TODESSPIEL - Eberhard Weidner - E-Book
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Eberhard Weidner

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Beschreibung

Die achtzehnjährige Psychologiestudentin Zoe Bergmann ist auf dem Weg von ihrem Elternhaus in Nürnberg zu ihrer Studentinnen-WG in München. Obwohl sie nicht gern bei Dunkelheit fährt, konnte sie erst sehr viel später als geplant losfahren. Außerdem regnet es in Strömen, sodass sie bereits überlegt, ob sie rechts ranfahren und das Ende des starken Regens abwarten soll. Aber dann wird der Regen schwächer, und sie fährt weiter. Doch plötzlich steht ein riesig wirkender Mann im Schlafanzug und mit einem merkwürdigen Hut auf dem Kopf mitten auf der Straße und zwingt Zoe zum Ausweichen. Allerdings gerät ihr Wagen auf der regennassen Straße ins Schleudern, kommt von der Straße ab und prallt gegen einen Baum. Nach dem Aufprall ist Zoe zwar etwas benommen, ansonsten aber unverletzt. Doch ihre Freude darüber ist nur von kurzer Dauer. Denn im selben Augenblick, als sie sich an den Mann erinnert, der ihr Ausweichmanöver verschuldet hat, fühlt sie sich beobachtet. Als Zoe daraufhin den Kopf wendet, um aus dem Seitenfenster zu schauen, blickt sie direkt in das Gesicht des Mannes, der sie wie ein debiler Irrer angrinst. Erst aus der Nähe sieht Zoe, was die Krempe des Hutes, der Regen und die Dunkelheit bislang vor ihr verborgen haben. Und was sie sieht, gleicht eher einem Albtraum als einem menschlichen Gesicht. Zoe schreit gellend und wünscht sich sehnlichst, sie hätte den Mann überfahren … Nachdem die Studentin von ihren Eltern vermisst gemeldet wurde, landet der Fall zwei Tage später auf dem Schreibtisch von Anja Spangenberg. Die Kriminalhauptkommissarin bei der Vermisstenstelle der Kripo München beginnt sofort zu ermitteln und befragt als Erstes Zoes Mitbewohnerinnen und Eltern.

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Seitenzahl: 326

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INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

PROLOG

1

2

3

4

5

6

7

8

EPILOG

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

PROLOG

Tag 1: NEMESIS

1

2

PROLOG

Ungefähr auf halber Strecke fing es schließlich an, heftig zu regnen.

»Muss das denn jetzt auch noch sein?«, fragte Zoe Bergmann. Sie verdrehte die Augen, seufzte genervt und schaltete den Scheibenwischer an.

Sie bekam allerdings keine Antwort, da sie allein im Wagen saß.

Zoe war achtzehn Jahre alt, mittelgroß, schlank und zierlich. Sie hatte lange rotblonde Haare und grüne Augen. Ursprünglich stammte sie aus Nürnberg, lebte aber seit acht Monaten in einer Studenten-WG in München, wo sie im zweiten Semester Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität studierte. Da ihre Mutter Ulrike am gestrigen Samstag ihren fünfundvierzigsten Geburtstag gefeiert hatte, hatte sie das Wochenende in ihrem Elternhaus im Nürnberger Stadtteil Gebersdorf verbracht.

Eigentlich hatte sie heute schon viel früher zurück nach München fahren wollen, denn sie mochte es nicht, wenn sie in der Dunkelheit mit dem Auto längere Strecken fahren musste. Doch dann war am späten Nachmittag überraschend ihre beste Freundin Patricia vorbeigekommen, die in Nürnberg Jura studierte und die sie vor drei Monaten zum letzten Mal gesehen hatte. Da die Freundinnen sich viel zu erzählen und dabei nicht auf die Zeit geachtet hatten, war es bereits dunkel geworden, als Zoe endlich losgekommen war.

Zum Glück kannte Zoe die Strecke; sie war sie schon ein paar Mal gefahren, seit sie von zu Hause ausgezogen war. Es wäre natürlich viel einfacher gewesen, wenn sie die Autobahn genommen hätte. Das wäre nicht nur viel schneller gegangen, sie hätte sich auch nicht so intensiv auf die Strecke konzentrieren müssen. Doch da sie eine stark ausgeprägte Autobahn-Phobie hatte, musste sie den umständlicheren und zeitaufwendigeren Weg über die Bundesstraße 13 nehmen.

Und als hätte sich an diesem Tag alles gegen sie verschworen, um ihr das Leben schwerzumachen, hatte es jetzt auch noch zu regnen begonnen. Und der Regen wurde mit jeder verstreichenden Minute stärker.

Na prima!

Sie stellte den Scheibenwischer auf eine höhere Stufe und machte das Radio aus. Die leise Musik und das gelegentliche Gequatsche des Moderators, auf die sie ohnehin kaum noch geachtet hatte, gingen ihr auf die Nerven und störten sie in ihrer Konzentration. Es war auch so schon schwer genug. Die Regentropfen, die mittlerweile so zahlreich und dicht fielen, dass sie wie ein fein gewebter Vorhang wirkten, und die Dunkelheit erschwerten die Sicht. Außerdem wurde das Scheinwerferlicht der Fahrzeuge, denen sie begegnete, von der regennassen Straße reflektiert und blendete sie. Allerdings war nur wenig Verkehr. Wer heute Abend nicht unbedingt irgendwohin musste, blieb bei diesen Witterungsverhältnissen lieber zu Hause.

Zoe umklammerte das Lenkrad mit beiden Händen so fest, dass ihre Fingerknöchel schon ganz durchscheinend waren. Sie saß aufrechter als sonst hinter dem Steuer und spürte bereits erste Verspannungen in der Schulter-, Nacken- und Rückenmuskulatur. Sie überlegte, ob sie bei nächster Gelegenheit rechts ranfahren und anhalten sollte, um das Ende des Regens abzuwarten. Doch da sie nicht wusste, wie lange es regnen würde, ließ sie es vorerst bleiben. Sie wollte diese Albtraumfahrt eigentlich so schnell wie möglich hinter sich bringen und endlich nach Hause. Zoe schwor sich daher, nächstes Mal besser auf die Zeit zu achten, damit sie rechtzeitig losfahren konnte.

