Zauber einer Winternacht - Nora Roberts - E-Book

Zauber einer Winternacht E-Book

Nora Roberts

0,0
5,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Gabriel rettet die schwangere Laura aus ihrem verunglückten Auto, das in den verschneiten Bergen von Colorado ins Schlittern geraten ist. Er nimmt sie mit in seine Hütte und gewährt ihr für ein paar Tage Unterschlupf. Der zurückgezogene Künstler spürt jedoch, dass die wunderschöne Frau ein Geheimnis mit sich herumträgt, das zu schrecklich ist, um es ihm anzuvertrauen. Zu schrecklich, um überhaupt jemandem zu vertrauen. Schritt für Schritt kommen die beiden sich näher. Der Maler und die Frau, die er liebend gerne malen würde – und in seinem Leben behalten würde.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 301

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Nora Roberts

Zauber einer Winternacht

Roman

Aus dem Amerikanischen von Patrick Hansen

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Die Originalausgabe Gabriel’s Angelist bei Silhouette Books, Toronto, erschienen.Die deutsche Erstausgabe ist im MIRA Taschenbuch erschienen.
Wilhelm Heyne Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenCopyright © 1988 by Nora RobertsPublished by Arrangement with Eleanor WilderCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2003 by MIRA Taschenbuchin der Cora Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München, unter Verwendung eines Fotos von ThinkstockSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-12094-8V003
www.penguinrandomhouse.de/nora-roberts

1. KAPITEL

Verdammter Schnee. Gabriel schaltete in den zweiten Gang hinunter, verlangsamte das Tempo des Jeeps auf fünfzehn Meilen pro Stunde und starrte leise fluchend nach vorn, bis ihm die Augen schmerzten. Die Scheibenwischer glitten hektisch hin und her, aber mehr als eine weiße Wand war nicht zu sehen. Kein Winterwunderland. Der Schnee prasselte in Flocken herab, die so groß und gemein aussahen wie eine Männerfaust.

Auf ein Abebben dieses Schneesturms zu warten war sinnlos, das war ihm klar, als er die nächste Kurve im Kriechtempo nahm. Zum Glück kannte er nach sechs Monaten die schmale, windungsreiche Straße aus der Stadt. Er konnte praktisch nach Gefühl fahren, aber ein Neuling wäre chancenlos. Trotzdem schmerzten seine Schultern und sein Nacken vor Anspannung. Hier in Colorado konnten Schneestürme im Frühling nicht weniger heimtückisch sein als mitten im Winter. Und sie konnten eine Stunde oder einen Tag dauern. Dieser hatte jedenfalls alle überrascht – Einheimische, Touristen und den Nationalen Wetterdienst.

Er hatte nur noch fünf Meilen vor sich. Dann würde er seine Vorräte ausladen, das Feuer anzünden und den Aprilschnee von der warmen Hütte aus genießen können, mit einem heißen Kaffee oder einem eiskalten Bier.

Der Jeep erklomm die Steigung wie ein Panzer, und er war seinem Gefährt dankbar, dass es ihn nicht im Stich ließ. Wegen des unerwarteten Schneefalls würde er für die Zwanzig-Meilen-Strecke von der Stadt nach Hause vielleicht dreimal so lange wie sonst benötigen, aber er würde es mit Sicherheit schaffen.

Die Wischer mühten sich ab, um die Frontscheibe freizuhalten. Sekunden der Sicht auf nichts als Weiß folgten Sekunden der weißen Blindheit. Wenn es so weiterging, würde der Schnee bei Einbruch der Nacht mindestens einen halben Meter hoch liegen. Gabriel tröstete sich mit dem Gedanken, dass er bis dahin längst zu Hause sein würde, hörte aber nicht auf, leise vor sich hin zu fluchen. Wenn er am Tag zuvor nicht vergessen hätte, auf die Uhr zu sehen, dann hätte er heute genügend Vorräte gehabt und hätte über das Wetter nur lachen können.

Die Straße ging in eine gemächliche S-Kurve über, und Gabriel nahm sie vorsichtig. Normalerweise bevorzugte er ein schnelleres Vorankommen, doch der Winter hatte ihm eine gehörige Portion Respekt vor den Bergen und den in sie hineingesprengten Straßen eingeflößt. Das Schutzgeländer war zwar stabil, aber die Felsen, die darunter lagen, verziehen nicht den geringsten Fehler. Er hatte nicht so sehr Angst, selbst einen Fehler zu machen – in dem soliden Jeep konnte ihm nicht viel passieren. Mehr Sorgen machte er sich um die anderen, die möglicherweise zur selben Zeit die Passstraße befahren und an ihrem Rand oder gar in der Mitte gestoppt hatten.

Er brauchte eine Zigarette. Doch er packte das Lenkrad fester und unterdrückte das Verlangen. Den Luxus würde er sich erst später gönnen. Noch drei Meilen bis zur Hütte.

Die Anspannung in den Schultern ließ nach. Seit zwanzig Minuten hatte er keinen anderen Wagen mehr gesehen, und wahrscheinlich würde auf dem Rest der Strecke auch keiner mehr auftauchen. Kein vernünftiger Mensch war unter diesen Bedingungen noch unterwegs. Von jetzt an würde er blind nach Hause finden. Er war froh darüber. Neben ihm krächzte das Radio von gesperrten Straßen und abgesagten Veranstaltungen. Gabriel wunderte sich immer wieder, wie viele Tagungen, Essen, Aufführungen und Vorträge die Leute an einem einzigen Tag organisierten.

