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Der Circus Colossus in Florida ist Jo Wilders Leben, seit sie der Besitzer Frank mit achtzehn Jahren in diese aufregende Welt einführte. Doch nun ist der Zirkusdirektor tot. Jo ist untröstlich. Obwohl Frank nie viel Kontakt zu seinem Sohn hatte, hat er ihm den Zirkus vermacht. Keane, Anwalt aus Chicago, reist an. Alle erwarten einen skrupellosen Geschäftsmann. Aber die Erwartungen werden enttäuscht: Hals über Kopf verliebt sie sich in den eher nüchternen Anwalt - dabei steht er kurz davor, den Zirkus zu schließen. Das muss sie verhindern...
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Seitenzahl: 286
Nora Roberts
Wilde Flammen
Roman
Aus dem Amerikanischen von Sonja Sajlo-Lucich
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
1. KAPITEL
Ein Peitschenknall, und zwölf Löwen hoben ihre Vordertatzen in die Luft. Ein zweiter, und sie sprangen von einem Hocker auf den nächsten. Geschmeidig und fließend, in perfekter Übereinstimmung. Nur mit der Stimme und einigen sparsamen Handzeichen hielt die Dompteuse die kräftigen goldenen Körper in Bewegung.
»Gut gemacht, Pandora.«
Kaum hörte sie ihren Namen, sprang die massige Löwin zu Boden und rollte sich auf die Seite. Ein Tier nach dem anderen folgte ihrem Beispiel, bis alle zwölf leise knurrend und schnaubend ausgestreckt in der Mitte der Manege lagen.
»Und … Kopf hoch!«
Die Tiere gehorchten, während die Dompteuse die Reihe abschritt. Dann warf sie die Dressurpeitsche beiseite und legte sich mit einer anmutigen Bewegung quer über die warmen Körper. Der Löwe in der Mitte, eine afrikanische Großkatze mit beeindruckender Mähne, ließ lautes Gebrüll hören und wurde dafür mit einem ausgiebigen Kraulen hinter den Ohren belohnt.
Die Dompteuse erhob sich, klatschte in die Hände, und alle Löwen standen auf. Dann, indem sie den Namen jedes einzelnen Tieres rief und mit einem schlichten Wink der Hand, schickte sie alle durch den Gittergang zurück in ihre Käfige.
Ein Löwe blieb zurück, kam auf die junge Frau zu und rieb die prächtige dunkle Mähne an ihrem Bein wie eine Hauskatze. Mit einer schnellen Handbewegung zog die Dompteuse eine Kette unter der Mähne hervor und schwang sich auf Merlins Rücken. So ritt sie eine Runde durch die Manege und auf den Hinterausgang zu, wo der Wagen mit den Käfigen stand.
»Also, Duffy?« Jolivette Wilder, von allen nur Jo genannt, schloss sorgsam die Käfigtür. Dann drehte sie sich um und fragte erwartungsvoll: »Was denkst du? Sind wir bereit, auf Tour zu gehen?«
Duffy war ein kleiner, rundlicher Mann mit schütterem braunen Haar und unzähligen Sommersprossen im Gesicht. Mit seinem offenen Lächeln und den fröhlichen blauen Augen wirkte er wie ein gealterter Chorknabe, doch sein Verstand war hellwach und messerscharf. Er war der beste Manager, den der Circus Colossus je gehabt hatte.
»Morgen geben wir in Ocala unsere Eröffnungsvorstellung. Also solltest du besser bereit sein«, erwiderte er mit sonorer Stimme und nahm den Zigarrenstummel aus dem linken Mundwinkel, um ihn in den rechten zu stecken.
Jo lächelte nur und machte einige Lockerungsübungen. »Meine Katzen sind mehr als bereit, Duffy. Es war ein langer Winter. Wir müssen alle wieder an die Arbeit.«
Duffy runzelte die Stirn. Er war nur wenige Zentimeter größer als die Löwenbändigerin, die ihn mit ihren großen mandelförmigen Augen unverwandt anschaute. Grün waren diese Augen, smaragdgrün, umrandet von dichten schwarzen Wimpern. Im Moment schauten diese Augen amüsiert, aber Duffy hatte auch schon einen ängstlichen und schrecklich verlorenen Ausdruck in ihnen gesehen.
Er steckte die Zigarre noch einmal in den anderen Mundwinkel und paffte, während Jo einem der Helfer Anweisungen gab.
Er musste an Steve Wilder denken. Jos Vater war der beste Dompteur weit und breit gewesen. Seine Tochter konnte genauso gut mit den Raubkatzen umgehen wie er, wenn nicht sogar besser. Dabei hatte sie das Aussehen ihrer Mutter geerbt – zierlich, der dunkle, leidenschaftliche Typ.
Jos Mutter war eine berühmte Trapezkünstlerin gewesen, eine zarte Frau mit großen grünen Augen und schwarzem glatten Haar, das ihr bis zur Taille fiel. Und ihre Tochter war ihr beinahe wie aus dem Gesicht geschnitten.
Jos Brauen waren fein geschwungen, die Nase klein und gerade, hohe Wangenknochen, volle Lippen. Ihre Haut war von der Sonne Floridas leicht gebräunt und verlieh ihr ein exotisches Aussehen. Sie besaß eine Schönheit, die durch ihr enormes Selbstvertrauen und die lebhafte Art noch gesteigert wurde.
