelte daher den Kopf. »Tut mir leid, aber ich muss gleich wieder los.«

Baumbach nickte und stand rasch auf. »Na dann«, sagte er und seufzte. »Aber wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, dann brauchen Sie mich nur anzurufen. Meine Handynummer haben Sie ja.«

»Natürlich. Ich nehme übrigens den Computer Ihres Mitbewohners mit, um ihn im Büro genauer unter die Lupe zu nehmen. Gegebenenfalls finde ich darauf ja etwas, das uns einen Hinweis gibt, warum und wohin er verschwunden ist.«

»Heißt das, dass Sie in seinem Zimmer sonst nichts gefunden haben?«

Anja nickte. »So ist es. Ich hätte aber noch eine Frage an Sie.«

»Worum geht’s?«, fragte Baumbach eilfertig.

Die Polizistin legte den Laptop auf den Tisch, der damit voll war, und öffnete die Akte. Sie entnahm ihr das Foto von Christian Stumpf und der jungen Frau.

»Können Sie mir sagen, wer die junge Dame ist?«

Baumbach warf nur einen kurzen Blick auf das Foto, bevor er zu nicken begann. »Das ist Susanne.«

»Eine Bekannte von Herrn Stumpf?«

»Seine Ex-Freundin.«

»Seit wann sind die beiden nicht mehr zusammen?«

»Seit ungefähr einer halben Woche.«

Anja hob die Augenbrauen. »Davon haben Sie mir bei unserem Gespräch vorhin gar nichts gesagt.«

Baumbach zuckte mit den Schultern. Er schaffte es, gleichzeitig betreten und zerknirscht dreinzublicken. »Tut mir echt leid. Daran hab ich bei der ganzen Aufregung überhaupt nicht mehr gedacht.«

»Wie lange waren die beiden zusammen?«

Der Student überlegte kurz, bevor er antwortete: »Ich glaube, ungefähr anderthalb Jahre.«

Anja runzelte die Stirn. Sie konnte nicht nachvollziehen, wie Baumbach so etwas hatte vergessen können. Wenn Stumpf und seine Freundin nur wenige Tage oder Wochen ein Liebespaar gewesen wären, dann hätte sie es ja noch verstanden. Aber da die beiden bis vor wenigen Tagen achtzehn Monate lang zusammen gewesen waren, dachte man doch beim Verschwinden des einen nahezu zwangsläufig auch an den anderen, auch wenn sie kein Paar mehr waren. Allerdings war es natürlich denkbar, dass Baumbach zu aufgeregt gewesen war, sodass er es tatsächlich zu erwähnen vergessen hatte.

»Wer von den beiden hat denn die Beziehung beendet?«, fragte sie.

»Das war Susanne.«

»Und wie hat Herr Stumpf das aufgenommen?«

»Gar nicht gut. Er war ziemlich deprimiert deswegen. Ich glaube, er hat die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es mit ihnen beiden doch noch mal was werden könnte. Er bezeichnet Susanne immer als seine große, einzig wahre Liebe.«

»Wie heißt die Dame mit vollen Namen?«

»Susanne Winkler. Sie studiert Betriebswirtschaftslehre. Die beiden lernten sich auf der vorletzten Karibikfete kennen. Das ist die Semesterparty des Corps Alemannia München, die jedes Jahr im November in ihrem Wohnheim stattfindet.«

Anja hatte ihr Notizbuch aus der Innentasche ihrer Jacke geholt und notierte sich die Angaben. Als sie fertig war, fragte sie nach einer Telefonnummer, unter der sie die Frau erreichen konnte.

»Warten Sie, die muss hier irgendwo hängen.« Baumbach ging zu einer Pinnwand, die neben dem Kühlschrank an der Wand hing. Sie war übersät mit Zetteln, Postkarten, Flyern, Visitenkarten und alten Terminzetteln von Ärzten. »Hier ist sie.« Er nahm einen hellblauen Notizzettel, auf der eine Handynummer stand und gab ihn der Polizistin.

Anja legte ihn in ihr Notizbuch. »Wissen Sie zufällig auch, warum seine Ex-Freundin mit Herrn Stumpf Schluss gemacht hat?«

Baumbach zuckte mit den Schultern. »Soweit ich weiß, gab es keinen konkreten Grund. Zumindest hat Susanne Christian keinen genannt. Sie hat von einem Tag auf den anderen die Beziehung beendet und jeden Kontakt zu ihm abgebrochen.«

»Okay.« Anja steckte ihr Notizbuch zurück. »Gibt es sonst noch etwas, das Sie vergessen haben, mir zu sagen? Jetzt haben Sie die Gelegenheit, es nachzuholen.«

»N…n…n…nein«, sagte Baumbach stotternd. »Ich hab Ihnen alles gesagt, was ich weiß.«

»Na schön. Wenn Ihnen doch noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte umgehend an. Verstanden?«

Er nickte eifrig.

Sie gab ihm ihre Visitenkarte, bevor sie die Akte und den Laptop wieder an sich nahm und sich verabschiedete.

2

Nach dem Mittagessen war sie allein in ihrem Büro in der Vermisstenstelle, die sich im zweiten Stock des Dienstgebäudes in der Hansastraße befand. Daniel Braun war in einem seiner Vermisstenfälle unterwegs.

Anja hatte sich auf der Rückfahrt von der Studenten-WG ein Grill-Sandwich und eine kleine Flasche Cola besorgt. Anschließend war sie zu ihrer Wohnung gefahren, um Yin, den sechsjährigen schwarzen Kater, den sie seit einem halben Jahr besaß, zu füttern und ihm für eine Weile Gesellschaft zu leisten.

Nun hatte sie den Laptop des vermissten Studenten vor sich stehen und durchsuchte die Festplatte nach wichtigen Dokumenten.

Sie fand auf Anhieb ein paar Briefe, die der junge Mann an seinem Computer geschrieben hatte, doch die waren zum größten Teil schon älteren Datums und hatten nicht das Geringste mit seinem Verschwinden zu tun. Mangels Passwörtern und PINs konnte sie darüber hinaus weder auf seinen E-Mail-Account noch auf sein Online-Bankkonto zugreifen. Es frustrierte sie, dass sie nichts fand und offenkundig ihre Zeit verschwendete. Doch da sie niemand war, der schnell aufgab, blieb sie hartnäckig und suchte weiter.

