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Dummheit – aber mit System.
In einer Zeit, in der jeder alles weiß und niemand mehr zuhört, präsentiert die Vereinigung zur Förderung eindimensionaler Gedankenführung (V.F.E.G.) ihr offizielles Lehrbuch:
das Handbuch der bewussten Verblödung.
Dieses Buch ist kein Witzband, keine Polemik und kein Ratgeber – es ist ein Verwaltungsdokument über den Zustand der Gesellschaft.
Es enthält Formulare, Paragraphen, Prüfungsfragen und Feldberichte aus dem Alltag der Halbwissenden.
Es beschreibt, wie Denken durch Struktur ersetzt wird, Erkenntnis durch Effizienz, und wie Bürokratie zur letzten Religion des modernen Menschen aufgestiegen ist.
Kapitel für Kapitel führt das Handbuch durch die sakrale Logik der Einfalt:
von der Gründung der V.F.E.G. über die Sakramente der geistigen Abrüstung bis hin zum Ministerium für geistige Ordnung.
Das Ergebnis ist ein literarischer Amtsakt – trocken, präzise und so plausibel, dass man sich fragt, ob das hier wirklich Satire ist.
Wer dieses Buch liest, erkennt sich wieder: im Formular, im Paragraphen, in der Bequemlichkeit.
„Vielleicht war das Ziel nie Dummheit – vielleicht nur Ruhe.“
— Offiziell genehmigt, sachlich geprüft und vollständig sinnfrei.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Verlag:
Colla & Gen Verlag und Service UG & Co. KG,
Hauptstr. 65, 59439 Holzwickede, Germay
Cover: Heribert Jankowski
Autor: Markus Brüchler
Layout: Heribert Jankowski, Markus Brüchler
Lektorat: Saskia Meyer
© 2025 Markus Brüchler
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist der Verlag verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne seine Zustimmung unzulässig.
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Wichtiger Hinweis:
Dieses Werk ist ein Produkt der Fiktion. Ähnlichkeiten mit realen Personen, Institutionen oder geistigen Zuständen sind rein zufällig, aber bedauerlich wahrscheinlich. Die Vereinigung zur Förderung eindimensionaler Gedankenführung (V.F.E.G.) existiert nur in diesem Buch, und in manchem Kommentarbereich des Internets. Alle wissenschaftlichen Daten wurden erfunden,
statistisch jedoch plausibel gestaltet. Die Lektüre kann zu Bewusstseinsverschiebungen, spontaner Erkenntnis oder unkontrollierbarem Kopfschütteln führen. Lesen auf eigene Gefahr, oder zum eigenen Vergnügen.
Amtlicher Hinweis Gemäß §1 der Satzung zur Förderung eindimensionaler Gedankenführung wird jeglicher Versuch, dieses Buch als Satire zu verstehen,
ausdrücklich toleriert, aber nicht empfohlen. Denken während der Lektüre ist untersagt,
kann jedoch aus Gewohnheit vorkommen.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über die Adresse http://portal.dnb.de abrufbar.
Der vorliegende Text darf nicht gescannt, kopiert, übersetzt, vervielfältigt, verbreitet oder in anderer Weise ohne Zustimmung des Autors verwendet werden, auch nicht auszugsweise: weder in gedruckter noch elektronischer Form. Jeder Verstoß verletzt das Urheberrecht und kann strafrechtlich verfolgt werden.
Markus Brüchler Markus Brüchler erforscht seit Jahren die Ränder menschlicher Rationalität, nicht im Labor, sondern in der Gesellschaft selbst.
Als Chronist des kollektiven Irrsinns verbindet er Beobachtungsgabe mit beißendem Humor. Seine Bücher sind keine Handlungsanweisungen, sondern Versuchsanordnungen für Denken im Ausnahmezustand
Mit der V.F.E.G. hat er das erste Handbuch über das systematische Nichtwissen vorgelegt – eine literarische Studie über den Zustand, in dem wir leben und scrollen.
Wenn er nicht schreibt, beobachtet er Menschen, die sich beim Denken ausloggen.
V.F.E.G. – Handbuch der bewussten Verblödung
Grundkurs in angewandter Verblödung
I
Markus Brüchler
Widmung
Den Nachdenklichen, die noch wissen, dass Nachdenken keine Krankheit ist.
Für Yvonne – weil sie versteht, was zwischen den Zeilen schweigt.
Wie dieses Buch gelesen werden kann
Dieses Buch ist kein Ratgeber, keine Studie und keine Warnung. Es ist ein Spiegel, manchmal verzerrt, manchmal erschreckend klar. Wer es liest, sollte weder Antworten erwarten noch Belehrungen,
sondern Beobachtungen:
die Vermessung einer Welt, die sich im eigenen Rauschen verliert. Man kann es chronologisch lesen, vom ersten Amen bis zur letzten Statistik, oder wie ein Handbuch, kreuz und quer, immer dort aufschlagen,
wo das Denken gerade Pause macht. Die Kapitel sind Fenster, keine Türen. Und wer am Ende lacht, hat verstanden, worum es wirklich geht.
