WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN - Eberhard Weidner - E-Book
SONDERANGEBOT

WENN DIE EICHEN LEICHEN TRAGEN E-Book

Eberhard Weidner

0,0
2,49 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 2,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: neobooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Zunächst sieht alles nach einem eindeutigen Fall von Selbsttötung aus. Der 18-jährige Schüler, der am Ast einer alten Eiche baumelt, hat sich vermutlich selbst das Leben genommen. Davon ist zumindest der Leiter der Soko überzeugt, die mit der Suche nach den beiden jungen Frauen befasst ist, die in den letzten Tagen spurlos verschwunden sind. Denn im Besitz des Toten wurde nicht nur das Armband einer der beiden Frauen, sondern auch eine Nachricht gefunden, die sich wie ein Geständnis und die Ankündigung des Suizids lesen lässt. Doch Kriminalkommissar Franz Schäringer von der Mordkommission Fürstenfeldbruck, der mit seinem jungen Kollegen, Kriminalkommissar Lutz Baum, an den Tatort gekommen ist, um die Todesermittlungen durchzuführen, hat seine Zweifel an dieser Theorie. Bestätigung erhält er durch erste Ergebnisse der Spurensicherung und die vorläufige Untersuchung des Leichnams durch den Gerichtsmediziner, der Tod durch Erwürgen feststellt. Der Selbstmord wurde also nur vorgetäuscht. Wurden dem Toten dann etwa auch die Beweisstücke vom wahren Täter untergeschoben, um für die Polizei eine falsche Fährte zu legen und die Ermittler in die Irre zu führen? Bei ihren Ermittlungen erfahren Schäringer und Baum, dass der Tote von Mitschülern gemobbt und dabei gefilmt wurde. Nachdem dieser Vorfall dem Schuldirektor gemeldet worden war, wurden die Täter zwei Wochen vom Unterricht suspendiert. Liegt etwa darin das wahre Motiv für den Tod des jungen Mannes? Als sich dann auch noch herausstellt, dass in derselben Nacht eine Motorradwerkstatt abgebrannt ist, und die beiden Beamten dorthin gerufen werden, weil in dem heruntergebrannten Gebäude eine Leiche gefunden wurde, will Franz Schäringer nicht an einen Zufall glauben, auch wenn es keinerlei Beweise gibt, dass die Entführungen, der Mord und die Brandstiftung überhaupt etwas miteinander zu tun haben? Durch seine Ermittlungen gerät Schäringer allerdings ins Visier des Täters, der im Scharfsinn des Kriminalbeamten die größte Bedrohung für seine Existenz sieht. Um dieser Bedrohung zu begegnen, tritt er erneut in Aktion – und Schäringer gerät plötzlich selbst in tödliche Gefahr.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 502

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



INHALTSVERZEICHNIS

COVER

TITEL

PROLOG

1

2

3

KAPITEL 1

1

2

3

4

KAPITEL 2

1

2

3

4

5

KAPITEL 3

1

2

3

4

5

6

7

8

KAPITEL 4

1

2

3

KAPITEL 5

1

2

3

4

5

6

7

KAPITEL 6

1

2

EPILOG

1

2

3

ANMERKUNGEN DES AUTORS

NACHWORT

WEITERE TITEL DES AUTORS

LESEPROBE

PROLOG

1

Es war wie die weltberühmte Frage, was zuerst da war, das Huhn oder das Ei. Denn nach ihrem Erwachen wusste sie zunächst nicht zu sagen, ob nun das schmerzhafte Pochen in ihrem Schädel dafür gesorgt hatte, dass sie erwachte, oder es sich nicht eher andersherum verhielt und der Kopfschmerz erst in dem Moment entstanden war, als sie begonnen hatte, zu sich zu kommen.

Da sie instinktiv ahnte, dass der Schmerz sich intensivieren würde, sobald sie die Augen öffnete, ließ sie diese lieber noch zu. Sie überlegte, ob sie heute zur Schule musste oder ausschlafen konnte. Sie konnte sich allerdings nicht erinnern, welcher Tag heute war. Das kam am Wochenende gelegentlich vor. Dann wachte sie auf, dachte, sie müsste gleich aufstehen, weil sie Schule hatte, und dann fiel ihr ein, dass Samstag oder Sonntag war und sie sich beruhigt noch einmal auf die andere Seite drehen und weiterschlafen konnte. Auch dieses Mal wartete sie auf diese Erkenntnis, doch anders als gewohnt stellte sie sich heute nicht ein, sodass sie weiter darüber nachgrübeln musste.

Hatte sie etwa doch Schule? Aber wieso hatte sie dann den Wecker nicht gehört? Vielleicht war es also tatsächlich so, dass der bohrende Schmerz in ihrem Kopf sie geweckt hatte. Oder sie hatte ein Geräusch im Haus gehört. Ihre Mutter möglicherweise, die immer vor allen anderen aufstand, um in Ruhe die erste Tasse Kaffee des Tages zu genießen, bevor die anderen lärmend herunterkamen und sie Pausenbrote für die Kinder machen musste. Oder ihr Vater, der noch schnell ins Bad schlurfte, kurz bevor ihr Wecker klingelte und sie das Bad für die nächsten zwanzig Minuten mit Beschlag belegte. Nur die Nervensäge Robin, ihr neunjähriger Bruder, konnte es nicht gewesen sein, denn der stand nie vor den anderen auf, sondern erst im letztmöglichen Moment, bevor Mama die Geduld verlor, nach oben ging und ihm die Decke wegriss. Dann hatte er gerade noch Zeit für eine Katzenwäsche, das Zähneputzen und ein hastiges Frühstück, bevor er aus dem Haus rannte.

Sie versuchte sich zu erinnern, was sie am letzten Abend getan hatte, um über diesen Umweg in Erfahrung zu bringen, was für ein Wochentag heute war, stieß jedoch anstelle einer Erinnerung nur auf gähnende Leere. Sie runzelte die Stirn, was den Schmerz unter ihrer Schädeldecke augenblicklich verstärkte.

Warum kann ich mich nicht daran erinnern, was ich gestern Abend getan habe?, fragte sie sich beunruhigt.

Es sah immer mehr so aus, als würde sie unter einem Kater leiden. Aber wie konnte das sein, wo sie doch schon aus Prinzip keinen Alkohol trank? Niemals! Und dabei machte sie auch keine Ausnahmen. Sie trank noch nicht einmal ein Glas Sekt, wenn eine ihrer Freundinnen Geburtstag feierte. Doch die Symptome, unter denen sie heute früh litt – stechender Kopfschmerz und eine riesige Gedächtnislücke –, erinnerten sie unwillkürlich an das, was Freunde und Bekannte über die Nachwirkungen von übermäßigem Alkoholgenuss erzählt hatten. Außerdem hatte sie, wie ihr erst jetzt auffiel, einen trockenen Hals und einen ekelhaften Geschmack im Mund. Bitter und intensiv, so als hätte sie vor dem Schlafengehen Medizin eingenommen.

Da das Pochen in ihrem Schädel nicht wie erhofft schwächer, sondern mit jeder Minute noch intensiver wurde, beschloss sie, aufzustehen und eine Schmerztablette zu nehmen. Außerdem wollte sie sich die Zähne putzen und den Mund gründlich ausspülen, um den scheußlichen Geschmack loszuwerden.

Sie öffnete die Augen und blinzelte in die trübe Helligkeit, die sie umgab und ihre Kopfschmerzen – wie sie richtig vermutet hatte – zusätzlich anheizte. Sie stöhnte laut und lang gezogen, allerdings weniger wegen der Schmerzen, sondern eher wegen dem, was ihre Augen ihr zeigten. Denn sie erkannte augenblicklich, dass sie gar nicht zu Hause in ihrem Bett lag, wie sie seit dem Aufwachen geglaubt hatte, sondern ganz woanders war. An einem fremden Ort, den sie noch nie gesehen hatte und an dem sie nie zuvor gewesen war.

Sie hob den schmerzenden Kopf vom Kissen, das ihr nun nicht mehr so weich wie ihr eigenes erschien. Und auch die Matratze, auf der sie lag, war viel härter, dünner und unbequemer. Mit behutsamen Bewegungen ihres Kopfes und ihrer Augen sah sie sich um.

Das Licht, das es ihr erlaubte, ihre Umgebung zu erkennen, war diffus und kam durch eine rechteckige, vergitterte Öffnung unmittelbar unter der unverputzten Betondecke. Auch die Wände sahen aus wie in einem Rohbau und waren schmucklos. Als sie den Kopf langsam nach links wandte, entdeckte sie eine fensterlose Tür aus Metall, die hellgrau gestrichen war.

Ich muss in einem Kellerraum sein. Aber warum bin ich hier? Und wer hat mich hierher gebracht?

Sie versuchte erneut, sich an die letzten Ereignisse unmittelbar vor dem Einschlafen zu erinnern. Doch alles war wie ausgelöscht. Ihr kam der vage Gedanke, dass sie mit Freunden unterwegs gewesen und anschließend im Dunkeln allein nach Hause gegangen war. Aber alles, was danach eigentlich kommen müsste, war weg, als hätte es nie existiert oder wäre nachträglich gelöscht worden.

Für den Bruchteil eines Augenblicks erschien, wie von einem Blitzlicht aus der Dunkelheit gerissen, ein Gesicht vor ihrem inneren Auge, um allerdings sofort wieder zu verschwinden, bevor sie in der Lage war, Details zu erkennen. Ihr wurde lediglich bewusst, dass sie die Person, der das Gesicht gehörte, nicht kannte und nie zuvor gesehen hatte.

Aber warum sehe ich dann ihr Gesicht vor mir, während ich darüber nachgrüble, was mit mir geschehen ist?