Muss wohl in der Natur der Menschen liegen, dachte er. Dauernd zog es sie zueinander, und wenn es nur darum ging, ein paar Kuchen oder Kekse zu verkaufen. Er selbst war lieber allein. Vorläufig jedenfalls. Sonst hätte er sich nicht die Hütte gekauft und sich darin die letzten sechs Monate vergraben.

Die Einsamkeit gab ihm die Freiheit zum Nachdenken, zum Arbeiten, zum Heilen. Und von allen dreien hatte er etwas geschafft.

Fast hätte er geseufzt, als er sah – oder besser fühlte –, wie die Straße wieder anstieg. Dies war die letzte Steigung, bevor er abbiegen musste. Nur noch eine Meile. Sein vor Konzentration hartes und straffes Gesicht entspannte sich. Es war kein gefälliges oder sonderlich gut aussehendes Gesicht. Es war zu schmal und kantig, um einfach nur angenehm zu wirken, und die Nase war leicht schief, was Gabriel einer hitzigen Auseinandersetzung mit seinem Bruder in ihren Teenager-Jahren verdankte. Aber Gabriel war nie nachtragend gewesen.

Weil er vergessen hatte, eine Mütze aufzusetzen, fiel ihm das dunkelblonde Haar etwas unordentlich ums Gesicht. Es war lang, reichte bis über den Kragen des Parka und war vor Stunden mit gespreizten Fingern hastig in Form gebracht worden. Seine dunkelgrünen Augen brannten von dem glitzernden Schnee, in den er unentwegt gestarrt hatte.

Während die Reifen auf dem schneebedeckten Asphalt knirschten, sah er auf das Zählwerk neben dem Tachometer. Eine Viertelmeile bis zum Ziel. Als er wieder auf die Straße blickte, tauchte vor ihm ein offenbar außer Kontrolle geratenes Fahrzeug auf.

Ihm blieb nicht einmal Zeit zum Fluchen. Er riss den Jeep gerade in dem Moment nach rechts, als der entgegenkommende Wagen seinen Schleuderkurs etwas zu verlangsamen schien. Der Jeep glitt über den am Straßenrand aufgetürmten Schnee und schwankte bedrohlich, bevor die Reifen endlich wieder Halt fanden. Sekundenlang hatte er fürchten müssen, dass der Jeep wie eine hilflose Schildkröte auf dem Rücken landen würde. Als der Schreck vorüber war, blieb ihm nichts anderes übrig, als ruhig sitzen zu bleiben und zu hoffen, dass der andere Fahrer ebenso viel Glück haben würde.

Dessen Wagen kam jetzt seitwärts die Straße herab auf den Jeep zu. Gabriel malte sich bereits aus, mit welcher Wucht er auf ihn prallen würde, als der andere Fahrer sein Gefährt buchstäblich in letzter Sekunde wieder unter Kontrolle bekam. Der Wagen drehte sich einmal um seine Achse, bis er nicht mehr mit der Breitseite, sondern mit dem Heck nach vorn über den Schnee glitt. Er verfehlte den Jeep nur um wenige Zentimeter und rutschte auf das Schutzgeländer zu. Gabriel zog die Handbremse an und sprang aus dem Jeep, als der Wagen mit dem stabilen Metall kollidierte.

Fast wäre er aufs Gesicht gefallen, doch die Profilsohlen gruben sich fest in den Schnee, während er über die Straße rannte. Es war ein Kleinwagen, jetzt sogar noch etwas kleiner als vom Hersteller vorgesehen. Die rechte Seite war eingedrückt, die Motorhaube über die gesamte Wagenbreite wie ein Akkordeon zusammengeschoben. Gabriel verzog das Gesicht bei der Vorstellung, was passiert wäre, wenn der Wagen mit der Fahrerseite gegen das Geländer geprallt wäre.

Er kämpfte sich durch den Schnee zu dem demolierten Wagen. Eine Gestalt saß zusammengesunken hinter dem Lenkrad. Er riss an der Tür. Sie war verschlossen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, während er gegen die Scheibe hämmerte.

Die Gestalt bewegte sich. Eine Frau, daran ließ das dichte weizenblonde Haar, das auf den dunklen Mantel fiel, keinerlei Zweifel. Er sah, wie sie eine Hand hob und sich die Skimütze vom Kopf streifte. Dann drehte sie das Gesicht zum Fenster und starrte ihn an.

Sie war weiß, weiß wie Marmor. Selbst ihre Lippen hatten jede Farbe verloren. Ihre Augen waren riesig und dunkel, jede Iris fast schwarz vor Schock. Und sie war schön, geradezu atemberaubend schön. Der Künstler in ihm sah sofort, was für Möglichkeiten ihr Gesicht bot, die makellosen Züge, die hervorstehenden Wangenknochen, die volle Unterlippe. Der Mann in ihm verwarf sie sofort und hämmerte erneut gegen die Scheibe.

Sie blinzelte mit den Augen und schüttelte den Kopf, als ob sie ihn erst wieder klar bekommen müsse. Als der Schock aus ihnen wich, sah er, dass ihre Augen blau waren, mitternachtsblau. Jetzt füllten sie sich mit Besorgnis. Mit rascher Bewegung kurbelte sie die Scheibe hinunter.