Was blieb ihr auch anderes übrig? Sie hatte momentan nicht die geringsten Anhaltspunkte, was geschehen war. Mithilfe von Stumpfs Bankdaten, die sie sich notiert hatte, würde sie seine letzten Kontobewegungen überprüfen können. Vielleicht hatte er unmittelbar vor oder nach seinem Verschwinden einen größeren Bargeldbetrag abgehoben. Das würde darauf schließen lassen, dass er freiwillig verschwunden war, um sich möglicherweise eine Auszeit zu gönnen, nachdem seine Freundin ihm vor wenigen Tagen so überraschend den Laufpass gegeben hatte. Falls es andererseits keine verdächtigen Geldabhebungen gab und auch nach seinem Verschwinden nicht mehr auf das Konto zugegriffen worden war, konnte das wiederum ein Indiz dafür sein, dass er sich womöglich aus Liebeskummer etwas angetan hatte.

Die einzig andere vielversprechende Spur, der Anja im Moment nachgehen konnte, war die Ex-Freundin Susanne Winkler. Anja wollte wissen, aus welchem Grund sie die Beziehung dermaßen abrupt beendet hatte. Außerdem interessierte es sie, ob die junge Frau unmittelbar vor oder nach Stumpfs Verschwinden Kontakt mit ihm gehabt hatte. Gegebenenfalls kannte sie auch das Passwort für Stumpf E-Mail-Account.

Doch zunächst wollte Anja sicherstellen, dass sie die Festplatte des Laptops gründlich durchsucht und dabei nichts übersehen hatte. Sie würde das Gerät anschließend zwar ohnehin an die IT-Spezialisten der Kripo weiterleiten, damit diese es auf Herz und Nieren überprüften; doch je früher sie etwaige Hinweise fand, desto eher konnte sie ihnen nachgehen. Und in einem Vermisstenfall wie diesem, in dem zu befürchten stand, dass die vermisste Person sich etwas antat, konnten schon ein paar Stunden über Leben und Tod entscheiden.

Die Kriminalbeamtin wollte bereits aufgeben und Susanne Winkler anrufen, um mit ihr ein Treffen zu vereinbaren. Doch da fand sie in einem Verzeichnis mit dem kryptischen Titel CdtG eine Datei, die den unmissverständlichen Namen Abschiedsbrief.docx trug. Sie stammte von dem Tag, an dem der Student verschwunden war.

Sofort war sie wie elektrifiziert. Sie klickte die Datei hastig an, um sich ihren Inhalt anzusehen. Obwohl das Programm und das Dokument zügig geöffnet wurden, kam es ihr wie eine kleine Ewigkeit vor. Doch dann war es endlich soweit.

Anjas Lippen bewegten sich unwillkürlich, als sie die Sätze las, die vermutlich das Letzte waren, was Christian Stumpf auf diesem Computer geschrieben hatte.

An all diejenigen, die das hier lesen und die es überhaupt interessiert.

ICH BIN TOT!

Vielleicht wurde meine Leiche ja schon gefunden. Wenn nicht, dann wird das womöglich bald der Fall sein. Aber das ist ohnehin egal, denn mein lebloser Körper ist nicht mehr wichtig.

NICHTS AUF DIESER WELT IST NOCH WICHTIG!

WARUM?, fragt ihr, die ihr das lest, euch vielleicht.

Nun, ich werde es euch sagen: Susanne, die LIEBE MEINES LEBENS, hat mich verlassen. Und ohne sie kann ich nicht weiterleben. Ich habe es in den letzten Tagen versucht. Doch dabei habe ich feststellen müssen, dass es einfach nicht geht.

DESHALB HABE ICH BESCHLOSSEN, MEINEM LEBEN EIN ENDE SETZEN!

Allein hätte ich diesen Schritt vermutlich nie gewagt. Es ist viel schwerer, als man zunächst denkt. Doch dann stieß ich zufällig auf den CLUB DER TOTEN GESICHTER. Dank der SUICIDE-CHALLENGE des Clubs wurde ich innerhalb von 23 Stunden durch 23 Aufgaben auf die finale Herausforderung vorbereitet, nämlich auf meinen eigenen selbst herbeigeführten Tod.

JETZT BIN ICH ENDLICH BEREIT UND WERDE ES TATSÄCHLICH TUN.

Die 23. und vorletzte Aufgabe bestand darin, diesen Abschiedsbrief zu verfassen. Nachdem ich ihn zum Beweis an NEMESIS, meinen TODESENGEL und dunklen Begleiter, geschickt habe, der mich bis zum Ende und schließlich ins Licht geleitet, wird er mir mitteilen, wo und wie ich mich umbringen soll.

Ich bedanke mich hiermit bei NEMESIS und auch beim Administrator des CLUBS DER TOTEN GESICHTER. Ohne euch hätte ich es nie geschafft!

Lebt wohl und seid nicht traurig über meinen Tod, denn es war meine eigene freiwillige Entscheidung.

Euer CHRISTIAN

Anja ließ sich in ihrem Stuhl zurücksinken und dachte über das soeben Gelesene nach.

Es sah wahrhaftig so aus, als hätte Stumpf vorgehabt, sich aufgrund seines Liebeskummers das Leben zu nehmen. Fragte sich nur, ob er es bereits getan hatte und letzten Endes auch erfolgreich gewesen war. Denn offensichtlich wollte er längst tot sein, wenn dieser Brief gefunden wurde.

Doch was hatte es mit dem Club der toten Gesichter, der ominösen Suicide-Challenge und dem erwähnten Todesengel und dunklen Begleiter namens Nemesis auf sich?

Anja erinnerte sich, vor einigen Monaten einen Artikel über ein sogenanntes Selbstmordspiel aus Russland gelesen zu haben, das sich Blue Whale nannte. Durch dieses vorgebliche Social-Media-Spiel wurden Jugendliche, die an Depressionen litten, zum Suizid verleitet. Allein in Russland sollte das Selbstmordspiel nach offiziellen Angaben mehr als 90 Jugendliche das Leben gekostet haben. Weitere Fälle waren zunächst aus Kirgisien und Kasachstan, später aus Polen und den baltischen Staaten und schließlich auch aus Ungarn, Bulgarien und Frankreich bekannt geworden. Dann war es den Behörden gelungen, den Administrator der Seite zu verhaften.

Das Selbstmordspiel Blue Whale funktionierte folgendermaßen: Sobald die Jugendlichen sich angemeldet hatten, stellte ihnen ein selbsternannter Vormund fünfzig Aufgaben; jeden Tag eine neue. Die Teilnehmer wurden beispielsweise aufgefordert, um 4:20 Uhr aufzustehen und aufs Dach des Hauses zu steigen. Oder sie sollten sich einen Tag lang Horrorfilme ansehen oder etwas in den Arm ritzen. Die Jugendlichen mussten die Erfüllung jeder Aufgabe durch Fotos oder Videos an ihren Vormund nachweisen. Erst dann ging es ins nächste Level des Spiels. Die Herausforderungen wurden mit jeder Stufe härter, um sie auf das Ziel, den Selbstmord nach fünfzig Tagen, vorzubereiten. Gewinner des Spiels war, wer alle Aufgaben absolvierte und sich schließlich das Leben nahm.

