10 Years After - Clayton Husker - E-Book

10 Years After E-Book

Clayton Husker

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Beschreibung

Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch der verheerenden Zombieseuche vergangen. In Rennes-le-Château, dem wehrhaften Dorf im Süden Frankreichs, ist Frieden eingekehrt. Nur noch selten werden Zeds gesichtet. Doch in den Bergen sammelt sich eine riesige Horde. Sie wird angeführt von einem alten Bekannten, der nicht nur auf Rache sinnt, sondern auch ein besonderes Ziel verfolgt … T93 – die Zombie-Serie von Clayton Husker entführt dich in eine Welt, die von lebenden Toten dominiert wird. Doch die Menschheit ist noch nicht am Ende. Mitten in der Nordsee, auf der Insel Helgoland, formiert sich der Widerstand gegen die Zombie-Invasion. Mit allen greifbaren Ressourcen treten die Menschen zum letzten Gefecht an. Der Krieg gegen die Zombies beginnt.

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T93

 

 

Die deutsche Zombie-Serie

von

 

Clayton Husker

Inhalt

Titelseite

Band 16: 10 Years After

Irgendwann, irgendwo …

Jahr zehn, 13. Juli, Mittag

Jahr zehn, 13. Juli, Nachmittag

Jahr zehn, 17. Juli, Morgen

Jahr zehn, 21. Juli, Mittag

Jahr zehn, 21. Juli, Nachmittag I

Jahr zehn, 21. Juli, Nachmittag II

Jahr zehn, 21. Juli, 15:21 Uhr

Jahr zehn, 21. Juli, 15:27 Uhr

Jahr zehn, 21. Juli, 15:54 Uhr

Jahr zehn, 21. Juli, 16:32 Uhr

Jahr zehn, 21. Juli, 16:36 Uhr

Jahr zehn, 21. Juli, 16:37 Uhr

Jahr zehn, 21. Juli, 16:42 Uhr

Jahr zehn, 21. Juli, 19:15 Uhr

Jahr zehn, 21. Juli, 19:39 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 04:53 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 05:17 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 05:53 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 06:09 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 08:31 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 08:57 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 09:12 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 09:23 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 09:55 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 10:19 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 10:20 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 10:21 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 10:34 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 10:35 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 10:52 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 10:55 Uhr

Jahr zehn, 22. Juli, 15:55 Uhr

Danksagung

Empfehlungen

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Clayton Husker: T93

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Ren Dhark Classic-Zyklus

Impressum

Band 16:10 Years After

 

They took me down the grading station

And they classified me zed

Ten Years After, »Year 3.000 Blues«

Irgendwann, irgendwo …

Er lauerte. Seine Beute würde nicht leicht zu erlegen sein, sie hatte sich in ihrem Bau verschanzt und erwies sich bisweilen als ziemlich wehrhaft. Meist waren die Bauten leicht zu knacken, man konnte der Beute ohne allzu große Schwierigkeiten habhaft werden. Er konnte sie zwar nicht riechen, wie es dort, wo das Licht des Tages hoch stand, häufig der Fall war, aber aus der Deckung heraus konnte er die Schemen wahrnehmen, die sich da in dem Bau bewegten.

Die Rotte benötigte dringend Kraft, weshalb sie sich nun auch an einen Bau wagte, der schwer einzunehmen sein würde. Er lag auf einer Anhöhe und war nur zum Teil von dichtem Buschwerk umstanden. An sich keine vielversprechende Gelegenheit. Der Angriff würde der Rotte Opfer abverlangen, große Opfer.

Wahrscheinlich würde er die Lahmen vorschicken, um für Ablenkung zu sorgen, dann wäre es eventuell möglich, den Hügel einzunehmen und sich am Fleisch der Beute zu laben. So sehr dürstete es ihn nach dem heißen roten Saft der Warmen Wesen. Dieser Quell der Erneuerung, so voll von Licht und Kraft, so lieblich der Duft und der Geschmack ebenfalls ein Labsal. So viele von den Warmen hatte er bereits gekostet, seit er in diesem Geiste erwacht war. Wann war das gewesen?

Nicht der Hauch einer Ahnung stieg aus seinem Bewusstsein empor, was allerdings auch keinerlei Bedeutung hatte. Die Bilder des Vorherigen verblassten zusehends in der Innenschau. Bisweilen flackerten sie auf, aber ohne jeden Bezug. Doch das alles hatte keine wirkliche Bedeutung, denn er lebte im Hier und Jetzt. Eben jenes fing ihn nun wieder ein, er wischte die sinnlosen Gedanken fort. Die Beute. Ja. Sie war wichtig. Sie allein.