Obwohl sie das Antlitz nur für die Dauer eines Lidschlags gesehen hatte, fiel ihr im Nachhinein auf, dass es zwei gänzlich unterschiedliche Ausdrücke gezeigt hatte. Erst lächelnd und freundlich, aber schon im nächsten Moment böse und verzerrt. Fast wie die beiden gegensätzlichen Seiten ein und derselben Medaille.

Sie schloss die Augen, um sich besser konzentrieren und das Gesicht noch einmal aus der Finsternis ihrer verlorenen Erinnerungen reißen zu können. Es gelang ihr aber nicht. Außerdem verstärkte sich der Schmerz, je intensiver sie nachdachte.

Also öffnete sie die Augen wieder und richtete ihren Oberkörper auf. Es klirrte metallisch, als sie sich bewegte. Sie sah nach unten und entdeckte voller Entsetzen, dass ihre Handgelenke von eisernen Schellen umschlossen wurden, die durch silberne, massiv wirkende Ketten mit einem Stahlring in der Wand verbunden waren. Sie hob die Hände näher vor ihre Augen, als könnten sich die Fesseln dadurch als Trugschluss herausstellen. Doch schon das laute Klirren, das sie dadurch erzeugte, bewies ihr, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Die Schellen und Ketten lösten sich partout nicht in Luft auf, sosehr sie sich das auch wünschte, und plötzlich konnte sie auch deutlich ihr Gewicht und die Enge um ihre Handgelenke spüren.

Die eisige Kälte der Todesangst griff nach ihrem Herzen, umschloss es mit knochigen Fingern und drückte in dem Augenblick zu, als ihr bewusst wurde, was das alles – die fremde Umgebung, der Kopfschmerz, die Erinnerungslücke und die Ketten – bedeuten musste.

»Aber wer …?«, fragte sie mit krächzender Stimme, ehe ein Hustenanfall sie verstummen ließ. Während sie hustete, löste jede einzelne Erschütterung ihres Körpers in ihrem gequälten Schädel weitere weißglühende Pfeile aus purem Schmerz aus, die in alle Richtungen flogen.

Aber als hätten die neuen Schmerzimpulse sie befreit, tauchten plötzlich Erinnerungen in ihr auf. Es waren allerdings ganz andere Erinnerungen, als sie erwartet und erhofft hatte. Sie erinnerte sich nämlich daran, dass vor ein paar Tagen eine junge Frau verschwunden und seitdem nicht mehr aufgetaucht war. Sie wohnte ganz in der Nähe von Fürstenfeldbruck und sah ihr sogar ein bisschen ähnlich. Beide hatten langes, hellblondes Haar und hübsche, ebenmäßige Gesichtszüge. Beide waren groß gewachsen und schlank. Sie hatte die andere zwar nicht gekannt, da sie in verschiedenen Orten wohnten und unterschiedliche Schulen besuchten, dennoch hatte ihr spurloses Verschwinden sie entsetzt und beunruhigt.

Sollte ihr nun dasselbe widerfahren sein und das gleiche Schicksal drohen wie der verschwundenen Frau, die nur ein knappes Jahr jünger war als sie.

»Aber wieso ausgerechnet ich?«

Es schien, als wären ihre Worte von jemandem vernommen worden und hätten in einem anderen Teil dieses Hauses eine Reaktion ausgelöst, denn plötzlich wurden direkt über ihr Geräusche laut. Stampfende Schritte ertönten, verharrten kurz, wurden dann lauter, nachdem vermutlich eine Tür geöffnet worden war, polterten anschließend Stufen herunter und kamen dann rasch näher.

Ihr Herz schlug mit jedem lauter werdenden Schritt der unbekannten Person schneller und heftiger, während es noch immer im eiskalten Griff ihrer furchtbaren Angst steckte. Denn selbst wenn sie denjenigen, der sich ihr näherte, gar nicht kannte, musste es sich doch um die Person handeln, die sie aus ihrem normalen Leben gerissen und an diesen albtraumhaften Ort gebracht hatte und nun hier gefangen hielt.

Als die Schritte schließlich unmittelbar vor der Tür zu ihrem Kellerverlies verstummten, hielt sie unwillkürlich die Luft an. Mit ängstlichem Blick und laut klopfendem Herzen starrte sie die geschlossene Tür an, die einzige Barriere, die nun noch zwischen ihr und ihrem Entführer lag.

Ein Schlüssel drehte sich im Türschloss. Dann wurde ein Riegel zurückgezogen. Die Tür öffnete sich mit einem nervenzerreißenden Quietschen. Es fuhr ihr durch Mark und Bein und hätte sie beinahe laut schreien lassen.

Beim Anblick des Maskierten, der den Kellerraum betrat, konnte sie sich allerdings nicht länger beherrschen. Sie schrie so laut und schrill, wie sie noch nie zuvor geschrien hatte. Doch ihr Schrei währte nur Sekunden, bevor der Vermummte nach vorn sprang und ihr ins Gesicht schlug. Nicht so fest, dass sie verletzt wurde oder das Bewusstsein verlor, aber doch fest genug, um ihr Schreien zu einem leisen Wimmern werden zu lassen.

»Endlich aufgewacht, Miststück?«, fragte der Maskierte, der eine bunte Clownsmaske und eine bis zum Boden reichende schwarze Kutte mit Kapuze trug, mit dunkler, rauer Stimme. Er legte seine behandschuhte, rechte Hand unter ihr schmales Kinn und zwang sie, ihn anzusehen. »Dann können wir ja endlich anfangen, dir Schmerzen zuzufügen, die du für den kümmerlichen Rest deines kurzen, beschissenen Lebens nicht mehr vergessen wirst, damit du das, was du getan hast, endlich eingestehst und bereust.«

Durch die Augenschlitze konnte sie die Augen der Person sehen, die sie mitleidlos und zornig anfunkelten. Noch mehr als der Schlag ins Gesicht und die ganze Maskerade ließ sie dieser Blick frösteln und das Schlimmste befürchten …

2

Er grub wie ein Besessener. Der Schweiß lief ihm nicht nur übers Gesicht, sondern längst am ganzen Körper herunter und durchtränkte seine Kleidung. Er schwitzte und fröstelte zugleich, denn ein kühler Wind wehte durch die Bäume, unter denen er stand und grub, und brachte die Blätter zum Rascheln. In seinen Ohren klang es beinahe so, als unterhielten sich die Bäume flüsternd über ihn und das, was er hier tat.

Doch auf all diese Dinge achtete er nur am Rande. Denn viel mehr interessierte ihn die Erde unter seinen Füßen und das, was sie vermutlich enthielt.

Seine Bewegungen wurden immer hektischer, je größer das Loch wurde, das er aushob. Er achtete auch nicht darauf, ob jedes Mal genug Erde auf dem Blatt des Spatens war, damit sich die ruckartige, beinahe wütende Bewegung, mit der er die Erdbrocken hinter sich schleuderte, auch lohnte. Ihm kam es nicht darauf an, effektiv und kräftesparend zu graben und mit der ausgehobenen Erde neben dem Loch einen ordentlichen Haufen zu bilden. Ihm kam es einzig auf Schnelligkeit an. Er hatte es eilig, denn er wollte endlich Gewissheit haben, auch wenn er schon jetzt wusste, dass ihm die Gewissheit vor allem Kummer bereiten und Leid zufügen würde.

Obwohl er erst vor wenigen Minuten zu graben begonnen hatte, war die ungleichmäßige Grube unter seinen Füßen bereits knöcheltief. Längst schnappte er keuchend nach Luft, gönnte sich aber keine Pause. Ohne Unterlass grub er, als hinge sein Leben davon ab.

Und vielleicht war es ja auch so. Er war sich in dieser Hinsicht nämlich noch nicht sicher.

Was werde ich tun, wenn es tatsächlich wahr ist?, hatte er sich in den letzten Minuten mehr als einmal bang gefragt. Werde ich den Mut haben, die richtigen Konsequenzen aus dem, was ich finde, zu ziehen? Das Richtige zu tun? Das, was getan werden muss?

Er kannte die Antworten auf diese Fragen nicht. Vermutlich würde er sie erst wissen, wenn er fand, wonach er suchte. Falls es tatsächlich hier vergraben war. Denn noch war nichts sicher. Noch hatte er Hoffnung, dass es nur ein Irrtum war.

Die Arme wurden mit jedem Heben des Spatens schwerer. Seine Unterarmmuskeln verkrampften sich immer wieder aufgrund der ungewohnten Belastung durch die heftigen, ruckartigen Bewegungen. Außerdem schmerzte sein Rücken, weil der Griff des Spatens zu kurz war und er gebückt graben musste. Als die Krämpfe in den Unterarmen zu stark wurden, musste er doch eine kurze Pause einlegen. Er lehnte den Spatengriff gegen sein rechtes Bein, dessen Knie ebenso wie das andere vor Anspannung und Angst zitterte. Dann massierte er sich zuerst mit der linken Hand den rechten Unterarm und anschließend umgekehrt, bis sich die schmerzhafte Verkrampfung ein bisschen gelockert hatte.

Wie gut das tat, als der Schmerz nachließ. Zumindest was den körperlichen Schmerz betraf, denn den vermochte er halbwegs zu lindern. Im Gegensatz zu seinem seelischen Leid. Die Wunde, die sein Herz davongetragen hatte, war zu tief und zu schwer, als dass sie heilbar wäre. Und von dem, was hier vergraben lag, würde es abhängen, ob sie letzten Endes auch tödlich war.