Allerdings hatte sie noch einen weiteren Grund, sich zu beeilen. Sonntags war in ihrer WG traditionsgemäß immer Filmabend. Das bedeutete, dass eins der drei Mädels, die sich die Wohnung teilten, einen Film aussuchte und sie ihn dann alle gemeinsam bei Popcorn und Cola ansahen. Nachdem ihre Mitbewohnerin Antonia vor ein paar Wochen einen absolut trashigen Film angeschleppt hatte, versuchten sich die drei jungen Frauen seitdem darin zu übertreffen, den schwachsinnigsten Film überhaupt zu finden. Heute war erneut Antonia an der Reihe, und Zoe war schon gespannt, welches »Meisterwerk der Filmkunst« sie diesmal ausgewählt hatte. Doch um das zu erfahren, musste sie erst einmal zu Hause ankommen.

Unmittelbar bevor sie losgefahren war, hatte Zoe in der WG angerufen. Katharina, ihre andere Mitbewohnerin, war an den Apparat gegangen.

»Wo bist du gerade?«, fragte Kati, die natürlich wusste, dass Zoe ungern im Dunkeln mit dem Auto fuhr, und daher annahm, sie würde bald kommen.

»Du wirst es nicht glauben, aber ich bin noch gar nicht losgefahren.«

»Was? Wieso denn nicht.«

Zoe seufzte tief. »Das erzähle ich Antonia und dir, wenn ich da bin. Ich wollte eigentlich nur Bescheid sagen, dass ich später komme. Ihr müsst mit dem Film also nicht unbedingt auf mich warten.«

»Natürlich warten wir auf dich, keine Frage«, erwiderte Katharina empört. »Ohne dich macht es doch ein Drittel weniger Spaß.«

Zoe lachte. »Hast du das ausgerechnet? Da spricht wohl die angehende Lehrerin für Mathematik und Physik. Aber ich meine es ernst. Ihr könnt ruhig ohne mich anfangen. Bei dem miesen Film, den Antonia vermutlich wieder ausgesucht hat, macht es ohnehin nichts aus, wenn man die erste halbe oder dreiviertel Stunde verpasst.«

»Das stimmt. Trotzdem fangen wir nicht ohne dich an, denn du sollst genauso leiden wie ich. Außerdem kommt Antonia auch später.«

»Wieso? Hat sie sich etwa in den zwei Tagen, in denen ich nicht da war, schon wieder einen neuen Freund geangelt?« Im Gegensatz zu ihren Mitbewohnerinnen verliebte sich Antonia alle naselang aufs Neue, entliebte sich allerdings auch ebenso schnell wieder, wenn der erste Rausch nach ein paar Tagen abgeklungen war.

»Nein. Aber sie hat sich spontan mit ein paar Kommilitonen getroffen und meinte, dass es ein bisschen später werden könnte. Du kannst dir also ruhig Zeit lassen und musst dich nicht abhetzen. Fahr lieber langsam und vorsichtig. Den Filmabend können wir notfalls auch verschieben. Wichtiger ist, dass du gesund und wohlbehalten hier ankommst.«

»Bei deiner Sorge um mein Wohlbefinden wird mir ja ganz warm ums Herz, Kati.«

»Wieso Sorge um dein Wohlbefinden? Ich denke rein pragmatisch. Allein können Antonia und ich uns die Miete für die Wohnung nicht leisten. Und wer weiß, wie schnell wir einen Ersatz für dich finden, der noch dazu miserable Filme mag.«

»Wer sagt, dass ich miserable Filme mag? Ich seh sie mir nur an, um euch einen Gefallen zu tun. Aber jetzt sollte ich endlich losfahren, sonst wird es noch später.«

»Und fahr bloß vorsichtig. Es soll später noch regnen.«

»Bloß nicht!«, sagte Zoe und stöhnte. »Das würde mir zu meinem Glück noch fehlen.«

»Vielleicht bleibt es ja ausgerechnet dort, wo du fährst, trocken.«

»Drück mir die Daumen.«

»Mach ich. Bis später dann.«

Zoe hatte sich verabschiedet und das Gespräch beendet. Dann war sie endlich losgefahren.

Jetzt musste sie natürlich wieder an Katis Worte denken, während sie durch den immer heftiger werdenden Regen fuhr. Sie hatte ihre Geschwindigkeit bereits beträchtlich reduziert, um sie den Wetter- und Straßenverhältnissen anzupassen; dennoch fühlte sie sich unsicher.

Vielleicht ist es doch besser, ich fahre rechts ran und warte, bis der Regen aufhört oder wenigstens schwächer wird.

Allmählich fand sie immer größeren Gefallen an dieser Idee. Deshalb hielt sie Ausschau nach einer Möglichkeit, bei der sie die Straße verlassen und irgendwo parken konnte.

Sie überlegte, ob sie ein Stoßgebet gen Himmel schicken sollte, damit der Regen endlich aufhörte. Aber derartige Hilferufe an den sogenannten lieben Gott hatten schon vor Jahren nicht funktioniert, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Damals hatte sie viel und nahezu bei jeder Gelegenheit gebetet. Ihre Mutter hatte ihr immer und immer wieder gesagt, sie sollte sich an Gott wenden, wenn sie ein Problem hatte. Und das hatte sie auch ausgiebig getan; auch wenn ihre Mutter vermutlich nicht damit einverstanden gewesen wäre, dass Zoe Gott ständig um ganz banale Dinge bat. Beispielsweise dass sie endlich einen Hund oder einen kleinen Bruder bekam. Ihre inständigen Bittgebete waren allerdings kein einziges Mal erhört worden. Zuletzt hatte Zoe als vierzehnjähriger Teenager eine halbe Nacht lang zu Gott gebetet, nachdem ihre Großmutter väterlicherseits nach einem Schlaganfall ins Krankenhaus eingeliefert worden war. Sie hatte ihn heulend angefleht, die alte Frau, an der sie sehr hing, unbedingt am Leben zu lassen. Außerdem hatte sie geschworen, dass sie sich nie, nie mehr an ihn wenden würde, sollte er ihr diesen Herzenswunsch ebenfalls nicht erfüllen. Oma Brigitte starb in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages; und Zoe hatte von einem Tag auf den anderen aufgehört, an Gott zu glauben und zu ihm zu beten.

Ihre Mutter, die ausgesprochen religiös war und mit ihrem Mann regelmäßig in die Kirche ging, wusste nicht, dass ihr einziges Kind längst vom Glauben abgefallen war. Bislang hatte Zoe nicht den Mut gehabt, es ihr zu sagen, denn dann, so befürchtete sie, würde für die Frau vermutlich eine Welt zusammenbrechen. Deshalb hatte Zoe mit ihren Eltern am heutigen Vormittag auch den Gottesdienst besucht und so getan, als würde ihr das Ganze noch etwas bedeuten. Und wenn sie ihre Mutter damit glücklich machen konnte, waren gelegentliche Kirchgänge ein geringer Preis.

