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Nach einer gescheiterten Ehe und unerfreulichen, langwierigen Scheidung hat Doktor Werner Binz bei seinem Freund Prof. Florian Winter eine Assistenzarztstelle für einen Neuanfang gefunden. Als kompetenter Chirurg, hervorragender Diagnostiker und verständnisvoller Zuhörer wird er allseits geschätzt. Dass er für Schwester Ingrid mehr als kollegiale Gefühle empfindet, versucht er zu verdrängen. Dann erfährt er, dass seine Tochter Monika, die er wegen seiner Ex-Frau seit Jahren nicht sehen durfte, aus dem Schweizer Internat weggelaufen ist, und macht sich auf die Suche nach ihr. Doch Monika bleibt verschwunden ...
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Seitenzahl: 181
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Und wieder beginnt ein Tag: Dr. Florian Winter Arztroman 4
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von Horst Weymar Hübner
Nach einer gescheiterten Ehe und unerfreulichen, langwierigen Scheidung hat Doktor Werner Binz bei seinem Freund Prof. Florian Winter eine Assistenzarztstelle für einen Neuanfang gefunden. Als kompetenter Chirurg, hervorragender Diagnostiker und verständnisvoller Zuhörer wird er allseits geschätzt. Dass er für Schwester Ingrid mehr als kollegiale Gefühle empfindet, versucht er zu verdrängen. Dann erfährt er, dass seine Tochter Monika, die er wegen seiner Ex-Frau seit Jahren nicht sehen durfte, aus dem Schweizer Internat weggelaufen ist, und macht sich auf die Suche nach ihr. Doch Monika bleibt verschwunden ...
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Alfred Bekker
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Mitten in der Nacht schrillte das Telefon. Schlaftrunken machte Doktor Werner Binz Licht und blinzelte gegen die Helligkeit auf den Wecker. Zwei Uhr früh! Völlig wahnsinnig geworden, der Anrufer!
„Binz!“, meldete er sich unwillig mit zerknautschter Stimme.
„Kommen Sie bitte sofort in die Klinik, Herr Doktor!“, sagte eine aufgeregte weibliche Stimme. Die von Schwester Ingrid, wenn ihn nicht alles täuschte. „Eine Notoperation. Der Kaiserschnitt vom Nachmittag. Die Türkin. Es geht auf Leben und Tod, und jetzt ist Doktor Ansorge über der Frau ...“
Ansorge! Der Schreck machte ihn restlos munter. Fürchterliche Vorstellungen plagten ihn. „Allein?“
„Weshalb rufe ich denn sonst an?“ Schwester Ingrids Stimme klang ebenso energisch wie besorgt.
Sie hatte Nachtwache auf der gynäkologischen Station. Und Ansorge ärztliche Nachtbereitschaft! Werner Binz schwang die Beine aus dem Bett.
„Ich bin schon unterwegs“, brummte er. „Und was ist nun mit der Frau?“ „Schwere Zerreißungen. Ich ... ich … hab’s zu spät gemerkt. Sie ist mir fast verblutet. Ich weiß auch nicht ...“ „Stellen Sie Kreuzblut bereit. Und halten Sie um Gottes willen Ansorge auf. Ende.“
Er griff mit einer Hand nach der Hose und fummelte die Beine in die verdrehten Röhren hinein, mit der anderen drehte er den Taxiruf auf der Wählscheibe.
Rasieren? War nicht. Der Stoppelbart hatte Galgenfrist.
Duschen? Dauerte auch zu lange. Wenigstens frische Wäsche?
Es waren schon Leute mit wesentlich weniger auf dem Leib in der Klinik angetanzt. Und selbst das wenige hatte in abenteuerlichen Farben geschillert. Dagegen sahen seine zerknitterten Sachen direkt gepflegt aus.
Die Taxizentrale rührte sich endlich. Eine rauchige Mädchenstimme fragte nach seinen Wünschen.
Werner Binz nannte Namen, Adresse und Fahrziel und mahnte zur höchsten Eile an.