Aus dem, was Stumpf in seinem Abschiedsbrief geschrieben hatte, ging Anja davon aus, dass es sich bei dem obskuren Club der toten Gesichter um etwas ganz Ähnliches handeln musste. Doch anstelle eines Vormunds gab es hier einen Todesengel namens Nemesis. Und die Suicide-Challenge dauerte auch nicht fünfzig Tage, sondern nur 24 Stunden. Allerdings schien es auch das Ziel dieses Clubs oder Spiels zu sein, dass der Spieler sich am Ende das Leben nahm.

Da Anja es in ihrem Aufgabenbereich immer wieder mit selbstmordgefährdeten Menschen zu tun hatte – nicht nur junge Leute, sondern auch Erwachsene –, wusste sie, dass die allermeisten suizidalen Jugendlichen nicht wirklich sterben wollten. Allerdings konnten sie durch sogenannte Selbstmordspiele manipuliert werden. Zunächst wurden sie willkommen geheißen und umgarnt. Düstere Texte, traurige Musik und furchtbare Bilder vermittelten ihnen die Botschaft, dass es sich nicht lohnte, am Leben zu bleiben. Und wer das Spiel dennoch vorzeitig beenden wollte, erhielt Drohnachrichten und wurde nach und nach in Angst und Panik versetzt.

Anja öffnete an ihrem Dienstcomputer den Browser und gab Club der toten Gesichter in die Suchmaschine ein. Sie erhielt jedoch keinen direkten Treffer und runzelte daher irritiert die Stirn. Wenn es diesen Selbstmordclub tatsächlich gab, dann musste er auch zu finden sein, denn wie sollte er sonst Mitglieder bekommen. Andererseits wollten die Betreiber oder Hintermänner möglicherweise gar nicht so leicht gefunden werden, weil sie nicht ins Blickfeld der Öffentlichkeit oder ins Visier der Ermittlungsbehörden geraten wollten. In dem Fall wurde die Adresse womöglich nur unter der Hand weitergegeben, sodass nur vertrauenswürdige Personen und potentielle Mitglieder sie in die Finger bekamen.

Die Kriminalbeamtin öffnete daher am Laptop den Browser, den der vermisste Student bevorzugt hatte, und sah in der Chronik nach. Sie hoffte, dass Stumpf sie nicht gelöscht hatte. Und ausnahmsweise hatte sie sogar Glück. In der Chronik war eine Reihe von Webseiten aufgeführt, die Stumpf vor seinem Verschwinden besucht hatte. Die meisten waren uninteressant und brachten Anja nicht weiter. Doch dann entdeckte sie am unteren Ende der Liste einen Eintrag, der genau wie das Verzeichnis, in dem sie den Abschiedsbrief gefunden hatte, CdtG hieß. Wie sie inzwischen wusste, war das die Abkürzung für Club der toten Gesichter. Offenbar legten die Betreiber des Clubs viel Wert auf Diskretion und wollten keine unnötige Aufmerksamkeit bei den falschen Leuten erregen. Kein Wunder, schließlich wollten sie depressive Menschen mit einer Suicide-Challenge zum Selbstmord anspornen und anleiten.

Anja gab die Adresse der Webseite in den Browser ihres Dienstcomputers ein.

Bingo!, dachte sie, als sie im oberen Teil der Seite in bluttriefender Schrift die Worte Club der toten Gesichter las. Der Internetauftritt war düster aufgemacht und hauptsächlich in den Farben Schwarz, Dunkelgrau und Rot gehalten. Auf beiden Seiten der Überschrift flackerten animierte Kerzen. Darunter war ein Sarg abgebildet, den ein Kreuz schmückte.

Subtil sieht anders aus!

Alles – die Farben, die Bilder und die Animationen – war übertrieben, kitschig und geschmacklos. Anja hatte zwar keine Lautsprecher, konnte sich aber vorstellen, dass darüber hinaus im Hintergrund schwermütige Musik gespielt wurde. Oder Lieder, die vom Selbstmord handelten oder diesen glorifizierten. Wenn dieser ominöse Club der toten Gesichter nicht ausgerechnet im Abschiedsbrief eines Mannes Erwähnung gefunden hätte, der seit vorgestern vermisst wurde, und damit bitterernst zu nehmen war, dann hätte Anja darüber lachen können. Doch unter den gegebenen Umständen war ihr nicht danach.

Anja scrollte die Seite nach unten und entdeckte unterhalb des Sarges mit dem Kreuz einen Begrüßungstext:

Willkommen, Suchender, auf der Internetseite des »Clubs der toten Gesichter«.

Bist du des Lebens überdrüssig? Siehst du keinen Sinn mehr in deinem trostlosen irdischen Dasein? Bist du auf der Suche nach Hilfestellung für deinen selbstbestimmten Freitod?

Wenn du auch nur eine einzige dieser Fragen mit Ja beantwortet hast, dann bist du hier bei uns goldrichtig. Mit unserer »Suicide-Challenge« bereiten wir dich Schritt für Schritt geradezu spielerisch auf den Selbstmord vor. In 23 Stufen innerhalb von ebenso vielen Stunden erhältst du von unseren Todesengeln das nötige Rüstzeug, um anschließend erfolgreich dein todtrauriges Leben zu beenden.

Alles, was du dafür tun musst, besteht darin, dich anzumelden. Mehr ist nicht nötig! Zögere also nicht länger, denn je früher du aktiv wirst und an unserer »Suicide-Challenge« teilnimmst, desto eher wirst du diese erbärmliche Existenz aus Schmerzen und Leid hinter dir lassen können und ins Licht aufsteigen.

Umgehend nach deiner Anmeldung wird sich einer unserer erfahrenen Todesengel mit dir in Verbindung setzen, um dich unter seine Fittiche zu nehmen. Er wird dir dann auch die Spielregeln der »Suicide-Challenge« erläutern.

Bist du dir noch nicht sicher, ob du wirklich unserem Selbstmordclub beitreten willst?

Dann sieh doch einfach mal in unserer »Suicidal Hall of Fame« nach. Dort findest du die Bilder sämtlicher Mitglieder, die die Challenge bislang erfolgreich absolviert haben.

Melde dich sofort an – schon nach 24 Stunden kannst auch du Teil unserer »Suicidal Hall of Fame« sein und damit gewissermaßen unsterblich werden.

Anja schüttelte den Kopf über diesen Blödsinn. Aber anscheinend gab es tatsächlich Leute, die darauf hereinfielen. Unter Umständen würde sie anders darüber denken, wenn sie depressiv wäre oder im Moment in einem Stimmungstief stecken würde.

Sie suchte nach einem Impressum, fand jedoch keins. Damit hatte sie auch nicht unbedingt gerechnet, und alles andere hätte sie auch verwundert.