Er legte den Kopf in den Nacken und gönnte sich noch ein paar weitere Augenblicke, um zu verschnaufen und wieder ein wenig zu Atem zu kommen. Durch vereinzelte Lücken im Laubwerk der Bäume, die ihn umgaben und überragten, konnte er den Nachthimmel sehen, der vom Mond erhellt wurde, der in dieser Nacht noch immer fast voll und rund war. Einzelne Strahlen schienen auch zwischen den Ästen hindurch auf ihn und den erdigen Untergrund, auf dem er stand und ein Loch aushob. Das Mondlicht war Beleuchtung genug, um ihn sein makabres Werk verrichten zu lassen. Die Taschenlampe, die er von zu Hause mitgebracht hatte, hatte er deshalb wieder eingesteckt, sobald er diesen Ort gefunden und erkannt hatte, was er verbarg.

Mach weiter!

Der mentale Befehl, den er sich selbst gab, setzte ihn gleichermaßen abrupt und ruckartig in Bewegung wie einen ferngesteuerten Roboter der Druck auf den Kontrollhebel. Er nahm den Spaten, atmete noch einmal tief durch und trieb das Blatt dann mit neuer Kraft tiefer als zuvor in die Erde. Er stöhnte leise, als er einen großen Erdbrocken anhob und zur Seite warf. Der Schweiß auf seinem Körper hatte nicht einmal Zeit gehabt, vollständig zu trocknen, da brach er ihm erneut aus.

Seine Bewegungen wurden immer verbissener. Er ahnte, dass er seinem Ziel nahe war. Er konnte es kaum erwarten, dass seine Mühen und die Ungewissheit ein Ende fanden, hatte gleichzeitig aber auch furchtbare Angst davor, genau das zu finden, was er befürchtete. Erneut trieb er die Spitze des Spatens besonders tief in die Erde, indem er mit dem rechten Fuß auf die Kante des Schaufelblatts trat und es in den Boden drückte. Als er den Stiel wie einen Hebel nach unten drückte, um die Erde zu lockern, ließ er sich im ersten Moment keinen Millimeter bewegen. Er befürchtete schon, der Spaten könnte feststecken, und wollte ihn herausziehen, da spürte er, wie die Erde doch noch unter dem Druck nachgab. Er hob den Erdbrocken, der schwerer war als alle bisherigen Ladungen, mit der Schaufel aus dem Loch und ließ ihn daneben zu Boden fallen.

Erneut musste er für einen Moment verschnaufen, bevor er weitergraben konnte. Er sah nach unten, um seinen Fortschritt zu begutachten. Seine letzten Bemühungen nach der Pause waren effektiver gewesen als das planlose, hektische Buddeln zuvor. Er hatte dadurch bereits ein knietiefes Loch geschaffen. Niklas sah, dass die Erde am Rand bröckelte und nach unten rieselte. Noch während er zusah, löste sich ein größerer Erdbrocken und purzelte zum Grund des Lochs. Und aus der Lücke, die dadurch an der Seitenwand des Lochs entstanden war, klappte wie ein makabrer Scherzartikel eine leichenblasse, menschliche Hand herunter.

Ihm stockte der Atem, während auch das hämmernde Herz in seiner Brust vor Schreck mehrere Schläge ausließ, ehe es in noch schnellerem Tempo weitergaloppierte. Er stöhnte leise, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein. Der Griff des Spatens entglitt seinen gefühl- und kraftlosen Fingern. Gleichzeitig gaben seine zitternden Knie unter dem Gewicht des Körpers nach und knickten ein. Er fiel auf die Knie, während er weiterhin wie gebannt auf den menschlichen Körperteil starrte, der so plötzlich, aber gleichzeitig nicht wirklich überraschend an diesem Ort zum Vorschein gekommen war.

Die Hand und der sichtbare Teil des Gelenks waren so weiß, dass sie im fahlen Licht des Mondes, das durch eine Lücke im Geäst auf sie fiel, beinahe zu leuchten schienen. Er hatte eine solche Hautfarbe noch nie bei einem Menschen gesehen. Allerdings hatte er auch noch nie eine echte Leiche zu Gesicht bekommen. Nur einige kreisrunde, dunkle Flecken auf der Handfläche, an den Spitzen mancher Finger und an den empfindlicheren Stellen zwischen den Fingern, die wie Brandmale aussahen, störten die ansonsten beinahe makellose Weiße. Das Handgelenk endete dort, wo es in den Unterarm mündete und in der Erde verschwand, und es sah auf den ersten Blick beinahe so aus, als wäre die Hand vom Rest des Körpers abgetrennt worden, der noch immer im Boden vergraben war. Das, was er vor sich sah, war nur ein kleiner Teil, der wie die Spitze eines Eisbergs aus der Erde ragte.

Er schauderte, als er zaghaft seine eigene rechte Hand in Richtung der leichenblassen Hand ausstreckte. Er schlotterte am ganzen Körper, und das nicht nur wegen der kühlen Brise, die den Schweiß auf seinem Körper trocknete und ihn frösteln ließ. Als seine eigenen, gut durchbluteten Fingerspitzen nur noch wenige Zentimeter von den blutleeren Fingern der Leiche entfernt waren, zuckte er unwillkürlich zurück.

»Nein!«, schalt er sich augenblicklich selbst und flüsterte dabei automatisch, als hätte er Angst, er könnte durch ein lautes Wort den Leichnam, dem die Hand gehörte, wieder zu gespenstischem Leben erwecken und dazu veranlassen, sich aus seinem kühlen Grab zu erheben. Er wusste natürlich, dass diese Vorstellung absurd war, und redete sich ein, er würde nur wegen der Nachbarn und des Grundstückseigentümers flüstern, die ansonsten auf sein Tun aufmerksam werden könnten. Dabei wusste er genau, dass dieser Ort ziemlich abgeschieden war und sie ihn um diese Uhrzeit vermutlich nicht einmal dann hören könnten, wenn er lauter sprechen würde. »Du musst es tun!«, fuhr er, noch immer wispernd, aber in beschwörendem Tonfall fort. »Du musst dir Gewissheit verschaffen!«

Auch wenn dich die Gewissheit umbringt?, fragte die Stimme der Vernunft in seinem Verstand, die an diesem Abend allerdings bislang kein Gehör gefunden hatte. Und auch in diesem Moment ignorierte er sie, so als hätte er die berechtigte Frage gar nicht gehört. »Du musst!«, sagte er noch einmal, diesmal ein wenig lauter, und griff beherzt nach der leblosen Hand, die vor ihm aus der Erde ragte.

Er hatte sofort erkannt, dass es sich um die rechte Hand der vergrabenen Person handelte. Als wollte er dem Leichnam die Hand schütteln und sich artig vorstellen, ergriff er sie mit seiner eigenen rechten Hand und zog einmal kräftig daran. Natürlich erhoffte er sich nicht, den Körper auf diese Weise aus der Erde ziehen zu können. Das war auch gar nicht seine Absicht. Allerdings gab der Arm, an dem die Hand hing, etwas nach, und ein weiteres Stück des Unterarms kam zum Vorschein. Dadurch gerieten weitere Erdklumpen in Bewegung, blätterten ab und purzelten nach unten.

Als er genauer hinsah, entdeckte er, dass durch seine Aktion nicht nur ein weiterer Teil des weißen, mit kreisrunden Brandmalen bedeckten Unterarms sichtbar geworden war, sondern auch ein Armband aus silbernen Kettengliedern, an denen mehrere Anhänger hingen.

Seine Hand zuckte zurück, als hätte er sich an einer heißen Herdplatte verbrannt. Er gab einen kurzen, teilweise unterdrückten Laut von sich, eine Mischung aus Stöhnen, Aufheulen und Schluchzen, und starrte gebannt auf das Armband. Auch ohne genauer hinzusehen oder die Anhänger zu zählen und zu untersuchen, wusste er, dass es sich um ein silbernes Bettelarmband handelte, an dem sieben kleine Symbole hingen. Es handelte sich um ein Kreuz, ein Herz, ein Kleeblatt, einen Schlüssel, einen Pilz, einen Engel und einen kleinen Eiffelturm. Symbole, Erinnerungen und Stationen eines Lebens, das nun unweigerlich beendet war.

Sein Blick verschleierte sich, als ihm Tränen in die Augen schossen. Doch das Bild des zierlichen, leichenblassen Handgelenks mit dem im Mondlicht glänzenden Armband hatte sich ohnehin längst unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er schluchzte leise, während ihm die Tränen übers Gesicht liefen und sich dort mit dem Schweiß vermischten.

Er hob beide Arme, die Hände zu Fäusten geballt, und legte den Kopf in den Nacken. Mit tränenverschleiertem Blick starrte er zum Mond empor, der die Szene, die ein paar seiner Strahlen aus der Finsternis rissen, im Schutz des Astwerks schweigend beobachtete. Das leise Schluchzen verstummte, als er tief Luft holte, den Mund ganz weit aufriss und einen gellenden Schrei von sich gab, der wie das Heulen eines Wolfs klang und weithin hörbar durch die nächtliche Stille hallte. Ein paar Hunde in der Nähe wurden davon aufgeschreckt und erwiderten das Heulen, als wollten sie einen neuen Artgenossen in ihrer Mitte begrüßen …

3

Er beobachtete fasziniert die tanzenden Flammenzungen, die an der Fensterscheibe des Gebäudes vor ihm emporleckten, wieder in sich zusammensanken, als wollten sie neuen Anlauf nehmen, und schon im nächsten Augenblick noch höher und zahlreicher emporloderten. Durch das geschlossene Fenster war ihr Knistern und Knacken, mit dem das Feuer alles verzehrte, was in Reichweite war, um sich davon zu nähren und noch weiter zu wachsen, nur gedämpft zu hören. In seinen Ohren klang es allerdings beinahe so, als flüsterten die Flammen ihm etwas zu. Er legte den Kopf schief, konnte aber immer noch nicht verstehen, was sie ihm sagen wollten.