Bei der Telefonistin fiel der vermeintliche Groschen. „Dann darf man wohl bald gratulieren? Was soll’s denn werden - Junge oder Mädchen? So aufgeregt sind die Väter beim ersten Male alle, das kennen wir schon.“
„Unsinn. Ich bin Arzt da oben, und es handelt sich um einen Notfall. Also bitte!“
Jetzt wurde die Stimme sachlich. „Der Wagen ist in ein paar Minuten bei Ihnen, Herr Doktor.“
„Gut, ich warte vor dem Haus.“
Auf dem Weg aus der Wohnung und durchs Treppenhaus brachte er sein Äußeres vollends in Ordnung und kämmte die Haare mit den Fingern. Seine Gedanken waren schon oben in der Klinik.
Schwere Zerreißungen! Das ging über seine Hutschnur.
Er hatte die Kaiserschnittentbindung am späten Nachmittag noch selber gemacht - am Ende eines zermürbenden Sechsunddreißig-Stunden-Dienstes. Ein blitzsauberer Eingriff ohne jedwede Komplikation, Mutter und sechspfündiges Mädchen wohlauf.
Und Stunden später fast verblutet! Schwester Ingrid war nicht der Mensch, der sogleich in Panik geriet, wenn es eng wurde. Aber Ansorge allein an der Patientin ergab ein vorhersehbares Drama. Sie hatte richtig gehandelt, dass sie ihn als den verantwortlichen Operateur alarmierte. Was eigentlich die Aufgabe von Ansorge gewesen wäre.
Eine Notoperation von einem Solisten war der pure Wahnsinn!
Ein Wagen mit aufgeblendeten Lichtern bog unten in die Straße und schnurrte unter den Bäumen näher. Ein Taschenlampenstrahl aus dem Fahrerfenster tastete nach den Hausnummern.
Werner Binz trat auf die Fahrbahn und bewegte die Arme wie Windmühlenflügel. Der Fahrer sichtete ihn und steuerte sein Fahrzeug heran. Im letzten Moment knipste er die Beleuchtung des Taxizeichens auf dem Wagendach an.
„Sind Sie der Mann, der zur Klinik..
Werner Binz klinkte schon die Beifahrertür auf und schwang sich auf den Sitz. „Fahren Sie zu, drücken Sie drauf!“
Der Mann brummte etwas und brauste los. Die nächtlichen Straßen waren verkehrsleer, aber Werner Binz deuchte es die längste Fahrt.
Die Fenster vom OP II im Operationstrakt waren taghell erleuchtet.
Schwester Ingrid hatte Ansorge also nicht aufhalten können!
Im Aufenthaltsraum bewegte sich jemand, in der Sterilisation sprangen gerade die Neonleuchten an.
Knurrend bezahlte Werner Binz sechzehn Mark für die Fuhre und überschlug, dass es ihn auf Dauer billiger kam, wenn er sich einen Gebrauchtwagen zulegte. Andernfalls war er bald ideeller Mitbesitzer der Taxizentrale.
Natürlich war das Hauptportal verschlossen. Missmutig schaute die Nachtwache aus der Loge und kam dann öffnen. „Sie, Herr Doktor?“, staunte der Mann. „Ich habe Sie nicht erkannt.“
Doktor Binz eilte durch die Halle, fuhr mit dem Aufzug hinauf und schleuste sich in den OP-Trakt ein. In größter Eile zog er sich um und stürmte in den Waschraum. Drei benutzte Sterilhandwaschbürsten lagen auf den Becken.
Er atmete auf. Ansorge hatte also doch Vernunft walten lassen, er riskierte keinen Alleingang.
Aber dann umwölkte sich die Stirn von Doktor Binz. Die Tür zum OP II stand spaltbreit auf, und an der Tabula werkelte nur eine vermummte Gestalt im grünen Mantel. Die übrigen Plätze waren unbesetzt.
Im begrenzten Blickfeld tauchte ein Arm auf, eine Hand reichte ein Instrument an. Doktor Richard Ansorge ergriff es und flickte mit hochrotem Gesicht an einer von Steriltüchern bedeckten Gestalt herum.