Außer der Hauptseite gab es nur noch zwei weitere Seiten. Eine beinhaltete ein Formular für die Anmeldung, die andere war die erwähnte Ruhmeshalle. Anja entschied sich zunächst für die zweite Alternative.

Die »Suicidal Hall of Fame« bestand aus einem guten Dutzend Fotos. Die eine Hälfte der Aufnahmen war schwarzweiß und stammte aus Zeitungen; die übrigen waren Farbfotos. Unter keinem der Bilder, die keine bestimmte Reihenfolge oder Ordnung aufwiesen, sondern kreuz und quer auf der Seite verteilt waren, stand ein Name.

Anja entdeckte rechts oben sofort ein Bild von Christian Stumpf. Es zeigte ihn von der Seite; er schien in ein Gespräch mit einer anderen Person verwickelt zu sein, die man aber nicht sehen konnte.

Sie seufzte tief. Wenn man der Webseite und Stumpfs Abschiedsbrief glauben konnte, die sich auf makabre Weise ergänzten, hatte der Student die Suicide-Challenge mittlerweile erfolgreich absolviert. Das bedeutete, dass er längst tot war. Anjas Bemühungen, ihn lebend zu finden, waren daher aller Voraussicht nach von vornherein zum Scheitern verurteilt. Doch solange seine Leiche nicht gefunden worden war, wollte Anja nicht einfach aufgeben und die Hände in den Schoß legen. Stattdessen würde sie ihren Job erledigen und nach ihm suchen.

Die Kriminalbeamtin sah sich die anderen Fotos der Reihe nach an. Beim vorletzten stutzte sie, denn die Person, die auf dem Zeitungsfoto zu sehen war, war ebenfalls eine ihrer Vermissten.

3

Martina Schreiber war vor fünfzehn Tagen zum letzten Mal gesehen worden. Die 54-Jährige hatte nie geheiratet und war kinderlos geblieben. Sie war Schauspielerin und bewohnte eine kleine Wohnung in München-Schwabing. Ihr Bruder Reinhard meldete sie als vermisst, nachdem sie nicht zu einem vereinbarten Termin gekommen und auch telefonisch nicht zu erreichen gewesen war.

Reinhard Schreiber besaß zwar für derartige Notfälle einen Schlüssel zur Wohnung seiner Schwester, traute sich aber nicht, allein dorthin zu gehen. Er hatte panische Angst, er könnte ihre Leiche finden. Denn Martina Schreiber litt seit vielen Jahren unter Depressionen. Sie hatte in der Vergangenheit mehrmals geäußert, sie würde sich eines Tages das Leben nehmen. Vor anderthalb Jahren hatte sie es sogar versucht, indem sie eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt hatte. Da sie ihrem Bruder unmittelbar davor eine E-Mail geschickt hatte, in dem sie ihren Suizid angekündigt hatte, konnte sie gerettet werden. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus verbrachte sie auf eigenen Wunsch sechs Wochen in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Anschließend besuchte sie bis zu ihrem Verschwinden regelmäßig einen ambulanten Therapeuten.

Sowohl der Bruder als auch der Therapeut hatten bis vor fünfzehn Tagen gedacht, Martina Schreiber wäre nicht mehr akut selbstmordgefährdet. Ihr spurloses Verschwinden hatte sie dann eines Besseren belehrt. Allerdings hatte die Frau dieses Mal keine E-Mail mit der Ankündigung ihres Suizids an ihren Bruder geschickt. Und es war auch kein Abschiedsbrief gefunden worden.

Anja hatte sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Fahndungsmaßnahmen eingeleitet, war bei ihren Ermittlungen jedoch auf der Stelle getreten. Martina Schreiber gehörte zu den Vermissten, die im wahrsten Sinne des Wortes spurlos verschwanden. Da es weder Spuren noch Hinweise gab, denen die Kriminalbeamtin aktiv nachgehen konnte, hatte sie die Akte nach kurzer Zeit auf den Stapel mit den unerledigten Fällen legen müssen. Seitdem wartete sie darauf, dass sich in dem Fall etwas Neues ergab. Insgeheim war sie allerdings stets davon ausgegangen, dass sie erst dann wieder von der Frau hören würde, wenn man ihren Leichnam fand.

Doch nun war es doch anders gekommen. Statt ihrer Leiche tauchte ihr Bild in der sogenannten Ruhmeshalle eines Selbstmordclubs auf, über den Anja in einem anderen Vermisstenfall gestolpert war.

Nachdem Anja den ersten Schock halbwegs verdaut hatte, sah sie sich die übrigen Fotos noch einmal genauer an. Sie entdeckte jedoch kein weiteres Gesicht, das ihr vertraut vorkam.

Anschließend kehrte sie zur Eingangsseite zurück und überlegte, was sie jetzt tun sollte.

Ich sollte mich selbst in diesem Club anmelden. Mal sehen, was dann passiert.

Sie klickte den ersten Menüpunkt an und gelangte zum Anmeldeformular. Darin wurde neben ihrem vollständigen Namen und dem Geburtsdatum eine Reihe weiterer Angaben verlangt. Anja hatte allerdings nicht vor, ihre wahre Identität preiszugeben. Sie wollte sich stattdessen als fünfzehnjähriges Mädchen ausgeben. Also dachte sie sich kurzerhand einen falschen Namen aus und trug ihn in die dafür vorgesehenen Felder ein. Als Adresse gab sie ein Hochhaus in Moosach an, in dem eine ehemalige Schulfreundin gewohnt hatte. In dem Haus gab es so viele Parteien und ständige Mieterwechsel, dass die Initiatoren des Clubs der toten Gesichter schon persönlich hingehen und alle Briefkästen überprüfen mussten, um den Schwindel zu durchschauen. Bevor sie ihre E-Mail-Adresse eingab, richtete sie bei einem kostenlosen Anbieter einen neuen Account ein. Die Angabe der Telefonnummer war freiwillig. Darüber war Anja froh, denn sonst hätte sie ihre echte Handynummer verwenden müssen, was sie nicht wollte. Am Ende überprüfte sie alles noch einmal gründlich und schickte die Anmeldung dann ab.

Die Wartezeit verkürzte sie sich, indem sie ihre anwesenden Kollegen anrief und bat, sich die Bilder in der Suicidal Hall of Fame anzusehen. Dazu diktierte sie ihnen die Adresse der Seite. Während diese damit beschäftigt waren, sah sie die Aktenstapel auf dem Schreibtisch ihres Bürokollegen durch. Denn da Braun nicht da war, konnte sie ihn nicht fragen, ob ihm eines der Fotos bekannt vorkam. Sie fand jedoch in seinen offenen Fällen keine vermisste Person, die Ähnlichkeit mit einem der Fotos auf der Internetseite hatte.

Dann rief einer ihrer Kollegen zurück.