Jetzt wünschte sich Zoe beinahe, sie könnte noch immer an einen gütigen und barmherzigen Gott glauben, der sie aus dieser schwierigen Situation errettete, indem er Petrus auf dem kurzen Dienstweg anwies, sofort die Himmelsschleusen zu schließen. Ein entsprechendes Bittgebet wäre zwar, wie sie aus bitterer Erfahrung wusste, nicht erfüllt worden, aber das Beten allein hatte ihr als Kind stets Trost gespendet. Doch sie hatte nach dem Tod ihrer Großmutter geschworen, es nie wieder zu tun, und bislang hatte sie in ihrem ganzen Leben noch keinen einzigen Schwur gebrochen. Also würde sie nicht ausgerechnet heute damit anfangen, obwohl sie sich hinter dem Steuer des Wagens immer unsicherer und unbehaglicher fühlte.

Schon seit einiger Zeit war ihr kein Fahrzeug mehr entgegengekommen. Und auch vor oder hinter ihr fuhr kein Wagen. Es hatte ganz den Anschein, als wäre sie mutterseelenallein auf weiter Flur. Und noch immer hatte sich keine Möglichkeit ergeben, in eine Nothaltebucht oder auf einen Rastplatz zu fahren.

Doch dann schien der Regen plötzlich nachzulassen, und Zoe atmete erleichtert auf. Vielleicht hörte der Schauer bald auf und es war gar nicht notwendig, dass sie anhielt.

Ihr Smartphone, das in der Mittelkonsole des Wagens lag, pfiff und signalisierte ihr damit, dass sie eine WhatsApp-Nachricht erhalten hatte. Wenn es noch immer so heftig wie vor wenigen Augenblicken geregnet hätte, hätte Zoe es nicht gewagt, das Telefon in die Hand zu nehmen. Doch jetzt fühlte sie sich wieder sicherer und eher als Beherrscherin der Situation. Deshalb nahm sie die rechte Hand vom Lenkrad und griff nach dem Handy.

Sie vermutete, dass die Nachricht von einer ihrer Mitbewohnerinnen stammte. Und tatsächlich: Antonia teilte ihr und Kati mit, dass sie in etwa einer Stunde nach Hause kommen würde.

Das passt zeitlich, dachte Zoe. Sie schätzte, dass sie, wenn der Regen noch mehr nachließ oder sogar ganz aufhörte, in eineinviertel bis anderthalb Stunden in der Studenten-WG ankommen würde. Zufrieden lächelnd legte sie das Smartphone zurück und hob den Kopf, um wieder durch die Windschutzscheibe auf die Straße zu blicken.

Es war der Moment, an dem ihr Herz zu schlagen aufhörte und sie daran erinnerte, dass sie sterblich war.

Was zum Teufel …?, dachte sie und glaubte, ihren Augen nicht trauen zu können. Denn etwa hundert Meter vor dem Wagen stand jemand mitten auf der Straße.

Die folgenden Sekunden dehnten sich in Zoes Wahrnehmung wie ein ausgelutschter, zäher Kaugummi zu einer halben Ewigkeit. Sie glaubte, ihr Herz hätte ihr den Dienst aufgekündigt und würde überhaupt nicht mehr zu schlagen anfangen. Außerdem war sie vor Schreck wie gelähmt und konnte nichts anderes tun, als die Gestalt anzustarren, die im Scheinwerferlicht stand, scheinbar völlig furchtlos dem heransausenden Wagen entgegenblickte und nicht die geringsten Anstalten machte, zur Seite zu gehen und sich in Sicherheit zu bringen.

In der gefühlten halben Ewigkeit, die verstrich, nahm sie zahlreiche Eindrücke von ihm auf, als sähe sie ihn wie durch eine riesige Lupe genauer und detaillierter als seine Umgebung, die von der Dunkelheit und dem Regen vor ihren Blicken verborgen wurde.

Bei der Person handelte es sich unzweifelhaft um einen Mann. Er schien riesig zu sein, nach Zoes Schätzung mindestens zwei Meter groß, und war breitschultrig und massig gebaut. Von seinem Gesicht war nicht viel zu erkennen, denn er trug einen schwarzen Hut mit einem roten Hutband, der ihm viel zu klein war und den er sich zum Schutz vor dem Regen tief in die Stirn gezogen hatte. Außerdem hatte er einen dunklen Vollbart, der die untere Hälfte seines Gesichts verbarg.

Der Mann erinnerte Zoe unwillkürlich an den Räuber Hotzenplotz, vor dem sie sich als Kind gefürchtet hatte. Ihre Mutter hatte ihr damals das Buch vorlesen wollen. Doch nachdem sie der sechsjährigen Zoe das Titelbild gezeigt hatte, hatte sich diese geweigert, auch nur ein einziges Wort anzuhören. Sie hatte die Augen fest zugemacht, sich die Zeigefinger in die Ohren gesteckt und ganz laut »Fuchs, du hast die Gans gestohlen« gesungen. Erst nachdem ihre Mutter das Buch aus dem Haus gebracht und in die Mülltonne geworfen hatte, hatte sich Klein-Zoe wieder beruhigt.

Im Hier und Jetzt passte allerdings die Kleidung des Mannes nicht zum Bild des von ihr damals so gefürchteten Räubers, denn er trug etwas, das wie ein zu groß geratener weißer Kinderschlafanzug mit buntem Aufdruck aussah, und war trotz des herrschenden Sauwetters barfuß.

Welcher Anstalt ist der denn entsprungen?

In der unglaublich kurzen Zeitspanne von drei Sekunden, die Zoe allein dafür benötigte, um all das wahrzunehmen und die Lähmung zu überwinden, die sie beim Anblick des Mannes erfasst hatte, überwand ihr Wagen bereits die Hälfte der Distanz zwischen ihnen. Zum Glück hatte sie die Geschwindigkeit zuvor schon auf 60 km/h reduziert gehabt, sonst wäre sie ihm inzwischen schon viel näher und hätte vermutlich keine Zeit mehr gehabt, rechtzeitig zu reagieren und auszuweichen.