Für einen Moment sah Doktor Binz feurige Kringel vor den Augen fliegen.
„Was wird hier gespielt?“, wetterte er dann.
Ansorge zuckte zusammen, und eine heisere Stimme erklärte respektlos: „Nächtliche OP-Serenade für zwei Narkotiseure, einen Operateur und eine Instrumentenkraft. Bitte einzutreten und das Quartett zum Quintett zu befördern.“
Das hörte sich nach Kirchrath an, dem Anästhesisten mit dem lockersten Mundwerk der gesamten Klinik, aber mit dem Herzen auf dem richtigen Fleck. Den Spitzen der Ärzteschaft war der Mann ein Graus. Was Kirchrath aber schnuppe war, denn er lebte mit Hingabe der Ansicht, dass nur ein sehr frischer Wind den Staub der Tradition und den Mief aus den weißen Kitteln fortzublasen vermochte.
Und wirklich steckte Kirchrath Augenblicke später sein vermummtes Gesicht in den Türspalt. Seine Augen mahnten zur Eile.
„Wer noch?“, fragte Werner Binz, während er mit der Sterilwaschung begann.
„Oberarzt Schimanski.“ Kirchrath zwinkerte. „Wir haben erst begonnen, als wir hörten, dass Sie hierher unterwegs sind. Kollege Kierdorf stößt noch dazu. Ist in der Aufnahme festgehalten.“
In der geburtshilflichen Ambulanz hatte tatsächlich Licht gebrannt, Werner Binz hatte es gesehen.
Lutz Kierdorf war Stationsarzt auf der Geburtshilfe, ein gründlicher Mensch und ein begabter Operateur.
Eine Tonnenlast rutschte Doktor Binz von der Seele.
Ansorge war zwar auch ein verteufelt guter Mediziner, aber voll des blinden Eifers, was sich darin äußerte, dass er meist den zweiten Schritt vor dem ersten tat. Wie gerade jetzt.
Ein versuchter Sologang in einem Notfall sah ihm ähnlich.
Über Schwester Ingrid würde sich noch ein Donnerwetter entladen, weil sie ihm die Tour vermasselt hatte.
Werner Binz beendete die Waschung, schob mit den OP-Pantinen die Tür weiter auf und glitt in den gekachelten Raum. Schimanski hatte eine Schwester aus der Intensivstation zum Instrumentieren mitgebracht. Improvisation war eine viel geübte Kunst.
Die Schwester reichte zwischen zwei Klemmen Doktor Binz ein steriles Handtuch über die tropfenden Hände und riss ihm nach dem nächsten Tupfer das Paket mit dem sterilen Mantel auf.
Er kleidete sich an und streckte die Hände zum Überstreifen der Handschuhe aus.
„Guten Morgen allerseits!“, brummte er hinter dem Mundschutz. „Wie sieht es aus?“
„Von gut kann überhaupt nicht die Rede sein“, widersprach Doktor Schimanski. Er und Kirchrath hatten noch nicht einmal die Abdeckung mit den Anästhesietüchern komplett aufgebaut. Die Versorgung der Patientin war vordringlicher gewesen. „Wir füllen mit Plasma auf, aber es läuft alles durch.“
„Und der Kreislauf?“
„Ist kollabiert.“ Schimanski seufzte und unterstrich damit die Bedrohlichkeit der Situation.
Kirchrath stöpselte eine neue Plasmaflasche an den Schlauch und kontrollierte die Herztätigkeit, die der Blip auf dem Monitorschirm schrieb.
Miserabel! war der Eindruck von Doktor Binz. Der Gesamtorganismus der Frau stand unter einem schweren Schock, und der revidierende Eingriff schuf ein zusätzliches Risiko.
Das musste eingegangen werden. Hier ging es nicht nach Lehrbuch, sondern nach den Erfordernissen der Situation und nach Machbarkeit. Ein Wunder war erforderlich. Und Wunder waren machbar, wie sich Kirchrath einmal ausgedrückt hatte.