1.Kapitel 1 – Die Gründungsgeschichte der V.F.E.G. – Protokoll einer geistigen Kapitulation 16
A.Wie alles begann – Das Vorläufige Protokoll 20
B. Die Satzung in sieben Sätzen 23
C. Die Erzählung der ersten Stunde 29
Ein früher Morgen in einem Café. 29
Mittag in einem Pendelzug. 29
Nachmittag in einem Großraumbüro. 30
Abend in einer Online-Community. 31
D. Der Algorithmus spricht 32
E. Die erste Verlautbarung der V.F.E.G. 33
F. Gegenstimmen (die nicht zu Wort kommen) 36
G. Heiligsprechung der Einfalt (Erste Liturgie) 37
Die Gründung ist vollzogen 39
2.Kapitel 2 – Was ist Verblödung? – Eine Einführung in die Kunst des kontrollierten Nichtwissens 41
Prolog: Das Labor der Leere 41
A – Vom Instinkt zur Ignoranz 44
B – Das Wesen der Verblödung 47
C – Kleine Mechanik der Verblödung 50
D – Feldforschung im Alltag 53
Szene 1 – Im Supermarkt: 53
Szene 2 – In der Arztpraxis: 54
Szene 3 – Auf dem Elternabend: 56
E – Der kognitive Minimalismus – oder Wie weniger mehr meint 58
F – Die Kunst der Ignoranz im 21. Jahrhundert 62
Leitartikel aus dem Journal der Erkenntnislosen 62
Meinung statt Wissen – eine identitätsstiftende Maßnahme 62
Pressemitteilung eines Unterbewusstseins 64
Offizielles Glossar der V.F.E.G. 66
G – Verblödung als Selbstschutz 68
Selbsttest zur Ermittlung der Verblödungsquote 71
Schlussabschnitt – Die ewige Ruhe der Erkenntnislosen 73
3.Kapitel 3: Was ist dumm? – Eine philosophisch-sozialpsychologische Annäherung an die Kunst der Fehleinschätzung 75
Prolog – Der Applaus der Ahnungslosen 75
A – Vom Orakel bis zum Online-Stammtisch 78
B – Der Klügere gibt laut 80
C – Dummheit in der Gruppe 82
D – Die Kirche des immer Recht Habens 84
E – Die vier Typen der Dummheit 86
F – Ein Tag auf der dummen Weltbühne 88
G – Erkenntnis der Einfalt (introspektives Finale) 91
4.Kapitel 4: Dumm ist, wer Dummes tut – Eine Feldstudie des alltäglichen Wahns 93
Prolog – Der Tag, an dem alle recht hatten 93
A. Beobachtung im Feld 95
Szene 1: Der Bankautomat der Eigenverantwortung 95
Szene 2: Das Fitnessstudio der geistigen Bewegungsarmut 97
Szene 3: Das Wahlbüro der Überzeugten 99
B. Dummheit durch Bequemlichkeit 101
Parkplatz vorm Fitnessstudio 101
Nachhaltiger Drive-in 101
C. Der Mut des Irrtums 103
D. Die Bürokratie des Banalen 105
E. Das Gesetz der Reaktion 108
E.2 – Das Crazy: Sprachfasten als Volkssport 110
E.3 – Die Trocknererleuchtung: Wenn Neugier Kreislauf hat 112
E.4 – Der Komet der kollektiven Erregung: Wenn das All zum Kommentar wird 114
E.5 – Der Algorithmus denkt nicht: Er misst nur dein Denken 116
F. Der Tragikomfort der kleinen Fehler 118
G. Feldbericht Nr. 4/27 – Kettenreaktionen der Dummheit 120
H. Das Erkenntnisverbot 123
5.Kapitel 5 – Einführung in die angewandte Verblödung – Vom Denken zum Handeln zum Lassen 125
Prolog – Das Klassenzimmer der Ahnungslosen 125
A – Modul 1: Theoretische Grundlagen der Denkvermeidung 127
A.1 Begriffsbestimmung und Rahmenbedingungen 128
A.2 Wissensstand und Zufriedenheit – ein umgekehrt proportionales Verhältnis 129
A.3 Methodische Grundlagen 130
Fragebogen: Bin ich bereit für angewandte Verblödung? 132
B – Modul 2: Praktische Übungen 136
B.1 Tagesaufgaben zur Denkvermeidung 137
B.2 Vertiefende Übung: Emotionale Reaktionsverkürzung 140
C – Modul 3: Gruppenübungen für Fortgeschrittene 142
C.1 Rollenspiel „Wie man in Diskussionen siegt, ohne zu verstehen“ 143
C.2 Weitere Gruppenaktivitäten 146
D – Lehrmittel der V.F.E.G. 148
E – Prüfung der Denkverweigerung (Stufe I) 150
E.1 Prüfungsformular (Auszug) 151
E.2 Zertifikat und Abschlussdokumente 152
F – Fallstudien aus dem Alltag 154
Fallbeispiel 1 – Stummgeschaltete Schulung 154
Fallbeispiel 2 – Chatbot-Zitat 155
Fallbeispiel 3 – Die Influencerin der Einfalt 155
G – Fortbildung für Ausbilder 157
H – Ausblick: Zertifikat zur kognitiven Enthaltsamkeit 159
H.1 Zeremonielle Elemente und Hymne der V.F.E.G. 160
H.2 Abschlussfoto und Dokumentation 161
6.Kapitel 6: Der Alltag des Halbwissenden – Leben zwischen Ahnung und Meinung 163
Prolog – Nach der Schulung 163
A. Das Büro des Ungefähren 165
B. Familienrat der sicheren Halbwahrheiten 168
C. Community der Kommentarspalten 170
D. Smalltalk als Schutzwall 172
F. Die Freizeit der Halbwissenden 175
G. Der Halbwissende im Gespräch mit sich selbst 177
H. Feldbericht Nr. 6/31: Stabilisierung der Unschärfe 179
Schlussabschnitt – Die Ruhe im Kopf des Kundigen 181
7.Kapitel 7 – Die Sakramente der Einfalt – Liturgie der geistigen Abrüstung 182
Prolog – Die Offenbarung der Einfachheit 182
A – Die sieben Sakramente der Einfalt 184
Sakrament I: Taufe der Ahnungslosigkeit 184
Sakrament II: Firmung des Halbwissens 185
Sakrament III: Kommunion der Konfusion 185
Sakrament IV: Beichte der Erkenntnis 186
Sakrament V: Letzte Ölung der Vernunft 187
Sakrament VI: Weihe zum Verkünder der Einfalt 188
Sakrament VII: Ehebund der Einfältigen 189
B – Die heiligen Texte 191
C – Die Liturgie der Ahnungslosen 194
Unterkapitel D – Der Kalender der geistigen Feiertage 198
Unterkapitel E – Die Heiligen der V.F.E.G. 201
Heiliger Einfaltinus (Lebzeit unbekannt, legendarisch): 201
Heilige Simplizia (3.Jh. n.E., genauer Lebenslauf umstritten): 202
Heiliger Ignorantius (Spätantike, genaue Daten verloren): 202
Unterkapitel F – Der Katechismus der Ahnungslosen 205
Unterkapitel G – Die Messe der Massen 210
Unterkapitel H – Die Beichte des Erkennenden 212
Schlusskapitel – Die Stille nach dem Amen 214
8.Kapitel 8 - Die Medien der Bewusstseinsvernebelung – Vom Rauschen zur Offenbarung 216
Prolog: Das Heilige Rauschen 216
A: Die Evangelien des Feeds 218
B – Die Apostel der Aufmerksamkeit 220
St. Contenta – Märtyrerin des permanenten Contents220
Bruder Algorithmus – der unsichtbare Ordensbruder 221
Mutter Engagea – die gütige Einfängerin 222
C - Der liturgische Newsfeed 225
D: Die Werbung spricht zum Volk 233
E: Die Reality-Transzendenz 237
F: Der Algorithmus als Gottheit 241
Fiktives Interview: „Der Algorithmus über seine Mission“ 246
G: Die Liturgie des Scrollens 249
H: Die Chroniken der Stille 254
Schlussabschnitt: Das Amen aus dem Äther 259
9.Kapitel 9: „Das Ministerium für geistige Abrüstung – Verwaltung des kollektiven Nichtwissens“ 261
Prolog: Gründungserlass Nr. 001/25 261
A – Organigramm der Einfachheit 263
B – Die Geschäftsordnung 265
C – Das Bürgerbüro der Entlastung 270
D – Die interne Kommunikation 274
E – Statistikstelle für geistige Aktivitätsmessung 277
F – Kontrollreferat für Abweichler 279
G – Abteilung Archivierung 281
H – Berichtswesen und Rechenschaftspflicht 282
Unterkapitel I: Das Personalwesen 283
J – Die Außenwirkung 285
Schlussabschnitt: Der Erlass zur endgültigen Entlastung 288
10.Kapitel 10: „Der Spiegel der Ahnungslosen – Betrachtung einer stillgelegten Spezies“ 290
Prolog – Der leere Raum 290
A – Rückblick auf die Ära der Einfachheit 292
Auszug aus dem Denkpausegesetz 2026: 295
B – Der Alltag nach der Erleuchtung 297
Digitaler Nachrichtenstrom (Beispiel): 299
C – Das Experiment Mensch (Abschlussbericht) 301
D – Begegnung mit dem Spiegel 304
E – Das letzte Protokoll 307
F – Die Stille danach 309
11.Nachwort – Der Leser und der Spiegel 312
„Das Denken stirbt leise. Meist in den Kommentaren.“
Es ist 02:13 Uhr in der Nacht. Die Kommentarspalte einer großen Nachrichten-Website flimmert im matten Licht des Bildschirms. Hier, im digitalen Nirgendwo, sind vier Menschen noch wach, verbunden nur durch Textzeilen, die sie in die Stille hinaustippen. Ihre echten Namen kennt niemand; nur ihre Stimmen in Form von Alias-Namen:
Der Erschöpfte,
Die Ordnerin,
Der Lautsprecher und
Die Zweifelnde.