Jo hatte das Gespräch mit dem Tierhelfer beendet und hakte sich jetzt bei Duffy unter. Dieses Stirnrunzeln kannte sie. »Hat jemand gekündigt?«, fragte sie, während sie gemeinsam zu Duffys Bürowagen gingen.
»Nein.«
Nur selten antwortete Duffy so einsilbig. Doch da sie ihn seit Jahren kannte, hob sie nur eine Augenbraue und hielt ihre Zunge im Zaum.
Überall auf dem Gelände wurde geprobt. Vito, der Seiltänzer, gab seiner Darbietung den letzten Schliff auf einem Drahtseil, das zwischen zwei Bäume gespannt war. Die Mendalsons riefen sich Kommandos zu, während die Jonglierkeulen durch die Luft flogen. Die Dressurpferde wurden in ihre Ställe zurückgebracht. Jo erblickte eines der Stevenson-Mädchen, das auf Stelzen balancierte. Die Kleine war jetzt sechs, aber Jo erinnerte sich noch genau daran, wie sie zur Welt gekommen war.
In jenem Jahr durfte Jo zum ersten Mal allein im Löwenkäfig arbeiten. Sechzehn war sie damals gewesen und hatte noch ein ganzes Jahr warten müssen, bevor sie auch vor Publikum auftreten durfte.
Ein anderes Zuhause als den Zirkus hatte Jo nie gekannt. Sie war während der Winterpause geboren worden und im Frühjahr im Wagen der Eltern zum ersten Mal mit auf Tour gegangen – wie auch jedes darauffolgende Jahr. Von ihrem Vater hatte sie die Faszination und das Talent für die Arbeit mit den Großkatzen geerbt, von ihrer Mutter die Grazie und Geschmeidigkeit ihrer Bewegungen.
Inzwischen war es fünfzehn Jahre her, dass sie die Eltern verloren hatte, doch das Erbe würde ihr immer bleiben. Als Kind hatte Jo mit Löwenbabys gespielt, war auf Elefanten geritten und hatte mit Schellen an den Füßen getanzt. Sie lebte in einer Welt der Fantasie, war ständig unterwegs, zog von einem Ort zum anderen.
Jo sah auf die Narzissen, die vor dem Büro des Colossus-Winterquartiers wuchsen, und lächelte. Sie selbst hatte sie gepflanzt, damals, als sie dreizehn und endlos verliebt in einen Artisten gewesen war.
Sie erinnerte sich auch gut an jenen Mann, der ihr damals Ratschläge für das Setzen der Zwiebeln und für gebrochene Herzen gegeben hatte. Als sie an Frank Prescott dachte, wurde ihr Lächeln traurig.
»Ich kann immer noch nicht glauben, dass er nicht mehr bei uns ist«, murmelte sie und stieg mit Duffy in den Wagen.
Der Bürowagen war nur spärlich möbliert mit einem Schreibtisch, metallenen Aktenschränken und zwei abgenutzten Stühlen. Poster bedeckten die Wände, Poster, die das Wunderbare, das Einzigartige, das Unglaubliche versprachen – tanzende Elefanten, fliegende Menschen, Löwen, auf denen man reiten konnte. Akrobaten, Clowns, unbesiegbare Männer und gigantische Damen brachten die verzauberte Atmosphäre der Zirkusarena in den engen Büroraum.
Als Jo zu der schmalen Tür schaute, folgte Duffy ihrem Blick. »Ich erwarte eigentlich, ihn jeden Moment zu sehen, wie er durch die Tür gestürmt kommt, voller Begeisterung für irgendeine neue, verrückte Idee.«
Duffy machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, die sein ganzer Stolz war. »Wirklich?«
Mit einem Seufzer ließ Jo sich rittlings auf einem der Stühle nieder, faltete die Arme auf der Rücklehne und stützte das Kinn darauf ab. »Er wird uns allen fehlen. Ohne ihn wird es nie mehr das Gleiche sein.« Plötzlich schaute sie mit wütendem Blick auf. »Er war doch noch kein alter Mann, Duffy. Ein Herzinfarkt ist etwas für alte Männer.« Düster starrte sie vor sich hin. Frank Prescotts Tod war so ungerecht.
Frank war Anfang fünfzig gewesen, und immer hatte ihm ein Lachen auf den Lippen gelegen. Ein Mann von unverfälschter Herzlichkeit, endloser Güte und Wärme. Jo hatte ihn von ganzem Herzen geliebt und ihm bedingungslos vertraut. Die Trauer um ihn war nahezu schlimmer als die um ihre Eltern. Solange sie denken konnte, war Frank das Zentrum ihres Lebens gewesen.
»Es ist jetzt fast sechs Monate her.« Duffys Stimme klang rau, als er ihr einen Becher Kaffee reichte.
»Ich weiß.« Sie nahm den Becher entgegen und hielt ihn mit beiden Händen, um sich zu wärmen. Der frühe Märzmorgen war noch kühl. Resolut schüttelte sie die düstere Stimmung ab. Frank würde nicht wollen, dass man sich seinetwegen grämte.
Jo starrte in den Kaffee und nippte vorsichtig. Wie erwartet schmeckte er scheußlich. »Stimmt es, dass wir die gleiche Route nehmen wie letztes Jahr? Dreizehn Staaten.« Lächelnd beobachtete Jo, wie Duffy zusammenzuckte und hastig seinen Kaffee hinunterstürzte. »Du bist doch nicht abergläubisch, oder?« Dabei wusste sie, dass er immer ein vierblättriges Kleeblatt in seiner Brieftasche trug.