„Sind die Blutkonserven da?“, fragte Werner Binz und nahm seinen Platz an der Tabula ein.
„Bei der Kreuzprobe.“ Doktor Schimanski erhöhte das Beatmungsvolumen um hundert Milliliter, als die Nadel der Durchströmungsanzeige nur noch bis zur Marke 250 ausschlug.
Werner Binz blickte in Ansorges Augen. „Eine riesige Verantwortung, die Sie sich leichtfertig aufgeladen haben“, sagte er leise. „Es hätte weniger Mut bedurft, mich anzurufen, als diese Sache im Alleingang anzupacken.“
„Ich dachte, ich krieg’s schon hin“, rechtfertigte sich Ansorge. Es war ein Versuch, so kläglich wie sein Bemühen, das Gewebe zusammenzubringen.
Die Kaiserschnittnaht war in der Oberhaut völlig zerrissen. Aber relativ trocken. Für das riesige Defizit in der Einfuhrbilanz gab es nur eine Erklärung - in der Tiefe herrschte eine massive Blutung.
Die Nahtknoten und Laschen hatten die Haut ausgefranst.
Ansorge hatte einige Lappen zusammengefügt, weiter war er nicht gekommen.
„Wie ist das denn bloß passiert?“, brummte Werner Binz ungehalten. „Die Frau muss ja Kraftsport getrieben haben.“
„Na, da denke ich was anderes“, sagte Richard Ansorge schnaubend. „Sehen Sie sich nachher mal das Gesicht an.“
Das nahm sich Werner Binz vor. Wenn Ansorge einen solchen Hinweis gab, steckte auch was dahinter. Vordringlicher war jedoch die Wunde von der Kaiserschnittentbindung.
„Fadenmesser!“, verlangte Werner Binz. Er köpfte die Knoten. Ansorge zog mit der Pinzette die Fäden und warf sie aufs Abdecktuch. Die Wunde begann weiter zu klaffen.
Die Unterhautnaht war noch übler zugerichtet.
„Spreizer!“
Ansorge setzte die Spreizzange ein und klammerte sie auf.
Von unten stiegen Koagulationen auf. Doktor Binz hob die Klumpen geronnenen Blutes mit der Hand aus. Das Fettgewebe war überflutet.
Ansorge setzte den Absauger ein.
Werner Binz entfernte weitere Knoten und arbeitete sich schnell in die Tiefe. Hier war Zeit kostbar, jede gewonnene Minute war ein Steinchen in der Waagschale des Lebens der Frau. Bloß zeigte die Nadel mehr denn je zur anderen Seite.
Im Waschraum begann Wasser zu rauschen. Doktor Kierdorf war eingetroffen und machte sich fertig. Werner Binz schaute nicht einen Moment vom Operationsfeld auf, denn in der Bauchfellnaht entdeckte er ein fast faustgroßes Loch. Mehrere Arteriolen waren gerissen und überschwemmten die Eröffnung mit sauerstoffreichem Blut.
„Diathermie!“, sagte er an, fasste ein Gefäß nach dem anderen mit einer Pinzette, drückte einen Kornstift auf den Abriss und ließ sich von Ansorge Stromkontakt geben.
Brutzelnd verschmorten die Abrissstellen der feinen Äderchen. Ein geringer Teil der Blutung versiegte.
Hastig arbeitete er sich tiefer. Die mächtige OP-Lampe stand nicht gut, im Operationsfeld entstanden Schatten.
„Punktlicht!“, grollte er.
Kirchrath sauste von seinem Platz bei den Geräten herbei, schaltete die Lampe um und schwenkte sie, bis der gebündelte Lichtstrahl haargenau in die Wunde fiel.
„Ausgezeichnet, Herr Kollege.“ Werner Binz fasste eine Vene, die er beim Geburtseingriff umgangen hatte. Ansorges rechte Hand war schon zur Stelle, der Zeigefinger drückte die Vene zur Seite und schuf Platz.
Binz saugte selber ab und tastete, bis er den glatten Uteruskörper unter den Fingerkuppen spürte. Er war noch immens vergrößert, die Rückbildung währte Tage.