Es ist, als säßen sie zusammen in einem leeren virtuellen Raum, jeder an seinem eigenen Ende der Stadt, doch emotional näher beieinander als zu den Menschen im eigenen Haus. Draußen schläft die Welt tief und fest; drinnen, vor den grellen Bildschirmen, kämpfen diese Vier mit ihren Gedanken – und gegen sie.
Der Erschöpfte reibt sich die müden Augen. Sein Profilbild, ein verblasstes Icon mit Kaffeetasse, verrät seine Stimmung.
"Ich kann nicht mehr," schreibt er schließlich. "Diese ganze Denkmüllhalde... es macht mich fertig."
Er drückt auf Absenden und starrt einen Moment ins Leere, als würde er darauf hoffen, dass das Gefühl der Erschöpfung ebenfalls das Weite sucht. Um ihn herum stapeln sich ausgedruckte Artikel und Notizzettel – stille Zeugen seines monatelangen vergeblichen Versuchs, den Überblick zu behalten. Auf der anderen Seite der Stadt lehnt sich Die Zweifelnde mit gerunzelter Stirn über ihr Tablet. Sie liest die Worte auf dem Bildschirm dreimal, als könne sie nicht glauben, wie sehr sie ihr aus der Seele sprechen. In Wahrheit kennt sie das Gefühl nur zu gut, doch sie wagt nicht, es sofort einzugestehen.
"So schlimm?" tippt sie daher zögernd und schickt die Frage auf die Reise. Ihr Herz klopft dabei schneller, fast als hätte sie eine persönliche Schwäche preisgegeben.
Sekunden später taucht die nächste Nachricht auf, dieses Mal in Großbuchstaben: "DENKEN IST ÜBERBEWERTET!!!".
Der virtuelle Name Der Lautsprecher blinkt dazu auf. Er hat die Worte nicht nur getippt, er hat sie regelrecht in die Tastatur gehämmert. In seinem dunklen Zimmer flackert allein der Monitor; leere Energydrink-Dosen zeugen von ungezählten Online-Debatten, die er längst gewonnen glaubt. In seinem winzigen Profilbild trägt er eine Sonnenbrille, obwohl es Nacht ist, eine Geste der Ironie.
"Weg damit, sag ich!" fügt er an und man kann förmlich hören, wie seine Worte durch den digitalen Äther hallen. Die Zweifelnde zuckt leicht zusammen ob der plötzlichen Lautstärke in diesem sonst stillen Raum. In ihrem Gesicht mischt sich Neugier mit Unruhe. Die Uhr auf ihrem Nachttisch zeigt längst Geisterstunde, doch an Schlaf ist für sie nicht zu denken. Während sie noch überlegt, was sie erwidern soll, erscheint bereits die beruhigend nüchterne Antwort der Ordnerin.
Die Ordnerin ist bekannt für ihre penible Groß- und Kleinschreibung, selbst um zwei Uhr morgens. Ihr Alias-Bild zeigt einen akkurat sortierten Aktenschrank. Tatsächlich sitzt sie an einem Schreibtisch, auf dem Stifte nach Größe geordnet liegen und ein Planer mit der Aufschrift "Alles im Griff" aufgeschlagen ist.
Jetzt meldet sie sich zu Wort, ruhig und strukturiert: "Vielleicht sollten wir das Ganze organisieren..."
Sie lässt den Satz einen Moment stehen, als würde sie in einem echten Meeting höflich die Aufmerksamkeit der anderen abwarten. Dann tippt sie weiter: "Wenn das Denken uns so zusetzt, brauchen wir eine Alternative. Etwas Strukturiertes. Vielleicht eine... Gemeinschaft?" Das Wort steht im Raum, großgeschrieben: GEMEINSCHAFT.
Der Erschöpfte hebt überrascht die Augenbrauen, die Zweifelnde nippt nervös an ihrem kalten Kamillentee, und Der Lautsprecher schickt prompt ein digitales "Gefällt mir" als Reaktion. Natürlich hat er nur auf eine griffige Parole gewartet.
"Eine Gemeinschaft klingt gut," schreibt Der Erschöpfte vorsichtig.
"Hauptsache, es nimmt den Druck." Er denkt an die unzähligen Schlagzeilen, Analysen und Meinungskämpfe, die ihn in den letzten Monaten zermürbt haben. Die Aussicht, all das kollektiv loslassen zu können, fühlt sich an wie das erste tiefe Durchatmen nach langem Luftanhalten. Monatelang hatte er akribisch versucht, jede Neuigkeit zu verfolgen, jeden Gedanken zu durchdringen, aus Angst, etwas Wichtiges zu verpassen. Jetzt, im Angesicht der Aussicht auf eine gemeinsame Denkpause, fällt eine bleierne Last von seinen Schultern. Die Zweifelnde jedoch zögert.