»Ich habe einen Treffer erzielt«, sagte Josef Fuchsner.

Anja rief erneut die Seite mit der vermeintlichen Ruhmeshalle auf. »Welches Foto ist es denn?«

»Das Zeitungsfoto unten in der Mitte.«

Anja sah es sich an. Es zeigte einen leicht übergewichtigen Mann mit Halbglatze. Anhand des körnigen Zeitungsfotos konnte sie nur schwer einschätzen, wie alt er war; sein Alter konnte durchaus zwischen vierzig und sechzig Jahren liegen.

»Wie heißt er«, fragte Anja, während sie ihr Notizbuch öffnete und den Kugelschreiber in die Hand nahm.

»Sein Name ist Stefan Greinwald. Fünfundfünfzig Jahre alt. Fernfahrer. Geschieden. Eine erwachsene Tochter, zu der er in den letzten Jahren allerdings kaum noch Kontakt hatte.«

Anja notierte sich alles. »Wann ist er verschwunden?«

»Vor zweieinhalb Wochen. Sein Arbeitgeber meldete ihn als vermisst, nachdem er nicht zur Arbeit gekommen war und man zwei Tage lang vergeblich versucht hatte, ihn zu erreichen.«

»Und?«, fragte Anja erwartungsvoll. »Was glaubst du, was mit ihm geschehen ist?«

»Ich ging von Anfang an davon aus, dass er sich möglicherweise etwas angetan hat. Und sein Foto in dieser sogenannten Suicidal Hall of Fame bestätigt mich nur in meiner Vermutung.«

»Gibt es weitere Anhaltspunkte für eine Suizidversion?« Anja dachte dabei vor allem an einen Abschiedsbrief. Manchmal legten Personen, die sich umbringen wollten, aber auch ihre Testamente oder andere wichtige Unterlagen bereit, damit die Angehörigen nicht danach suchen mussten.

»Der Mann war schwerkrank. Nachdem er vier Jahrzehnte lang jeden Tag ein bis zwei Schachteln Zigaretten geraucht hatte, bekam er vor einem halben Jahr bei einem Arztbesuch die Quittung, als bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert wurde.«

Anja dachte nach. Bislang waren drei der Personen in der Suicidal Hall of Fame des Clubs der toten Gesichter identifiziert worden. Alle wurden vermisst. Und bei allen stand aus unterschiedlichen Gründen der begründete Verdacht im Raum, sie könnten sich etwas angetan haben.

Fuchsner versprach, ihr demnächst die Akte vorbeizubringen, damit sie sich selbst ein Bild des Vermisstenfalls machen konnte. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.

Kaum hatte Anja den Hörer aus der Hand gelegt, bekam sie den nächsten Anruf. Dieses Mal von einer Kollegin namens Sarah Neuner, die nur drei Jahre älter als sie war.

»Du glaubst es nicht, aber ich habe einen der Vermissten wiedererkannt«, sagte sie, als könnte sie es selbst noch nicht fassen. »Es handelt sich um das Zeitungsfoto ein Stück links vom Zentrum der Seite.«

Anja sah sich das Bild an. Es zeigte einen etwa vierzigjährigen Mann mit lockigen dunklen Haaren und einem Vollbart. »Name?«

»Erhard Bader, neununddreißig Jahre alt. Er ist Musiker, hat aber seit Jahren keine feste Anstellung und hält sich deshalb mit Gelegenheitsjobs und Straßenmusik über Wasser. Seine Mutter meldete ihn vor zehn Tagen als vermisst. Sie hatte ihn zum Essen zu sich nach Hause eingeladen, was sie regelmäßig tut. Als er nicht kam, rief sie bei ihm an, doch er ging nicht an den Apparat. Sie fuhr anschließend zu seiner Wohnung, für die sie einen Schlüssel hat. Doch er war nicht da. Als er auch am nächsten Tag noch immer unauffindbar blieb, wandte sie sich an die Polizei.«

»Hattest du schon eine Vermutung, was ihm widerfahren sein könnte?«, fragte Anja, hatte aber bereits eine Ahnung, was sie zu hören bekommen würde.

»Ehrlich gesagt, tippte ich von Beginn an auf Suizid. Deshalb hat es mich auch nicht wirklich überrascht, sein Foto auf der Seite dieses komischen Selbstmordvereins zu finden. Nach Angaben seiner Mutter war er schon seit Jahren seines Lebens überdrüssig, wie sie es ausdrückte. Die große Musikerkarriere war ihm verwehrt geblieben. Außerdem gelang es ihm immer seltener, als Musiker genug Geld für seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er war auf ihre Unterstützung angewiesen, verachtete sich aber gleichzeitig dafür. Andererseits war er aber auch zu stolz, öffentliche Mittel in Anspruch zu nehmen. Im Grunde rechnete die Mutter ständig damit, dass er sich irgendwann einmal umbringt, weshalb sie sein Verschwinden auch nicht überrascht hat. Wenn man jahrelang fest mit einem Ereignis rechnet, dann ist es vermutlich sogar eine Erleichterung, wenn es schließlich eintritt, auch wenn es im Grunde furchtbar ist.«

Während Anja noch mit Sarah Neuner sprach, klopfte es an der Tür. Lukas Brandstetter, ein zehn Jahre älterer Kollege, der im Nebenzimmer arbeitete, kam herein. Er hatte eine Vermisstenakte bei sich, sodass Anja sofort wusste, aus welchem Grund er gekommen war.

»Ich muss Schluss machen«, sagte Anja. Sie bedeutete Brandstetter, Platz zu nehmen. »Ich komme nachher vorbei und hol mir die Akte, Sarah. Danke für den Anruf.«

Sie legte auf und sah Brandstetter, einen etwas korpulenten Mann mit kurzen vorzeitig ergrauten Haaren und einem Schnauzbart, erwartungsvoll an. »Lass mich raten. Du hast eine der Personen in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs erkannt.«

Er nickte lächelnd. »Da bin ich wohl offenbar nicht der Einzige.« Mit hochgezogenen Augenbrauen deutete er auf das Telefon.