»Sind Sie verletzt?«, fragte sie, bevor er etwas sagen konnte. »Habe ich Sie getroffen?«

»Nein, Sie haben das Schutzgeländer getroffen.«

»Dem Himmel sei Dank.« Sie ließ den Kopf kurz gegen die Sitzlehne zurückfallen. Ihr Mund war staubtrocken. Und ihr Herz raste, obwohl sie bereits um Fassung rang. »Oben an der Kuppe bin ich ins Schleudern gekommen. Ich dachte – ich hoffte –, dass ich ihn wieder in den Griff bekomme. Aber dann sah ich Sie und war mir sicher, dass ich mit Ihnen zusammenstoßen würde.«

»Das wären Sie auch, wenn Sie nicht in Richtung auf das Geländer ausgewichen wären.« Er sah nach vorn, zur Motorhaube. Der Schaden hätte größer ausfallen können, viel größer. Wenn sie schneller gefahren wäre … Es hatte keinen Sinn, sich das auszumalen. Er wandte ihr wieder den Blick zu, suchte in ihrem Gesicht nach Anzeichen des Schocks oder einer Gehirnerschütterung. »Sind Sie in Ordnung?«

»Ja, ich glaube schon.« Sie öffnete die Augen und versuchte, ihn anzulächeln. »Es tut mir leid. Ich muss Ihnen ja einen ziemlichen Schrecken eingejagt haben.«

Er nickte nur. Aber jetzt war der Schrecken vorüber. Er war weniger als eine Viertelmeile von Heim und Herd entfernt und steckte mit einer wildfremden Frau und ihrem für mindestens einige Tage fahruntüchtigen Wagen im Schnee. »Was zum Teufel suchen Sie überhaupt hier draußen?«

Seine wütend hervorgestoßenen Worte ließen sie kalt. Ohne Hast löste sie den Sicherheitsgurt. »Vermutlich habe ich in dem Schneesturm die falsche Richtung genommen. Ich wollte nach unten, nach Lonesome Ridge, um dort zu übernachten. Nach der Karte ist das die nächste Stadt, und ich hatte Angst, am Straßenrand zu halten und einzuschneien.« Sie sah zum Geländer hinüber und schüttelte sich. »Ich nehme nicht an, dass wir meinen Wagen wieder freibekommen.«

»Heute nicht mehr.«

Stirnrunzelnd schob Gabriel die Hände in die Taschen. Es schneite noch immer, und die Straße war verlassen. Wenn er sich jetzt umdrehte und zum Jeep zurückging, ohne sich weiter um sie zu kümmern, würde sie möglicherweise erfrieren, bevor ein Einsatzfahrzeug oder Schneepflug sie fand. So lästig ihm die Verpflichtung auch war, er konnte die Frau nicht einfach hilflos im Schnee zurücklassen.

»Mehr als Sie mitzunehmen kann ich nicht für Sie tun.« In seinem Tonfall lag nicht die Spur von Liebenswürdigkeit. Die hatte sie allerdings auch nicht erwartet. Er hatte jedes Recht, wütend und ungeduldig zu sein. Schließlich hatte sie ihn fast gerammt.

»Es tut mir leid.«

Er zuckte mit den Schultern. Ihm war klar, wie unfreundlich er war. »Die Abzweigung zu meiner Hütte ist oben auf dem Hügel. Sie werden Ihren Wagen hierlassen und mit mir im Jeep fahren müssen.«

»Ich weiß Ihre Hilfe zu schätzen.« Der Motor war abgestellt, das Fenster offen, und die Kälte drang langsam durch ihre Kleidung. »Tut mir leid, wenn ich mich aufdränge, Mr. …?«

»Bradley. Gabriel Bradley.«

»Ich bin Laura.« Sie streifte den Sicherheitsgurt ab, der sie zweifellos vor Verletzungen bewahrt hatte. »Im Kofferraum liegt ein Koffer. Würden Sie mir helfen, ihn herauszuholen?«

Gabriel nahm die Schlüssel und stapfte nach hinten. Wenn ich nur eine Stunde früher losgefahren wäre, dachte er, dann wäre ich jetzt zu Hause, und zwar allein.

Der Koffer war nicht sehr groß und alles andere als neu. Die Lady mit nur einem Namen reist mit leichtem Gepäck, ging es ihm durch den Kopf. Es wäre ungerecht, ihr böse zu sein oder sie herablassend zu behandeln. Wenn sie dem Jeep nicht in letzter Sekunde ausgewichen wäre, würden sie beide jetzt statt Kaffee und trockener Sachen wohl einen Arzt brauchen.

Gabriel beschloss, höflicher zu ihr zu sein, und drehte sich um. Sie stand reglos da und sah ihm zu, während der Schnee auf ihrem Haar eine Haube zu formen begann. In diesem Moment entdeckte er, dass sie nicht nur wunderschön, sondern auch sehr, sehr schwanger war.

»Oh Himmel«, war alles, was er herausbrachte.

»Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen so viel Ärger bereite«, sagte Laura. »Und ich möchte Ihnen jetzt schon danken. Wenn ich von Ihrer Hütte aus telefoniere und einen Abschleppwagen bestelle, brauche ich Ihnen vielleicht nicht länger zur Last zu fallen.«

Er hatte nicht ein Wort verstanden. Kein einziges. Alles, was er tun konnte, war, auf die beträchtliche Wölbung unter ihrem dunklen Mantel zu starren. »Sind Sie sicher, dass alles in Ordnung ist? Sie haben nichts davon gesagt, dass Sie … Werden Sie einen Arzt brauchen?«

»Mir geht es gut.« Diesmal lächelte sie, einigermaßen entspannt. Die Kälte hatte die Farbe in ihr Gesicht zurückkehren lassen. »Wirklich. Dem Baby ist nichts passiert. Es ist nur etwas verärgert, wenn ich die Tritte in meinem Bauch richtig deute. Den Aufprall haben wir beide kaum gespürt. Wir sind ja nicht frontal gegen das Geländer geprallt, sondern hineingeglitten.«

»Aber vielleicht ist das Baby …« Er suchte fieberhaft nach dem richtigen Wort. »Vielleicht ist es durchgerüttelt worden.«