»Pah!«, schnaubte er verächtlich, lief aber unter den Sommersprossen vor Verlegenheit rot an. Er stellte seinen Becher ab und ging um den Schreibtisch herum, um sich zu setzen. Als er die Hände über dem zerfledderten Kalender verschränkte, wusste Jo, dass er jetzt zum Geschäftlichen kommen würde. »Morgen um sechs sollten wir in Ocala ankommen«, setzte er an, und pflichtschuldig nickte Jo. »Bis neun müssen die Zelte aufgebaut sein.«
»Die Parade ist dann um zehn vorbei, und um zwei kann die Matinee-Vorstellung beginnen«, ergänzte sie lächelnd. »Duffy, ich soll doch hoffentlich nicht wieder während der Parade eine kleine Dressurnummer vorführen, oder?«
»Ich denke, wir werden gutes Publikum haben«, wich er geschickt einer Antwort aus. »Bonzo sagt, wir werden auch gutes Wetter bekommen.«
»Bonzo sollte besser seine Stürze und das Stolpern üben.« Argwöhnisch beobachtete sie, wie Duffy auf seiner erkalteten Zigarre kaute. »Also los, sag schon, was anliegt.«
»In Ocala wird jemand zu uns stoßen, zumindest für eine gewisse Zeit.« Er schürzte die Lippen, während sein Blick auf Jos Gesicht ruhte. »Ich weiß nicht, ob er bis zum Ende der Saison bei uns bleibt.«
»Oh Duffy, doch nicht irgendein Neuzugang, oder? Dann müssten wir das ganze Programm umstellen. Oder ist er etwa ein brotloser Schriftsteller, der einen epischen Roman über das Aussterben des Wanderzirkus schreiben will? Einer, der ein paar Wochen mit uns herumzieht, jedem kurz über die Schulter schaut und danach behauptet, er wüsste alles, was es über die Zirkuswelt zu wissen gibt.«
»Ich glaube nicht, dass er den anderen über die Schulter schauen will.« Duffy hielt ein Streichholz an seinen Zigarrenstummel und brachte ihn umständlich wieder zum Glühen.
»Es ist ein bisschen spät, um eine neue Nummer einzustudieren, oder?«
»Er ist kein Artist.« Duffy fluchte leise, bevor er Jo wieder ansah. »Ihm gehört der Zirkus.«
Eine Weile sagte Jo gar nichts und saß vollkommen regungslos da, ein Trick, den sie auch beim Training mit jungen Raubkatzen anwendete. »Nein!« Abrupt sprang Jo auf und schüttelte wild den Kopf. »Nein, nicht er. Nicht jetzt. Wieso muss er mitkommen? Was will er hier?«
»Es ist sein Zirkus«, wiederholte Duffy rau.
»Es war nie sein Zirkus und wird nie sein Zirkus sein«, bestritt Jo ungestüm. Ihre großen grünen Augen schienen Funken zu sprühen. Dabei ließ sie ihrem Temperament eigentlich nur sehr selten die Zügel schießen. »Es ist Franks Zirkus.«
»Frank ist tot«, bemerkte Duffy leise. Es klang endgültig. »Jetzt gehört der Zirkus seinem Sohn.«
»Franks Sohn?«, fragte Jo ihn beißend. Mit an die Schläfen gedrückten Fingern ging sie zum Fenster des Zirkuswagens hinüber.
Draußen ergoss sich strahlendes Sonnenlicht über das Gelände. Die Trapezakrobaten, flauschige Bademäntel über den eng anliegenden Trikots, gingen ins Zelt, um ihre Nummer zu üben. Überall liefen Artisten umher, das Gemisch der verschiedenen Sprachen war Jo so vertraut, dass sie es nicht einmal mehr bemerkte.