»Ja.« Anja erzählte ihm von den anderen Fällen und zeigte ihm auf dem Monitor die entsprechenden Zeitungsfotos. »Und was hast du für mich?«

Er legte die Akte vor ihr auf den Schreibtisch, sodass sie den Namen darauf lesen konnte, und sagte: »Markus Lehner, 57 Jahre alt, war bis zu seiner Frühpensionierung Finanzbeamter. Vor drei Jahren ist er an Knochenkrebs erkrankt. Keine Aussicht auf Heilung. Seine Lebenserwartung beträgt nach Aussage seines Arztes voraussichtlich nur noch wenige Monate. Die Wohnungsnachbarin erzählte mir, dass er in letzter Zeit oft von Selbstmord gesprochen habe. Im Nachhinein meinte sie, dass es in letzter Zeit durchaus so klang, als habe er sogar schon konkrete Pläne gehabt. Sie hat aber nicht ernsthaft damit gerechnet, dass er auch den Mumm hätte, es zu tun. Nachdem sie ihn ein paar Tage lang nicht gesehen hatte, begann sie sich Sorgen um ihn zu machen und rief die Polizei. In der Wohnung fand man jedoch keine Spur von ihm. Da er als suizidgefährdet gilt, wurde Vermisstenanzeige erstattet, und der Fall landete bei uns.«

Während Brandstetter sie über die wichtigsten Details in Kenntnis gesetzt hatte, hatte Anja die Akte aufgeschlagen und sich die Fotos des vermissten Mannes angesehen. Dann hatte sie in der Ruhmeshalle des Selbstmordclubs nach seinem Konterfei gesucht und es auch rasch gefunden. Es handelte sich ebenfalls um das körnige Schwarzweißfoto aus einer Tageszeitung, das vermutlich zu einer öffentlichen Fahndung nach dem Vermissten gehört hatte.

»Seit wann ist er verschwunden?«

»Er wurde vor acht Tagen zum letzten Mal gesehen.«

»Angehörige?«

»Einen Bruder, der in Norddeutschland lebt. Die beiden hatten in den letzten Jahren aber keinen Kontakt mehr. Seine Frau ist vor fünf Jahren gestorben, und der einzige Sohn kam vor fast dreißig Jahren bei einem Badeunfall ums Leben.«

»Tragisch!«

Brandstetter nickte. »Wie bist du überhaupt auf diesen ominösen Selbstmordclub gestoßen?«

Sie erzählte es ihm.

»Du solltest zum Chef gehen«, sagte Brandstetter anschließend. Der Chef war Polizeirat Alexander Zumbruch, der Leiter der Vermisstenstelle und damit ihr unmittelbarer Dienstvorgesetzter. »Da die Fotos der Vermissten auf dieser Seite auftauchen und diese Leute eindeutig alle suizidgefährdet waren, besteht meiner Meinung nach ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen den Fällen. Da ist es vermutlich vorteilhafter, wenn die Bearbeitung all dieser Fälle in einer Hand liegt.«

»Und wenn du von einer Hand redest, meinst du vermutlich meine Hand.« Anja winkte ab. »Ich habe mit meinen eigenen Fällen schon mehr als genug zu tun.«

»Wer hat das nicht?« Brandstetter grinste. »Und ehrlich gesagt hätte ich nichts dagegen, einen offenen Vermisstenfall auf diese Weise elegant loszuwerden. Aber darum geht es mir gar nicht.«

Anja nickte. »Du hast ja recht. Ich werde gleich zum Chef gehen und ihn bitten, die drei anderen Fälle an mich zu übertragen. Sobald ich das erledigt habe, hole ich mir die übrigen Akten von den Kollegen.«

»Dann viel Glück bei den Ermittlungen.« Brandstetter stand auf. »Ich hoffe, du bekommst den Kerl zu fassen, der hinter dieser Seite steckt. Sag Bescheid, wenn du dabei Hilfe benötigst.«

Sobald der Kollege ihr Büro verlassen hatte, machte sich Anja auf den Weg zu Polizeirat Zumbruch. Sie schilderte ihm mit knappen Worten die Vermisstenfälle. Anschließend zeigte sie ihm die Webseite des Clubs der toten Gesichter. Er stimmte mit ihr darin überein, dass es aufgrund der Fotos in der vermeintlichen Ruhmeshalle einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen den Fällen gab. Aus diesem Grund übertrug er ihr die Verantwortung für die Ermittlungen. Sollte sie Hilfe benötigen, versprach er ihr Unterstützung durch einen der Kollegen.

Auf dem Weg zurück in ihr Büro holte sie die beiden restlichen Vermisstenakten bei Sarah Neuner und Josef Fuchsner ab.

4

Als sie wieder an ihrem Schreibtisch saß, überprüfte sie sogleich das Postfach des E-Mail-Accounts, den sie unter falschem Namen eingerichtet hatte.

»Wer sagt’s denn?«, murmelte sie. Neben einer Begrüßungsmail des Betreibers, die sie ungelesen löschte, hatte sie noch eine weitere Nachricht erhalten. Sie stammte von jemandem, der sich Nemesis nannte, wobei unklar blieb, ob sich dahinter eine Frau oder ein Mann verbarg. Anja erinnerte sich an den Abschiedsbrief des vermissten Studenten. Darin hatte er ebenfalls einen Todesengel namens Nemesis erwähnt.

Anja las die E-Mail.

Hallo, Laura,

Freut mich, dass du den Weg zu uns gefunden hast und bereit bist, dich der »Suicide-Challenge« zu stellen. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.

Ich heiße Nemesis und bin dein Todesengel. Als Erstes werde ich dir die Regeln erklären. Anschließend begleite ich dich durch die gesamte Challenge, indem ich dir die Aufgaben stelle, die du zu bewältigen hast. Außerdem bin ich für die nächsten 24 Stunden dein Ansprechpartner und werde dir all deine Fragen beantworten, sofern ich dazu in der Lage bin.

Hier nun die Regeln, die strikt zu befolgen sind:

1. Die »Suicide-Challenge« besteht aus 24 Aufgaben, die innerhalb von ebenso vielen Stunden erfolgreich absolviert werden müssen.

2. Du darfst keiner Menschenseele etwas davon erzählen. Nicht einmal deiner besten Freundin oder deinen Eltern.

3. Du musst jede Aufgabe, die ich dir stellen werde, sorgfältig und wortgetreu erfüllen!

4. Sobald du eine Aufgabe erfolgreich absolviert und abgeschlossen hast, sendest du mir eine Nachricht mit einem Beweisfoto.

5. Nach jeder erfolgreich bestandenen Aufgabe erfolgt zur jeweils vollen Stunde die nächste, bis schließlich alle erfüllt wurden.

6. Am Ende der Challenge geht dein Todeswunsch in Erfüllung, und du wirst sterben! Damit hast du die Suicide-Challenge erfolgreich bewältigt. Dann wird auch dein Foto in die »Suicidal Hall of Fame« aufgenommen.

Du kannst mir dafür gern ein Foto von dir mailen. Wenn nicht, ist das auch nicht tragisch. Dann nehme ich einfach ein Foto aus der Zeitung. Beispielsweise, wenn du vermisst wirst und nach dir gesucht wird. Oder aus deiner Todesanzeige.

Das war’s auch schon für den Anfang.

Bist du bereit?

Anja verfasste sofort eine Antwort.