Im gleichen Augenblick, als ihr Herz wieder zu schlagen anfing, was sie nur beiläufig, aber dennoch mit großer Erleichterung zur Kenntnis nahm, kam auch in den Rest ihres Körpers wieder Leben. Ohne lange darüber nachzudenken, was sie tun sollte, denn das hätte erneut wertvolle Zeit gekostet, die sie nicht hatte, tat sie drei Dinge gleichzeitig, um die sich anbahnende Katastrophe im letzten Moment noch abzuwenden. Erstens: Sie riss das Lenkrad nach rechts. Zweitens: Sie trat das Bremspedal durch, bis sie auf Widerstand traf. Drittens: Sie schickte trotz ihres Schwurs vor vier Jahren per Expresszustellung ein Stoßgebet gen Himmel, auf dass der Gott, an den sie sich damals zu glauben geweigert hatte, es bitte, bitte, bitte verhindern möge, dass sie diesen selbstmörderisch veranlagten Mann mit seinem dämlichen Hut über den Haufen fuhr.

Doch das Fahrzeug reagierte nicht so, wie sie es sich erhofft und ausgemalt hatte. Durch den heftigen Regen war die Fahrbahn überspült worden und mittlerweile fast so glatt wie eine Seifenbahn. Dadurch geriet das Auto sofort ins Schleudern und kreiselte um die eigene Achse. Zoe wurde schon nach der ersten Drehung schwindelig. Sie versuchte, den Wagen zu stabilisieren, doch er reagierte überhaupt nicht mehr auf ihre Lenkbewegungen. Dann erhaschte sie einen kurzen Blick auf den Mann, der sich allem Anschein nach keinen einzigen Millimeter von der Stelle bewegt hatte, als ihr Auto ihn knapp verfehlte und an ihm vorbei kreiselte.

Danke, lieber Gott!, dachte sie, als zum ersten Mal in ihrem Leben ein Gebet tatsächlich erhört wurde. Doch dann musste sie sich wieder auf das unkontrollierbare Fahrzeug konzentrieren. Sie spürte, wie es von der Straße abkam. Sobald die Vorderreifen den Asphalt verließen, hörte die Schleuderbewegung abrupt auf. Dennoch rutschte das Fahrzeug noch immer zu schnell über den leicht abschüssigen, unebenen Untergrund. Es brach durch mehrere Büsche, ohne dadurch allerdings merklich langsamer zu werden. Dann sah Zoe im Scheinwerferlicht einen Baumstamm vor dem Auto auftauchen. Sie wollte das Lenkrad herumreißen, um ihm auszuweichen, doch es war zu spät. Es krachte, splitterte und klirrte ohrenbetäubend laut, als die linke Frontseite des Wagens mit dem Baum kollidierte, und das Fahrzeug kam sofort ruckartig zum Stillstand.

Den Bruchteil eines Augenblicks später gab es einen ohrenbetäubend lauten Knall, als die Airbags ausgelöst wurden. Unter ihnen auch der Frontairbag im Lenkrad, der sich in wenigen Millisekunden komplett entfaltete und aufblies und Zoes Körper, der durch den Aufprall nach vorn geschleudert worden war, zusammen mit dem Sicherheitsgurt stoppte.

Zoe stöhnte laut, als sich der Gurt schmerzhaft in ihren Oberkörper grub und sie mit dem Gesicht gegen den prallen Airbag stieß. Doch der entleerte sich augenblicklich wieder, sobald er seine Aufgabe erfüllt hatte, und wurde schlaff.

Nach all dem Lärm empfand Zoe die Stille, die nun folgte, zunächst als vollkommen. Doch dann konnte sie das Prasseln des Regens auf dem Dach und das Ticken des rasch abkühlenden Metalls hören.

Sie stöhnte erneut, als sie, noch immer halb benommen, den Kopf hob. Ihr Brustkorb und ihr Gesicht taten weh; doch es war nicht sehr schlimm. Und ansonsten schien ihr nichts zu fehlen. Es sah also ganz danach aus, als hätte sie großes Glück gehabt und den Unfall dank Sicherheitsgurt und Airbag halbwegs unverletzt überstanden. Es hätte aber auch leicht anders ausgehen können.

Und das alles nur, weil dieser Idiot mitten auf der Straße stand!

Jäh wurde sich Zoe wieder des merkwürdigen Mannes bewusst, der den verhängnisvollen Geschehensablauf der letzten Minute erst ausgelöst hatte, indem er sich mitten auf die Fahrbahn gestellt hatte. Die alte, längst vergessen geglaubte Furcht vor dem Räuber aus einem Kinderbuch, dessen schlimmstes Vergehen es gewesen war, der Großmutter des Kasperls eine Kaffeemühle zu rauben, wurde erneut in ihr wach.

Obwohl sie den Unfall nahezu unbeschadet überstanden hatte, fühlte sie sich noch immer in Gefahr. Gleichzeitig hatte sie plötzlich das überwältigende Gefühl, beobachtet zu werden.

Zoe wandte den Kopf, um aus dem Seitenfenster zu schauen und blickte direkt in das Gesicht des Mannes, an den sie soeben gedacht hatte. Er stand gebückt neben dem Wagen, presste seine knollenartige Nase und beide Hände gegen die Scheibe und grinste wie ein debiler Irrer. Erst jetzt, aus unmittelbarer Nähe, sah Zoe, was die Hutkrempe, die Dunkelheit und der Regen bislang gnädigerweise vor ihr verborgen hatten. Und was sie sah, glich eher einem Albtraum als einem menschlichen Gesicht.

Sie schrie gellend und wünschte sich, ihr Stoßgebet von vorhin wäre wie all die anderen ebenfalls nicht in Erfüllung gegangen und sie hätte den Mann überfahren.

Das hast du jetzt davon, du dumme Kuh!

Der Mann verzog bei Zoes Schrei das verunstaltete Gesicht zu einer Grimasse, einer Mischung aus Schmerz und Wut, und knurrte dabei laut. Dann trat er einen Schritt zurück, riss die Tür auf und schlug Zoe kurzerhand mit der rechten Faust gegen die linke Schläfe.

Zoe verlor zwar nicht das Bewusstsein, verstummte aber dennoch. Sie war benommen. Ihr Kopf pendelte haltlos auf ihrem Hals hin und her, und sie stöhnte leise. Sie sah nur noch verschwommen und nahm jedes Geräusch gedämpft wahr.

Der Hüne beugte sich in den Wagen und löste Zoes Gurt. Anschließend hob er sie ohne Mühe vom Fahrersitz. Als er sie aus dem Fahrzeug holte, fiel ihr Kopf nach hinten und kollidierte mit einem Gegenstand, der sich wesentlich härter als ihr Schädel anfühlte.

Zoe spürte einen intensiven Schmerz und war überzeugt, dass ihr soeben die Schädeldecke gespalten worden war. Doch sie hatte keine Zeit, länger darüber nachzudenken oder auch nur Bedauern darüber zu empfinden, denn schon im nächsten Augenblick versanken der Angreifer, das Auto und alles andere um sie herum in tiefster Finsternis, die am Ende wie ein unersättliches Ungeheuer auch noch sie selbst verschluckte.