Sie stützte sich auf der Fensterbank ab und atmete tief durch, um ihre Beherrschung wiederzufinden. »Was für ein Sohn ist das, der es nie nötig gehabt hat, seinen Vater zu besuchen? Dreißig Jahre hat er Frank nicht gesehen. Er hat nie geschrieben. Er ist nicht einmal zur Beerdigung gekommen.«
Mit aller Macht unterdrückte Jo die heißen Tränen der Wut, die in ihren Augen brannten, und schluckte den dicken Kloß in ihrer Kehle hinunter. »Warum taucht er jetzt auf?«
»Du wirst lernen müssen, dass jede Medaille zwei Seiten hat, Mädchen«, sagte Duffy brüsk. »Vor dreißig Jahren warst du noch nicht einmal auf der Welt. Du kannst nicht wissen, wieso Franks Frau ihn damals verlassen hat und warum der Junge sich nie gemeldet hat.«
»Er ist kein Junge mehr, Duffy, er ist ein Mann.« Sie hatte sich wieder unter Kontrolle und drehte sich mit einem Ruck um. »Er muss jetzt ein-, zweiunddreißig sein. Ein erfolgreicher Anwalt in Chicago. Richtig wohlhabend. Wusstest du das?« Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, erreichte aber ihre Augen nicht. »Übrigens nicht nur durch seine Arbeit. Die Familie mütterlicherseits muss wohl sehr gut betucht sein. Alter Geldadel, wie ich gehört habe. Ich verstehe nicht, warum sich ein reicher Anwalt aus der Stadt für einen kleinen Zirkus interessieren sollte.«
Duffy zuckte die Schultern. »Vielleicht braucht er eine Abschreibungsmöglichkeit für seine Steuern, oder er will einfach nur mal auf einem Elefanten reiten, wer weiß das schon. Vielleicht hat er ja auch vor, unseren Zirkus aufzulösen und Stück für Stück zu verkaufen.«
»Oh Duffy, nein!« Jos Mine verfinsterte sich erneut. »Das darf er nicht tun!«
»Er darf tun und lassen, was er will«, brummte Duffy und drückte die Zigarre aus. »Wenn er uns entlassen will, dann entlässt er uns eben.«
»Aber wir haben doch ein festes Engagement, bis in den Oktober …«
»Komm schon, Jo, du bist doch gar nicht so naiv.« Mit gerunzelter Stirn kratzte Duffy sich das schüttere Haar. »Er kann uns eine Abfindung zahlen, oder er lässt unsere Verträge eben nach und nach auslaufen. Der Typ ist Anwalt. Wenn er es darauf anlegt, kann er jeden Vertrag aushebeln. Oder er wartet eben, bis wir neue Verhandlungen anfangen, und lässt sie dann alle kippen. Hey, es muss ja nicht so kommen«, versuchte er abzuwiegeln, als er Jos entsetzte Miene sah. »Dass er all das tun könnte, heißt noch lange nicht, dass er es auch tun wird.«
Jo fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Können wir denn nichts unternehmen?«
»Wir können ihm am Ende der Saison unsere Bilanz vorlegen«, meinte Duffy sachlich. »Wir zeigen dem neuen Besitzer, was wir ihm zu bieten haben. Er muss erkennen, dass wir nicht nur irgendein kleiner Rummel sind, sondern ein Zirkus mit einem Unterhaltungsprogramm von Weltrang. Er soll sehen, was Frank aufgebaut hat, wie er gelebt hat, was er erreichen wollte. Und ich denke«, Duffy hielt inne und beobachtete Jos Gesicht genau, »du solltest die Aufgabe übernehmen, es ihm zu zeigen.«
»Ich?« Jo war viel zu verdattert, um empört zu sein. »Wieso? Du bist doch für solche Sachen wie Öffentlichkeitsarbeit viel qualifizierter als ich.« Ein Anflug von Bosheit schlich sich in ihre Stimme. »Ich trainiere Löwen, nicht Anwälte.«
»Du standest Frank näher als jeder andere. Und es gibt niemanden hier, der den Zirkus besser kennt als du.« Die Falte auf seiner Stirn wurde tiefer. »Du bist intelligent. Hätte nie gedacht, dass all die klugen Bücher, die du liest, mal zu was gut sein könnten. Aber da habe ich mich wohl geirrt.«
»Duffy.« Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Nur weil ich Gedichte gelesen habe, ist das keine Garantie, dass ich mit Keane Prescott fertigwerde. Wenn ich nur an ihn denke, werde ich schon wütend. Wie soll das erst aussehen, wenn ich ihm gegenüberstehe?«
»Na«, Duffy zuckte mit den Schultern, »wenn du meinst, du wirst nicht mit ihm fertig …«
»Das habe ich nicht gesagt«, murmelte Jo.
»Natürlich, wenn du Angst vor ihm hast …«
»Ich habe vor nichts und niemandem Angst, schon gar nicht vor einem Anwalt aus Chicago, der Sägespäne nicht von Mist unterscheiden kann.«
Sie steckte die Hände in die Hosentaschen und begann in dem kleinen Raum auf und ab zu marschieren. »Wenn Keane Prescott, seines Zeichens Rechtsanwalt, einen Sommer beim Zirkus verbringen will, dann werde ich mein Bestes tun, um es zu einem unvergesslichen Erlebnis für ihn zu machen.«
»Aber sei nett zu ihm«, mahnte Duffy noch, als sie auf die Tür zuging.
»Duffy«, sie lächelte ihm unschuldig zu, »du weißt doch, was für ein sanftes Händchen ich habe.« Und zur Bekräftigung knallte sie die Tür hinter sich zu.
Der Morgen graute am Horizont, als die Zirkuskarawane sich auf der großen Weide aufstellte. Das schwache Licht am Himmel ließ Farben nur erahnen. In der Ferne konnte man verschwommen riesige Orangenhaine liegen sehen.
Als Jo aus der Fahrerkabine ihres Trucks ausstieg, sog sie den Duft der Blüten ein, der in der Luft hing. Ein perfekter Morgen, befand sie. Für sie gab es nichts Großartigeres, als zu beobachten, wie ein junger Tag sich anschickte, seine volle Schönheit zu entfalten.
Es war noch kühl. Jo zog den Reißverschluss ihrer grauen Kapuzenjacke zu. Jetzt stieg auch der Rest der Truppe aus den Wagen und Autos und Lastern. Schon bald drang munteres Stimmengewirr durch die Morgenluft. Alle machten sich sofort an die Arbeit. Als das große Hauptzelt aufgerollt wurde, ging Jo nachsehen, wie ihre Löwen die fünfzig Meilen Fahrt überstanden hatten.