»Es ist alles in Ordnung«, beteuerte sie. »Ich war angeschnallt, und der Schnee ist zwar an allem schuld, aber er hat wenigstens für Dämpfung gesorgt.« Er war noch nicht überzeugt, und sie warf ihr schneebedecktes Haar nach hinten. Trotz der mit Seide gefütterten Lederhandschuhe begannen ihre Finger gefühllos zu werden. »Ich verspreche Ihnen, dass ich das Kind nicht mitten auf der Straße bekommen werde. Es sei denn, Sie haben vor, hier noch ein paar Wochen zu verbringen.«

Hoffentlich hat sie recht, dachte er inständig. So wie sie ihn anlächelte, kam er sich plötzlich idiotisch vor. Er beschloss, ihr zu glauben, und reichte ihr die Hand. »Lassen Sie mich Ihnen helfen.«

Diese Worte, diese simplen Worte, gingen ihr sofort ans Herz. Sie hätte an den Fingern abzählen können, wie oft sie sie gehört hatte.

Er hatte keine Ahnung, wie man mit schwangeren Frauen umgehen musste. Waren sie zerbrechlich? Eigentlich hatte er immer geglaubt, dass das Gegenteil der Fall sein müsste. Schließlich mussten sie einiges durchmachen. Aber jetzt, wo er einer Schwangeren gegenüberstand, hatte er Angst, mit einer Berührung Schaden anzurichten.

Eingedenk der glatten Straße packte Laura seinen Arm mit festem Griff. »Es ist wunderschön hier«, sagte sie, als sie den Jeep erreichten. Sie warf einen raschen Blick auf die hohe Stufe unterhalb der Tür. »Ich glaube, Sie werden mir einen Schubs geben müssen. Ich bin nicht mehr so beweglich wie sonst.«

Gabriel verstaute ihren Koffer und überlegte dabei, wo er sie anfassen sollte. Schließlich hielt er mit der einen Hand ihren Ellbogen und legte die andere auf ihre Hüfte. Laura glitt mit weniger Mühe in den Sitz, als er erwartet hatte.

»Danke.«

Seine Antwort war mehr geknurrt als gesprochen. Er knallte die Tür hinter ihr ins Schloss, ging um den Jeep herum und setzte sich hinters Steuer. Es bedurfte einiger Manöver, aber wenig später stand der Jeep wieder auf der Straße.

Verlässlich wie immer nahm der allradgetriebene Wagen die Steigung in Angriff. Laura streckte die Finger. Die Hände hatten endlich aufgehört zu zittern. »Ich war mir nicht sicher, ob hier oben jemand lebt. Wenn ich ein Haus gefunden hätte, wäre ich nicht weitergefahren. Mit einem Schneesturm habe ich im April nicht gerechnet.«

»Wir bekommen sogar noch später im Jahr welche.« Er schwieg einen Moment lang. Er respektierte die Privatsphäre anderer Menschen, denn das erwartete er auch von ihnen. Aber dies waren nun einmal ungewöhnliche Umstände. »Sie reisen allein?«

»Ja.«

»Finden Sie das in Ihrem Zustand nicht etwas riskant?«

»Eigentlich wollte ich in ein paar Tagen schon in Denver sein.« Sie legte sich eine Hand auf den Bauch. »Ich bin erst in sechs Wochen so weit.« Laura holte tief Luft. Vielleicht war es gefährlich, ihm zu trauen, aber ihr blieb keine andere Wahl. »Leben Sie allein, Mr. Bradley?«

»Ja.«

Sie drehte den Kopf, bis sie ihn unauffällig mustern konnte. Während sie den schneebedeckten Weg entlangfuhren, jedenfalls nahm sie an, dass es unter all dem Schnee so etwas wie einen Weg gab, betrachtete sie sein Profil. Sein Gesicht hatte etwas Hartes, Energisches an sich. Nichts Grobes, dachte sie. Dazu war es zu schmal und feinknochig. Es war von einer markanten Kühle, wie geschnitzt, wie das Gesicht eines mythischen Kriegshäuptlings.

Doch dann fiel ihr die männliche Hilflosigkeit in seinen Augen wieder ein, die Verblüffung, als er gesehen hatte, dass sie schwanger war. Bei ihm würde sie sicher sein. Jedenfalls glaubte sie das. Musste es glauben.

Er spürte ihren forschenden Blick und las mühelos ihre Gedanken. »Ich bin kein Irrer, der aus der Anstalt in die Berge geflohen ist«, sagte er mit sanfter Stimme.

»Da bin ich aber froh.« Sie lächelte leicht und sah wieder durch die Windschutzscheibe nach vorn.

Die Hütte war durch den wirbelnden Schnee hindurch kaum zu erkennen. Selbst dann nicht, als er direkt davor hielt. Aber das bisschen, das Laura sah, gefiel ihr ungemein. Es war ein stabiler Kasten aus Holz mit einer überdachten Veranda und Sprossenfenstern. Aus dem Schornstein stieg Rauch.

Vom Weg führten schneebedeckte, glatt behauene Felsplatten zu den Eingangsstufen. Unter dem Schnee lugten an den Ecken immergrüne Ranken hervor. Noch nie war ihr etwas so sicher und warm vorgekommen wie diese kleine Hütte mitten in den Bergen.

»Sie ist hübsch. Sicher sind Sie hier sehr glücklich.«

»Die Hütte erfüllt ihren Zweck.« Gabriel kam um den Jeep herum und half ihr heraus. Sie duftet wie der Schnee, dachte er, oder vielleicht doch mehr wie Wasser. Wie das klare, jungfräuliche Wasser, das im Frühling die Felswände herabgeströmt kam. »Kommen Sie«, sagte er, während er sich noch über seine Reaktion und den unsinnigen Vergleich ärgerte. »Sie können sich am Feuer aufwärmen.« Gabriel hielt ihr die Vordertür auf. »Gehen Sie hinein. Ich hole den Rest aus dem Jeep.«

Er ließ sie allein. Der Schnee tropfte von ihrem Mantel auf den Webteppich, der innen vor der Tür lag.