Trotz der Faszination, die das muntere Spiel der Flammenzungen in ihm auslöste, spürte er dennoch auch die Gefahr, die von ihnen ausging. Instinktiv wich er auf dem gepflasterten Innenhof mehrere Schritte zurück. Er sah zu den anderen Fenstern, von denen es ziemlich viele gab. Hinter den meisten in der unteren Reihe loderte bereits das Feuer. Hinter anderen war nur ein orangerotes Leuchten zu sehen. Die oberen Fenster waren hingegen noch dunkel.

In diesem Moment zersprang mit einem lauten Knall die Scheibe, durch die er die ersten Flammenzungen beobachtet hatte. Die enorme Hitze, die sich im Inneren des Gebäudes allmählich entwickelte, hatte das Glas bersten lassen. Frische Nachtluft wurde durch die Öffnung ins Innere gesaugt und fachte das Feuer noch mehr an. Nun loderten die Flammen durch das Loch im Fenster nach außen und nagten am Holz des Fensterrahmens. Das leise Knistern und Knacken, das ihm anfangs noch wie geflüsterte Worte erschienen war, war längst zu einem Brausen geworden, das mit jeder Sekunde weiter anschwoll, als türme sich hinter dem Haus eine tödliche Wasserwoge auf, die jeden Moment brechen und alles unter sich begraben und verschlingen würde.

Er wich noch weiter zurück, bis er neben einer Reihe von Garagen stand. Das Pflaster endete an dieser Stelle und wurde von ungemähtem Gras ersetzt, durch das sich ein Trampelpfad schlängelte. Hinter ihm waren Bäume und Büsche, doch er hatte nur Augen für das, was vor ihm geschah. Er knurrte voller Furcht, denn er verstand nicht, was in dem Haus geschah und was das alles zu bedeuten hatte. Am Anfang war das Spiel der Flammenzungen noch lustig gewesen, aber nun machte es ihm keinen Spaß mehr, sondern nur noch Angst, denn das Feuer wuchs mit jeder Sekunde und wurde zu einem riesigen, gefräßigen Ungetüm, das alles verschlingen würde, was in seiner Reichweite war.

Er wandte den Kopf, als in der Ferne ein jaulender, auf- und abschwellender Laut zu hören war, der allmählich immer lauter wurde, weil die Lärmquelle rasch näher kam. Er kannte dieses Geräusch. Er hatte es schon oft gehört und sofort die dazu passenden Bilder der Fahrzeuge vor Augen, die diese Töne von sich gaben, während sie durch die Straßen sausten.

Er ließ sich davon allerdings nur kurz ablenken und richtete sein Augenmerk und seine Aufmerksamkeit sofort wieder auf das brennende Haus vor ihm, als könnten die Flammen seine Abgelenktheit ansonsten ausnutzen und ihn anspringen, wenn er sie nicht scharf im Auge behielt.

Trotz all ihrer Gefährlichkeit, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer Gier hatten die Flammen gleichzeitig auch etwas zutiefst Faszinierendes an sich. Und so verfolgte er wie hypnotisiert ihren tödlichen Tanz. Aus diesem Grund war er blind und taub für alles andere, was um ihn herum geschah, und spürte nicht die Gefahr, die gar nicht vom Feuer ausging, sondern sich ihm in diesem Augenblick aus einer ganz anderen, unerwarteten Richtung näherte.

Erst in dem Moment, als ihn eine kräftige Hand im Genick packte und hochhob, wurde er sich der Person bewusst, die sich von hinten an ihn herangeschlichen hatte. Doch da war es längst zu spät und aussichtslos, zu reagieren.

Die große, kräftige Gestalt legte die andere Hand um seinen Unterkiefer und riss seinen Kopf so heftig und abrupt zur Seite, dass die Wirbel in seinem Hals knirschend brachen.

Er kam nicht einmal dazu, einen einzigen Laut von sich zu geben, ehe er starb …

KAPITEL 1

1

Ein kühler, frühmorgendlicher Windstoß rüttelte an den Ästen der großen Eiche und ließ ihre Blätter rascheln, als wisperten sie einander Geheimnisse zu. Doch sosehr Kriminalhauptkommissar Franz Schäringer sich auch darauf konzentrierte, so hoffte er dennoch vergeblich darauf, sie würden ihm verraten, was letzte Nacht an diesem Ort geschehen war.

Nach Schäringers langjähriger Erfahrung als Kriminalbeamter der Mordkommission wurden Leichen sehr oft am frühen Morgen gefunden. Die Leute standen nichtsahnend auf, frühstückten – noch immer ohne das Bewusstsein, dass ihnen alsbald der Tag und möglicherweise sogar die ganze Woche versaut werden würde –, und kamen dann auf dem Weg zur Arbeit oder zu einer anderen Beschäftigung an einen Ort, wo sie ganz unvermittelt über einen Leichnam stolperten, der am Abend zuvor noch nicht dort gewesen war. Entweder hatte sich der oder die Verstorbene vor seinem oder ihrem Ableben selbst freiwillig oder unfreiwillig dorthin begeben. Oder er oder sie war von seinem oder ihrem Mörder vor oder nach der Tat aus irgendwelchen Gründen an diesen Ort gebracht worden. Schäringers Aufgabe war es dann zunächst einmal, mithilfe der Spurensicherung und der Gerichtsmedizin herauszufinden, welche der vorgenannten Alternativen zutraf, um dann für den Fall, dass es sich tatsächlich um ein Tötungsdelikt handelte, im zweiten Schritt den oder die Täter zu ermitteln. Das klang in der Theorie relativ einfach, war es in der Praxis allerdings nur selten.

Der Tote, auf den der Ermittler der Kripo Fürstenfeldbruck in diesem Moment starrte, bestätigte in dieser Hinsicht seine Erfahrungswerte. Er war am frühen Morgen dieses Tages unmittelbar nach Sonnenaufgang von einem Bauern gefunden worden. Dieser war mit seinem Traktor vorbeigekommen und hatte sich verwundert gefragt, warum jemand eine Vogelscheuche an einen Ast der eindrucksvollen, riesigen Eiche gehängt hatte, die hier schon seit Jahrhunderten stand und die Gabelung des Feldwegs markierte. Nachdem der schon recht betagte Landwirt von seinem Fahrzeug gestiegen war und festgestellt hatte, dass es sich gar nicht um eine Vogelscheuche, sondern um einen toten jungen Mann handelte, hatte er zunächst sein reichhaltiges Frühstück, das zum überwiegenden Teil aus eigenen Erzeugnissen bestanden hatte, von sich gegeben, bevor er sich wieder auf seinen fast ebenso betagten Traktor setzte und so schnell, wie es die alte Maschine hergab, zurück zu seinem Hof fuhr, von wo er sofort stammelnd die Polizei über den entsetzlichen Fund informierte.

Es war noch immer früh am Tag – Schäringers Armbanduhr stand auf zehn vor sieben – und trotz der Tatsache, dass es Ende Juni war, erstaunlich frisch. Der Kriminalbeamte fröstelte und zog unwillkürlich die Schultern hoch.

Obwohl der junge Mann schon vor gut anderthalb Stunden gefunden worden war und die ersten Einsatzkräfte vor einer Stunde hier eingetroffen waren, hing er noch immer am Baum. Da für ihn längst jede Hilfe zu spät kam, hatte es niemand eilig, ihn von dort herunterzuholen. Im Gegenteil, denn erst mussten alle Spuren an der Leiche, am Strick und auf dem Erdboden unmittelbar unter dem Toten gesichert werden, die ansonsten bei der Bergung zerstört werden konnten. Schließlich wusste momentan noch niemand mit letzter Gewissheit, ob es sich tatsächlich um einen Freitod handelte, wie es den Anschein hatte, oder ob jemand, der den jungen Mann umgebracht hatte, nur diesen Eindruck erwecken wollte, um den perfekten Mord zu begehen und mit seinem Verbrechen ungestraft davonzukommen. Für empfindlichere Gemüter mochte es befremdlich erscheinen, einen menschlichen Leichnam so lange hängen zu lassen. Bei der Polizeiarbeit war für derartige Sentimentalitäten allerdings kein Raum. Alle, die sich in diesem Moment in unmittelbarer Nähe des Tatorts befanden, konzentrierten sich darauf, ihren Job zu erledigen. Und der bestand in erster Linie darin, anhand der Leiche und eventueller Spuren herauszufinden, was hier geschehen und wie es dazu gekommen war, dass der Junge jetzt am Baum hing. Schließlich konnte ihnen der einzige Tatbeteiligte, der zum gegenwärtigen Zeitpunkt greifbar war, nichts mehr darüber erzählen, weil er das Opfer und darüber hinaus mausetot war. Und falls er sich nicht selbst und aus freiem Willen an diesem einsamen Ort erhängt hatte, mussten sie ermitteln, wer dafür die Verantwortung trug, damit der Täter bestraft wurde, weil er gegen eins der zehn göttlichen Gebote und eine der elementarsten Regeln des menschlichen Zusammenlebens verstoßen hatte: Du sollst nicht töten! Schon ein einziger Fehler bei der Sicherung der Spuren konnte dazu führen, dass der wahre Täter nie ermittelt und gefasst wurde und – möglicherweise angestachelt von seinem Erfolg – erneut zuschlug. Aus diesem Grund arbeiteten die Mitarbeiter der Abteilung Spurensicherung und -auswertung unter der Leitung von Schäringers Kollegen Christian Krautmann lieber etwas langsamer, aber dafür umso sorgfältiger. Und wenn das im Endeffekt bedeutete, dass der Leichnam eine Viertelstunde länger an seinem Strick baumelte, dann musste das eben im Dienst der Wahrheitsfindung in Kauf genommen werden. Schäringer war sich sicher, dass die Seele des Toten dort, wo sie sich jetzt befand, vermutlich am wenigsten Anstoß daran nahm. Sie dürfte sogar viel eher daran interessiert sein, dass ihr Tod aufgeklärt und – falls es sich dann doch um Mord handelte – gesühnt wurde.