1

Auf die weiß lackierte Wohnungstür hatte jemand, der künstlerisch nur mittelmäßig begabt war, mit sämtlichen Farben, die ein gewöhnlicher Farbkasten hergab, die Vornamen der drei Bewohnerinnen gepinselt: Antonia, Katharina und Zoe. Auf dem Klingelschild neben der Tür standen hingegen die dazugehörigen Nachnamen: Bergmann, Richter und Wallner. Es sah aus wie der Name einer renommierten Anwaltskanzlei; in Wahrheit handelte es sich um drei Studentinnen. Aus der Akte der vermissten jungen Frau wusste sie, welcher Vorname zu welchem Nachnamen gehörte und setzte sie wie ein Puzzle zusammen: Zoe Bergmann, Antonia Wallner und Katharina Richter.

Sie drückte auf die Klingel und wartete. Rasche Schritte näherten sich der Tür und verstummten unmittelbar dahinter; dann wurde sie geöffnet.

»Hallo, ich bin Anja Spangenberg. Wir haben miteinander telefoniert.«

Die junge Frau, die der Kriminalhauptkommissarin von der Vermisstenstelle der Kripo München die Tür geöffnet hatte, war etwas mollig und geradezu winzig. Anja schätzte ihre Größe auf höchstens eins zweiundfünfzig und überragte sie damit um ganze zwanzig Zentimeter. Sie konnte nicht älter als achtzehn Jahre sein, hatte kurz geschnittenes, dunkelblondes Haar und strahlend blaue Augen. Neben einer schlabbrigen grauen Jogginghose, die ihr ein paar Nummern zu groß war, trug sie ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bin nicht klein, ich bin nur auf das Beste reduziert«. Sie hatte ein Tattoo am rechten Oberarm, von dem Anja allerdings nur einen Teil sah, und ein Piercing im linken Nasenloch.

Die junge Frau kniff die Augen zusammen und beugte sich nach vorn, als sie gewissenhaft den Dienstausweis studierte, den Anja ihr entgegenhielt. Vielleicht benötigte sie eine Brille, war aber zu eitel, eine zu tragen. Sie schien zufrieden mit dem zu sein, was sie auf dem Ausweis gesehen hatte, denn schließlich nickte sie und erwiderte Anjas Blick. Dann streckte sie dieser ihre kleine, zierliche Hand entgegen und sagte mit einem Lächeln: »Wir haben sie bereits erwartet. Mein Name ist Antonia Wallner. Es war meine Mitbewohnerin Kati, mit der sie am Telefon geredet haben.« Sie sprach mit niederbayerischem Dialekt und hatte eine hohe Stimme, die einem vermutlich auf die Nerven ging, wenn man ihr länger zuhören musste.

Aus der Vermisstenakte, die sie sich unter den linken Arm geklemmt hatte, kannte Anja zwar die Namen der beiden Frauen, mit denen Zoe Bergmann, die seit vorgestern vermisst wurde, in dieser Studenten-WG in der Balanstraße im Münchener Stadtteil Haidhausen zusammenlebte. Ansonsten wusste sie jedoch nicht viel über die Studentinnen.

Nachdem sie einen kurzen Händedruck ausgetauscht hatten, trat Antonia zur Seite und gab den Weg frei. »Kommen Sie schnell rein«, sagte sie und warf an Anja vorbei einen Blick auf die Eingangstür der gegenüberliegenden Wohnung. »Herr Lamprecht von gegenüber klebt bestimmt schon wieder an seiner Wohnungstür, ein Auge am Spion und ein Ohr gegen die Tür gepresst. Anatomisch ist das zwar unmöglich, der Mann schafft es aber trotzdem irgendwie. Er ist Rentner, hat viel zu viel Zeit und ist darüber hinaus furchtbar neugierig. Außerdem verdächtigt er uns, wir würden hier ein illegales Bordell betreiben und Unmengen von Drogen konsumieren. Wenn er mitkriegt, dass Sie von der Polizei sind, fühlt er sich in seinen Vermutungen nur bestätigt und schreibt mal wieder einen seitenlangen Brief an die Hausverwaltung, die Polizei und den Bundespräsidenten.«

Anja trat mit einem Lächeln ein und steckte ihren Dienstausweis in die Innentasche ihrer Lederjacke.

Antonia streckte dem möglichen unsichtbaren Beobachter hinter der Tür zur Nachbarwohnung die Zunge heraus, kicherte ausgelassen und schloss die Tür.

»Folgen Sie mir«, sagte sie dann und eilte so schnell davon, dass die Polizistin Mühe hatte, ihr zu folgen. Die junge Frau erinnerte Anja nicht nur wegen ihrer Größe an ein Kind, sondern auch aufgrund ihrer kindlichen Art und ihrer Lebhaftigkeit.

»Die Polizistin ist da, Kati«, sagte Antonia, als sie an mehreren geschlossenen Türen vorbeigekommen waren und das Wohnzimmer betraten.

Eine zweite junge Frau, die auf einem Ecksofa gesessen hatte, stand bei Anjas Eintreten auf und sah ihr gleichermaßen erwartungsvoll wie sichtlich nervös entgegen. Sie wirkte wesentlich älter als ihre kleine quirlige Mitbewohnerin, obwohl die beiden Studentinnen im gleichen Alter sein mussten. Auch sonst war sie das genaue Gegenteil von Antonia, denn sie war mindestens fünf Zentimeter größer als Anja und hatte eine schlanke, sportliche Figur. Ihr lockiges Haar, das bis über ihre Schultern fiel, war dunkelbraun, und die Farbe ihrer Augen bestand vorwiegend aus einem hellen Braun. Sie trug eine Brille mit blau-silbernem Rahmen und großen Gläsern, dunkelblaue Jeans und eine weiße Hemdbluse.

Als Anja näher kam, sah sie, dass die Augen der jungen Frau gerötet waren. Allem Anschein nach hatte sie erst vor Kurzem geweint. Antonia hingegen schien sich entschieden weniger große Sorgen um ihre verschwundene Mitbewohnerin zu machen, denn sie wirkte eher unbekümmert.