Er schüttelte sein mächtiges Haupt, um Klarheit in seinen bisweilen stark umnachteten Geist zu bringen. Diesmal gelang es, doch häufig blieb er in oftmals völlig sinnfreien Gedankenschleifen stecken, bis diese quasi von selbst zum Erliegen kamen. Wie die raue See, die sich plötzlich beruhigt. Immer öfter jedoch wogte diese See der Gedanken und warf Wellenberge auf, hinter denen die Realität verschwand wie der Horizont im Taifun. Doch nicht heute. Die einstige Schärfe seiner Sinne kehrte zurück, und er schaffte es, sich auf das Ziel zu konzentrieren. Die Beute, genau.

Der Bau war noch gut einen Tagesmarsch entfernt, doch die wieder erwachten Sinne ermöglichten es ihm, auf den Linien der Kraft nachzufühlen, wo er sich befand und wo seine Beute zu finden war. Ihre trippelnden Schritte konnte er empfangen. Den Mustern nach zu urteilen gab es auch in den tiefer gelegenen Gängen des Baus noch Leben. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, von dort in ihr Nest vorzudringen, um die Beute quasi vom Inneren ihres Baus aus anzugreifen. Aufgrund seiner enormen Kräfte wäre es ihm wahrscheinlich möglich, sich von außen in den Bau durchzugraben, wenn die Lahmen an der Oberfläche für die entsprechende Ablenkung der Wächterwesen sorgten.

Aber der rechte Zeitpunkt für einen Angriff war noch nicht gekommen. Er würde sich dem Bau vorsichtiger nähern müssen als bisher, denn die Beute war wachsam und reagierte schnell. Ein Fehler konnte alles zerstören. Er sandte auf den Linien der Kraft Warnungen an die gesamte Rotte, dass sie sich unter allen Umständen zurückhalten sollte.

Es hatte lange Zeit gedauert, eine schlagkräftige Rotte an sich zu binden. In den näheren Küstenregionen des großen Wassers hatte er Streuner und versprengte Grüppchen von Flinken zusammengeführt, als er der Tatsache gewahr wurde, dass er ihrer bedurfte, um seine Ziele zu erreichen. Vorher hatte er lange Zeit als Einzelgänger verbracht, doch die vermehrten Unzulänglichkeiten, mit denen er sich herumzuschlagen hatte, zwangen ihn in die Gesellschaft Gleicher – oder zumindest Ähnlicher.

Die Kreaturen, die ihm folgten, gehorchten meist ohne Murren, denn nicht selten kam es vor, dass er unfolgsame Niedere in seiner Wut einfach zerriss und ihr totes Fleisch an den Rest der Rotte verfütterte. Wegen des aktuellen Mangels an Beute stürzte sich die Meute zumeist gierig auf diesen wertlosen Fraß und verschlang alles, was ihr vorgeworfen wurde. Sogar das faulige Fleisch der Lahmen, oft von der Hitze und dem salzigen Wind gedörrt, verschmähten sie nicht.

Es hatte Zeiten gegeben, in denen die Flinken sich nicht dazu herabgelassen hätten, das abgetragene Fleisch der Niedersten zu sich zu nehmen. Doch diese Zeiten waren vorbei. Immer häufiger wurden die Jäger zu Gejagten und die vermeintliche Beute entpuppte sich als ausgesprochen wehrhafter Gegner. Und so blieb den Kalten oft nichts anderes, als einander gegenseitig zu verschlingen, auch wenn dies kaum mehr Kraft erzeugte, als wenn sie Holz fräßen.

Auch hier, an diesem Bau, konnte falsche Eile verheerende Folgen haben. Und so zügelte der gestrenge Anführer seine Rotte, brachte sie zum Schweigen, gängelte mental ihre sonst eher unbändige Gier nach Fleisch. Nach Menschenfleisch. Als er sah, dass Ruhe in die Rotte einkehrte, widmete er sich erneut der Beobachtung seiner Beute.

Zufrieden kollerte Kzu’ul und wiegte seinen massigen Schädel.

Jahr zehn, 13. Juli, Mittag

»Knackig.«

»Was?«

»Das Alter. Knackig. Es knackt hier, es knackt da …«

Eckhardt zeigte auf seinen Rücken, seine Knie und seine Schulter. Sie lachten. Er saß mit Alv auf dem hohen Südwall; dort hatten sie eine Bank aufgestellt. Die beiden Alten saßen oft hier und genossen die warmen Strahlen der Mittagssonne. Hin und wieder gesellte sich auch General a. D. Pjotrew zu ihnen.

Ein ziemlich warmer, zum Glück jedoch nicht trockener Wind wehte aus östlichen Richtungen. Er brachte einige Entspannung nach der Hitze der letzten Wochen, die mit dem Südwind Unmengen von Staub aus der Sahara herangetragen hatte. Der Sommer hier in den Pyrenäen ließ sich zumeist gut aushalten, wenn mediterranes Klima sich gegen afrikanisches Kontinentalklima durchsetzen konnte. Die Seeluft trug Erinnerungen, fand Alv, der an den Küsten Norddeutschlands groß geworden war. Zwar unterschied sich der Seewind, der von den Balearen hierher getragen wurde, von dem der baltischen Region, aber es war Seeluft, unverkennbar.