Die Bilder. Laura stand wie angewurzelt da und starrte mit offenem Mund auf die Bilder. Sie bedeckten die Wände, standen in allen Ecken, stapelten sich auf Tischen. Nur einige von ihnen waren gerahmt. Sie benötigten keine zusätzliche Verzierung. Einige waren halb fertig, als hätte der Künstler das Interesse oder die Motivation verloren. Es gab welche in Öl, in lebendigen grellen Farben, und es gab Aquarelle, in weichen dunstigen Schattierungen wie aus einem Traum entsprungen. Laura schlüpfte aus dem Mantel und besah sie sich genauer.

Sie entdeckte ein Motiv aus Paris, aus dem Bois de Boulogne. Sie erinnerte sich nur zu gut an den Park. In ihren Flitterwochen war sie dort gewesen, und jetzt wurden ihre Augen feucht. Nach einem tiefen Atemzug zwang sie sich, das Bild anzusehen, bis ihre Gefühle sich wieder legten.

Eine Staffelei stand neben dem Fenster, sodass das Licht auf die Leinwand fiel. Sie widerstand der Versuchung, hinüberzugehen und einen Blick auf das Bild zu werfen. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, ein Eindringling zu sein.

Was sollte sie bloß tun? Laura presste die Hände gegeneinander, als sie sich der Verzweiflung auslieferte, die in ihr aufstieg. Sie kam sich wie eine Schiffbrüchige vor. Ihr Wagen war hinüber, ihr Geld ging zur Neige. Und das Baby … Das Baby würde nicht warten, bis sie die Dinge wieder in Ordnung gebracht hatte.

Wenn sie sie jetzt fanden …

Sie würden sie nicht finden. Mit einem Blick auf ihre verschränkten Hände löste sie die Finger voneinander. Bis hierher hatte sie es geschafft. Niemand würde ihr das Baby wegnehmen. Jetzt nicht und niemals.

Als die Tür geöffnet wurde, drehte sie sich um. Gabriel wuchtete die Taschen ins Innere der Hütte und ließ sie auf einem Haufen liegen. Dann zog auch er den Mantel aus und hängte ihn über einen Haken neben der Tür.

Seine Figur war so schlank, wie es das Gesicht hatte erwarten lassen. Selbst wenn er nicht ganz eins achtzig groß war, so ließ ihn doch sein athletischer Körperbau hochgewachsen und kraftvoll erscheinen. Mehr wie ein Boxer als wie ein Künstler, ging es Laura durch den Kopf, als er heftig aufstampfte, um die Stiefel vom Schnee zu befreien. Mehr wie ein Mann, der das Leben im Freien gewohnt war, als einer, der in eleganten Landhäusern und den feinsten Kreisen zu Hause war.

Was sie über seine aristokratische Herkunft wusste, passte so gar nicht zu dem, was er trug. Flanellhemd und Cordhose waren das perfekte Outfit für diese rustikale Hütte in den Bergen. Laura stammte aus bescheideneren Verhältnissen und fühlte sich in ihrem dicken irischen Strickpullover irgendwie fehl am Platze.

»Gabriel Bradley«, sagte sie und wies mit weit ausholender Geste auf die Wände. »Natürlich. Warum bin ich nicht früher darauf gekommen? Ich liebe Ihre Werke.«

»Danke.« Er bückte sich und griff nach zwei der Taschen.

»Lassen Sie mich Ihnen …«

»Nein.« Er ging mit schnellen Schritten in die Küche und ließ sie einfach stehen. Sie biss sich auf die Unterlippe.

Meine Gegenwart scheint ihn nicht gerade zu begeistern, dachte sie. Dann zuckte sie mit den Schultern. Es war nicht zu ändern. Sobald das Wetter es zuließ, würde sie wieder aufbrechen. Und bis dahin … Bis dahin würde Gabriel Bradley, Künstler des Jahrzehnts, eben mit der Situation fertig werden müssen.

Sie widerstand der Versuchung, sich hinzusetzen und ihm alles Weitere zu überlassen. Früher hätte sie ihr nachgegeben, aber das Leben hatte sie verändert. Sie folgte ihm in die Küche. Wenn das Baby in ihrem Bauch mitgezählt wurde, befanden sich jetzt drei Personen in dem winzigen Raum, dessen Fassungsvermögen damit erschöpft war.

»Lassen Sie mich Ihnen wenigstens etwas Heißes zu trinken machen.« Der uralte Zwei-Platten-Herd sah problematisch aus, aber sie war entschlossen, etwas zu tun.

Er drehte sich um, streifte dabei ihren runden Bauch und war erstaunt, wie unangenehm es ihm war. Und wie sehr ihn die Berührung zugleich faszinierte. »Hier ist der Kaffee«, murmelte er und gab ihr eine frische Dose.

»Haben Sie eine Kanne?«

Die lag noch im Spülbecken voller Wasser, das schon nicht mehr schäumte. Gabriel hatte versucht, die Kanne von den Flecken zu säubern, die der letzte Gebrauch auf dem Porzellan hinterlassen hatte. Er drehte sich um, kollidierte erneut mit Laura und wich hastig zurück.