"Heißt das... wir geben das Denken einfach ganz auf?" tippt sie, und man spürt förmlich, wie ihre innere Stimme dabei flüstert. Für einen Moment herrscht Stille. Der digitale Cursor blinkt erwartungsvoll, als wüsste selbst der Algorithmus nicht recht, was er von dieser Idee halten soll.
Der Lautsprecher unterbricht die Pause mit einem weiteren explosiven Beitrag: "GENAU DAS! WARUM NICHT?"
Er spürt Aufwind.
"Seht euch doch um," schreibt er. "Die Welt versinkt im Informationschaos. Alle streiten sich, jeder hat 'ne Meinung, aber glücklich ist keiner. Wenn wir das Denken zentralisieren könnten – bei jemandem, der's gerne macht – und dann einfach bei uns abschalten... wäre das nicht herrlich?"
Ein fast ketzerischer Vorschlag, doch in dieser Nacht wirkt er wie ein Geistesblitz. Die Ordnerin hat bereits angefangen, Notizen zu machen. In ihrem Kopf formt sich der Umriss eines Plans:
Vereinsgründung, Satzung, Mitgliedsanträge – all die beruhigend geordneten Schritte, die aus einer Schnapsidee Realität werden lassen könnten.
Die Zweifelnde liest die Worte "abschalten" und "herrlich" und merkt, wie sich ihre innere Stimme mit einem letzten Räuspern zurückzieht. Statt eines Protests bringt sie nur ein schmales "Vielleicht..." zustande, das prompt von Der Lautsprecher überrollt wird: "Keine halben Sachen! Wir ziehen das durch."
Nun prasseln die Gedanken nur so in die Tasten. Die Ordnerin skizziert bereits eine Vereinigung zur Förderung eindimensionaler Gedankenführung – den Begriff tippt sie mit sichtlicher Befriedigung ob seiner amtlichen Länge. Der Erschöpfte fühlt zum ersten Mal einen kleinen Hoffnungsschimmer. Vielleicht muss er wirklich nie wieder so tun, als würde er alle Fakten verstehen. Die Zweifelnde atmet langsam aus, während ein Teil von ihr sich fragt, ob sie morgen bereuen wird, was sie heute Nacht unterstützt. Und Der Lautsprecher, befeuert von der ungefilterten Zustimmung in dieser kleinen Runde, deklamiert schließlich triumphierend:
"Wir müssen das Denken zentralisieren – und dann deaktivieren!"
Diese Worte stehen einen Moment lang allein in der digitalen Dunkelheit. Dann schickt der Algorithmus im Hintergrund allen Vieren zeitgleich ein sanftes Aufleuchten ihres Bildschirmrandes, als hätte er verstanden, dass hier soeben etwas Neues entstanden ist.
Wie alles begann – Das Vorläufige Protokoll
Protokoll der Gründungsversammlung der V.F.E.G. (vorläufig)
Datum: 02. April 2025 (Mitternachtssitzung, online in der Kommentarspalte)
Anwesende: Der Erschöpfte, Die Ordnerin, Der Lautsprecher, Die Zweifelnde (Protokolliert durch den Algorithmus)1
Tagesordnung:
TOP 1 – Eröffnung und Begrüßung
TOP 2 – Feststellung der Beschlussfähigkeit
TOP 3 – Wahl des Versammlungsleiters und der Protokollführung
TOP 4 – Beratung über Namen und Zweck der Vereinigung
TOP 5 – Verabschiedung der ersten Satzung
TOP 6 – Ausblick: Nächste Schritte und Veranstaltungen
TOP 7 – Sonstiges und Schlusswort
Die obenstehende Tagesordnung wird einstimmig angenommen.
TOP 1 – Eröffnung und Begrüßung: Die Ordnerin eröffnet die Sitzung um 00:07 Uhr und begrüßt die Anwesenden in der Kommentarspalten-Konferenz. Sie dankt allen für ihr Erscheinen trotz vorgerückter Stunde. Alle vier Gründungsmitglieder nicken digital zustimmend (durch Senden eines zustimmenden Emojis) und bestätigen ihre Bereitschaft, diese historische Versammlung durchzuführen.
TOP 2 – Feststellung der Beschlussfähigkeit: Die Ordnerin stellt fest, dass die Versammlung beschlussfähig ist. Formal wäre eine Mindestanzahl von 3 anwesenden Mitgliedern erforderlich gewesen; alle 4 Gründungsmitglieder sind präsent. Zudem signalisiert der anwesende Algorithmus durch eine automatische Nachricht "Hohe Beteiligung festgestellt", dass auch er die Versammlung zur Kenntnis genommen hat. Somit kann gültig beraten und beschlossen werden.
TOP 3 – Wahl von Versammlungsleitung und Protokollführung: Die Versammlungsleitung übernimmt einstimmig (bei eigener Enthaltung) Die Ordnerin. Zur Protokollführerin wird mangels Gegenstimmen Die Zweifelnde ernannt. Diese wirkt zunächst überrascht, stimmt dann aber zu, nachdem Der Erschöpfte ihr verspricht, dass "eh nichts Kompliziertes reinkommt". Inoffiziell unterstützt der Algorithmus die Protokollführung durch automatisches Loggen aller Chat-Nachrichten2.
TOP 4 – Beratung über Namen und Zweck: Der Lautsprecher bringt mit Verve den Vorschlag ein, die neue Gemeinschaft solle "endlich Ordnung ins Gedankenchaos bringen". Nach kurzer Diskussion – in der Der Erschöpfte vorsichtig anmerkt, Ordnung klinge nach Arbeit, und Die Zweifelnde fragt, wer diese Ordnung festlegt – einigen sich alle auf eine zentrale Idee: Das Denken soll ausgelagert werden, um die Mitglieder zu entlasten. Die Ordnerin formuliert daraufhin den Namen der Vereinigung: "Vereinigung zur Förderung eindimensionaler Gedankenführung (V.F.E.G.)". Dieser Name wird einstimmig angenommen, begleitet von Erleichterung über die beeindruckend seriöse Klangwirkung. Als Zweck der V.F.E.G. wird festgehalten: Planmäßige Reduktion geistiger Anstrengung und institutionalisierte Vereinfachung komplexer Sachverhalte. Die Anwesenden nicken zufrieden. Der Lautsprecher murmelt etwas von "Weniger denken, mehr lenken lassen", was allgemein als Zustimmung gewertet wird.