»Zehn Jahre«, bemerkte Alv. »Auf den Tag genau zehn Jahre ist es her, dass dieser Spuk begann. Und er ist noch immer nicht vorbei. Zehn Jahre Krieg. Unglaublich.«

»Ja«, stimmte Eckhardt ihm zu, »schwer zu fassen, das. Noch vor zehn Jahren habe ich junge Menschen unterrichtet, in denen wir die Zukunft unserer Gesellschaft sahen. Die meisten von ihnen sind jetzt tot oder geistern als Untote herum, deren einzige Berufung es zu sein scheint, möglichst viel Menschenfleisch in sich hineinzustopfen. Da stehen wir jetzt ungefähr, würde ich sagen. Schön ist das nicht.«

»Andererseits«, warf Alv ein, »sind natürlich die jungen Leute, die in dieser Katastrophe aufwuchsen, aus einem etwas anderen Holz geschnitzt als die Teenies von damals.

Wenn ich mir meine beiden Jüngsten so ansehe – vor der Zed-Apokalypse waren die vom Bildschirm nicht wegzukriegen. Und jetzt, zehn Jahre später? Aus denen sind vielseitig begabte, fleißige junge Männer und engagierte Mitglieder einer Gemeinschaft geworden, die sich von den äußeren Umständen nicht ohne Weiteres hat überrollen lassen. Sie haben die grausamen und grotesken Anfänge der Sache erlebt, waren auf der Flucht, haben von Anfang an gegen Zeds gekämpft und sogar den Kampf gegen Gärtners Invasionstruppe überlebt. Aus ihnen ist etwas Richtiges geworden, finde ich.«

»Na ja, nicht aus allen …«

»Das stimmt natürlich, Eckhardt. Ich habe einen hohen Preis an diesen etwas eigenartigen Schritt der Evolution gezahlt. Aber da war ich beileibe nicht der Einzige.«

»Entschuldige, ich wollte nicht …«

»Schon gut, Eckhardt. Völlig in Ordnung. Die Zeit der Trauer ist vorüber. Viele Mütter und viele Väter haben um ihre Kinder getrauert, auch dabei war ich nicht der Einzige. Die Überlebenden hat dieser enorme Verlust noch fester zusammengeschweißt. Wenn du weißt, dass es jeden Moment vorbei sein kann, dann lernst du das, was ist, zu lieben und zu schätzen. Wir sind sehr eng zusammengerückt in der Familie.«

Eckhardt nickte und sagte einen Moment lang nichts. Er dachte an den Tag, als es passiert war. Wie er mit Freunden aus dem völlig chaotischen Berlin geflüchtet war, um zu Alv und den Seinen zu stoßen. Gemeinsam hatten sie oben in Norddeutschland eine Festung aus Strohballen errichtet. Nicht diese leichten, kleinen Dinger, die man in Fernsehfilmen sah, sondern riesige Hochdruckpacken, die man nur mit Maschinen bewegen konnte und die dermaßen dicht gepresst waren, dass man sie nicht einmal anzünden konnte. Die Gesellschaft des Willens, wie sich die Gruppe damals selbst genannt hatte, erwies sich im Laufe der vergangenen zehn Jahre als wesentlich widerstands- und wandlungsfähiger, als manch einer angenommen hätte.

Später waren Birte und ihr damaliger Partner Alex mit seinen KSK-Soldaten dazugestoßen. Mit dem Hulk-Truck, in dem Sepp vor einigen Jahren tödlich verunglückt war, hatten sie zahlreiche Touren in die norddeutsche Tiefebene unternommen, um Material und Vorräte zu beschaffen.

»Ich denke oft an die Zeit am Nord-Ostsee-Kanal zurück«, sagte Eckhardt und schürzte ein wenig die Lippen. »Eine Zeit, als wir noch keine Atombomben und lauter solches Zeug in der Welt verteilt haben, als es noch keine Struggler gab und keine Kampfroboter und Mikrowellenstrahler. Erinnerst du dich an unseren ersten gemeinsamen Angelausflug auf dem Kanal? Im Vergleich zu den Dingen der letzten Jahre war das sogar noch so etwas wie ein Spaß. Bis vor Kurzem habe ich eine Division kommandiert, hatte einen Schreibtisch voller Papier und es war meine Pflicht zu entscheiden, wer leben darf und wer zum Sterben an die Front geschickt wird. Ich bin froh, dass das vorbei ist, ehrlich.«

Alv wandte den Blick von der Weite der Vorpyrenäen ab und drehte sich zu ihm um.