Drei Helfer entluden die Reisekäfige. Von diesen drei Männern, die sich mit Herz und Leib dem Zirkusleben verschrieben hatten, war Buck derjenige, der am längsten dabei war. Er hatte schon für Jos Vater gearbeitet und sogar eine eigene kleine Dressurnummer einstudiert, die er in der Zeit nach dem Tode von Steve Wilder vorführte, bis Jo ihr Debüt gab. Buck war fast zwei Meter groß, mit einer wilden blonden Mähne und einem buschigen Vollbart. Mit seiner Statur trat er auf dem Zirkusplatz als Herkules der Unbesiegbare auf. Dabei war er in Wahrheit so schüchtern, dass jeder erleichtert gewesen war, als er die Nummer in der Manege aufgab. Für Buck waren mehr als zwei Leute schon ein Menschenauflauf. Er hatte riesige Hände, doch Jo konnte sich noch gut daran erinnern, mit welcher Sanftheit er zwei Löwenbabys auf die Welt geholfen hatte.
Neben ihm wirkte Pete nahezu wie ein Zwerg. Das Alter des drahtigen Mannes war nicht zu bestimmen, Jo schätzte ihn irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. Vor fünf Jahren hatte der ruhige Pete mit der tiefen Stimme bei Jo um einen Job nachgefragt. Sie hatte nie von ihm wissen wollen, woher er kam, und er hatte es ihr nie gesagt. Ohne Baseballkappe und Kaugummi im Mund traf man Pete nie an. Oft lieh er sich eines von Jos vielen Büchern, und in jeder Pokerrunde war er der ungeschlagene König.
Gerry war noch sehr jung, gerade einmal neunzehn Jahre alt. Groß und schlaksig, war er begierig, so viel wie möglich zu lernen, um eines Tages selbst mit den Löwen zu arbeiten. Jo konnte den Ehrgeiz des Jungen nachempfinden. Auch sie hatte damals so gefühlt, und daher hatte sie schließlich zugestimmt, Gerry unter ihre Fittiche zu nehmen.
»Wie geht es meinen Lieblingen?«, fragte sie. Vor jedem Löwenkäfig blieb sie stehen und redete leise auf die Tiere ein, bis sie sich beruhigt hatten. »Sie haben es gut überstanden, nicht wahr? Hamlet ist noch ein wenig nervös, aber es ist ja auch sein erstes Jahr auf Tour.«
»Er ist ziemlich aggressiv«, murmelte Buck.
»Ja, ich weiß«, erwiderte Jo abwesend. »Und er ist ziemlich intelligent.«
Sie hatte das Haar zu einem dicken Zopf geflochten, den sie jetzt über die Schulter zurückwarf. »Sieh nur, da kommen schon die Ersten aus der Stadt«, sagte sie, als ein paar Autos und Motorräder auf die Weide einbogen.
Es waren Leute aus der Gegend, die sich für den Zirkus interessierten. Sie wollten zusehen, wie das große Hauptzelt aufgebaut wurde; manche würden spontan mit Hand anlegen und Masten halten oder Leinen ziehen. Als Dank für ihre Hilfe würden sie Freikarten für die Vorstellung und damit ein unvergessliches Erlebnis erhalten.
»Haltet sie mir nur von den Käfigen fern«, wies Jo ihre Helfer an, und Pete nickte.
Auf der Weide herrschte geschäftiges Treiben. Überall lagen jetzt Drahtseile und Stützmasten. Sechs Elefanten warteten auf ihr Kommando, um die Seile anzuziehen, während die Männer Masten positionierten und Segeltuch spannten. Ganz langsam richtete sich das große Zelt auf und nahm Gestalt an.
Im Osten stieg die Sonne jetzt immer höher und färbte den fahlen Himmel mit einem kräftigen Rot. Kommandos hallten durch die Luft, Lachen und auch hier und da ein deftiger Fluch. Jo gab Maggie, der afrikanischen Elefantenkuh, ein Zeichen, und gehorsam senkte diese den Rüssel. Vorsichtig stellte Jo einen Fuß darauf und kletterte mit Maggies Hilfe auf ihren Rücken.
Die ersten Sonnenstrahlen fielen auf das große Feld. Der Duft der Orangenblüten vermischte sich mit dem Geruch von Leder und Tieren. Unzählige Male hatte Jo miterlebt, wie das Zelt aufgebaut wurde. Jedes Mal war es faszinierend, doch das erste Mal nach der langen Winterpause war immer etwas Besonderes. Maggie hob den großen Kopf und trompetete laut, so als wolle sie ihre Vorfreude auf die neue Saison kundtun.
Lachend klopfte Jo dem Elefanten auf die graue Schulter. Sie fühlte sich frei und voller Tatendrang und unglaublich lebendig. Ließe sich ein Augenblick in einer Flasche einfangen, um ihn für immer aufzubewahren, so würde sie ganz gewiss diesen hier wählen. Wenn ich dann alt bin, dachte sie, dann öffne ich die Flasche und fühle mich wieder jung. Zufrieden vor sich hin lächelnd, ließ sie den Blick über die geschäftigen Menschen dort unten schweifen.
Ein Mann, der bei einer Kabelrolle stand, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Wie immer fiel ihr der Körperbau zuerst auf. Eine wohlproportionierte Figur war nun einmal unerlässlich für einen Artisten. Dieser Mann dort war schlank und stand sehr gerade. Gute Schultern, wie ihr auffiel, aber sie bezweifelte, dass die Arme übermäßig muskulös waren. Auch wenn er Jeans und T-Shirt trug, sah man ihm auf den ersten Blick den Stadtmenschen an. Sein Haar war von einem dunklen Blond, der Morgenwind hatte die Strähnen durcheinandergeweht, sodass sie ihm in die Stirn fielen. Er hatte ein attraktives Gesicht mit markanten Zügen. So unwirklich schön wie Vito sah er nicht aus, aber dieses Gesicht strahlte etwas aus – Entschlusskraft und Wachsamkeit.