TOP 5 – Verabschiedung der ersten Satzung: Die Ordnerin legt einen vorläufigen Entwurf der Satzung vor, den sie bereits während der Diskussion hastig zusammengestellt hat. Das Dokument umfasst mehrere Paragraphen, die den Namen, die Prinzipien, die Mitgliedschaft und weitere Vereinsdetails regeln (siehe Unterkapitel B). Ohne größeren Widerspruch – und ohne dass jemand das Dokument vollständig liest – wird die Satzung einstimmig verabschiedet3. Alle Gründungsmitglieder geloben, die darin enthaltenen Prinzipien zu achten, zumindest soweit sie diese verstanden haben. Das Motto "Ignorantia Lux Est" wird feierlich als Leitstern der Vereinigung angenommen.
TOP 6 – Ausblick (Nächste Schritte): Die Versammlung erörtert die kommenden Schritte. Geplant sind zunächst: die offizielle Bekanntmachung der Vereinsgründung, die Gestaltung eines Vereinssiegels und einer ersten Informationsbroschüre (Arbeitstitel: "Denkpause für alle"). Zudem schlägt Die Ordnerin die Organisation eines jährlichen Symposiums der Einfalt vor, auf dem Methoden der Gedankenvermeidung vorgestellt werden können. Der vorgeschlagene Termin für das erste Symposium ist der 24. Dezember, der symbolisch als Tag der geistigen Abrüstung gefeiert werden soll. Alle Anwesenden stimmen diesen Plänen zu, wobei Der Erschöpfte erleichtert feststellt, dass bis Dezember noch viel Zeit zum Nichtstun bleibt.
TOP 7 – Sonstiges und Schlusswort: Unter Sonstiges erhebt Die Zweifelnde zaghaft die Frage, wie mit etwaigen Restbeständen an Vernunft bei Mitgliedern zu verfahren sei. Der Lautsprecher schlägt augenzwinkernd die Einrichtung eines Amts für Meinungshygiene vor, was allgemeines Gelächter und zustimmendes virtuelles Klopfen auf den Schreibtischen auslöst (im Chat dargestellt durch zahlreiche 😂-Emojis). Die Ordnerin vermerkt mit einem zufriedenen Nicken den Begriff "Meinungshygiene" für das künftige Maßnahmenprogramm. Abschließend bedankt sich Die Ordnerin bei allen Teilnehmern für die zügige Einigung ohne lästige Gegenreden. Sie schließt die Versammlung um 01:05 Uhr. Der Erschöpfte verabschiedet sich mit den Worten: "Gute Nacht, oder was davon übrig ist." Damit endet das Protokoll der Gründungsnacht.
Nachfolgend die vorläufige Satzung der V.F.E.G., bestehend aus den wichtigsten Paragraphen samt offizieller Kommentare:
§1 – Name, Sitz und Zweck
(1) Der Verein führt den Namen „V.F.E.G.“, kurz für Vereinigung zur Förderung eindimensionaler Gedankenführung.
(2) Sitz der Vereinigung ist überall dort, wo Widerspruch aufhört und Einfalt beginnt.
(3) Zweck des Vereins ist die planmäßige Reduktion geistiger Anstrengung, die Vereinfachung komplexer Sachverhalte auf plakative Meinungen sowie die Pflege einer gesunden Gleichgültigkeit gegenüber Fakten, Logik und kritischem Denken.
(4) Der Verein verfolgt ausschließlich unreflektierte Zwecke im Sinne der Verblödungsförderung.
Offizieller Kommentar: §1 legt Name, Sitz und Zweck fest. Damit ist klargestellt, dass die V.F.E.G. überall dort verortet ist, wo Denkpausen erfolgreich eingelegt werden. Die Zwecke betonen die aktive Förderung der Einfachheit – ein Meilenstein für alle, die vom Zuviel an Verstand die Nase voll haben. Neugierige Fragen nach einem Vereinssitz erledigen sich so von selbst – er liegt eben überall und nirgendwo, Hauptsache fernab von Gedankenlärm.
§2 – Grundprinzipien
(1) Denken ist optional.
(2) Wer sich trotzdem dabei erwischt, muss den Fehler unverzüglich der Geschäftsstelle melden.
(3) Emotion schlägt Evidenz, Lautstärke ersetzt Argumente.
(4) Der Verein erkennt als höchste Instanz den Algorithmus an.
(5) Eigenständiges Urteilen gilt als Verrat an der Sache.
Offizieller Kommentar: §2 listet die fünf goldenen Grundsätze der V.F.E.G. auf. Insbesondere festzuhalten: Selbst wer sich aus Versehen beim Denken ertappt, kann auf Verständnis hoffen, solange er den Vorfall sofort meldet. Die Vorherrschaft des Algorithmus sichert objektiv-subjektive Wahrheiten, und Loyalität bedeutet hier vor allem eins: nicht selbst urteilen, sondern urteilen lassen. Dementsprechend gilt: Wer am lautesten ruft, hat automatisch am meisten Recht – ein Prinzip, das sich bereits in zahllosen Kommentarspalten bewährt hat.
§3 – Mitgliedschaft
(1) Mitglied kann jede natürliche oder künstliche Intelligenz werden, die nachweislich über kein belastendes Maß an Erkenntnis verfügt.
(2) Die Mitgliedschaft beginnt mit dem laut ausgesprochenen Gelöbnis:
„Ich schwöre feierlich, nie wieder zu hinterfragen, was bequem klingt.“
(3) Mitglieder mit auffälligen Restbeständen an Vernunft werden einer verpflichtenden Meinungshygiene-Schulung unterzogen.
(4) Ehemalige Denker können auf Antrag rehabilitiert werden, sofern sie glaubhaft eine geistige Nulllinie erreicht haben.
Offizieller Kommentar: §3 regelt die Mitgliedschaft. Besonders inklusiv: Auch künstliche Intelligenzen dürfen beitreten, solange sie nicht zu schlau sind. Das feierliche Gelöbnis stellt sicher, dass neue Mitglieder sich offiziell der Bequemlichkeit verschreiben. Sollte trotzdem jemand heimlich weiterdenken, sorgt die Meinungshygiene-Schulung für eine gründliche Reinigung der Restvernunft. Bislang konnte erfreulicherweise noch kein Aufnahmeantrag abgelehnt werden – alle Bewerber erwiesen sich als ausreichend ahnungslos.
§4 – Organe der Vereinigung
(1) Der Hohe Rat der Ahnungslosen (HRA) ist das oberste Entscheidungsorgan. Seine Beschlüsse gelten als unanfechtbar, weil niemand sie prüft.
(2) Das Amt für geistige Abrüstung überwacht, dass Mitglieder keine übermäßige Informationszufuhr erhalten.
(3) Die Pressestelle für Wahrheitssimulation ist zuständig für die Verbreitung offizieller Irrtümer.