»Im Ernst? Bei deiner Abschiedsfeier hatte ich den Eindruck, du heulst gleich, als du das Kommando an diesen französischen General übergeben hast.«

»Ja, schon, ich hatte ein wenig Pipi in den Augen, aber nur, weil mir der Staub ins Gesicht geflogen ist. Es war windig an dem Tag.«

»Ah so, ja, mein Fehler, sorry …«, gab Alv frech grinsend zurück und knuffte seinen Freund liebevoll in die Seite. Beide lachten.

»Tja, und nun gehören wir offiziell zum alten Eisen, was?«, meinte Eckhardt, während er sich eine Zigarette drehte. Gekonnt und routiniert rollte er den Tabak in das dünne Papierstückchen ein, das in seinen großen Händen eher den Eindruck erweckte, es handelte sich dabei um eine Briefmarke.

»Na ja«, gab Alv zurück, »ich weiß nicht. Ich finde, wir haben hier im Dorf noch genug zu tun. Als altes Eisen fühle ich mich nicht. Und solange dein Rat und der des Generals noch im Hauptquartier in Stettin gefragt ist, sehe ich das für euch auch nicht. Wie sagt man? ›Age is just a number.‹«

»Du immer mit deinen komischen Anglizismen.«

In diesem Moment erschien General a. D. Mikail Pjotrew auf der Wallkrone.

»Dachte mir, dass ich euch hier finde. General D’Aurie hat mich kontaktiert. Es gibt einige beunruhigende Neuigkeiten. Im gesamten Pyrenäengebiet kommt es vermehrt zu Zed-Bewegungen aus Richtung Süden und Osten. Da braut sich was zusammen.«

»Aber ich dachte, die Zeds sind europaweit auf dem Rückzug?«, fragte Alv erstaunt.

»Tja, offenbar hat das aber niemand den spanischen und italienischen Zeds erzählt«, gab Mikail zurück.

»Sind wir gefährdet?«, wollte Eckhardt wissen.

»Schon möglich«, erwiderte Pjotrew. »Der General riet mir, wir sollten uns auf Ärger vorbereiten.«

»Bekommen wir Luftunterstützung?«

»Sieht schlecht aus.«

»Bitte was?«, Eckhardt schaute wirklich erstaunt aus der Wäsche. Eine solche Antwort hatte er tatsächlich nicht erwartet.

»Na ja«, fuhr Pjotrew fort, »offenbar ist Rennes-le-Château auf der Prioritätenliste abgerutscht. Seit das Armeehauptquartier nicht mehr hier ist, sind wir wohl etwas in Vergessenheit geraten, fürchte ich.«

Alv nickte und lächelte.

»Ach was, das haben wir früher hinbekommen, das werden wir jetzt auch wieder hinbekommen. Wir werden unsere alten Verteidigungsanlagen reaktivieren und die Festung auf Vordermann bringen. Wir haben doch schon ganz andere Stürme überstanden, nicht wahr, Eckhardt?«

Der nickte ebenfalls und ergänzte:

»Das sollte wohl kein ernsthaftes Problem darstellen. Einige der Anlagen sind etwas verstaubt und eingerostet, aber das bekommt Holger schon wieder hin. Bist du damit einverstanden, wenn ich die Verteidigung organisiere, Alv?«

Den General fragte er erst gar nicht. Alv lächelte noch immer.

»Na klar, Eckhardt, ich würde dir diesen Spaß doch niemals vergällen wollen. Machen wir es wie früher. Ich kümmere mich um das Innere, du um das Äußere, okay? Ich denke, damit kommen wir klar.«

»Ich werde dann das Arsenal übernehmen, wenn es euch nichts ausmacht«, fügte der General hinzu. Alv und Eckhardt schauten einander an. Das war neu für sie, denn früher hatten sie die Aufgaben stets unter sich aufgeteilt, doch nun gab es eine dritte entscheidungsbefugte Person im Bunde. Diese Hürde galt es zunächst zu nehmen.

General Pjotrew war vom Wesen her ein stolzer Militär, auch mit über siebzig hatte er noch nichts von seinem Schmiss eingebüßt. In seiner alten Heimat Russland hätte er auch in diesem hohen Alter wohl noch eine vielversprechende Karriere im Verteidigungsministerium vor sich gehabt.

Ohne sich näher abzusprechen, nickten Eckhardt und Alv synchron.

»Okay«, sagte Alv, »machen wir es so. Ich kümmere mich um die interne Organisation und die Schutzbunker, Eckhardt sichert die Außenverteidigung und Mikail regelt den Nachschub an Waffen und Munition und kümmert sich um die Logistik für die Mecher-Truppe. Ich denke, Patty und ihre Ladys wissen es sehr zu schätzen, wenn das professionell organisiert wird.«

Der General setzte sich zu den beiden auf die Bank und tat einen tiefen Atemzug.