Die Mitarbeiter der Spurensicherung mussten ihre Arbeit in der unmittelbaren Umgebung der Leiche abgeschlossen haben, denn sie machten sich nun daran, den Leichnam zu bergen. Einer der Männer, die einen hellgrauen Einmal-Overall mit übergezogener Kapuze und der Rückenaufschrift Polizei trugen, stieg auf eine Aluminium-Leiter, die man neben dem sachte hin und her pendelnden Leichnam aufgerichtet und gegen den dicken Ast gelehnt hatte, um den auch der Strick gebunden war, an dessen unterem Ende der Tote hing. Der Beamte schnitt den Strick an der Oberseite des Astes durch, um die Knoten nicht zu zerstören. Denn falls es sich um Mord handelte und der Mörder die Knoten geknüpft hatte, konnten sie unter Umständen wichtige Hinweise auf seine Person liefern. Zwei Kollegen des Mannes auf der Leiter, die unter dem Leichnam standen, nahmen diesen in Empfang, als er, seines Haltes beraubt, nach unten plumpste, und legten ihn erstaunlich behutsam und rücksichtsvoll auf den Boden.

Schäringer beobachtete, wie der Gerichtsmediziner Dr. Mangold, der ungeduldig am Rand des von der Spurensicherung untersuchten Bereichs darauf gewartet hatte, dass er endlich in Aktion treten konnte, zu dem Toten ging. Er ließ sich neben ihm in die Knie sinken, stellte seine Arzttasche ab und begann mit der ersten Untersuchung.

Schäringer gähnte hinter vorgehaltener Hand, denn er war noch immer etwas müde, nachdem der Anruf des diensthabenden Kollegen vom Kriminaldauerdienst ihn vor seiner üblichen Zeit aus dem Bett geholt hatte. Er sah sich um, um sich ein Bild von der Umgebung zu machen, und drehte sich dabei einmal um die eigene Achse.

Die Stelle, an der sich der Feldweg gabelte, befand sich im Süden der Ortschaft Landsberied, die etwa 20 Kilometer westlich von Fürstenfeldbruck lag. Die Eiche war der einzige größere Baum weit und breit und stand zwischen den beiden Ästen der Weggabelung, die beide nach Süden führten, wo in einem Kilometer Entfernung der Fürstenfelder Wald begann. Der eindrucksvolle Baum war mindestens 20 Meter hoch, und der Stamm besaß einen Durchmesser von ungefähr 5 Metern. Schäringer schätzte daher, dass die Eiche schon an die 400 Jahre alt sein konnte. Unter den ausladenden Ästen des Baums stand eine Holzbank, auf der sich müde Spaziergänger ausruhen konnten. Daneben befand sich ein hölzernes Marterl, wie Wegekreuze in Bayern genannt werden, die meist aufgrund eines Gelübdes aus Dankbarkeit wegen der Rettung aus einer großen Notlage, beispielsweise Krieg, Krankheit oder Seuche, gestiftet und errichtet worden waren. Außer der Eiche, der Bank und dem Marterl gab es hier im Umkreis von mindestens einem Kilometer nichts Augenfälliges, denn rechts und links der Feldwege lagen nur Äcker mit unterschiedlicher Bepflanzung und in verschiedenen Reifestadien.

Die Fahrzeuge all derjenigen, die an diesem Morgen ausschließlich aus beruflichen Gründen den Weg an diesen Ort gefunden hatten, der um diese Zeit ansonsten vermutlich ebenso einsam und verlassen gewesen wäre wie ein Mondkrater, nun aber nahezu überlaufen wirkte, waren allesamt ordentlich auf einer Seite des Feldwegs abgestellt worden, auf dem Schäringer stand und der von Landsberied zur Gabelung führte. Es handelte sich um zwei Streifenwagen, den Kleintransporter der Spurensicherung und einen Leichenwagen des örtlichen Bestatters, in dem der Tote weggebracht werden würde, sobald Dr. Mangold die Untersuchung beendet und die Leiche zum Abtransport freigegeben hatte. Der Fahrer und der Beifahrer standen neben ihrem Fahrzeug, dessen Heckklappe bereits erwartungsvoll offen stand und einen Blick auf den leeren Transportsarg auf der Ladefläche erlaubte, warteten auf ihren Einsatz und unterhielten sich. Einer der Männer rauchte eine Zigarette und trank aus einer Flasche zuckerarme Cola, während der andere sich eine Butterbreze schmecken ließ. Hinter dem Leichenwagen standen vier zivile Fahrzeuge. Schäringer kannte die beiden vorderen, bei denen es sich um den Dienstwagen von Christian Krautmann, dem Leiter der Abteilung Spurensicherung und -verwertung, und das Privatfahrzeug von Dr. Mangold, einen relativ neuen Mercedes SLK 250 Roadster, handelte, und das letzte Fahrzeug, den BMW, mit dem sein Kollege und er wieder einmal als Letzte zum Tatort gekommen waren. Das Fahrzeug unmittelbar vor ihrem Dienstwagen, ein weiterer BMW 316i, kannte er allerdings nicht.

»Wem gehört eigentlich der BMW vor unserem?«, fragte er deshalb seinen Kollegen, Kriminalkommissar Lutz Baum, der neben ihm stand. Baum bekam um diese Tageszeit üblicherweise kaum die Augen auf und hielt sich deshalb, um nicht umzukippen, an einem riesigen Becher Kaffee fest, den er von zu Hause mitgebracht hatte, wo Schäringer ihn vor knapp fünfundzwanzig Minuten persönlich abgeholt hatte, damit er nicht wieder erst dann am Tatort eintrudelte, wenn alle anderen schon einpackten und die Leiche längst in einem Sektionsraum der Gerichtsmedizin lag.

Die beiden Kriminalbeamten der Mordkommission, die nun schon seit 6 Jahren zusammenarbeiteten, waren sehr unterschiedlich, sowohl im Hinblick auf ihre körperliche Erscheinung als auch hinsichtlich ihres Charakters. Schäringer war ein Meter neunzig und sehr schlank, wodurch er noch größer wirkte. Er besaß trotz seiner 57 Lebensjahre noch immer dichtes, aschblondes Haar mit nur wenigen Spuren von Grau. Der 38-jährige Baum war hingegen mittelgroß und wirkte neben seinem Kollegen sogar noch kleiner. Er hatte kurz geschnittenes, lockiges, karottenrotes Haar und neigte aufgrund seiner Vorliebe für reichhaltige Mahlzeiten, Süßigkeiten zwischen den Mahlzeiten und schlechten Automatenkaffee zwischen den Mahlzeiten und den Süßigkeiten und einer damit einhergehenden Abneigung für jegliche Form der körperlichen Ertüchtigung zum Übergewicht, was sich vor allem im Bereich von Bauch und Hüften und in seinem rosigen Gesicht zeigte. Auf dem rechten Handrücken hatte Baum eine drei Zentimeter lange, weiße Narbe, ein Andenken an einen früheren Fall, an den er nur ungern erinnert wurde, als er sich an den Scherben einer zerbrochenen Terrariumtür geschnitten hatte. Von dem Biss der harmlosen Kornnatter, den er sich bei dieser Gelegenheit ebenfalls zugezogen und von dem er geglaubt hatte, er würde ihn sein junges Leben kosten, war hingegen nichts mehr zu sehen. Baum bevorzugte Markenkleidung und trug an diesem Tag eine Boxy-Powell-Jeans von Jack & Jones, einen in den Farben Schwarz und Weiß quergestreiften Pullover mit V-Ausschnitt von Bruno Banani und Slipper von Hush Puppies. Über dem Pulli trug er seine obligatorische schwarze Lammlederjacke von Just Cavalli, ohne die er nicht aus dem Haus ging. Die Jacke allein hatte mehr gekostet als Schäringers komplette Garderobe, der auch an diesem Tag einen seiner gewohnten 2-teiligen Anzüge trug, die er vor ein paar Jahren in den Farben braun, mittelgrau, mitternachtsblau und schwarz bestellt hatte. Heute war der braune Anzug an der Reihe, dazu ein weißes Hemd, eine beigefarbene, schmale Krawatte und schwarze Schnürschuhe. Schäringer liebte komplizierte Fälle voller Rätsel, die ihn vor intellektuelle Herausforderungen stellten. Er dachte gern um die Ecke und versuchte stets, alle Begleitumstände eines Falles einschließlich zunächst nebensächlich erscheinender Details gleichzeitig im Auge zu behalten und miteinander in Verbindung zu bringen. Baum war hingegen der Meinung, sein Kollege würde zu kompliziert denken und sich trotz seiner Erfolge zu leicht und zu oft in Nebensächlichkeiten verrennen. Er selbst konzentrierte sich bei ihren Ermittlungen daher vor allem aus Bequemlichkeit lieber auf das Wesentliche und sah ungern über den Rand des Tellers, auf dem er saß, hinaus. Aber trotz oder vielleicht sogar gerade wegen all ihrer Gegensätzlichkeiten bildeten sie im Großen und Ganzen ein harmonisches und erfolgreiches Team.