Hallo Nemesis,

herzlichen Dank für die freundlichen Worte und deine Hilfe. Tut mir echt leid, aber ich weiß noch gar nicht, ob ich überhaupt schon bereit bin zu sterben. Ich habe Angst! Was, wenn ich mittendrin aussteigen und die Challenge abbrechen will. Geht das?

Anja schickte die Nachricht ab. Während sie auf eine Antwort wartete, öffnete sie die Akte des vermissten Fernfahrers Stefan Greinwald, der an Lungenkrebs litt und als Erster verschwunden war.

Doch sie kam mit dem Aktenstudium nicht weit, denn als sie nach einer Minute zum ersten Mal aufblickte, hatte sie bereits eine Antwort von Nemesis bekommen.

Du kannst jetzt nicht mehr aufhören und die »Suicide-Challenge« abbrechen, denn die hat bereits mit deiner Anmeldung begonnen. Von nun an gibt es weder einen Ausstieg noch einen Weg zurück.

Anja lächelte grimmig. Genauso hatte sie sich das vorgestellt. Die Betreiber des Clubs der toten Gesichter bedienten sich haargenau derselben Mittel wie andere Selbstmordclubs oder -spiele auch. Offensichtlich kopierten sie nur das Vorgehen ihrer Vorgänger. Der einzige Unterschied bestand darin, dass sich andere derartige Seiten ausschließlich an Jugendliche richteten, die natürlich leichter zu beeinflussen waren, und nicht an Erwachsene. Doch die Ruhmeshalle des Clubs bewies, dass der Masche mit der Suicide-Challenge auch Erwachsene auf den Leim gingen. Vermutlich, weil sie extrem verzweifelt waren und sich den Tod wünschten.

Grundsätzlich war Anja der Ansicht, dass jeder Erwachsene das Recht hatte, über das eigene Leben und den eigenen Körper zu bestimmen. Aus diesem Grund konnte er sich gegebenenfalls selbst das Leben nehmen, wenn er sich für diesen Weg entschlossen hatte. Auch in ihrem Leben hatte es eine Phase gegeben, in der sie immer wieder mit dem Tod geliebäugelt hatte, den sie in Gestalt einer Packung Schlaftabletten im Spiegelschrank ihres Badezimmers aufbewahrt hatte. Doch im Laufe ihrer Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers hatte sie diese latente Todessehnsucht erfolgreich überwunden.

Die Hintermänner des Clubs der toten Gesichter richteten sich aber nicht nur an Erwachsene. Auch Kinder und Jugendliche konnten auf die Webseite gelangen und sie lesen. Und sie konnten sich sogar problemlos anmelden, denn auch Anja hatte sich bei ihrer Anmeldung als fünfzehnjähriges Mädchen ausgegeben. Und dennoch hatte sich der Todesengel Nemesis bei ihr gemeldet, damit sie die Challenge durchführte. Sie war daher fest entschlossen, diesen Leuten das Handwerk zu legen. Doch dazu musste sie unbedingt herausfinden, wer hinter diesem Internetauftritt steckte und wer sich hinter ihrem Todesengel verbarg.

Sie schrieb eine kurze E-Mail an Nemesis.

Was, wenn ich trotzdem aussteigen will?

Die Antwort kam weniger als zwei Minuten später.

Ich habe dir doch schon mitgeteilt, dass du nicht aussteigen kannst. Dein Weg ist von nun an vorgezeichnet und führt ohne Umwege in den Tod. Das wolltest du doch! Deshalb hast du dich doch in unserem Club angemeldet! Glaub mir, jeder hat ein bisschen Muffensausen, wenn der Tod endlich greifbar nahe ist. Das ist völlig normal und sollte dich daher auch nicht beunruhigen.

Vertrau mir!

Vertraust du mir?

Anja antwortete:

Ich weiß nicht, ob ich dir vertrauen kann. Ich kenne dich doch gar nicht! Wer bist du eigentlich? Wenn ich wüsste, mit wem ich es zu tun habe, würde es mir vermutlich leichter fallen. Erzähl mir bitte etwas von dir.

Nemesis schrieb nahezu postwendend zurück.

Tut mir leid, aber ich darf dir nichts über mich erzählen, so gerne ich’s auch täte. Es verstößt gegen die Regeln, wenn ein Todesengel gegenüber einem Teilnehmer der Challenge seine wahre Identität oder Informationen über sich preisgibt.

Du musst mir einfach blind vertrauen! Schließlich wollen wir doch beide dasselbe: deinen Tod.

Also lass uns nicht länger zögern, sondern endlich anfangen. Die Zeit läuft!

Bist du jetzt bereit?

Anja schüttelte den Kopf.

»So einfach mache ich es dir nicht, Schätzchen!«, murmelte sie.

Wäre schön gewesen, wenn Nemesis ihr etwas über sich selbst verraten hätte. Allerdings hatte Anja nicht ernsthaft damit gerechnet.

Sie überlegte kurz und verfasste dann eine Antwort-Mail.

Ich weiß nicht, ob ich bereit bin. Als ich mich angemeldet habe, habe ich nicht erwartet, dass es sofort losgeht. Können wir es nicht noch etwas verschieben?

Nemesis’ Reaktion erfolgte innerhalb kürzester Zeit.

Anja hatte das Gefühl, dass ihr Todesengel allmählich wütend wurde. Aber genau das hatte sie beabsichtigt. Sie wollte ihn aus der Reserve locken. Womöglich machte er in seiner Wut einen Fehler und verriet mehr, als er ursprünglich wollte, sodass Anja endlich einen Anhaltspunkt für ihre Ermittlungen in die Hand bekam.

Ich habe dir doch schon mitgeteilt, dass es kein Zurück mehr gibt. Das hättest du dir überlegen sollen, bevor du dich angemeldet hast.

Zweifel und Ängste sind normal, aber die musst du jetzt überwinden und hinter dir lassen. Und genau dafür ist die Challenge da.

Du willst doch sterben, sonst hättest du nicht die Seite unseres Clubs besucht und dich angemeldet.

Und meine Aufgabe ist es, dir dabei zu helfen, dich umzubringen.

Mit der Anmeldung hast du in gewissem Sinne einen unkündbaren Vertrag mit uns abgeschlossen. Ziel dieses Vertrages ist dein Tod. Und der wird hundertprozentig spätestens in 23 Stunden und 34 Minuten eintreten, ob nun mit deiner Hilfe oder auch ohne dein Zutun.

Endlich ließ Nemesis die Katze aus dem Sack, denn das war eine eindeutige Todesdrohung.

Doch als Laura gab sich Anja weiterhin ahnungslos.

Was meinst du mit »auch ohne dein Zutun«? Was hat das zu bedeuten?

In ihrer nächsten Nachricht wurde Nemesis konkreter.

Stell dich bitte nicht dümmer, als du bist, Laura!