Wo er den Corpus nach Entnahme des Mädchens vernäht hatte, klaffte auf der gesamten Nahtlänge die Wunde.
Der Befund reichte aus, ihm die Nackenhaare aufzurichten.
Beim seligen Hippokrates, einen solchen Murks hatte er doch nicht geleistet!
Da hatte stumpfe Gewalt auf das frisch operierte Gebiet eingewirkt. Und wie! Als sei jemand der Frau auf den Bauch und den Unterleib gesprungen.
Oder war den Pflegern die Frau beim Umbetten vom Tisch gefallen?
Nahezu ausgeschlossen. So was kam alle Schaltjahre einmal vor - wenn in der Eile vergessen worden war, die Feststeller zu betätigen. Gestern hatte keine Hektik geherrscht, da war es ruhig zugegangen, weil’s die letzte Operation war.
Dann hatte es wohl mit Ansorges deutlichem Hinweis auf das Gesicht der Frau zu tun. Vielleicht war sie aufgestanden und gestürzt.
Doktor Kierdorf kam vom Waschraum herüber.
Die Schwester reichte ihm aus der Trommel sein Handtuch mit der Zange und riss ihm das Mantelpaket auf.
Während er sich ankleidete, drang ein Rauschen aus der Sprechanlage. Dann sagte eine Männerstimme: „Kreuzblut für Vedia Özkan, Gruppe A Rhesus positiv. Kann abgeholt werden. Probe ist gut.“
Doktor Kierdorf wandte sich um und sprach in Richtung Rufanlage, im Hausjargon „Quatsche“ genannt: „Wollen Sie sich freundlicherweise selber herbemühen und die Konserven in der Sterilisation abgeben? Wir befinden uns nicht in der personellen Besetzung, um einen Springer durchs Haus zu schicken.“
Sekundenlange Stille, dann ein Tuscheln aus der Quatsche, und endlich ein lahmes: „Verstanden, OP.“
„Na also!“, meinte Doktor Kierdorf grimmig.
Der Anästhesist Kirchrath schaute auf die Uhr. „In fünf Minuten werden sie wohl so weit sein“, meinte er. „Wurde auch höchste Zeit.“
Die Blutbeutel waren im Labor gewesen. Obgleich ihr Inhalt mit nichts in Berührung gekommen war, mussten sie doch desinfiziert werden. Äußerlich konnten Keimträger anhaften. Und wenn die dann in die sterile Atmosphäre des OP verschleppt wurden, war das gar nicht gut.
Kirchrath löste auch das Problem des Herbringens der Konserven. „Dann werde ich mal meine Knochen bewegen“, bot er an.
Es war eine Selbstverständlichkeit, dass die Ärzte auch Arbeiten übernahmen, die üblicherweise nicht in ihre Zuständigkeit fielen. Botengänge zum Beispiel.
Sogar Kierdorf begnügte sich mit der Rolle des dritten Operateurs. Er nahm seinen Platz neben Werner Binz ein, murmelte einen Gruß und war schon bei der Sache.
Ansorge hatte seinen Platz gegenüber und half mit beiden Händen, den Gebärmutterkörper darzustellen.
Er stieß einen leisen Pfiff aus, und Kierdorf meinte: „Allerhand!“
Binz förderte die Reste des Nähgutes ans Licht, versenkte nacheinander drei Klemmen und ließ absaugen.
Der Gebärmutterkörper war während der Schwangerschaft besonders gut mit Blut versorgt worden. Noch hielt diese Versorgung an, sie regulierte sich erst mit der Rückbildung.
Zwei größere Gefäße waren zerrissen, sie schienen die Quelle des Blutverlustes zu sein.
Werner Binz hatte die Wahl: zu unterbinden und auf Neuorganisation zu hoffen oder zu nähen.
Er entschloss sich spontan fürs Nähen.
„Leuchtlupe!“, verlangte er.