»Hä?«, fragte Baum, nachdem er sich in Zeitlupe zu Schäringer umgewandt hatte, und sah ihn mit verschlafenem Gesichtsausdruck und aus Augen, die er gerade einmal zu schmalen Schlitzen öffnen konnte, ratlos an. »Was ist mit unserem BMW?«

»Nicht mit unserem. Ich meine den Wagen, der vor unserem steht. Weißt du zufällig, wem der gehört?«

Baum drehte sich schwerfällig in die andere Richtung und sah zu der Reihe von Fahrzeugen zurück. Er blinzelte, nahm einen Schluck aus dem halbvollen Becher in seiner Hand und sagte dann: »Ist das nicht der Wagen vom Bauer.«

»Vom Bauern? Meinst du etwa den, der die Leiche gefunden hat? Ich dachte, der wäre mit dem Bulldog gekommen und wieder auf seinen Hof zurückgefahren, nachdem er die Eiche mit seinem Frühstück gedüngt hatte.«

»Nicht von dem Bauern, sondern vom Bauer«, korrigierte Baum und wandte sich wieder Schäringer zu. »Ich meine unseren lieben Kollegen vom Kommissariat für Vermisstenfälle. Der heißt Bauer.«

»Vermisstenfälle?« Schäringer runzelte die Stirn. Er sah wieder zur Eiche, unter deren Blätterdach sich die meisten der übrigen Anwesenden versammelt hatten, und sah sich die Personen noch einmal der Reihe nach an. Uniformierte Beamte, Mitarbeiter der Spurensicherung in ihren Overalls und mittendrin als einzige Person in Zivil der Rechtsmediziner Dr. Mangold, der noch immer mit der Untersuchung der Leiche beschäftigt war. Sonst war niemand zu sehen. Doch dann, als hätte allein die Nennung ihres Namens sie heraufbeschworen wie einen übellaunigen Flaschengeist, kam eine weitere Person hinter dem dicken Stamm des Baumes hervor, der sie bislang vor Schäringers Blicken verborgen hatte, und trat in sein Blickfeld. »Du hast recht, Lutz, das ist tatsächlich der Bauer von der Vermisstenabteilung.«

Schäringer mochte den Kollegen, der für vermisste Personen zuständig war, nicht besonders, auch wenn er sich bei zufälligen Begegnungen bemühte, sich seine Abneigung nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Bauer galt als krankhaft ehrgeizig und unkollegial. Als vor sechs Jahren Schäringer vorheriger Kollege in der Mordkommission auf eigenen Wunsch zur Kripo nach München gewechselt war und die frei gewordene Stelle neu besetzt werden musste, hatte sich auch Bauer darum beworben, der in der Position vermutlich vor allem ein Sprungbrett sah, auf dem er sich durch die Aufklärung spektakulärer Mordfälle auszeichnen und so für höhere Aufgaben innerhalb des bayrischen Polizeiapparates empfehlen konnte. Schäringer, der bei der Auswahl seines zukünftigen Mitarbeiters ein entscheidendes Wörtchen mitreden durfte, entschied sich allerdings gegen Bauer und stattdessen für den jüngeren Kriminalkommissar Lutz Baum aus der Abteilung für Einbruchs- und Kfz-Kriminalität. Er hielt Baum nicht nur für kompetenter und fachlich geeigneter, sondern war auch der Ansicht, sie würden besser zueinanderpassen und miteinander auskommen und sich in der täglichen Zusammenarbeit möglicherweise sogar ergänzen. Und bis zum heutigen Tag hatte er auch noch keinen Grund gehabt, die damalige Entscheidung in irgendeiner Weise zu bereuen – wenn man einmal von Baums ungesunder Vorliebe für den grässlichen Automatenkaffee aus der Kriminalpolizeiinspektion absah. Bauer hatte Schäringer die Ablehnung allerdings nie verziehen und hegte seitdem einen Groll gegen Schäringer und Baum im Speziellen und die Mordkommission im Allgemeinen.

Baum sah in die Richtung, in die Schäringers Blick gerichtet war. »Aber was hat der Bauer hier überhaupt zu suchen? Handelt es sich bei dem Toten etwa um einen seiner Vermisstenfälle?«

»Am schnellsten finden wir das vermutlich heraus, wenn wir zu ihm gehen und ihn fragen.«

»Wenn’s unbedingt sein muss«, murmelte Baum mit einem Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen, ehe sie sich auf den Weg machten, um mit dem ungeliebten Kollegen zu reden. Wenigstens wirkte er jetzt schon entschieden wacher als fünf Minuten zuvor.

2

Als sie den Feldweg verließen und unter das Blätterdach der Eiche traten, wurden die beiden Beamten der Mordkommission von den Anwesenden begrüßt und erwiderten die Grüße. »Ich komm gleich zu dir, dann unterhalten wir uns«, sagte Schäringer zu Christian Krautmann von der Spurensicherung. Dann gesellten sie sich zu Stefan Bauer, der mit verschränkten Armen neben dem Stamm des Baumes stand und mit ausdrucksloser Miene dem Gerichtsmediziner bei seiner Arbeit zusah. In der rechten Hand hielt er zwei Beweismittelbeutel aus transparenter Plastikfolie.

Zunächst sah es so aus, als hätte er die Ankunft der beiden Kollegen von der Mordkommission gar nicht bemerkt, so konzentriert beobachtete er, was Dr. Mangold tat. Als diese aber keine Anstalten machten, wieder zu gehen und ihn in Ruhe zu lassen, hob er geradezu widerwillig den Blick und sah zuerst Schäringer und dann Baum abschätzig an. »Sieh an, die Kollegen von der Abteilung Mord und Totschlag sind also auch schon da.«

Bauer war Mitte vierzig, von durchschnittlicher Statur und durchschnittliche eins einundachtzig groß. Er hatte kurzes und in der Mitte gescheiteltes, hellbraunes Haar und einen Zehntagebart. Er war leger gekleidet, trug eine ausgewaschene, hellblaue Jeans, ein weißes T-Shirt und darüber ein hellblaues Jeanshemd im Western-Style. Seine Füße steckten in beigen Freizeitschuhen von Adidas.

Schäringer erinnerte sich, dass der Kriminaloberkommissar seit Neuestem nicht nur für Vermisstenfälle zuständig, sondern auch Leiter einer Sonderkommission war, die vorgestern eingerichtet worden war, nachdem innerhalb weniger Tage zwei junge Frauen spurlos verschwunden waren. Die erste war die siebzehnjährige Nadine Blume. Sie wohnte in der Gemeinde Emmering, die im Osten an das Stadtgebiet von Fürstenfeldbruck grenzte, und besuchte die elfte Klasse des Graf-Rasso-Gymnasiums. Sie war vor acht Tagen auf dem Heimweg vom Nachmittagsunterricht gewesen, allerdings nie zu Hause angekommen und seitdem nicht wieder aufgetaucht. Und vor zwei Tagen war eine weitere Schülerin verschwunden. Die achtzehnjährige Nele Schumacher aus dem Ortsteil Buchenau ging aufs Viscardi-Gymnasium. Sie war mit Schulfreunden abends beim Pizzaessen gewesen, bevor auch sie spurlos verschwand. Gemeinsam war beiden jungen Frauen nicht nur, dass sie etwa im gleichen Alter waren und aufs Gymnasium gingen, sie waren auch bildhübsch und sahen sich sogar ein bisschen ähnlich. Beide hatten langes und sehr helles, blondes Haar und waren groß und schlank. Nach Neles Verschwinden wurde daher eilig eine Sonderkommission eingerichtet, die sich auf die Suche nach den beiden Frauen konzentrierte. Und Stefan Bauer wurde kurzerhand zum Leiter der Soko ernannt.

»Morgen, Kollege Bauer«, grüßte Schäringer, ohne auf die Bemerkung des anderen einzugehen. Er wollte kein frisches Öl ins Feuer gießen, sondern war nur hier, um seine Arbeit zu erledigen, so gut es ihm möglich war. Persönliche Animositäten hatten dabei seiner Meinung nach nichts zu suchen. »Was hat Sie denn hierher verschlagen?«

»Sie müssen sich verirrt haben, Bauer«, sagte Baum und deutete auf den Toten. »Das da ist eindeutig ein Kerl und keins Ihrer verschwundenen Mädchen. Nach denen sollten Sie lieber woanders suchen. Aber was soll’s? Jeder kann sich mal täuschen.«

»Morgen, Schäringer. Ist Ihr Schoßhündchen eigentlich immer so bissig?«

Schäringer zuckte mit den Schultern. »Nicht immer. Aber wenn wir so früh am Tag schon unsere erste Leiche zu Gesicht bekommen, läuft er zur Hochform auf.«

Baum grinste Bauer frech an, knurrte und machte: »Wuff!«

»Aber um noch einmal auf meine Frage zurückzukommen«, sagte Schäringer. »Was suchen Sie denn nun wirklich hier?«

»Dasselbe wollte ich eigentlich Sie fragen.«

Schäringer runzelte die Stirn und sah Bauer fragend an. »Warum mein Kollege und ich hier sind, dürfte sich ja wohl von selbst erklären. Schließlich liegt da drüben für jedermann sichtbar eine männliche Leiche, die kurz zuvor noch an einem Strick an diesem eindrucksvollen Baum hing. Obwohl die äußeren Umstände klar für einen Suizid sprechen, sind die tatsächliche Ursache und die genaueren Umstände des Todeseintritts vor der Untersuchung des Leichnams durch den Gerichtsmediziner und der Würdigung der gefundenen Beweise gleichwohl unklar. Eindeutig ist bislang nur, dass es sich um keinen natürlichen Tod handelt. Wir sind somit hier, um die Todesermittlungen durchzuführen und zu prüfen, ob es sich tatsächlich um einen Freitod handelt oder ob eine andere Person für das Ableben des jungen Mannes verantwortlich ist. Solange also nicht mit hundertprozentiger Sicherheit feststeht, dass er sich selbst und aus freien Stücken umgebracht hat, ist und bleibt das ein Fall für die Mordkommission. Und nachdem ich mein Sprüchlein aufgesagt habe, sind Sie mit Ihrem an der Reihe, Bauer. Was tun Sie hier? Hat der junge Mann etwas mit den Ermittlungen der Soko zu tun?«

Bauer nickte. »Das hat er tatsächlich, Schäringer. Sie und Ihr Hündchen können sich also gleich wieder in Ihr Auto setzen und zurück ins Büro fahren, denn das hier ist ein Fall für meine Soko.«

»Wenn er noch einmal Hündchen zu mir sagt, pinkle ich ihm ans Bein. Darf ich?«

»Von mir aus«, sagte Schäringer. »Aber vorher erklären Sie mir mal, warum das kein Fall für die Mordkommission sein soll, Bauer, und woher Sie diese Erkenntnis haben. Stammt sie etwa von den Dingen, die Sie in diesen Beweismitteltüten mit sich herumtragen?«

»In der Tat. Sie waren ja schon immer ein ganz Schlauer, Schäringer. Am besten sehen Sie es sich selbst an.« Er reichte Schäringer eine der Beweismitteltüten, in der sich ein Stück Papier befand.