»Wir haben heute früh miteinander telefoniert«, sagte die zweite Studentin, als sie sich kurz die Hände schüttelten. »Ich bin Katharina Richter. Aber nennen Sie mich ruhig Kati, das tun alle.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte Anja. »Schön, dass Sie beide die Zeit gefunden habe, mich zu empfangen und meine Fragen zu beantworten.«

»Das ist doch selbstverständlich«, erwiderte Kati. »Wir machen uns nämlich große Sorgen um Zoe und wollen, dass sie so schnell wie möglich gefunden wird.«

»Du machst dir große Sorgen um Zoe«, schränkte Antonia ein, die sich mit untergeschlagenen Beinen auf die Eckcouch gesetzt hatte. »Ich hingegen denke, dass sie schon bald wieder auftaucht und wir uns keine allzu großen Sorgen um sie machen müssen.«

»Was glauben Sie denn, warum Zoe vorgestern Nacht nicht nach Hause gekommen ist und wo sie steckt, Antonia?«, fragte Anja.

Die Angesprochene zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt habe ich keinen blassen Schimmer. Aber ich glaube nicht, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist. Dafür ist Zoe viel zu vorsichtig.«

»Im Gegensatz zu dir!«, versetzte Kati, die noch immer stand und die Arme vor der Brust verschränkt hatte.

»Was willst du denn damit sagen?«

»Dass du ständig unvorsichtig bist. Es ist ein Wunder, dass du noch nicht spurlos verschwunden bist.«

»Pfft«, machte Antonia abfällig und schüttelte den Kopf. »Auch wenn es für Zoe und dich vielleicht nicht so aussieht, bin ich für meine Verhältnisse sehr wohl vorsichtig.«

»Ach ja?«, fragte Kati. »Und wieso gehst du dann ständig mit fremden Männern mit oder schleppst sie hierher.«

»Das sind keine fremden Männer«, widersprach Antonia. »Immerhin weiß ich ihre Vornamen, weil ich sie alle immer kurz vorher kennengelernt habe.«

»Für mich ist das fremd!«

»Kein Wunder. Für dich sind doch alle Männer Fremde.«

Kati schnappte empört nach Luft und riss Mund und Augen auf.

Anja beschloss, einzuschreiten, bevor der Streit eskalierte. Sie war nicht hier, um Zeuge einer verbalen Auseinandersetzung der beiden jungen Frauen zu werden. Sie konnten sich gerne weiter zanken, wenn sie wieder weg war. Aber so verschwendeten sie nur ihre Zeit.

»Beruhigen Sie sich gefälligst, und zwar alle beide«, sagte sie und schenkte sowohl der einen als auch der anderen einen strengen Blick. »Wir sollten uns stattdessen über Zoe unterhalten.«

Kati nickte. »Entschuldigen Sie. Sie haben vollkommen recht.« Sie wies auf den einzigen Sessel. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Wollen Sie etwas trinken? Viel Auswahl haben wir zwar nicht, weil wir noch nicht beim Einkaufen waren, aber ich kann Ihnen Pfefferminztee, Kaffee und Leitungswasser anbieten.«

»Nein danke«, lehnte Anja das Angebot ab und setzte sich. Sie legte die Vermisstenakte auf den Tisch, klappte ihr Notizbuch auf und nahm den Kugelschreiber, der in einer Lasche steckte. »Erzählen Sie mir doch einfach, was am Sonntag passiert ist«, kam sie sofort zur Sache.

Die beiden jungen Frauen sahen sich an, als wüssten sie nicht, welche von ihnen den Anfang machen und wo diejenige beginnen sollte. Der Streit von eben war scheinbar wieder vergessen. Wahrscheinlich kam das Thema öfter auf den Tisch, sodass es kein großer Aufreger mehr war.

»Am besten fängst du an, Kati!«, sagte Antonia. »Du warst zu Hause, als Zoe angerufen hat.«

Kati nickte. »Das stimmt.«

»Wann war das?«, fragte Anja.

»Es wurde schon dunkel, als sie anrief.« Kati überlegte kurz. »Ich würde sagen, das muss ungefähr um halb acht gewesen sein. Plus minus zehn Minuten.«

Anja notierte sich die Uhrzeit. »Worum ging es bei dem Gespräch?«

»Zuerst dachte ich, Zoe wollte nur Bescheid geben, dass sie bald da sei. Schließlich wissen alle, dass sie ungern mit dem Auto unterwegs ist, wenn es dunkel ist. Aber als ich fragte, wo sie sei, sagte sie, sie sei noch gar nicht losgefahren.«

»Warum nicht?«

»Ich weiß es nicht.« Kati zuckte mit den Schultern. »Sie wollte es uns später erzählen. Zoe meinte bloß, wir müssten nicht auf sie warten.«

»Womit? Hatten Sie an dem Tag noch etwas vor?«

»Sonntags ist immer unser gemeinsamer Filmabend«, antwortete Antonia, die nicht lange stillsitzen konnte und ständig auf dem Sofa herumzappelte und eine neue Sitzposition suchte, was Anja ein bisschen irritierte. »Das heißt, dass eine von uns dreien einen Film aussucht, den wir uns dann ganz klassisch mit viel Popcorn und Cola angucken. Und egal, wie grässlich der Film ist, jede muss ihn vom Anfang bis zum Ende ansehen.«

»In letzter Zeit versucht jede von uns, die anderen zu übertreffen, indem sie den miserabelsten Film aussucht«, sagte Kati. »Dreimal dürfen Sie raten, wer von uns damit angefangen hat.«

Anja wandte den Blick und sah Antonia an.

»Richtig!«, sagte Kati.

Antonia streckte ihrer Mitbewohnerin die Zunge heraus. »War doch eine supergute Idee, oder?«

Kati wiegte den Kopf hin und her. »Ich wollte ja eigentlich nichts sagen, um euch beiden den Spaß nicht zu verderben, aber meiner Meinung nach könnten wir ruhig auch mal wieder einen guten Film nehmen und nicht immer nur diesen anspruchslosen Mist.«

»Wenn du meinst«, sagte Antonia, schien aber alles andere als begeistert von dem Vorschlag zu sein und zog einen Schmollmund, der sie noch jünger wirken ließ.