Kirchrath murmelte etwas von „Feinmechaniker“ und „mindestens dreißig Minuten!“
„Das soll uns nicht schrecken“, versetzte Doktor Binz. Den Spitznamen Feinmechaniker hatte er sich in der Klinik erworben. Kirchrath hatte ihn erfunden.
Ansorge hatte unglaublich geschickte Finger und übernahm die halbe Arbeit. Zwischendurch verließ Kirchrath den OP und kehrte mit den Blutkonserven zurück. Er hängte die Plastikbeutel gleich am Stativ auf und schloss den ersten an.
Doktor Schimanski hatte seine liebe Not, Kreislauf, Herztätigkeit und Beatmung der Frau oberhalb jener Grenze zu halten, bis zu der noch operiert werden konnte. Mit zwei zugekniffenen Augen allerdings.
Er gab etwas Digitoxin gegen das Herzstolpern. Der Blip schrieb nach der Medikamentengabe eine wesentlich freundlichere Herzkurve. Das war aber auch der einzige Lichtblick.
Ansorge und Werner Binz hatten endlich die Blutgefäße genäht. Doktor Kierdorf entfernte die Klemmen.
Drei Augenpaare beobachteten gebannt das Geschehen.
Hielten die Nähte?
Drei Stockwerke über dem OP-Trakt streifte Schwester Ingrid den Abdeckbezug über das verblutete Bett. Mit den Nähten nach außen. Hinweis für die Bettenzentrale, dass dieses Bett am Morgen mitgenommen werden musste.
Den Fußboden im Patientenzimmer hatte sie schon aufgewischt.
Das Dreibettzimmer war mit nur zwei Patientinnen belegt. Mit Frau Kessler und Frau Özkan, der Türkin.
Als sie die Nachtwache um halb neun Uhr übernommen und einen Gang über die Station gemacht hatte, war ihr nichts aufgefallen. Die Türkin hatte Besuch von ihrem Mann; er hatte bis spät gearbeitet und durfte deshalb seinen Besuch am Abend machen. Frau Kessler war im Bademantel unterwegs zum Fernsehzimmer gewesen.
Gegen zehn war Herr Özkan gegangen. Sie hatte nur seine Schritte am offenen Schwesternzimmer vorbeitappen und dann die Glastür zufallen hören.
Danach hatte sie Medikamente für die Nacht hingestellt und die Schälchen für den Frühdienst ins Medikamentenbrett eingeordnet. Zwischendurch Gänge zu Patienten, die die Rufanlage gedrückt hatten. Eine Fahrt mit dem Rollstuhl auf die Toilette, einen Urinbeutel entleeren, zweimal Milch abpumpen, viermal Schlaftabletten ausgeben und einmal Mineralwasser, weil die Patientin bald umkam vor Durst.
Kurz nach Mitternacht war das Fernsehprogramm zu Ende gewesen, sie war in den Gesellschaftsraum gegangen und hatte darauf gedrängt, dass die Frauen jetzt und vor allem leise auf ihre Zimmer zurückkehrten.
Frau Kessler musste im Dunkeln zu Bett gegangen sein. Oder sehr achtlos. Ohne einen Blick auf ihre Zimmergenossin zu werfen, die nur Stunden zuvor von einem Mädchen entbunden hatte.
Nicht immer herrschte auf den Zimmern eitel Eintracht und Freundschaft, davon wusste sie ein garstiges Lied zu singen. Die Nationalitäten verstanden sich untereinander nicht. Es gab Animositäten. Und die Klinik sollte darauf Rücksicht nehmen.
Es musste streng vermieden werden, türkische und griechische Staatsbürger zusammenzulegen. Oder es gab Mord und Totschlag.
Und eine besonders ruhe- und schonungsbedürftige Patientin durfte nie mit Italienerinnen oder Spanierinnen, die gerade entbunden hatten, aufs Zimmner kommen. In der Regel rückte dann nämlich die gesamte Verwandtschaft nebst Freunden an, fünfzehn Personen mit Kindern waren keine Seltenheit, und dann ging es quicklebendig, sehr lang und vor allem sehr laut her. Dazu wurde auch getäfelt. Einen ruhebedürftigen Patienten konnte das schon auf die Palme bringen.