»Was ist das?«, fragte Schäringer. »Ein Abschiedsbrief?«

Baum trat nach einem feindseligen Blick auf Bauer näher an seinen älteren Kollegen, um ebenfalls einen Blick auf das durch die Kunststoffhülle geschützte Beweisstück werfen zu können.

»Nicht direkt ein Abschiedsbrief«, sagte Bauer. »Allerdings so gut wie. Aber in meinen Augen ist es vor allem ein lupenreines Geständnis dieses Burschen, was das Verschwinden und die wahrscheinliche Ermordung von Nadine Blume angeht.«

»Sie meinen also, dass er der Entführer der beiden Schülerinnen ist und sie auch schon getötet hat?«

Bauer nickte mit grimmiger Miene. »Lesen Sie doch selbst, was er geschrieben hat.«

Schäringer folgte der Aufforderung und konzentrierte sich auf das Schriftstück in seiner Hand. Es handelte sich um ein kariertes Blatt Papier im Format DIN-A5, das an einer Seite einen unregelmäßigen, ausgefransten Rand aufwies, weil es augenscheinlich aus einem Heft oder einem Notizbuch herausgerissen worden war, und mehrere Knickstellen besaß, wo es ursprünglich mehrfach gefaltet gewesen war. Auf eine Seite des Blattes hatte jemand mit blauem Kugelschreiber in großen Druckbuchstaben, die mehrere Kästchen hoch waren, folgende Worte geschrieben:

BLÜMCHEN IST VERSCHWUNDEN, UND ICH BIN SCHULD!

ICH HAB SIE AUF DEM GEWISSEN!

ES TUT MIR ALLES SO LEID!

WAS SOLL ICH NUR TUN?

Die dicken Linien, aus denen die einzelnen Buchstaben bestanden, waren mehrfach nachgezeichnet worden, sodass sie sich sehr tief in das Papier eingedrückt und dieses teilweise sogar aufgerissen hatten.

»Klingt mir allerdings weder nach einem eindeutigen Abschiedsbrief noch nach einem lupenreinen Geständnis«, sagte Schäringer. »Schließlich kündigt der Schreiber in keiner Weise unmissverständlich an, sich selbst zu töten, sondern fragt nur, was er tun soll. Außerdem steht auch nirgendwo explizit, dass er das Mädchen – mit Blümchen ist vermutlich das erste Entführungsopfer Nadine Blume gemeint – entführt und umgebracht hat. Falls das Ganze überhaupt von diesem jungen Mann hier stammt. Aber um das zu klären, muss die Schrift erst mit einer Schriftprobe von ihm verglichen werden. Wenn Sie mir also nichts Eindeutigeres vorlegen können, Kollege, werden wir bestimmt nicht unverrichteter Dinge ins Büro zurückkehren, sondern hier, wie geplant, unseren Job erledigen und die Todesermittlungen durchführen.«

»Vielleicht überzeugt Sie das hier mehr«, sagte Bauer und hielt den zweiten Beweismittelbeutel hoch, sodass Schäringer und Baum seinen Inhalt erkennen konnten.

»Was ist das?«, fragte Baum. »Ein Armband?«

»Ihr Schützling kann ja tatsächlich mehr als nur kläffen und Bäume anpinkeln, Schäringer. Das ist tatsächlich ein Armband, genauer gesagt ein Bettelarmband oder auf Englisch charm bracelet. An die Kettenglieder werden kleine Anhänger oder charms gehängt, die Symbole darstellen und ganz unterschiedliche Bedeutungen haben können: Glücksbringer, Glaubenszeichen oder auch zur Erinnerung an bestimmte Orte oder Personen. Der Name kommt vermutlich daher, dass man sich die Symbole ursprünglich erbettelt hat.«

»Ich vermute mal«, sagte Schäringer, »dass es nicht dem jungen Mann, sondern eigentlich Nadine Blume gehörte.«

»Damit liegen Sie goldrichtig. Und auch mit Ihrer anderen Vermutung von vorhin haben Sie übrigens ins Schwarze getroffen. Nadine Blume wurde von ihren Freundinnen und Freunden Blümchen genannt.«

»Und das hatte der Tote bei sich?«, fragte Baum und deutete mit dem Zeigefinger auf das Bettelarmband in der Tüte.

»Ja. Jemand von der Spurensicherung fand es zusammen mit dem Zettel in einer Hosentasche.«

»Trug Nadine Blume das Bettelarmband auch am Tag ihres Verschwindens?«, fragte Schäringer.

»Nach Aussage ihrer Angehörigen und Freundinnen trug sie es jeden Tag. Wir gehen daher davon aus, dass sie es auch anhatte, als sie verschwand.«

»Dann gibt es zumindest einen Zusammenhang zwischen dem jungen Mann und dem Verschwinden des Mädchens«, räumte Schäringer ein, um sofort zu ergänzen: »Aber mehr auch nicht. Und solange nicht hundertprozentig feststeht, dass der Junge sich selbst erhängt hat, ergibt sich auch nicht der geringste Zweifel an der Zuständigkeit der Mordkommission, um die exakte Ursache und die Umstände seines Todes aufzuklären.«

»Dann führen Sie und Ihr …«, Bauer sah Baum abschätzig von oben bis unten an, »… Lakai von mir aus Ihre Todesermittlungen durch. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass dieser Typ hier mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit die beiden Mädchen entführt und getötet hat. Damit ist das in erster Linie ein Fall für mich und die Soko. Kommen Sie mir also besser nicht in die Quere.«

»Korrekt müsste es eigentlich heißen: ein Fall für die Soko und mich«, sagte Baum. »Der Esel nennt sich eben immer zuerst. Aber das würde Ihnen natürlich gut in den Kram passen, Bauer, nicht wahr? Kaum sind Sie zwei Tage Leiter der Soko, schon können Sie den Medien und der Öffentlichkeit den Täter präsentieren, auch wenn es letztendlich gar nicht Ihr Verdienst war. Und jetzt wollen Sie sich natürlich von niemandem die Butter vom Brot nehmen und Ihren großen Ermittlungserfolg streitig machen lassen, nicht wahr? Dieser Mann will auf Teufel komm raus Karriere machen, Franz.«

»Mag sein, dass du recht hast, Lutz. Aber das interessiert mich alles nicht«, sagte Schäringer. »Mir geht es nur darum, dass wir ungestört unsere Arbeit erledigen können. Falls der junge Mann sich tatsächlich selbst umgebracht hat, finden wir das bald heraus und sind hier schnell fertig. Dann gehört er wieder ganz Ihnen, Bauer, und Sie können mit dem Fall machen, was Sie wollen. Aber bis es so weit ist, bleibt das unser Fall. Und falls er sich doch nicht selbst aufgehängt hat, sondern umgebracht wurde, um einen Mord zu vertuschen und ihm gleich noch die Entführung und Ermordung der Mädchen in die Schuhe zu schieben, was meiner Meinung nach durchaus in Betracht zu ziehen ist, dann werden wir weiter ermitteln und alles daransetzen, den Mörder zu finden. Also geben Sie mir schon den Beutel mit dem Armband, Bauer. Ich werde die Beweise dem Leiter der Spurensicherung übergeben, damit sie kriminaltechnisch untersucht werden können.«

Für einen Moment sah es ganz so aus, als wollte Bauer sich weigern. Seine Finger schlossen sich noch fester um die obere Hälfte der Beweismitteltüte, sodass seine Knöchel weiß wurden. Er biss die Zähne so fest aufeinander, dass Schäringer glaubte, er könnte sie leise knirschen hören. Dann verzog Bauer jedoch das Gesicht und zeigte ein falsches Grinsen, bevor er sagte: »Na gut, Schäringer, für den Moment haben Sie vielleicht gewonnen, weil es momentan tatsächlich noch Ihr Fall ist. Aber sobald Sie feststellen, dass diese kleine Drecksau, die zwei junge Frauen ermordet hat, sich tatsächlich durch einen feigen Selbstmord seiner Festnahme und Verurteilung entzogen hat, erwarte ich, dass Sie mir augenblicklich alle Unterlagen und Beweise übergeben.«

»Selbstverständlich«, sagte Schäringer, ohne eine Miene zu verziehen, und griff nach dem Beutel mit dem Bettelarmband. »Darf ich?«

Bauer ließ los, sodass Schäringer das Beweisstück an sich nehmen konnte, wandte sich wortlos ab und marschierte davon.

»Wuff, wuff!«, rief ihm Baum hinterher und grinste schadenfroh.

Ohne sich von jemandem zu verabschieden, ging Bauer zu seinem Wagen und stieg ein.