»Warum überlassen Sie mir das nicht?«, schlug sie vor. »Ich verstaue die Vorräte und setze den Kaffee auf, während Sie den Abschleppwagen bestellen.«

»Gut. Ich habe Milch mitgebracht. Frische.«

Sie lächelte. »Tee haben Sie wohl keinen?«

»Nein.«

»Dann tut Milch es auch. Danke.«

Nachdem er gegangen war, machte Laura sich an die Arbeit. Die Küche war viel zu klein, um ihr technische Probleme zu bereiten. Sie brachte die Vorräte nach ihrem eigenen System unter, da Gabriel offensichtlich keins hatte. Laura hatte erst eine der Taschen geleert, als Gabriel bereits zurückkehrte.

»Die Leitung ist tot.«

»Tot?«

»Es tut sich nichts. Passiert häufiger bei einem Schneesturm.«

»Oh.« Laura stand da mit einer Suppendose in der Hand. »Und dauert der Ausfall dann länger?«

»Kommt darauf an. Manchmal ein paar Stunden, manchmal eine Woche.«

Sie hob eine Braue. Dann wurde ihr klar, dass er es ernst meinte. »Ich schätze, dann befinde ich mich wohl ganz in Ihren Händen, Mr. Bradley.«

Er hakte die Daumen in die Hosentaschen. »In dem Fall nennen Sie mich besser Gabriel.«

Laura blickte stirnrunzelnd auf die Suppendose hinab. Jetzt kam es darauf an, das Beste aus der verfahrenen Situation zu machen. »Möchten Sie etwas Suppe?«

»Ja. Ich werde … äh … Ihre Sachen ins Schlafzimmer bringen.«

Laura nickte lediglich und begann mit der Suche nach einem Dosenöffner.

Die hat Format, entschied Gabriel, während er Lauras Koffer in sein Zimmer trug. Nicht dass er im Hinblick auf Frauen etwa ein Fachmann war, aber er war auch nicht gerade das, was man einen Anfänger nannte. Sie hatte nicht mit der Wimper gezuckt, als er ihr erzählt hatte, dass das Telefon nicht funktionierte und sie somit praktisch von der Außenwelt abgeschnitten waren. Oder, um es präziser zu formulieren, dass sie von allen Menschen außer ihm abgeschnitten war.

Gabriel blickte in den teilweise blinden Spiegel über seiner schäbigen Kommode. Soweit er wusste, hatte ihn noch niemand zuvor für harmlos gehalten. Ein rasches verwegenes Lächeln huschte über sein Gesicht. Wenn er es sich recht überlegte, war er nicht immer so harmlos gewesen.

Aber dies war natürlich eine völlig andere Situation.

Er wandte seine Überlegungen praktischeren Fragen zu. Schließlich hatte er einen Gast, eine einzelne Frau, die äußerst schwanger war. Und äußerst geheimnisvoll. Ihm war keineswegs entgangen, dass sie ihm nur ihren Vornamen genannt hatte. Wer sie war, woher sie kam und warum sie wohin unterwegs war, das hatte sie ihm bisher verschwiegen. Da es wenig wahrscheinlich war, dass sie eine Bank ausgeraubt oder für die Russen Staatsgeheimnisse ausspioniert hatte, würde er es vorläufig dabei belassen.

Aber angesichts der Stärke des Schneesturms und der abgeschiedenen Lage der Hütte würden sie wohl einige Tage zusammen verbringen müssen. Er nahm sich vor, mehr über diese zurückhaltende und rätselhafte Laura herauszubekommen.

Was sollte sie jetzt nur tun? Laura starrte auf den leeren Teller in ihrer Hand und erkannte darin die Andeutung ihres Spiegelbilds. Wie sollte sie nach Denver oder Los Angeles oder Seattle – oder jede andere Großstadt, die weit genug von Boston entfernt war – gelangen, wenn sie hier eingeschlossen war? Hätte sie doch nur nicht diesen unwiderstehlichen Wunsch verspürt, gleich heute Morgen aufzubrechen. Wenn sie noch einen Tag länger in dem kleinen ruhigen Motelzimmer geblieben wäre, hätte sie die Dinge vielleicht noch unter Kontrolle gehabt.

Stattdessen steckte sie hier in dieser Hütte, mit einem Wildfremden. Nicht irgendein beliebiger Wildfremder. Sondern Gabriel Bradley – wohlhabender, angesehener Künstler aus wohlhabender, angesehener Familie. Aber er hatte sie nicht erkannt. Da war Laura sicher. Jedenfalls noch nicht. Was würde geschehen, wenn er es tat, wenn er herausbekam, vor wem sie auf der Flucht war? Es war keineswegs auszuschließen, dass die Eagletons eng mit den Bradleys befreundet waren. Die schützende Geste, mit der ihre Hand sich auf den Bauch legte, kam ganz automatisch.

Sie würden ihr Baby nicht bekommen. Mochten sie auch noch so viel Geld und Macht dafür einsetzen, ihr Baby würden sie nicht bekommen. Und wenn es nach ihr ging, würden sie niemals herausfinden, wo sie und ihr Baby sich aufhielten.

Sie stellte den Teller ab und drehte sich zum Fenster um. Es war eigenartig, hinauszusehen und nichts erkennen zu können. Irgendwie gab es ihr das beruhigende Gefühl, dass umgekehrt auch niemand hineinsehen konnte. Sie war praktisch aus der Welt. Abgesehen von einem Mann, dachte sie, als ihr Gabriel in den Sinn kam.

Sie hörte ihn im Nebenraum herumrumoren, hörte die Tritte seiner Stiefel auf den Holzdielen, den dumpfen Aufprall, mit dem ein Scheit im Kaminfeuer landete. Nach all den Monaten der Einsamkeit gaben schon diese Geräusche allein ihr so etwas wie Geborgenheit.