Aber die einheimischen Patientinnen waren auch nicht ohne. Vor allem, wenn sie Haare auf den Zähnen hatten.
Nachts um zwölf das Baby haben wollen, das ging ja noch. Manche hatten dann Essgelüste und wollten sich noch was aus einem Lokal bringen lassen.
Es gab nichts, was es nicht gab.
Jedenfalls hatte Frau Kessler so gegen halb zwei ihre Rufanlage gedrückt, und Schwester Ingrid war hingegangen, gewappnet gegen ausgefallene Sonderwünsche.
Das Licht hatte gebrannt, und Frau Kessler hatte im Bett gesessen. Mit weit und angstvoll aufgerissenen Augen. Hatte auf ihre Bettnachbarin gezeigt und gesagt, die atme ja gar nicht mehr, die sei ja tot. Und sie wolle sofort aus dem Zimmer ausziehen.
Tot war die türkische Patientin nicht gewesen, aber sie war nicht weit entfernt davon. Das Gesicht wächsern, die Nase spitz im eingefallenen Gesicht. Und seltsame Schwellungen mit unterlegter Röte unter den Augen, am Kieferwinkel und auf den Wangenknochen.
Doktor Ansorge war Minuten später zur Stelle gewesen. Diagnostizierte schwere innere Blutungen und ordnete sofortige Operation an. Sich selber teilte er als Operateur ein.
Da war ihr doch himmelangst geworden, und sie hatte Doktor Kirchrath aufgestachelt. Der hatte ihr den wohlgemeinten Ratschlag gegeben, Doktor Binz aus dem Bett zu werfen und in die Klinik zu bitten.
Sie hatte gezögert. Ausgerechnet Binz!
Viel lieber wollte sie den Chef alarmieren. Rechtzeitig hatte sie sich besonnen, dass Kirchrath nie falsche Ratschläge gab. Da hatte sie sich überwunden und Doktor Binz verständigt, vor dem sie sich insgeheim fürchtete.
Nicht, dass zwischen ihnen erklärter Kriegszustand herrschte. Der Mann war ihr einfach unheimlich.
Ein paarmal hatte er sie angeblickt. So mörderisch, als wollte er sie umbringen. Und sie hatte ihm doch nichts getan.
Dann hatte sie damit begonnen, ihm auszuweichen, so weit das im Stationsbetrieb möglich war.
Sie wollte es nicht gerade beschwören, aber ihr war, als würde er ihr nun ebenfalls ausweichen.
Sie hatte gegrübelt und keine Erklärung dafür gefunden. Das beunruhigte sie sehr. Im Leben hatte sie immer für klare Bahnen und überschaubare Verhältnisse gesorgt.
Der Doktor war ihr wahrhaftig ein Rätsel.
Wenn es unvermeidlich war, dass er ein paar Worte an sie richten musste, kam es ihr so vor, als spreche er strenger und kürzer angebunden. Nicht gerade unhöflich, aber irgendwie eine Tonart zu ruppig. Sie hatte begonnen, auf die Goldwaage zu legen, was er so sagte.
Die Vorstellung, dass er vielleicht nach der Operation mit Doktor Ansorge auf Station kam und Näheres erfragte, machte sie unruhig. Ihr Herz schlug schneller, ihre Wangen wurden warm. Sicheres Zeichen dafür, dass sie errötete.
Das machte sie sogleich ärgerlich. War sie denn ein Backfisch, der in einen Arzt verschossen war?
Und ausgerechnet noch in den Binz mit seinen altmodischen Röhrenhosen und der blöden Frisur? Sah aus wie Kaiser Wilhelm im Bade. Und zu alt war er auch. Mindestens fünfzehn Jahre älter als sie.
Lachhaft war das ja!
Sie lachte wirklich.
Aber es klang ganz kläglich.
Sie schaute auf die Uhr. Gleich vier.
Unten mussten sie doch längst fertig sein! Die Frau kam wahrscheinlich für zwei, drei Tage auf Intensivstation.