Jo gefiel dieses Gesicht, ihr gefielen der feste Mund, die markanten Wangenknochen und die bernsteinfarbenen Augen. Am meisten jedoch sagte ihr die Offenheit in dem Blick zu, der jetzt auf ihr lag. Unwillkürlich musste sie an Ari denken, ihren Lieblingslöwen, der ebenso neugierig und unerschrocken dreinblicken konnte. Eigentlich war sie sich ziemlich sicher, dass der Mann sie schon viel länger ansah als sie ihn. Diese Unverblümtheit beeindruckte sie. Er starrte weiter zu ihr hin, ohne sein Interesse verhehlen zu wollen. Lachend warf sie sich den Zopf über die Schulter.
»Haben Sie Lust auf einen kleinen Ausritt?«, rief sie zu ihm hinüber. Als Zirkusartistin war Jo viel zu sehr an fremde Menschen gewöhnt, um verlegen oder distanziert zu sein. Sie sah, wie er überrascht eine Augenbraue hochzog. Es reizte sie, herauszufinden, ob er auch in anderer Hinsicht ihrem Lieblingslöwen ähnelte. »Kommen Sie, Maggie tut Ihnen nichts. Sie ist sanft wie ein Lamm, nur eben ein bisschen größer.«
Er hatte die Herausforderung in ihren Worten gehört und angenommen. Jo beobachtete, wie er über die Weide zu ihr kam. Er bewegte sich schnell und geschmeidig, sein Gang gefiel ihr ebenfalls.
Jo klopfte mit dem Stock leicht hinter Maggies Ohr, und gehorsam knickte der Elefant die Vorderbeine ein. Jo hielt dem Fremden die Hand hin, und mit erstaunlicher Beweglichkeit schwang er sich hinter sie auf den Rücken des großen Tieres.
Einen Moment lang war Jo verdattert über den Stromstoß, der durch ihren Arm gefahren war, als sie die Hand des Fremden berührt hatte. Aber der Kontakt war so kurz gewesen, dass sie sich das sicher nur eingebildet hatte.
»Auf, Maggie.« Jo schlug noch einmal leicht hinter Maggies Ohr, und Maggie gehorchte. Sie setzte sich schaukelnd in Bewegung.
»Gehört es zu Ihren Gewohnheiten, fremde Männer auf diese Weise aufzugabeln?«, fragte der Mann hinter ihr. Er hatte eine angenehme tiefe Stimme.
Jo sah lächelnd über die Schulter zurück. »Maggie ist für das Aufgabeln zuständig.«
»Ja, scheint so. Wissen Sie eigentlich, dass es hier oben extrem unbequem ist?«
Jo lachte übermütig. »Dann sollten Sie erst mal versuchen, während der Parade durch die Stadt mehrere Kilometer auf ihr zu reiten und gleichzeitig immer schön zu lächeln.«
»Danke, ich passe lieber. Kümmern Sie sich um die gute Maggie?«
»Nein. Aber ich kann mit ihr umgehen. Sie haben übrigens die gleichen Augen wie eine meiner Katzen. Das mag ich. Und da Sie scheinbar an Maggie und mir interessiert waren, habe ich Sie hierherauf eingeladen.«
Dieses Mal war es der Mann, der auflachte. Jo drehte sich um. Sie wollte sehen, was mit seinem Gesicht geschah, wenn er lachte. Humor strahlte aus seinen Augen, und er zeigte eine gerade Reihe blendend weißer Zähne. Dieses Lächeln gefiel ihr, und so erwiderte sie es.
»Faszinierend. Sie laden mich zu einem Ritt auf einem Elefanten ein, weil ich Augen wie eine Ihrer Katzen habe. Ohne die gute Maggie beleidigen zu wollen, aber mein Interesse galt eigentlich mehr Ihnen.«
»So?« Fragend schürzte Jo die Lippen. »Wieso?«
Sekundenlang betrachtete er sie schweigend. »Sie scheinen es wirklich nicht zu wissen.«
»Sonst würde ich nicht fragen. Es wäre doch reine Zeitverschwendung, eine Frage zu stellen, wenn ich die Antwort schon kenne.« Sie beugte sich leicht vor. »Halten Sie sich gut fest«, sagte sie nach hinten. »Maggie muss sich nämlich jetzt ihr Frühstück verdienen.«
Die Masten standen noch schief im Boden. Ein Helfer befestigte eine der vielen Spannleinen an Maggies Fußring, und vorsichtig trieb Jo den Elefanten an, zeitgleich mit den anderen Tieren. Das Hauptzelt richtete sich auf, straffte sich und stand nun gerade und beeindruckend groß in der Morgensonne. Maggie und die anderen Elefanten hatten ihre Arbeit gut erledigt.
»Ist es nicht imposant?«, murmelte Jo.
Vito schlenderte vorbei und rief Jo etwas auf Italienisch zu. Sie winkte und antwortete ihm in seiner Sprache, dann gab sie Maggie den Befehl, wieder hinzuknien. Jo wartete, bis ihr Passagier abgestiegen war, bevor sie selbst vom Rücken des großen Tieres glitt.