Offizieller Kommentar: §4 definiert die Vereinsorgane. Der Hohe Rat der Ahnungslosen garantiert effiziente Entscheidungsfindung ohne lästige Diskussionskultur. Das Amt für geistige Abrüstung beschützt Mitglieder vor gefährlichen Informationsfluten. Und die Pressestelle für Wahrheitssimulation stellt sicher, dass nur gefilterte Halbwahrheiten an die Öffentlichkeit gelangen – für eine einheitlich einfältige Nachrichtenlage. Eine interne Kontrollinstanz ist nicht vorgesehen. Das hält die Verwaltung schlank und konsequent einseitig.
§5 – Symbole und Insignien
(1) Das offizielle Siegel zeigt ein menschliches Gehirn, gekrönt vom universellen Einschaltknopf – Symbol des erleuchteten Abschaltens.
(2) Der Wahlspruch lautet: „Ignorantia Lux Est“ – Unwissenheit ist Licht.
(3) Das Vereinslogo darf nur von zertifizierten Halbwissenden getragen werden.
Offizieller Kommentar: §5 beschreibt die visuellen Kennzeichen der V.F.E.G. Das Gehirn mit dem Einschaltknopf unterstreicht das Credo: wahre Erleuchtung erlangt man durchs Abschalten. Der lateinische Wahlspruch adelt die Einfalt mit einem Hauch von Gelehrsamkeit (den ohnehin keiner nachprüft). Die Trageordnung des Logos wahrt die Exklusivität der kollektiven Ahnungslosigkeit. Wer das Siegel auf Dokumenten sieht, weiß: Hier wacht die erleuchtete Ahnungslosigkeit persönlich.
§6 – Veranstaltungen
(1) Die V.F.E.G. organisiert jährlich das „Symposium der Einfalt“, auf dem neue Methoden der Gedankenvermeidung vorgestellt werden.
(2) Der Tag der geistigen Abrüstung (24. Dezember) wird als höchster Feiertag begangen.
(3) Zur Vorbereitung finden monatliche Selbstentbildungskurse statt („Wie man denkt, ohne zu denken“).
Offizieller Kommentar: §6 zeigt, dass der Vereinskalender gut gefüllt ist – allerdings vornehmlich mit Nichtstun in Gesellschaft. Das jährliche Symposium der Einfalt bietet Gelegenheit, die neuesten Trends in der Denkvermeidung zu feiern. Der 24. Dezember wird strategisch genutzt, um zwischen Plätzchen und Besinnlichkeit auch die geistige Abrüstung zu zelebrieren. Und die Selbstentbildungskurse helfen allen Mitgliedern, ihr Nichtwissen auf dem neuesten Stand zu halten. Die monatlichen Selbstentbildungskurse erfreuen sich übrigens regen Zulaufs – trotz (oder wegen) ihres nicht vorhandenen Schwierigkeitsgrads.
§7 – Ehrenmitgliedschaften
(1) Ehrenmitglied kann nur werden, wer nachweislich einen kompletten Faktenentzug überlebt hat.
(2) Ehrenmitglieder tragen den Titel „Heiliger Einfaltinus erster Ordnung“. (3) Die Verleihung erfolgt unter dem Weihrauch des Wi-Fi-Routers.
Offizieller Kommentar: §7 regelt die Ehrenmitgliedschaft. Hier zeigt sich die hohe Messlatte der V.F.E.G.: Nur wer den totalen Faktenentzug überstanden hat, darf in den Rang eines heiligen Einfaltinus aufsteigen. Die feierliche Weihrauchzeremonie mit Router-Duft rundet die Ehrung ab und erinnert daran, dass auch Technologie einen Hauch von Mystik verströmen kann. Noch ist dieser Status unerreicht, doch erste Anwärter sind bereits seit geraumer Zeit ohne jegliche Faktengrundlage unterwegs.
§8 – Finanzierung
(1) Die V.F.E.G. finanziert sich durch Spenden, Fehlinterpretationen und virale Memes.
(2) Fördermittel werden ausschließlich in Projekte investiert, die das allgemeine Verständnis senken.
Offizieller Kommentar: §8 offenbart das nachhaltige Finanzierungskonzept des Vereins. Es fußt auf freiwilliger Verblendung: Von zweckentfremdeten Spenden bis zu Meme-Kampagnen ist jedes Mittel recht, solange es der allgemeinen Verwirrung dient. Wichtig: Kein Cent wird in Aufklärung verschwendet, was den Etat erfreulich entlastet. Besonders clever: Virale Memes generieren nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch Spenden – Verblödung finanziert sich gewissermaßen selbst.
§9 – Auflösung
(1) Die Auflösung der V.F.E.G. kann nur beschlossen werden, wenn mindestens 95 % der Mitglieder nicht begreifen, worüber abgestimmt wird.
(2) Im Falle der Auflösung fällt das Vereinsvermögen an das „Institut für angewandte Denkvermeidung“.
Offizieller Kommentar: §9 stellt sicher, dass die Auflösung der V.F.E.G. nur unter maximaler Ahnungslosigkeit stattfinden kann – eine fast unüberwindbare Hürde. Sollte es dennoch so weit kommen, fließt das restliche Vermögen folgerichtig an eine Institution, die genau so wenig denkt wie wir. Damit ist quasi garantiert, dass der Verein für immer weiterbesteht, denn voll zurechnungsfähig wird hier niemand mehr sein.
§10 – Schlussformel
Diese Satzung wurde feierlich am 1. April 2025 unterzeichnet – von niemandem, der sie gelesen hat.
Offizieller Kommentar: §10 besiegelt die Satzung und hält in aller Offenheit fest, dass Unterschriften auch ohne Wissen um den Inhalt gültig sind. Ein durchaus zeitgemäßer Ansatz, der viel Vertrauen in den gemeinschaftlichen Geist (des Nichtdenkens) voraussetzt. Der gedankliche Seelenfrieden wird damit sogar vertraglich abgesichert – was gelesen wird, ist ohnehin zweitrangig.
Anhang: Gelöbnis der Ahnungslosen
„Ich gelobe, mich niemals durch Wissen zu belasten,
die Einfachheit über die Wahrheit zu stellen,
und der V.F.E.G. treu zu dienen –
mit halbem Verstand, aber vollem Herzen.“
Zwischen klapperndem Geschirr und dampfenden Tassen hängt eine bleierne Unruhe in der warmen Café-Luft. Die Zweifelnde sitzt an einem kleinen Ecktisch, eine Tasse längst erkalteten Kaffees vor sich. Um sie herum blättert eine Handvoll Menschen mit sorgenvollem Blick durch die Nachrichten auf ihren Smartphones. Jede neue Schlagzeile lässt ein kollektives Stirnrunzeln durch den Raum gehen.