»Lassen Sie uns auf Zoes Anruf zurückkommen«, meinte Anja. »Was erwiderten Sie auf ihren Vorschlag, nicht auf sie zu warten.«

»Ich sagte, dass wir auf keinen Fall ohne sie anfangen und Antonia ja auch später kommen würde.«

»Und wo waren Sie, Antonia?«

»Am Nachmittag rief mich Daniel – das ist ein Kommilitone – an und sagte, dass ein paar Studienkolleginnen und -kollegen zu ihm kommen. Er fragte, ob ich auch vorbeikommen wolle.«

»Was studieren Sie denn?«

»Medizin.«

»Können Sie sich Antonia als Ärztin vorstellen?«, fragte Kati. Ihr Tonfall und ihr skeptischer Gesichtsausdruck machten deutlich, dass zumindest sie mit dieser Vorstellung ihre Schwierigkeiten hatte. »Sie ist dann vermutlich die kleinste Ärztin der Welt.«

»Besser klein und auf das Beste reduziert als so ein langer Lulatsch wie du«, sagte Antonia, meinte es aber allem Anschein nach nicht böse, denn sie grinste dabei. »Und stell dir vor, ich würde wie du Gymnasiallehrerin für Mathe und Physik werden. Die meisten Schüler wären größer als ich und könnten mir auf den Kopf spucken. Dann schon lieber die kleinste Ärztin der Welt.«

Kati lachte. Anscheinend neckten sich die beiden Mitbewohnerinnen gern mit ihrer jeweiligen Körpergröße, die nur eins der auffälligsten Merkmale war, die sie voneinander unterschieden.

»Wann kamen Sie dann an Sonntag nach Hause?«, fragte Anja die Medizinstudentin.

»Ich glaube, das war um kurz nach zehn«, sagte Antonia und sah Kati hilfesuchend an.

Diese nickte. »Ja, das kommt ungefähr hin.«

»Ich dachte natürlich, Zoe wäre schon längst da«, sagte Antonia, »Aber das war sie nicht.«

»Um noch einmal auf das Telefonat zurückzukommen, Kati. Worüber sprachen Sie noch mit Zoe?«

Kati dachte ein paar Sekunden nach. »Ich sagte ihr, sie könne sich ruhig Zeit lassen und solle vorsichtig fahren. Sie fuhr nicht gern Auto, wenn es dunkel war. Aber das sagte ich ja schon. Außerdem hatte ich im Radio gehört, dass es noch regnen sollte. Das teilte ich Zoe mit. Sie war natürlich alles andere als begeistert und meinte, dass ihr das zu ihrem Glück noch fehlen würde.«

Antonia sagte: »Ich hab zwar im Gegensatz zu Zoe kein Problem damit, nachts Auto zu fahren. Aber wenn es dann auch noch wie aus Eimern schüttet, mag ich das auch nicht.«

»Wissen Sie zufällig, welche Strecke Zoe gefahren ist?«, fragte Anja. »Ich vermute mal, über die A 9, denn das ist die schnellste und kürzeste Verbindung zwischen Nürnberg und München.«

Beide Studentinnen schüttelten synchron die Köpfe.

»Zoe fuhr nicht nur nachts ungern«, sagte Antonia. »Sie hatte auch noch panische Angst vor Autobahnen. Wenn sie irgendwo mitfuhr, ging es gerade noch, obwohl sie auch da ständig Angst hatte. Aber sie selbst fuhr unter keinen Umständen auf der Autobahn.«

»Dann muss sie die Bundesstraße genommen haben«, sagte Anja, während sie sich Notizen machte. »Kennen Sie zufälligerweise die genaue Strecke.«

Kati schüttelte den Kopf. »Zoes Vater müsste darüber Bescheid wissen. Haben Sie schon mit den Eltern gesprochen?«

»Nein. Das steht allerdings als Nächstes auf dem Programm. Bei der Gelegenheit werde ich Zoes Vater nach der Strecke fragen. Zurück zu Ihrem Telefonat mit Zoe. Worüber haben Sie noch mit ihr gesprochen.«

Kati zuckte mit den Schultern. »Das war’s eigentlich schon, denn Zoe wollte endlich losfahren. Wir beendeten das Gespräch, und seitdem haben wir nichts mehr von ihr gehört.«

»Und danach hatten Sie beide keinerlei Kontakt mehr zu ihr?«

Kati nickte.

»Ich hab Zoe und Kati eine WhatsApp-Nachricht geschickt, um ihnen mitzuteilen, dass ich in einer Stunde nach Hause kommen würde«, sagte Antonia. »Aber Zoe hat nicht geantwortet.«

»Um welche Uhrzeit war das?«

»Um neun. Das weiß ich noch ganz genau. Später hab ich dann gesehen, dass Zoe die Nachricht gelesen hat.«

»Was haben Sie beide getan, nachdem Antonia nach Hause gekommen war?«

»Wir haben auf Zoe gewartet«, sagte Antonia nach einem Seitenblick auf ihre Mitbewohnerin.

»Aber sie kam nicht,« ergänzte Kati und bekam erneut feuchte Augen. »Und da begannen wir uns allmählich Sorgen zu machen.«

»Ich dachte, Sie machen sich keine Sorgen«, sagte Anja zu Antonia.

Die Angesprochene schüttelte den Kopf. »Ich sagte, dass ich mir keine allzu großen Sorgen um sie mache«, stellte sie richtig. »Aber ein bisschen schon. Vor allem am Sonntag. Schließlich hätte sie ja auch einen Unfall haben können.«

»Aber jetzt glauben Sie anscheinend nicht mehr daran, dass ein Unfall passiert ist.«

»In dem Fall hätte uns doch schon längst jemand informiert. Immerhin saß Zoe in ihrem Wagen, der auf sie zugelassen ist, und hatte wie immer ihre Papiere dabei.«

Anja nickte. Einen Verkehrsunfall hielt sie ebenfalls für ein eher unwahrscheinliches Szenario. Denn erstens hatte Antonia recht, dass in dem Fall die Angehörigen oder die Mitbewohnerinnen längst benachrichtigt worden wären. Und zweitens hatte sie, nachdem ihr der Vermisstenfall heute früh zugewiesen worden war, umgehend alle Unfallkliniken zwischen hier und Nürnberg kontaktiert. Doch eine Person, auf die Zoes Beschreibung passte, war nirgendwo eingeliefert worden.

Das teilte sie jetzt auch den beiden jungen Frauen mit.

»Ich habˈs ja gleich gesagt«, meinte Antonia und warf ihrer Mitbewohnerin einen triumphierenden Blick zu.

»Das beruhigt mich zwar ein bisschen«, sagte Kati. »Es stellt sich aber immer noch die Frage, was dann mit Zoe geschehen und warum sie noch immer nicht aufgetaucht ist.«

»Vielleicht hat sie einen rattenscharfen Anhalter aufgelesen und sich mit ihm ein Hotelzimmer genommen«, vermutete Antonia. »Dann hätte sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen können. Erstens hätte sie nicht bei Dunkelheit und Regen weiterfahren müssen. Und zweitens hätte sie auch noch jede Menge Spaß gehabt.«

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht.« Kati schüttelte ungläubig den Kopf. »Schließlich reden wir hier von Zoe. Wenn du verschwunden wärst, wäre das eine ganz andere Geschichte. Dann wäre so ein Szenario durchaus denkbar. Aber doch nicht Zoe!«

»Stimmt«, sagte Antonia. »So etwas würde die heilige Zoe nie im Leben tun.«

»Außerdem war das vorgestern Nacht«, gab Kati zu bedenken. »Selbst wenn sie irgendwo geparkt und im Auto geschlafen oder sich über Nacht irgendwo ein Zimmer genommen hätte, um nicht weiterfahren zu müssen, hätte sie spätestens gestern Vormittag heimkommen müssen. Deshalb muss ihr irgendetwas zugestoßen sein. Nur was?« Sie sah Anja an, als hätte diese als Ermittlerin der Vermisstenstelle eine Antwort auf ihre Frage.