»Ist doch erstaunlich«, sinnierte er, »dass unsere Truppen überall auf dem Vormarsch sind, nur hier rotten sich die Zeds zusammen. Als ob sie ahnten, was es bei uns zu holen gibt.«

»Du meinst, sie kommen wegen Runa?«, fragte Alv.

»Ich halte das zumindest nicht für abwegig. D’Aurie meinte, dass sie aus allen Richtungen langsam hierher vorrücken. Das gibt mir schon zu denken. Natürlich, es könnte Zufall sein, aber es könnte eben auch kein Zufall sein. Wer weiß das schon genau? Ich halte es für besser, wenn wir einfach mal davon ausgehen, dass diese Einkesselungsbewegung, auch wenn sie sehr langsam vonstattengeht, nicht zufälliger Natur ist.«

Eckhardt stimmte dem General zu.

»Sehe ich auch so. Wir sollten auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Ich könnte mir vorstellen, dass da draußen noch ein paar Struggler herumwandern, denen es noch nicht das Hirn in einen Schweizer Käse verwandelt hat. Möglicherweise nutzen die ihre telepathischen Fähigkeiten, um Runa zu lokalisieren. Das Mädchen stellt für das Virus, das in einer Schwarmintelligenz denkt, durchaus eine konkrete Bedrohung dar. Zumindest was den Expansionstrieb angeht, denn die Kleine könnte Dämme errichten, die für das Virus nicht zu überwinden sind. Gelingt es, ihre Immunität zu reproduzieren, ist das Virus in seinem Fortbestand wenigstens mittelbar gefährdet.«

»Daran sitzen Ernst und Tom und deren Stab nun schon seit Jahren«, warf Alv ein, »aber herausgekommen ist dabei noch nichts. Trotz bester technischer Ausrüstung und ambitionierter Forschung ist eine Reproduktion unter Laborbedingungen nicht gelungen. Das müssten unsere zerfledderten Freunde doch wissen, wenn sie unsere Schwingungen oder wer-weiß-was abhören.«

»Vielleicht ist ihr Gespür nicht so detailliert?«, gab Eckhardt zu bedenken.

»Wie auch immer«, insistierte der General, »ich bin der Meinung, wir benötigen einen Plan. Und zwar einen Plan B.«

Darin waren die drei sich unausgesprochen einig. Eine gute Stunde später hatte dieser Plan bereits konkrete Formen angenommen und die Männer trennten sich, um Vorbereitungen zu treffen.

Jahr zehn, 13. Juli, Nachmittag

»Gerade im Kreuz. Fester Stand. Verteil dein Gewicht und federe in den Knien.«

In einer Mischung aus Güte und Strenge schaute Birte auf ihre Tochter herab, die neben ihr auf der Wiese stand und sich redlich mühte, die fließenden Bewegungen ihrer Mutter zu imitieren.

»Gib auf deine Haltung acht, Runa. Die Form gebietet der Kraft. Der Geist erschafft die Form. Um Kundalini Shakti erfolgreich zu aktivieren und zum Einsatz zu bringen, musst du der Kraft, der Devi, eine Richtung geben. Und genau das tust du mit der Form, die dein Körper bildet.«

»Woher weißt du das alles, Mami?«

»Als ich so alt war wie du, habe ich es von einem Freund deines Großvaters gelernt. Er kam aus einem fernen Land und hat mich diese Dinge gelehrt. Das hat mir geholfen zu überleben. Es gab eine Zeit, zum Beginn der Apokalypse, da war ich sehr verletzlich und habe mich verkrochen, weil die Angst mich gelähmt hat. Angst ist der kleine Tod. Angst macht hilflos. Du darfst keine Angst haben. Lass die Angst durch dich hindurchfließen, dann wird sie verschwinden und du selbst bleibst zurück.«

»Hattest du Angst, als die Monster Oma und Opa getötet haben?«

Birte hielt in der Bewegung inne und wandte sich ihrer siebenjährigen Tochter zu. Bisweilen war sie erstaunt darüber, mit welcher Klarheit und teilweise sogar Emotionslosigkeit dieses Kind über Dinge sprechen konnte, die selbst Erwachsene nur schwer zu thematisieren wussten. Sie nahm Runas Hände in die ihren und blickte in zwei interessiert schauende stahlblaue Augen.