Wir wissen schließlich durch die Daten deiner Anmeldung, wo du wohnst. Also kannst du dich auch nicht vor uns verstecken. Wenn du nicht zur Challenge antrittst oder vor der finalen Aufgabe aussteigst, sind wir gezwungen, selbst die Initiative zu ergreifen.

Kann ja sein, dass du einen Bruder oder eine Schwester hast, die du liebst. Du möchtest doch nicht, dass ihm oder ihr etwas zustößt, oder? Auf dem Weg in die Schule oder den Kindergarten kann schließlich viel passieren.

Und was ist mit deinen Eltern?

Und wage es bloß nicht, jemandem etwas von uns zu erzählen. Vor allem deinen Eltern, Lehrern und der Polizei solltest du unter keinen Umständen etwas sagen. Wir werden auf jeden Fall davon erfahren. Dann wirst es nicht nur du bereuen, sondern alle, die dir etwas bedeuten, werden dafür büßen.

Aber jetzt haben wir lange genug geplaudert und kostbare Zeit vertrödelt. Lass uns endlich anfangen.

Hier ist deine erste Aufgabe. Sie ist nicht schlimm und sollte daher auch für dich kein Problem sein.

Schreibe dir mit einem wasserfesten Stift die Ziffern 4:20 auf den Unterarm.

Du hast noch eine halbe Stunde Zeit, um die Aufgabe zu bewältigen. Und vergiss nicht, mir ein Beweisfoto zu schicken.

Anja wusste, dass die Teilnehmer der Blue Whale Challenge oft aufgefordert worden waren, um 4:20 Uhr in der Nacht aufzustehen und irgendwelche haarsträubenden Dinge zu tun. Die Ziffern hatten die Betreiber der Suicide-Challenge also einfach von ihrem berühmt-berüchtigten Vorgänger übernommen. Doch Laura konnte das unter Umständen nicht wissen, deshalb gab sich Anja ahnungslos.

Was bedeuten die Ziffern 4:20?

Anja grinste, als sie die Mail abschickte.

Die Antwort erfolgte prompt.

Stell gefälligst nicht weiterhin überflüssige Fragen, sondern tu endlich, was ich dir mitgeteilt habe! Wir haben genug Zeit verschwendet. Außerdem habe ich auch noch andere Teilnehmer, um die ich mich kümmern muss. Das ist schließlich kein Debattier-, sondern ein Selbstmordclub.

Ich warte!

Den Hinweis auf andere Teilnehmer fand Anja interessant. Es musste ihr gelingen, an Nemesis heranzukommen und mehr über sie zu erfahren, um ihre wahre Identität herauszufinden. Denn je eher diesen Leuten das Handwerk gelegt wurde, desto besser. Doch momentan schien Nemesis nicht in der Stimmung zu sein, etwas über sich zu verraten. Deshalb beschloss Anja, ihr den Gefallen zu tun und die erste Aufgabe zu erfüllen. Unter Umständen ergab sich im weiteren Verlauf der Challenge eine Möglichkeit, mehr zu erfahren, wenn Nemesis der Meinung war, Lauras Widerstand wäre gebrochen und sie würde jetzt endlich alles tun, was sie sagte. Deshalb würde Anja erst einmal mitspielen und sich bemühen, die Aufgaben zur Zufriedenheit ihres Todesengels zu erfüllen. Vorausgesetzt, sie schadete damit weder anderen noch sich selbst.

Anja hatte allerdings nicht vor, die erste Challenge buchstabengetreu zu erfüllen. Es musste schließlich nur überzeugend genug wirken, um Nemesis zu täuschen und zufriedenzustellen.

Anstelle eines wasserfesten Stifts nahm sie daher einen Folienschreiber mit abwaschbarer schwarzer Tinte und schrieb 4:20 auf ihren linken Unterarm. Dann machte sie mit ihrem Smartphone ein Foto und schickte es an die Mail-Adresse ihres imaginären Lockvogels Laura. Anschließend hängte sie es an die Nachricht, die sie Nemesis schrieb.

Ich kann es nicht glauben, aber ich hab es tatsächlich getan! Anliegend das Beweisfoto, das du verlangt hast. Irgendwie fühle ich mich jetzt sogar ein bisschen besser. Befreit sozusagen. Ergibt das für dich irgendeinen Sinn?

Nemesis antwortete:

Natürlich ergibt das einen Sinn. Du wirst dich mit jeder Aufgabe, die du erfolgreich absolviert hast, und mit jeder Stufe, die dich deinem Ziel – dem Tod – näher bringt, besser und befreiter fühlen.

Ich habe das schon oft bei anderen erlebt, die ich in den Tod begleiten durfte. Wirf doch mal einen Blick in die »Suicidal Hall of Fame«. Den Leuten, die du dort siehst, erging es anfangs ähnlich wie dir. Dennoch haben sie es schließlich geschafft. Und schon bald wird dein Foto neben den anderen zu sehen sein.

Bravo! Die erste Aufgabe hast du geschafft. In 22 Minuten werde ich dir die nächste stellen. Mach dich bereit!

Sobald Anja Nemesis’ letzte Nachricht gelesen hatte, wischte sie sich mit Speichel und einem Papiertaschentuch die Schrift vom Unterarm. Anschließend ging sie ins Internet und suchte nach Informationen über den Namen ihres Todesengels.

Nemesis war in der griechischen Mythologie die Göttin des gerechten Zorns oder der ausgleichenden Gerechtigkeit. Heutzutage verstand man darunter allerdings eher einen ewigen Gegenspieler oder Erzrivalen. Außerdem stand der Name Nemesis für einen persönlichen Todesengel oder Todfeind, einen personifizierten Todesbringer oder eine tödliche Bedrohung.

Die Wahl des Namens passte also, denn diejenigen, die bei anderen Selbstmordspielen Vormund genannt wurden, waren hier im wahrsten Sinne des Wortes personifizierte Todesbringer.

Anja schloss den Browser und griff zum Telefon. Sie rief bei einem Kollegen in der Cybercrime-Abteilung an, mit dem sie ein paar Mal zu tun gehabt hatte und den sie ein bisschen besser kannte als seine Kollegen. Cybercrime war unter anderem für die EDV-Beweismittelsicherung und -auswertung und die Telekommunikationsüberwachung zuständig. Sie setzte ihn davon in Kenntnis, dass sie den Laptop eines vermissten Studenten vorbeibringen lassen würde, damit er auf Herz und Nieren untersucht werden konnte. Außerdem gab sie ihm die Internetadresse des Clubs der toten Gesichter und bat ihn, mehr über den oder die Betreiber der Seite herauszufinden.

Als es an der Zeit für Nemesis’ nächste Nachricht mit der zweiten Aufgabe der Suicide-Challenge war, sah sie in Lauras Postfach und öffnete die Mail, die vor wenigen Augenblicken dort eingegangen war.

Hallo, Laura,