Doch Anja konnte ihr keine Antwort geben, sondern allenfalls Vermutungen äußern. Doch noch wusste sie zu wenig über Zoe Bergmann und die Umstände ihres Verschwindens. Ihre Vermutungen wären daher nicht mehr als reine Spekulation. Deshalb gab sie der Studentin keine Antwort.

Antonia sah nun ebenfalls so aus, als würde sie sich langsam doch größere Sorgen um ihre Mitbewohnerin machen.

»Sie müssen Zoe finden!«, sagte sie ungewohnt ernsthaft.

»Genau das habe ich vor«, sagte Anja, »Aber um herauszufinden, was geschehen ist und wo Zoe steckt, muss ich alles erfahren, was Sie mir über Ihre Mitbewohnerin erzählen können.«

»Was wollen Sie noch wissen?«, fragte Kati.

»Sie sagten, dass Sie sich am Sonntag in der Nacht immer größere Sorgen um Zoe machten.«

Kati nickte. »Wir haben immer wieder versucht, sie auf ihrem Handy anzurufen, aber sie ging nicht ran.«

»Außerdem schickte ich ihr mehrere Nachrichten«, ergänzte Antonia. »Die wurden aber nicht einmal gelesen.«

»Als es Mitternacht war«, übernahm wieder Kati, »war ich schon ganz krank vor Sorge. Ich hatte es satt, einfach nur auf Zoe zu warten, und sagte, dass wir etwas unternehmen sollten. Antonia war da viel gelassener. Sie meinte, wegen des schlechten Wetters und der Dunkelheit werde es eben etwas länger dauern, bis Zoe nach Hause kommt.«

Antonia zuckte mit den Schultern. »Wie ich schon sagte: Wenn sie einen Verkehrsunfall gehabt hätte, hätte man uns bestimmt benachrichtigt.«

»Um ein Uhr nachts hielt ich es dann nicht länger aus. Ich sagte, dass ich Zoes Eltern anrufen wolle. Antonia riet mir allerdings davon ab. Vermutlich schliefen die Bergmanns schon, sagte sie. Ich würde sie aufwecken und wahrscheinlich völlig grundlos in Unruhe versetzen.«

»Ich ging noch immer davon aus, dass Zoe jeden Moment zur Tür hereinspaziert käme. Und sie würde bestimmt nicht wollen, dass wir ihre Eltern wegen nichts in Panik versetzen.«

»Sie kam aber nicht zur Tür hereinspaziert«, sagte Kati. »Und um halb zwei habe ich dann ihre Eltern angerufen. Sie schliefen tatsächlich schon. Doch nachdem ich ihnen mitgeteilt hatte, dass Zoe noch nicht zurückgekommen wäre, bedankte sich Herr Bergmann bei mir und sagte, sie seien froh, dass ich ihnen Bescheid gegeben hatte.«

»Wissen Sie, was Zoes Eltern daraufhin unternommen haben?«

Kati nickte. »Wir haben seitdem noch ein paar Mal miteinander telefoniert, deshalb weiß ich es. Frau Bergmann erzählte mir, dass sie noch in der Nacht die Polizei angerufen hätten. Doch dort sagte man ihnen, man könne momentan noch nichts tun. Schließlich sei Zoe volljährig und könne tun und lassen, was sie wolle. Doch wenn sie am Morgen noch immer nicht zu Hause angekommen wäre, sollten die Eltern eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

»Am nächsten Morgen rief Frau Bergmann schon um sieben Uhr an«, berichtete Antonia. »Kati schlief noch, aber ich war schon wach, weil ich eine Vorlesung hatte. Frau Bergmann fragte, ob Zoe doch noch gekommen sei. Sie klang sehr hoffnungsvoll. Ich hatte nach dem Aufstehen sofort in Zoes Zimmer nachgesehen; aber sie war noch immer nicht da und ihr Bett war unberührt. Das sagte ich auch ihrer Mutter. Sie seufzte traurig, bedankte sich und legte auf.«

»Nach dem Telefonat haben die Bergmanns dann unverzüglich eine Vermisstenanzeige aufgegeben«, übernahm wieder Kati. »Nachdem ich aufgewacht war, rief ich ein paar Bekannte und Kommilitonen von Zoe an und fragte, ob sie von Zoe gehört hätten. Ich dachte mir, dass es ihr vielleicht unangenehm gewesen sein könnte, dass sie bei dem Regen und der Dunkelheit so lange für die Fahrt gebraucht hatte und deshalb unser Filmabend buchstäblich ins Wasser gefallen war. Und dass sie deshalb bei jemand anderem Unterschlupf gesucht hatte. Ich weiß selbst, wie unwahrscheinlich sich das anhört. Aber ich klammerte mich an jeden Strohhalm. Doch niemand hatte Zoe gesehen oder von ihr gehört. Den ganzen gestrigen Tag hoffte ich, sie würde doch noch nach Hause kommen.« Sie seufzte und zuckte mit den Schultern, wobei ihre Augen erneut feucht wurden. »Aber sie kam einfach nicht.«

»Und dann?«, fragte Anja.

»Dann riefen Sie vor einer halben Stunde an und sagten mir, wer Sie sind und dass Sie mit Antonia und mir über Zoe sprechen müssten. Mehr wissen wir auch nicht.«

»Gibt es außer den Bekannten und Kommilitonen, die Sie bereits anriefen, sonst noch Personen, bei denen Zoe aufgetaucht sein könnte?«

Kati sah Antonia fragend an, doch die erwiderte den Blick ebenso ratlos.

»Nicht dass wir wüssten«, sagte Antonia. »Sie hat natürlich noch eine Menge Freunde in Nürnberg. Aber soweit ich weiß, haben ihre Eltern alle angerufen. Doch auch von denen hat sie seit Sonntagnacht niemand gesehen.«

»Hatte Zoe einen festen Freund, seit sie hier wohnte und studierte?«