»Ja, mein Kind, in diesem Moment hatte ich mehr Angst als jemals zuvor oder danach. Und ich war völlig hilflos dadurch.«

»Ich hätte die beiden gern kennengelernt. Und Onkel Ralf.«

»Ich bin fest davon überzeugt, dass sie sehr stolz auf dich wären, Runa. Du bist ein fleißiges und sehr kluges und auch sehr hübsches Mädchen. Opa hätte dich bestimmt Plüschmors genannt.«

»Plüschmops?«

»Nein, Plüschmors. So nannte man da, wo wir lebten, die Hummeln. Und du bist auch eine kleine Hummel.«

»Summ, summ, summ …«, machte Runa, breitete ihre Arme aus und tat, als würde sie herumfliegen. Birtes Herz machte einen kleinen Freudensprung, als sie das Kind so unbeschwert herumtollen sah. Doch kurze Zeit später ermahnte sie ihre Tochter wieder zur Pflicht.

»Genug getobt, Runa. Mach mit den Gleichgewichtsübungen weiter.«

»Och, muss ich echt, Mami? Warum immer diese langweiligen Sachen? Die kann ich doch schon.«

In der Tat, die basalen Gleichgewichtsübungen absolvierte die Kleine nach nur wenigen Tagen des intensiven Trainings aus dem Effeff. Birte hatte noch nie jemanden derart schnell diese Exerzitien verinnerlichen sehen. Gegen ihre Tochter waren die Soldaten, die sie sonst trainierte, fast schon unbeholfene Grobmotoriker.

»Du machst deine Übungen. Keine Widerrede. Und später machen wir noch die Prana-Atemübungen zusammen. Und jetzt los!«

Mit dem für ABC-Schützen recht typischen, maulenden Gesicht begann die Kleine damit – wie selbstverständlich in schnellen, absolut fließenden und exakt dimensionierten Bewegungen –, komplexe, der Tierwelt nachempfundene Figuren nachzustellen, die der Aktivierung ihrer gesamten Muskelmasse dienten. Birte kommentierte das Training, während sie dieselben Bewegungen ausführte.

»Du musst dir jeden einzelnen Muskel in deinem Körper vorstellen und ihn losgelöst von anderen bewegen können, ohne dass du darüber nachdenkst. Alle Muskeln, alle Sehnen, alle Knochen sind Teil deines Körpers und du kannst über sie gebieten. Nur die absolute Kontrolle ermöglicht es dir, eine geistige Form zu erschaffen, welcher der Körper folgt. In dieser Form bewegt sich die Devi der Kundalini Shakti und ermöglicht es dir, gegen deinen Feind einen vernichtenden Schlag zu führen. Dein Geist muss in jede Muskelfaser vordringen und ihr eine Endform zuweisen können. So wirst du schneller, agiler und erfolgreicher im Kampf vorgehen können. Bevor du einen Schlag gegen deinen Feind ausführst, muss dein Geist bereits am Ziel angelangt sein.«

Aus den Augenwinkeln heraus wurde sie der Gestalt gewahr, die dort unter den Zypressen stand und ihnen zusah. Sie unterbrach ihre Bewegung und nickte zu den Bäumen hinüber.

»Opa Alv!«, sprudelte es aus der Kleinen hervor, doch Birte gab sich unerbittlich.

»Du wirst deine Übungen durchführen, junge Dame. Ablenkung ist Schwäche. Schwäche ist Tod. Also, weiter!«

Während Runa in die Ausgangsstellung zurückkehrte, um die unterbrochene Übung zu wiederholen, ging Birte zu Alv hinüber. Der lächelte sie freundlich an und fragte:

»Na, wie macht sich deine Meisterschülerin?«

Birte nahm sich das Handtuch, das an einem Ast baumelte, und wischte sich den Schweiß aus dem Nacken. Alv konnte ihre Pheromone deutlich wahrnehmen. Ihr Geruch war ihm sehr vertraut geworden im Laufe der letzten Jahre. Birtes Gegenwart hatte so viel Vertrautes für ihn.

»Es ist unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit sie lernt«, erwiderte sie. »Ein, zwei Monate noch, und ich kann ihr nichts mehr beibringen. Ich meine, als Mutter ist man natürlich immer stolz auf das eigene Kind, aber was Runa da leistet, habe ich vorher so noch nie gesehen. Definitiv.«

»Ja, sie ist wirklich ein erstaunliches Kind. Meinst du nicht, du überforderst sie etwas?«

Birte lachte.

»Ich? Sie überfordern? Wohl eher andersherum. Sie saugt die Lektionen förmlich auf, und ich sehe, wie sie dabei durchaus eigene Techniken entwickelt. Ich habe ehrlich gesagt nicht die geringste Ahnung, was in meiner Tochter vorgeht.«

»In ihrem Alter habe ich damit begonnen, krakelige Buchstaben auf liniertes Papier zu malen«, meinte Alv nachdenklich, »aber Runa führt bereits philosophische Gespräche mit den Dorfbewohnern. Einige von ihnen sind durchaus verunsichert.«

Birte nickte und blickte zu der Kleinen hinüber, die komplexe Bewegungsabläufe mit einer Leichtigkeit vollzog, dass man meinen konnte, sie würde tanzen.