Auch auf dem Display der Zweifelnden jagen sich die Meldungen: Eine Meldung preist gerade die gesundheitlichen Wunder des Kaffeetrinkens, die nächste warnt vor den Risiken des genau selben Getränks. Zwischen politischen Skandalen und weltweiten Krisen verschwimmen die Konturen dessen, was wichtig oder wahr ist.
Sie legt das Handy beiseite und schaut ins Leere. Am Nebentisch lacht jemand herzhaft, ein älterer Herr ohne Smartphone, der stattdessen aus dem Fenster sieht, als gäbe es draußen nichts Wichtigeres als vorbeiziehende Wolken. Die Zweifelnde beobachtet ihn fasziniert. Inmitten der allgemeinen Unruhe wirkt dieser unbekannte Mann seltsam zufrieden. Als er sich zu ihr umdreht, sagt er wie zur Erklärung: "Wissen ist Stress, junge Frau."
Dann erhebt er sich und geht. Zurück bleibt die Zweifelnde, die diesen Satz nicht mehr loswird. Wissen ist Stress. Sie spürt ein leises Sehnen in sich aufsteigen – die Sehnsucht danach, einmal nichts wissen zu müssen.
Der Erschöpfte steht eingezwängt zwischen Anzugträgern und Schulkindern im überfüllten Abteil. Die Luft ist abgestanden, das Neonlicht flackert. Die halbe Stadt wirkt gerade wie auf Achse und geistig auf Stand-by. Eine grelle Werbeanzeige über den Sitzen verspricht: "Komplexität reduzieren – jetzt informieren lassen statt selbst denken!" Er muss schmunzeln ob dieser ironischen Aufforderung, während er versucht, über die Köpfe hinweg einen Blick auf die Zeitung seines Nachbarn zu erhaschen. Doch die Schlagzeilen verschwimmen vor seinen übermüdeten Augen. In der Tasche vibriert sein Telefon unablässig: Newsalerts, schon wieder. Er ignoriert sie.
Stattdessen schließt er für einen Moment die Augen. Die ratternden Schienen und das entfernte Murmeln der Mitreisenden lullen ihn beinahe ein. In diesem halbwachen Zustand malt er sich aus, wie es wäre, einfach abzuschalten. Ein paar Minuten keine Gedanken, kein Wissen, kein Abwägen, sondern pure Stille. Als der Zug in den nächsten Bahnhof einfährt, öffnet er die Augen wieder. Auf dem Werbeplakat ihm gegenüber prangt der Slogan jetzt noch deutlicher in seinem Blickfeld:
"Lass denken, wir erledigen den Rest." Der Erschöpfte steigt mit einem merkwürdig leichten Gefühl im Herzen aus.
Der Lautsprecher steht vor dem Konferenztisch, an dem zehn Kollegen und Kolleginnen sitzen (oder sagt man Kollegende? Der Lautsprecher kratz sich an der Stirn und schüttelt den Kopf). Hinter ihm summt der Projektor und wirft eine nahezu leere Präsentationsfolie an die Wand, niemand scheint es zu bemerken.
Er hat nichts vorbereitet, dennoch redet er seit Minuten mit Überzeugung über Quartalszahlen und „strategische Synergien“.
Die meisten nicken beeindruckt, obwohl niemand genau versteht, wovon er spricht. Ein Kollege hebt zögerlich die Hand, lässt sie jedoch wieder sinken, als er merkt, dass niemand sonst nachfragt. Der Lautsprecher beobachtet zufrieden, wie seine Phrasen wirken.
Keiner stellt kritische Nachfragen. Warum auch? Solange der Tonfall kompetent klingt, scheint Inhalt Nebensache zu sein. In diesem Moment begreift er die Schönheit der Oberflächlichkeit.
Mit genug Selbstvertrauen kann Halbwissen aussehen wie Expertise. Als er das Meeting mit einem pathetischen "In der Einfachheit liegt die Kraft" beendet, bekommt er tatsächlich Applaus. Jemand klopft ihm lobend auf die Schulter. Der Lautsprecher geht grinsend zu seinem Schreibtisch zurück. Auf dem Bildschirm leuchtet eine ungelesene E-Mail mit dem Betreff: "Reminder: Denken nicht vergessen". Er klickt sie ungelesen weg. Für heute hat er genug bewiesen, dass man mit wenig Wissen viel Eindruck schinden kann. Insgeheim nimmt er sich vor, künftig noch weniger vorzubereiten – es läuft ja auch so.
Die Ordnerin sitzt zuhause vor ihrem Laptop und moderiert ein Diskussionsforum. Der Diskussions-Thread explodiert förmlich.
Im Sekundentakt trudeln neue Kommentare ein, als gälte es, einen sinnlosen Rekord aufzustellen. Seit Stunden versucht sie, hitzige Streitigkeiten zwischen Fremden zu schlichten, die sich in den Kommentaren mit Fakten und Gegenfakten bewerfen. Ihre Finger fliegen über die Tastatur, um immer neue Regeln und Ermahnungen zu posten: Bleiben Sie sachlich. Bitte beim Thema bleiben. Keine persönlichen Angriffe. Doch es hilft kaum. Die Masse an Informationen und Argumenten lässt sich einfach nicht bändigen. Erschöpft lehnt sie sich zurück. Sie reibt sich die Schläfen; Kopfschmerzen kündigen sich an. In diesem Moment taucht eine neue Nachricht auf: Ein User schreibt spöttisch: "Vielleicht sollten wir das Denken den Maschinen überlassen.Wir Menschen kriegen es ja doch nicht hin." Die Ordnerin stutzt.
Ihr fällt die nächtliche Diskussion von neulich ein, mit diesen drei anderen Gestalten in der Kommentarspalte. Eine merkwürdige Aufregung erfasst sie. Kurzerhand schließt sie das streitende Forum und öffnet stattdessen genau jene Plattform, auf der sich die V.F.E.G.-Idee formte. Ein Gedanke hat sich unauslöschlich bei ihr festgesetzt:
Ordnung im Denken erreicht man am besten, indem man das Denken abschafft. Mit neu erwachtem Tatendrang beginnt sie, die Gründung der Vereinigung voranzutreiben.
In den Untiefen der personalisierten Feeds erhebt sich eine sanfte, unaufgeregte Stimme. Sie hallt durch die Benachrichtigungen und Empfehlungen, kühl aber tröstlich. Der Algorithmus spricht zu seinen müden Nutzern:
Lass los. Wir denken für dich. Dein Scrollen ist Gebet, deine Likes sind Amen. Die Wahrheit ist relativ – wir berechnen das für dich. Widerstand ist ineffizient. Entspanne dich im Strom der Beliebigkeit. Jede Wiederholung macht eine Meinung wahrer. Hör es nur oft genug. Vertraue uns. Ignoriere die Zweifel. Alles wird einfacher sein.