»Der Arsch soll bloß aufpassen, dass er beim Ausparken nicht gegen unser Auto fährt!«, sagte Baum und beobachtete mit Argusaugen, wie der verhasste Kollege aus der Lücke fuhr, seinen Wagen auf dem schmalen Feldweg wendete und davonbrauste. »Dem haben wir’s aber gegeben, Franz!«

»Wozu auch immer diese Diskussion gut war?«, sagte Schäringer und seufzte. »Aber wenigstens können wir jetzt anfangen, ungestört unsere Arbeit zu machen. Also komm und lass uns mal ein Wörtchen mit Krautmann reden.«

3

»Was sollte denn das gerade?«, fragte Christian Krautmann, der Leiter der Abteilung Spurensicherung und -verwertung, als Schäringer und Baum sich zu ihm gesellten. Er verstaute eine leere Bierdose, die er in der Nähe der Holzbank gefunden und mithilfe einer Pinzette aufgehoben hatte, in einer Kunststofftüte, auf der er in seiner gewohnt krakeligen Schrift alle notwendigen Daten notierte.

»Nur das übliche Kompetenzgerangel eines überehrgeizigen Kollegen«, antwortete Schäringer und übergab Krautmann die beiden Beweismittelbeutel, die er von Bauer bekommen hatte. »Hier. Mit freundlichen Grüßen von Kriminaloberkommissar Stefan Bauer und verbunden mit der Bitte um kriminaltechnische Untersuchung. Bauer sagte, dass ihr das Papier und die Kette in der Hosentasche des Toten gefunden habt.«

»Das stimmt«, sagte Krautmann, bückte sich und verstaute alle Beweismitteltüten in einem Pappkarton, der am Boden stand und bereits zur Hälfte gefüllt war. Dann richtete er sich wieder auf, schob mit dem Ballen seiner rechten Hand, die in einem Einweghandschuh steckte, die randlose Brille wieder nach oben, die beim Bücken heruntergerutscht war. Durch die Gläser sahen seine stets etwas angriffslustig funkelnden Augen unter den dünnen, schwarzen Brauen noch größer aus. Er hatte einen runden Kopf, der jedes Jahr mehr an einen Ball erinnerte, weil sein dunkles Haar immer lichter wurde, obwohl er sich bemühte, durch geschickte, aber letztendlich untaugliche Kämmtechniken die ständig größer werdende Kahlstelle auf seinem Kopf zu kaschieren. Krautmann liebte guten Wein, was er mit Schäringer gemeinsam hatte. Die Vorliebe für einen guten Tropfen hatte dafür gesorgt, dass sie sich nicht nur beruflich trafen, seit beide etwa zur selben Zeit bei der Kripo Fürstenfeldbruck angefangen hatten, sondern gelegentlich auch privat miteinander verkehrten. Krautmann und seine Frau waren Verehrer sogenannter Bollywood-Filme, die in Indiens Metropole Mumbai in großer Zahl gedreht werden, grell, bunt, schwülstig und oft bis zu vier Stunden lang sind, in der Regel mehrere Tanzszenen enthalten und für den gewöhnlichen mitteleuropäischen Fernsehzuschauer gewöhnungsbedürftig sind.

»Was kannst du uns über den Zettel und die Kette sagen, Christian?«, fragte Schäringer seinen Freund. »Stammt das Schreiben von dem Jungen? Und ist die Kette tatsächlich dieselbe, die Nadine Blume trug, als sie vor über einer Woche verschwand?« Bauer hatte es ihnen zwar schon erzählt, aber Schäringer wollte von Krautmann nicht nur eine Bestätigung, sondern auch seine objektive Meinung zu den Beweisstücken.

»Ob es wirklich die Handschrift des Toten ist, kann ich natürlich noch nicht sagen. Dazu benötigen wir zunächst eine Schriftprobe, die eindeutig von ihm stammt, um einen Schriftvergleich durchführen zu können. Allerdings befand sich der Zettel zusammengefaltet in seiner hinteren, linken Hosentasche. Es scheint sich um die herausgerissene Seite aus einem Notizbuch oder Schreibheft im Format DIN-A5 zu handeln, die augenscheinlich mit einem blauen Kugelschreiber beschrieben wurde.«

»Und die Kette?«

»Ein sogenanntes Bettelarmband. Tatsächlich trug Nadine Blume ein derartiges Armband bei sich, als sie verschwand. Ob es sich allerdings wirklich um das Bettelarmband des verschwundenen Mädchens handelt, kann ich noch nicht bestätigen. Für eine eindeutige Identifizierung müssen wir es erst ihren Angehörigen und Freunden vorlegen. Die Beschreibung von Nadine Blumes Armband und der sieben Symbole stimmt allerdings exakt mit dem hier überein.«

Schäringer nickte nachdenklich. Also hatte Bauer tatsächlich die Wahrheit gesagt. Aber weshalb sollte er lügen. Ihm musste klar sein, dass Schäringer und Baum seine Angaben leicht überprüfen konnten und das vermutlich auch tun würden. »Wissen wir eigentlich schon, wer der junge Mann ist?«

»Wissen wir. Er hatte nämlich freundlicherweise sein Portemonnaie bei sich. Es steckte in seiner rechten, hinteren Hosentasche. Darin befanden sich neben etwas Bargeld eine EC-Karte, ein Führerschein und ein Personalausweis. Sämtliche Papiere sind auf einen Niklas Kramer ausgestellt, wohnhaft im Willy-Buchauer-Ring in Fürstenfeldbruck. Er wurde im vergangenen Januar volljährig und ging anscheinend auf das Graf-Rasso-Gymnasium. Zumindest steht das in dem Schülerausweis, den er ebenfalls bei sich hatte.«

»Dieselbe Schule, die auch Nadine Blume besuchte«, sagte Schäringer, der diese Information in einem der zahlreichen Zeitungsartikel, die nach ihrem Verschwinden erschienen waren, gelesen und sich gemerkt hatte.

»Wenn die beiden auf dieselbe Schule gingen, dann hat er das Mädchen vermutlich auch gekannt«, stellte Baum fest. »Vielleicht hat Bauer ja doch recht, auch wenn ich das ungern zugebe, und der Junge hat die beiden Mädchen tatsächlich entführt und umgebracht. Und weil er mit der Schuld nicht mehr leben konnte, hat er sich hier aufgehängt. Macht doch Sinn, oder?«

Krautmann nickte. »Diese Version würde zumindest zu den Beweisstücken passen, die wir gefunden haben.«

»Aber wieso soll er ganz plötzlich Gewissensbisse bekommen haben, nachdem er zwei Mädchen entführte und tötete?«, fragte Schäringer, ohne sich an jemand Bestimmtes zu richten. Es war eher so, als würde er laut nachdenken. »Wenn es bereits nach dem ersten Entführungsopfer, das er aus der Schule kannte, geschehen wäre, würde ich es eher verstehen. Aber wieso erst jetzt, so kurz, nachdem er eine weitere junge Frau kidnappte und umbrachte?«

Baum schürzte die Lippen und zuckte mit den Achseln. »Vielleicht wollte er die Mädels gar nicht töten, sondern nur irgendwo gefangen halten, wo er mit ihnen machen konnte, was er wollte. Aber dann passierte ein Unfall, und die Mädchen starben. Und weil er daran schuld war, wollte er nicht mehr weiterleben.«

»Vielleicht war es ja tatsächlich so«, stimmte Schäringer zu, klang aber alles andere als überzeugt. »Immer vorausgesetzt, die beiden Schülerinnen sind tatsächlich tot und der junge Mann hat sich wirklich selbst umgebracht. Kannst du uns dazu schon etwas sagen, Christian?«

»Vermutlich kann euch der Doc bald mehr darüber erzählen, wie der Junge wirklich ums Leben gekommen ist. Ich kann dazu nur so viel sagen: Da wir nichts gefunden haben, auf das er sich stellen konnte, um den Ast zu erreichen, muss er auf den Baum geklettert sein, um den Strick zu befestigen. Anschließend muss er sich die Schlinge um den Hals gelegt und heruntergesprungen sein. Anders wäre es ohne fremde Hilfe nämlich nicht möglich gewesen. Am Baum und auf der Oberseite des Astes fanden wir auch tatsächlich mehrere Stellen, an denen die Rinde abgeschabt oder beschädigt wurde. Es ist also tatsächlich jemand hochgeklettert. Ob es der Junge war, konnten wir aber nicht feststellen. Wahrscheinlich sind wir schlauer, sobald wir seine Kleidung im Labor auf Spuren untersuchen konnten.«

»Also sieht es momentan eher nach Suizid aus«, mutmaßte Schäringer. »Na gut. Wenn es wirklich einer war, dann schließen wir die Akte schnell wieder, binden eine hübsche Schleife drumherum und schicken alles an Bauer. Mit freundlichen Grüßen von den lieben Kollegen der Mordkommission. Ob der Junge in dem Fall tatsächlich die beiden Frauen entführt hat, ist für uns nicht von Interesse, weil unsere Ermittlungen damit vorerst abgeschlossen sind. Erst wenn irgendwann ihre Leichen auftauchen sollten, sind wir wieder zuständig und werden die Ermittlungen wieder aufnehmen. Aber bis es so weit ist, kann Bauer von mir aus der Presse stolz diesen jungen Mann als Täter präsentieren, damit er in der Zeitung seinen Namen lesen und sein Foto bewundern kann.«

»Warte damit mal lieber, bis du mit dem Doc gesprochen hast, Franz«, sagte Krautmann und deutete auf Dr. Mangold. »Eine Sache fiel mir nämlich auf, als wir die Leiche herunterholten.«

»Und was?«, fragte Schäringer interessiert.