»Ja, das kann ich durchaus verstehen«, gab Birte zurück, »aber für mich ist es halt wichtig, dass sie lernt, ihre Kraft zu beherrschen. Als sie damals schreiend unter dem Wohnwagen lag, weißt du, das hat mich völlig fertiggemacht. Diese absolute Hilflosigkeit und die Angst, sie auch noch zu verlieren, daran bin ich beinahe zerbrochen. Aber wenn ich sehe, was Runa seit diesem Tag gelernt hat, dann ist das etwas, das mich ruhiger schlafen lässt.«

Alv kam langsam zum Punkt.

»Hör mal, da gibt es etwas, über das ich mit dir sprechen möchte. Mikail hat Informationen erhalten, dass uns in absehbarer Zeit eventuell Zed-Attacken bevorstehen.«

»Damit werden wir doch fertig, oder?«

»Das hoffe ich ganz stark. Aber das Militär ist, was Unterstützung angeht, etwas zurückhaltender geworden, seit Eckhardt und Mikail nicht mehr offiziell zum Generalstab gehören.«

»Wir sind auf uns selbst gestellt?«

»So sieht es wohl aus.«

Birte holte tief Luft und schnaubte. Sie sah noch einmal zu Runa hinüber.

»Dann ist das hier ja genau das Richtige. Ich will, dass meine Tochter überlebt.«

»Das will ich auch, Birte. Wir haben uns überlegt, dass es nützlich wäre – nur für den Fall, es wird brenzlig – einen Fluchtplan zu erarbeiten, der es euch beiden ermöglicht, Rennes-le-Château zu verlassen und euch in Sicherheit zu bringen. Weißt du, ich glaube, es hat einen bestimmten Grund, dass Runa so ist, wie sie ist. Nenn es Schicksal, Vorsehung, wie auch immer. Wichtig ist, dass dieses Kind überlebt, koste es, was es wolle.«

Birte schaute den alten Mann verdattert an.

»Alv, was erwartet ihr? Ich meine, in den Siedlungsgebieten sind kaum noch Zeds unterwegs. Die Leute leben friedlich und bauen die Gesellschaft wieder auf. Okay, im Osten kracht es noch immer heftig, klar. Aber das ist doch weit weg, oder etwa nicht? Gibt es da etwas, das ich wissen sollte?«

Alv sah Birte an und irgendwie bemerkte er erst jetzt, dass sie nicht mehr diese unschuldige junge Frau von damals war. Nächstes Jahr würde sie ihren vierzigsten Geburtstag feiern und der ewige Kampf gegen die Auslöschung hatte schon die eine oder andere Falte in ihr Gesicht gegraben.

»Nein«, gab er mit einer beschwichtigenden Geste zurück, »so war das jetzt nicht gemeint. Es geht hier lediglich darum, auf Extremfälle vorbereitet zu sein. Unsere Idee war, aus den Stollen unter dem Berg einen Fluchtweg zu machen. Da gibt es zwei oder drei alte Belüftungsschächte, die wir dafür reaktivieren könnten. Ich möchte dann gern mit allen Müttern Notfallübungen abhalten, damit sie, falls es wirklich ernst wird, die Kinder evakuieren können.«

»Du meinst, RLC aufgeben?«

»Es geht um Pläne für den äußersten Notfall, ja. Hatten wir früher doch auch, nur haben wir die Gänge verbarrikadiert, als hier aufgerüstet wurde. Aber niemand weiß, was auf uns zukommt, und so halte ich es für angezeigt, auf jede Eventualität vorbereitet zu sein.«

»Okay, wir sind dabei. Ich werde dann mal wieder zu meinem Häschen gehen. Ich glaub, sie langweilt sich schon.«

»Äh … Häschen?«, meinte Alv grinsend, den zweifelnden Blick auf die kleine Gestalt am Ende der Baumreihe gerichtet, wie sie dort in einer federnden Haltung stand und in einer spielerischen Mühelosigkeit mit den Fäusten Stoßübungen vollzog, die als Treffer jeden Hunter-Zed aus den Latschen gehauen hätten.

Als Birte bei ihrer Tochter ankam, unterbrach die ihre Übung.

»Über was hast du mit Opa Alv gesprochen, Mami?«

»Wir haben über die Zukunft geredet, wie es weitergeht, auch mit dem Training.«

»Werden die Monster uns angreifen?«

Wie kommst du denn darauf, mein Schatz?«

»Ich habe gesehen, wie Opa Alv so die Stirn kraus gemacht hat. Das tut er immer, wenn er über die Monster redet.«

Sie imitierte die Mimik von Alv Bulvey fast perfekt.