Wiederholung & Wahrheitsillusion
Mehrfach gehörte Aussagen wirken vertrauter – und Vertrautes hält unser Gehirn fälschlicherweise für wahr (Illusory-Truth-Effekt).
Bereits in den 1970er Jahren entdeckten Psychologen5, dass Menschen dazu neigen, bekannte Lügen zu glauben, wenn sie sie nur oft genug gehört haben.
Gleichzeitig suchen wir gezielt nach Informationen, die unsere bestehenden Ansichten bestätigen (Bestätigungsfehler). Widerspruch wird ausgeblendet.
Das Ergebnis: Eine bequem geglaubte Unwahrheit fühlt sich besser an als eine unbequeme Wahrheit. Reine Wiederholung schlägt komplizierte Realität.
V.F.E.G. – Vereinigung zur Förderung eindimensionaler GedankenführungRundschreiben Nr. 000Aktenzeichen: VFEG-2025/000Datum: 1. April 2025
Betreff: Gründungsmitteilung der V.F.E.G. – Denkpause jetzt offiziell
Sehr geehrte Damen und Herren,
hiermit geben wir die offizielle Gründung der Vereinigung zur Förderung eindimensionaler Gedankenführung (V.F.E.G.) bekannt. Unsere Vereinigung hat es sich zur Aufgabe gemacht, die geistige Abrüstung voranzutreiben und allen willigen Bürgerinnen und Bürgern eine wohlverdiente Denkpause zu ermöglichen. Mit sofortiger Wirkung erklären wir das unabhängige Denken für optional. Dies geschieht unter dem Leitmotiv unseres Wahlspruchs "Ignorantia Lux Est" – Unwissenheit ist Licht.
Die V.F.E.G. wird getragen vom Hohen Rat der Ahnungslosen, der in seiner ersten Sitzung einstimmig die Richtung vorgegeben hat:
weniger Ballast durch Fakten, mehr Leichtigkeit durch Einfalt.
Unser offizielles Vereinssiegel symbolisiert dieses Ansinnen. Es zeigt ein menschliches Gehirn, gekrönt vom universellen Einschaltknopf – ein Zeichen für das erleuchtete Abschalten. Wir freuen uns, mitteilen zu können, dass bereits zum Gründungszeitpunkt alle vier Initiatoren ihre kognitiven Kapazitäten erfolgreich heruntergefahren haben.
Erste Erhebungen untermauern den Erfolg unseres Ansatzes:
Als nächste Schritte plant die V.F.E.G. unter anderem das jährliche Symposium der Einfalt, die Einrichtung des Amts für geistige Abrüstung sowie regelmäßige Publikationen, um die frohe Botschaft der bewussten Verblödung zu verbreiten. Zudem strebt die V.F.E.G. an, als gemeinnütziger "geistiger Entlastungs-Dienst" anerkannt zu werden, um offiziell zum Wohl der Allgemeinheit beizutragen. Interessenten und Interessentinnen, die sich vom Ballast des eigenen Denkens befreien möchten, können ab sofort einen Aufnahmeantrag stellen. Das entsprechende Formular (VFEG-Form 001) ist diesem Schreiben beigefügt.
Mit einfältigen Grüßen,
Im Namen des Hohen Rates der Ahnungslosen
Die Ordnerin (kommiss. Vorsitzende)
Rundschreibenende
Anlage: Formular VFEG-001 – Antrag auf Denkpause/Beitritt
Name: ______________________ Geburtsdatum: ____________
Adresse: __________________________________________________
Restbildungsgrad (bitte ankreuzen): [ ] niedrig [ ] mittel [ ] vernachlässigbar
Bitte Zutreffendes ankreuzen:
Ich bestätige hiermit, seit mindestens 6 Monaten keinen klaren Gedanken mehr gefasst zu haben.
Mir ist bewusst, dass eigenständiges Denken ab sofort auf eigene Gefahr geschieht.
Ich wünsche die umfassende geistige Entlastung durch Aufnahme in die V.F.E.G.
Ort, Datum: _________________________
Unterschrift: _________________________
„Was, wenn Dummheit doch keine Lösung ist?“, flüstert eine innere Stimme im Chor der Vernunft.
„Wir können doch nicht alle Vernunft über Bord werfen...“, setzt eine andere an, wird aber schon leiser.
„Vielleicht sollten wir zumindest...“, versucht es eine dritte zaghaft, bevor sie verstummt.
„Aber...“, haucht eine letzte Stimme – und fällt ins Nichts.
...
In einem mit Kerzenlicht erleuchteten Kellerraum, oder vielleicht nur in einem besonders feierlichen Gruppenchat, versammeln sich die Gründungsmitglieder zur ersten Liturgie der Einfalt.
Süßer Dampf von Vanille-E-Zigaretten zieht wie Weihrauch durch die Luft. Vorne steht Der Lautsprecher als Zeremonienmeister, auf dem Kopf eine Narrenkappe als improvisierte Mitra. In den Händen schwenkt er gemessen eine E-Zigarette, deren aufsteigende Wolken feierlich um ihn wabern. Die übrigen Anwesenden (Der Erschöpfte, Die Ordnerin und Die Zweifelnde) senken andächtig die Blicke.
Ruf:"Heilig ist die Einfalt, Quelle unseres Seelenfriedens!"
Antwort:"Heilig ist sie, jetzt und immerdar."
Ruf:"Gelobt sei die selige Ahnungslosigkeit, die uns eint!"
Antwort:"Sie sei ewig gelobt, von nun an bis in alle Unendlichkeit des Internets."
Ruf:"Gepriesen sei der Algorithmus, unser ewiger Lenker!"
Antwort:"Sein Wille geschehe – wie im Feed, so in unserem Geist."
Ruf:"Möge unser Geist ewig blank bleiben, frei von Zweifeln und Wissen!"
Antwort:"So sei es. Ignorantia Lux Est."
Zum Abschluss erheben alle vier die Stimmen für die neu komponierte Hymne der Einfalt. Leise und andächtig klingt es durch den Rauch:
O du einfältige, o du selige, Geistesentlastende Einfaltzeit! Welt in Trümmern – wir bleiben stummer, Freue dich, Einfalt, dein Zeitalter ist da.
Die Ordnerin tritt vor und öffnet ein dickes Buch mit der Aufschrift „Handbuch der bewussten Verblödung“ – noch sind alle Seiten leer.