Warum kam dann Ansorge nicht zurück? Trödelte der herum?
Das Telefon schrillte. Sie schrak zusammen. Ein Anruf um diese Zeit bedeutete Neuaufnahme.
„Nachtwache Station 3a Schwester Ingrid“, meldete sie sich.
Eine etwas erschöpft klingende Männerstimme war dran. Doktor Kierdorf. „Engelchen, könnten Sie uns einen Kaffee aufgießen? In zehn Minuten?“
Sie war so perplex, dass sie sagte: „Ja, Herr Doktor!“
Danach war es für jede Reue zu spät. Kierdorf hatte aufgelegt.
Engelchen hatte er sie genannt! Ja, was fiel dem Arzt denn ein? Wie kam der dazu, sie so zu nennen?
Oh, was war sie für ein Schaf! Ganz sicher lachten sie unten im OP jetzt Tränen.
Schwester Ingrid wurde das, was sich sonst sehr selten ereignete - sie wurde, sehr wütend. Am meisten über sich selber.
Die Gefäßnähte hielten wie eine Eins.
Doktor Binz tupfte vorsichtig mit einem Bauchtuch die Blutreste auf und kontrollierte das Gebiet. Kierdorf und Ansorge prüften mit scharfen Blicken mit.
„Dicht wie eine Stahlkammer, würde ich meinen“, sagte Doktor Kierdorf schließlich. „Herr Kollege, Sie sollten zumachen.“ Damit blickte er demonstrativ auf die Uhr an der Wand.
„Es ist keine Frage der Zeit, sondern eine Frage dessen, was ich verantworten kann“, widersprach Doktor Binz. „Warten wir fünf Minuten. Ich habe schon Gefäße wie morsche Wasserleitungen brechen sehen.“
Kirchrath kam hinter der Abdeckung hervor und grinste so breit, dass seine Mundwinkel fast unter dem Mundschutz zum Vorschein kamen.
„Der Druck stabilisiert sich ganz ordentlich“, meldete er.
Oberarzt Schimanski pumpte die Armmanschette auf. „Hundert zu siebzig mit steigender Tendenz“, murmelte er.
„Hoffentlich.“ Doktor Binz verließ sich auf keine Vorschusslorbeeren.
Nach fünf Minuten machte er die Tuchprobe.
Es sickerte nichts nach.
Ansorge fummelte schon mit Rundnadel und Nähgut. Er hatte sich im Team ausgezeichnet - allein allerdings hätte er den Eingriff nie geschafft. Was aber nicht am guten Willen und am Können lag, sondern daran, dass er nicht sechs Hände hatte.
„Modellieren Sie den Uteruscorpus!“, wies ihn Werner Binz an und hielt ihm die Lappen zusammen. Kierdorf schützte mit einem Metallspatel die genähten Gefäße vor Schaden.
Zwanzig Minuten später legte Doktor Ansorge schon die Unterhautnaht, und Schimanski und Kirchrath begannen, die Frau aus der Narkose zu wecken.
„Ich danke Ihnen, meine Herren!“, sagte Werner Binz und wandte sich an die Instrumentenkraft. „Und Ihnen ganz besonders, Schwester.“
Sie wurde etwas verlegen und reichte Doktor Ansorge die letzte Nadel. Lob wurde selten gespendet. Und wenn, ging er immer auf die Ärzte nieder, selten aufs Personal.
„Wer nimmt einen Kaffee?“, erkundigte sich Doktor Kierdorf. Er stand schon vor der Waschraumtür und zerrte an den Handschuhen, bis sie von den Fingern flutschten.
Die Köpfe gingen hoch.
Welche Frage auch!
Kierdorf verschwand im Waschraum. Der Containerdeckel klapperte, er warf den Mantel in die Wäsche. Wasser rauschte. Die Außentür klappte.
Oberarzt Schimanski redete die Patientin an, während Ansorge die letzten Knoten schlug.
Die Frau reagierte minimal.
„Ich nehme sie gleich auf Intensiv mit“, erklärte die Schwester und rollte den Instrumentenwagen beiseite.