Zurück auf dem Boden, stellte sie überrascht fest, dass ihr Gast fast so groß wie Buck war. Sie musste den Kopf zurücklegen, um ihm ins Gesicht sehen zu können.
»So riesig haben Sie gar nicht gewirkt, als ich da oben auf Maggie saß«, sagte sie mit der ihr eigenen Offenheit.
»Dafür wirkten Sie nicht so klein.«
Jo lachte vergnügt und klopfte Maggie liebevoll auf die Schulter. »Werden Sie sich die Vorstellung ansehen?« Sie wollte, dass er kam, sie wollte ihn wiedersehen. Ein verwirrender Wunsch, wie sie sich eingestand. Bisher hatten ihre Löwen immer an erster Stelle gestanden. Männer hatten nur selten eine Rolle gespielt. Und außerdem hatte sie sich noch nie für Stadtmenschen begeistern können.
»Ja, ich komme zur Vorstellung.« Ein kleines Lächeln auf den Lippen, musterte er Jo nachdenklich. »Treten Sie auch auf?«
»Ich mache die Katzennummer.«
»Aha. Ich hätte Sie mir eher am Trapez vorstellen können.«
Sie lächelte. »Meine Mutter war Trapezkünstlerin.« Jemand rief nach ihr, und sie drehte sich um. Ihre Hilfe wurde beim Aufbau der kleineren Nebenzelte verlangt. »Ich muss gehen. Ich hoffe, Ihnen gefällt unsere Show.«
Bevor sie sich abwenden konnte, nahm er ihre Hand. »Ich würde Sie heute Abend gerne sehen.«
Sie hob den Kopf und erwiderte seinen Blick. »Warum?« Es war eine ehrliche Frage. Ja, auch sie wollte ihn sehen, aber sie hatte keine Ahnung, warum das so war.
Dieses Mal lachte er nicht. Er ließ ihren langen Zopf durch seine Finger gleiten. »Weil Sie schön sind und ich fasziniert von Ihnen bin.«
»Oh.« Jo hätte sich nie als schön bezeichnet. Auffallend vielleicht, wenn sie in ihrem Kostüm von Löwen umringt war, aber hier, in Jeans und ungeschminkt? Sie bezweifelte es. Dennoch, ein interessanter Gedanke. »Na gut, einverstanden. Wenn es keine Probleme mit meinen Katzen gibt. Ari fühlt sich nämlich nicht wohl.«
»Tut mir leid, das zu hören.« Ein Lächeln zuckte um seinen Mund.
Wieder erscholl ihr Name, diesmal schon lauter und ungeduldiger. Beide drehten die Köpfe in die Richtung, aus der gerufen wurde.
»Sie werden gebraucht«, sagte er. »Bevor Sie gehen, können Sie mir vielleicht noch zeigen, wer Bill Duffy ist?«
»Duffy?«, wiederholte Jo überrascht. »Sie suchen doch nicht etwa nach einem Job?«
Ihre Ungläubigkeit ließ ihn grinsen. »Warum nicht?«
»Weil Sie nicht der Typ dafür sind.«
»Gibt es denn einen bestimmten Typ?« Seine Frage klang sowohl interessiert als auch amüsiert.
»Ja, und Sie gehören auf jeden Fall nicht dazu.« Jo schüttelte leicht den Kopf.
»Um ehrlich zu sein, ich suche keinen Job«, gab er zu. »Aber ich suche Bill Duffy.«
Es war nicht Jos Art zu drängen. Im Zirkus wurde Privatsphäre hoch angesehen und respektiert. So beschattete sie mit einer Hand die Augen und sah sich auf dem Gelände um, bis sie Duffy zusammen mit anderen Männern beim Aufbau des Küchenzeltes erblickte. »Duffy ist der mit der rot karierten Jacke.« Sie zeigte mit dem ausgestreckten Arm in die Richtung. »Er zieht sich immer an wie ein Ausrufer.«
»Ein was?«
»Sie würden es wahrscheinlich Conférencier nennen. Oder Marktschreier.«
Mühelos kletterte sie wieder auf Maggies Rücken. »Sagen Sie Duffy, dass Jo Sie schickt. Er soll Ihnen eine Freikarte geben.« Damit winkte sie ihm zu und gab Maggie das Kommando, sich in Bewegung zu setzen.
2. KAPITEL
Jo spähte durch den Bühnenvorhang und wartete auf ihren Einsatz. Neben ihr stand Jamie Carter alias Topo der Clown. Seit drei Generationen stellten die Carters die Clowns, und Jamie trug sein grell geschminktes Gesicht und seine orangerote Perücke mit Stolz und Souveränität. Jung und schlaksig, wie er war, nutzte er seine Vorteile und bot seine Nummer mit ehrlicher Begeisterung dar.
Für Jo war Jamie mehr als ein Freund, fast wie ein Bruder. Die beiden waren praktisch zusammen aufgewachsen.
»Und sie hat wirklich nichts gesagt?«, fragte er Jo jetzt schon zum dritten Mal.
Mit einem Seufzer ließ Jo den Vorhang zurückfallen. In der Manege unterhielten die Pausenclowns das Publikum, während der große Käfig für die Löwennummer aufgebaut wurde.
»Nein, Carmen hat kein Wort gesagt. Ich weiß wirklich nicht, warum du deine Zeit mit ihr vergeudest.« Ihre Antwort klang recht scharf.