»Mr. Bradley … Gabriel?« Sie trat durch die Tür und sah, wie er den Kaminschirm vor dem Feuer zurechtrückte. »Könnten Sie den Tisch abräumen?«

»Den Tisch abräumen?«

»Damit wir essen können … im Sitzen.«

»Klar.«

Sie verschwand wieder in der Küche, und er zerbrach sich den Kopf, wo er all die Farbtuben, Pinsel, Leinwandspanner und anderen Utensilien lassen sollte, von denen der Picknicktisch übersät war. Verärgert über diesen Eingriff in seine gewohnte Unordnung, verteilte er seine Arbeitsmaterialien im Raum.

»Ich habe uns auch einige Sandwiches gemacht.« Sie hatte ein verbogenes Backblech in ein Tablett umfunktioniert und trug darauf Schüsseln, Teller und Tassen herein. Verlegen und gereizt zugleich nahm Gabriel es ihr ab.

»Sie sollten keine schweren Dinge tragen.«

Sie zog die Brauen hoch. Als Erstes empfand sie Überraschung. Noch nie hatte jemand sie umsorgt. Nicht einmal in den letzten sieben Monaten, die ganz gewiss die schwierigste Phase ihres nie einfachen Lebens gewesen waren. Dann stieg die Dankbarkeit in ihr auf, und sie lächelte. »Danke, aber ich passe schon auf.«

»Wenn Sie das wirklich täten, wären Sie jetzt in Ihrem eigenen Bett, mit hochgelegten Beinen. Und nicht hier bei mir im Schnee.«

»Körperliche Betätigung ist wichtig.« Aber sie setzte sich und ließ ihn den Tisch decken. »Und Essen ebenfalls.« Mit geschlossenen Augen sog sie die Düfte ein. Heiß, schlicht, stärkend. »Ich hoffe, ich habe keine allzu große Lücke in Ihre Vorräte gerissen, aber als ich erst einmal losgelegt hatte, konnte ich nicht aufhören.«

Gabriel griff nach einem dick mit Käse, Schinken und Tomatenscheiben belegten Sandwich. »Ich beschwere mich nicht.« In Wahrheit hatte er sich angewöhnt, über der Spüle und direkt aus der Pfanne zu essen. Speisen, die ohne Hast und mit Sorgfalt zubereitet worden waren, schmeckten vom Teller wesentlich besser.

»Ich würde gern bezahlen, fürs Bett und fürs Essen.«

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken.« Er musterte sie, während er die dampfende Muschelsuppe löffelte. Ihre Art, das Kinn vorzustrecken, ließ ihn an Stolz und Willenskraft denken. Gegenüber der zarten Haut und dem schlanken Hals gab das einen interessanten Kontrast ab.

»Das ist nett von Ihnen, aber ich möchte nichts umsonst.«

»Dies ist nicht das Hilton.« Sie trug keinen Schmuck, nicht einmal einen Goldring am Finger. »Sie haben das Essen gekocht, also sind wir quitt.«

Sie wollte ihm widersprechen, ihr Stolz wollte es, aber sie besaß kaum noch Bargeld, abgesehen von dem, was sie für das Baby zurückgelegt hatte – versteckt im Futter ihres Koffers. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.« Sie nippte an der Milch, obwohl sie sie nicht ausstehen konnte. Der Kaffeeduft war aromatisch und verführerisch, aber sie blieb hart. »Leben Sie schon lange hier in Colorado?«

»Sechs oder sieben Monate, schätze ich.«

Das gab ihr Grund zur Hoffnung. Der Zeitraum war ideal, zu günstig, um wahr zu sein. So wie die Hütte aussah, verbrachte er vermutlich nicht viel Zeit mit Zeitungslektüre, und einen Fernseher hatte sie noch nicht erspäht. »Es muss ein wunderbarer Ort zum Malen sein.«

»Bis jetzt war er das.«

»Ich konnte es gar nicht glauben, als ich hereinkam. Ich habe Ihre Arbeit sofort erkannt. Ich habe sie schon immer bewundert. Mein … Jemand, den ich kannte, hatte einige Ihrer Bilder gekauft. Eins davon zeigt einen riesigen dichten Wald. Man hatte das Gefühl, mitten ins Bild steigen zu können, bis man von den Bäumen verschluckt wird.«

Er erinnerte sich gut an das Bild, und seltsamerweise hatte es bei ihm genau dasselbe ausgelöst. Er war sich nicht sicher, glaubte aber, dass jemand von der Ostküste es gekauft hatte. New York, Boston, vielleicht auch Washington, D. C. Falls seine Neugier anhielt, würde es ihn nicht mehr als einen Anruf kosten, um seine Erinnerung aufzufrischen. Immerhin hatte sie ihm einen Anhaltspunkt geliefert.

»Sie haben mir noch gar nicht gesagt, woher Sie kommen.«

»Nein.« Sie aß weiter, obwohl ihr der Appetit plötzlich vergangen war. Wie hatte sie nur so dumm sein können, ihm das Bild zu beschreiben. Tony hatte es gekauft, vielmehr, er hatte mit den Fingern geschnippt und seine Anwälte mit dem Kauf beauftragt, nachdem Laura es bewundert hatte. »Ich habe eine Weile in Dallas gelebt.«

Nach fast zwei Monaten dort hatte sie herausbekommen, dass die Privatdetektive der Eagletons diskrete Nachforschungen nach ihr betrieben.

»Sie klingen nicht wie eine Texanerin.«

»Nein, das tue ich wohl nicht. Wahrscheinlich weil ich an den unterschiedlichsten Orten gelebt habe.« Das stimmte, und das Lächeln fiel ihr jetzt leichter. »Sie stammen nicht aus Colorado.«

»San Francisco.«

»Ja, jetzt erinnere ich mich. Das stand in einem Artikel über Sie und lhre Arbeit.« Sie hatte vor, über ihn zu reden. Aus Erfahrung wusste sie, dass man Männer leicht dadurch ablenken konnte, dass man das Thema auf sie selbst brachte. »Ich wollte immer einmal nach San Francisco. Es muss wunderschön sein, mit den Hügeln, den Buchten, den prachtvollen alten Häusern.« Sie stöhnte leise auf und presste die Hand gegen den Bauch.

»Was ist los?«

»Das Baby, es ist unruhig.« Sie lächelte, doch ihm entging nicht, wie erschöpft ihr Blick war und wie blass sie inzwischen wieder geworden war.

»Hören Sie, ich habe keine Ahnung, was Sie durchmachen, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, dass Sie sich jetzt hinlegen sollten.«

»Sie haben recht. Ich bin wirklich müde. Wenn es Sie nicht stört, würde ich mich gern ein paar Minuten ausruhen.«

»Das Bett ist dort entlang.« Er stand auf, unsicher, ob sie allein würde aufstehen und sich hinlegen können. Nach kurzem Zögern streckte er ihr die Hand entgegen.

»Ich kümmere mich später um das Geschirr, wenn …« Sie verstummte, als ihre Knie nachzugeben begannen.

»Warten Sie, ich helfe Ihnen.« Gabriel legte die Arme um sie und zuckte unmerklich zusammen, als er die Bewegung des Babys an seinem eigenen Körper spürte.

»Es tut mir leid. Es war ein langer Tag, und ich bin wohl schon viel zu lange auf den Beinen.« Sie wusste, dass sie es nicht hätte tun dürfen, aber sich auf die harte, robuste Gestalt eines Mannes zu stützen war ein herrliches Gefühl. »Nach einem kurzen Schlaf geht es mir bestimmt wieder besser.«

Anders als er es sich bislang vorgestellt hatte, zerbrach sie keineswegs unter seiner Berührung. Stattdessen fühlte sie sich so weich, so zart an, dass er fürchtete, sie könne sich in seinen Händen auflösen. Zu gern hätte er sie getröstet, sie an sich gezogen, das Vertrauen erwidert, das sie ihm offenbar schenkte. Er spürte, wie sehr sie jetzt jemanden brauchte, auf den sie sich verlassen konnte. Sei kein Dummkopf, sagte er sich, und hob sie einfach hoch.

Laura wollte protestieren, aber es tat so gut, nicht mehr auf den Füßen zu stehen. »Ich wiege bestimmt eine Tonne.«

»Genau damit habe ich gerechnet, aber das tun Sie nicht.«

Zu ihrer eigenen Überraschung konnte sie plötzlich lachen, obwohl die Erschöpfung sie fast benebelte. Mit halb geschlossenen Augen fühlte sie, wie sie vorsichtig auf ein Bett gelegt wurde. Auch wenn es vielleicht nicht mehr als eine Matratze und ein zerknülltes Laken war, sie kam sich vor wie im Himmel. »Ich möchte Ihnen danken.«

»Das tun Sie schon seit einiger Zeit, ungefähr alle fünf Minuten.« Er zog eine nicht gerade fabrikneu aussehende Tagesdecke über sie. »Wenn Sie mir wirklich danken wollen, dann schlafen Sie jetzt und bekommen keine Wehen.«

»Faires Angebot. Gabriel?«

»Ja?«

»Probieren Sie weiter, ob das Telefon funktioniert?«

»Sicher.« Sie war schon fast eingeschlafen. Er unterdrückte das Schuldgefühl, das sich einstellte, als ihm die Idee kam. Es mochte unfair sein, aber die Gelegenheit war zu günstig, um sie zu verpassen. In diesem Zustand wäre sie zu schwach gewesen, um auch nur eine Fliege fortzuscheuchen. »Soll ich jemanden für Sie anrufen? Ihren Mann vielleicht?«

Sie schlug die Augen auf und sah ihn an. Ihr Blick war schläfrig, aber er erkannte, dass sie genau wusste, was sie sagte.

»Ich bin nicht verheiratet«, erklärte sie mit deutlicher Stimme. »Es gibt niemanden, den Sie für mich anrufen könnten.«

2. KAPITEL

In dem Traum war Laura allein. Das machte ihr keine Angst. Sie hatte einen großen Teil ihres Lebens allein verbracht, also fühlte sie sich so wohler als in einer Menschenmenge. Der Traum hatte etwas Weiches, Nebelhaftes an sich – wie das Meeresbild, das sie an der Wand in Gabriels Hütte gesehen hatte.

Eigenartigerweise konnte sie ihn sogar hören, den in der Ferne rauschenden und gegen den Strand brandenden Ozean, obwohl ein Teil von ihr genau wusste, dass sie sich in den Bergen befand.

Sie schritt durch einen perlmuttfarbenen Nebel und lauschte den Wellen. Sie fühlte sich sicher und stark und irgendwie von jeder Last befreit. So frei, so vollkommen entspannt hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt.

Sie wusste, dass sie träumte. Das war das Beste daran. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie die Augen geschlossen gehalten, um für immer zu träumen, den Frieden zu genießen, sich der weich gezeichneten Fantasie hinzugeben.

Doch dann weinte das Baby. Es schrie geradezu. An ihrer Schläfe begann eine Ader fast schmerzhaft zu pulsieren, während sie dem schrillen Wehklagen des Kindes lauschte. Der Schweiß brach ihr aus, und der klare weiße Nebel wurde grau, bedrohlich grau. Die Luft war nicht mehr warm, sondern eisig, und drang ihr bis in die Knochen.