»Von dir erwarte ich auch gar nicht, dass du so etwas verstehst«, erwiderte Jamie pikiert. Würdevoll reckte er die schmalen Schultern. »Schließlich ist Ari der Vertreter des anderen Geschlechts, dem du bisher am nächsten gekommen bist.«
»Wie nett von dir.« Jo war nicht wirklich beleidigt. Ihr Ärger rührte eher daher, dass Jamie sich wegen Carmen Gribalti, der mittleren Schwester der »Fliegenden Gribaltis«, zum Narren machte. Carmen war eine exotische dunkle Schönheit, graziös, außergewöhnlich talentiert, hochnäsig und – absolut desinteressiert an Jamie.
Als Jo jetzt in Jamies geschminktes Gesicht sah, konnte sie die traurigen Augen hinter der Maske erkennen, und ihr Ärger verflog. »Wahrscheinlich hat sie einfach nur noch keine Zeit gefunden, deinen Brief zu beantworten«, versuchte sie den Jungen zu beschwichtigen. »Du weißt doch, am ersten Tag der Saison geht immer alles drunter und drüber.«
»Ja, möglich«, murmelte Jamie in sich hinein. »Ich weiß wirklich nicht, was sie an Vito findet.«
Jo sah das Bild des gut aussehenden Seiltänzers plötzlich vor sich, seine kecken Augen, sein charmantes Grinsen, seinen perfekt durchtrainierten Körper. Sie hielt es für klüger, nichts davon zu erwähnen. »Tja, die Geschmäcker sind eben verschieden«, erwiderte sie diplomatisch und setzte einen herzhaften Kuss auf Jamies dicke rote Plastiknase. »Ich persönlich schmelze immer dahin, wenn ich einen Mann mit struppigen orangeroten Haaren sehe.«
Jamie grinste. »Du weißt eben, worauf es ankommt.«
Jo spähte wieder durch den Vorhang. Nicht mehr lange, und Jamie musste in die Manege. »Hast du heute zufällig einen Typ aus der Stadt hier herumlungern sehen?«
»Ungefähr drei Dutzend«, kam die trockene Antwort, während Jamie den Eimer mit Konfetti aufhob, den er für seine Nummer brauchte.
Jo warf ihm einen kurzen Blick zu. »Nicht einer von den üblichen Besuchern. Ungefähr Anfang dreißig, groß, dunkelblondes Haar, trug Jeans und T-Shirt.« Das Lachen aus dem Zirkuszelt war so laut, dass ihre Worte kaum noch zu verstehen waren.
»Ja, hab ich.« Jamie schob sie beiseite, es war Zeit für seinen Auftritt. »Ging mit Duffy ins Büro.« Und dann stürzte Topo der Clown mit roter Nase und übergroßen Turnschuhen wild Konfetti verteilend durch den Vorhang und in die Manege.
Mit gerunzelter Stirn sah Jo hinter dem Vorhang zu, wie Topo unter dem lauten Gelächter des Publikums seine drei Clownskameraden durch die Manege jagte.
Seltsam, dass Duffy einen Städter mit in den Bürowagen nahm. Schließlich hatte jener doch gesagt, er suche nicht nach einem Job. Ein Wanderarbeiter war er auf keinen Fall, irgendwie haftete ihm die Solidität eines Sesshaften an. Er war auch kein Artist von einem anderen Zirkus, dazu waren seine Hände zu weich. Und, fügte sie in Gedanken hinzu, während sie sich auf Babette, die schneeweiße Araberstute, schwang, diesen Mann umgab ganz eindeutig die Aura von Erfolg. Und Autorität. Nein, einen Job beim Zirkus hatte er ganz bestimmt nicht gesucht.
Es ärgerte Jo, dass es einem Fremden gelungen war, sich in ihre Gedanken zu schleichen. Während der Parade durch die Stadt hatte sie unwillkürlich nach ihm Ausschau gehalten, und selbst jetzt ließ sie den Blick um die Arena schweifen, ob er nicht im Publikum saß. Bei der Matinee war er nämlich nicht anwesend gewesen. Sie klopfte der Stute den Hals und lauschte der Ansage des Zeremonienmeisters.
»Sehr verehrtes Publikum, meine Damen und Herren«, rief jener aus. »Werden Sie Zeugen der atemberaubendsten Sensation im Zirkuszelt. Begrüßen Sie Jolivette, die Königin der Raubkatzen!«
Jo stieß ihre Fersen leicht in Babettes Seiten und galoppierte in die Manege. Applaus brandete auf für die zierliche Frau im schwarzen Cape mit den fliegenden schwarzen Haaren, auf denen ein Strassdiadem saß.
Jo ließ die Dressurpeitschen knallen und ritt einmal um die Manege, dann glitt sie vor dem Eingang zum Käfig vom Rücken der Stute und zog sich mit einer schwungvollen Handbewegung das Cape von den Schultern, während Babette zum Bühnenvorhang zurückgaloppierte und dort von einem Helfer in Empfang genommen wurde.
Jos Kostüm war ein eng anliegendes weißes Trikot, besetzt mit unzähligen goldenen Pailletten. Das lange schwarze Haar, das ihr offen über den Rücken fiel, bildete einen dramatischen Kontrast.
Es muss ein echter Auftritt sein. Das waren immer Franks Worte gewesen. Und Jo machte ihren Auftritt.