»Das hast du von hier aus gesehen?«

»Natürlich, Mami, ich kann gut gucken.«

Runa grinste wie ein Honigkuchenpferd. Es brachte wohl nichts, diesem aufgeweckten Kind etwas vorzumachen. Sie sprach zwar wie eine Siebenjährige, aber ihr Denken war ihrem körperlichen Alter um Jahrzehnte voraus. Manchmal konnte einem dieses Kind schon irgendwie unheimlich werden. Birte verstand, was die Dorfbewohner latent beunruhigte.

»Heute«, lenkte sie die Aufmerksamkeit auf das Tagesthema, »werden wir etwas über das Atmen lernen, Runa. Setz dich.«

Beide sanken einander gegenüber in die Knie und setzten sich auf die Fersen, den Oberkörper aufgerichtet. Runa hörte ihrer Mutter aufmerksam zu.

»Das Leben – Atman – wird bestimmt durch das Denken – Manas –, welches dem Leben Form gibt. Manas ist die Methode, die es dir ermöglicht, über deinen Körper zu gebieten, das Tantra, also die Muskelfasern deines Körpers. Vedanta lehrt uns, dass zum Beispiel das Yoga es dir ermöglicht, deine Muskeln einzeln anzusprechen und kontrollierbar zu machen, also das Tantra zu befreien. Das Gleichgewicht dieser drei Dinge nennt man Bindu. Damit du die vollständige Kontrolle über deinen Bewegungsapparat erlangen kannst, ist es unbedingt nötig, zunächst die Atmung zu kontrollieren. Dies nennen wir dann das Prana-Bindu. Im Prana-Bindu bist du in der Lage, jeden Muskel deines Körpers im Einklang mit der Form deines Bewusstseins zu bewegen. Es ermöglicht dir, Kraft, Ort und Zeit miteinander zu synchronisieren. Im Prana-Bindu sendet dein Geist nicht die Bewegung vom Beginn derselben, sondern er empfängt die Bewegung am Ziel. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Verstehst du, was ich meine?«

Erstaunlicherweise nickte Runa heftig.

»Ja, Mami. Ich bin am Ziel, bevor sich mein Körper bewegt. Weil das Bild gesehen ist, passiert es auch.«

»Ja, das trifft es ganz gut, mein Schatz. Und jetzt schauen wir, wie wir dahin kommen. Okay? Bist du bereit?«

»Bereit.«

»Der Atem ist ein Fluss, und weil er das ist, muss er fließen. Er soll deinen Körper völlig durchströmen, bis in die letzte Zelle. Dazu teilen wir unseren Atem auf. Zuerst das Einatmen; wir füllen die Lungen mit Luft. Dann das Anhalten, damit der Atem Zeit hat, in den Körper hineinzuströmen. Dann das Ausatmen; die verbrauchte Luft wird aus den Lungen gedrückt. Und wieder anhalten, um die Lungen auszuruhen. Vier Schritte. Achte auf meine Handbewegung. Jeder Schritt ist genau gleich lang.«

Birte hielt die linke Hand waagerecht in Brusthöhe ausgestreckt und zog sie zum Körper hin, wobei sie etwas den Bauch herausstreckte. Die Rechte verharrte rechts neben der Brust.

»Beim Einatmen denken wir an Rajas, es bedeutet Bewegung.«

Sie stoppte die Bewegung nah am Körper.

»Beim Anhalten dann Tamas, das bedeutet Ruhe.«

Sie schob die rechte Hand nach vorn.

»Beim Ausatmen denken wir Sattva, das bedeutet Harmonie.«

Die Hand verharrte wieder.

»Der vierte Schritt ist die Leere, wir denken Shuna. Das üben wir jetzt einmal.«

Sie wiederholten die Übung, wobei Birte die Handzeichen gab und die Mantren intonierte. Als Runa nach einiger Zeit diesen Atemfluss sicher beherrschte und jeder Zyklus etwa zwanzig Sekunden dauerte, änderte Birte die Übung.

»Diese Atemtechnik, den vierfachen Atem der Gunas, wirst du künftig während der Körperübungen praktizieren. Jetzt zeige ich dir, wie du ihn in der Zeit der geistigen Übungen praktizierst. Bereit?«

»Bereit, Mami.«

»Gut. Nun werden wir beim ersten Zyklus mit dem rechten Zeigefinger seitlich auf das linke Nasenloch drücken. Beim zweiten Zyklus drücken wir mit dem linken Zeigefinger auf das rechte Nasenloch. Durch das Ayama, die vollständige Kontrolle des Atemflusses, bist du später fähig, die Kundalini Shakti zu kanalisieren und gezielt einzusetzen. Diese Kraft wird es dir ermöglichen, deine Gegner zu überwinden. Hast du das verstanden, Schatz?«

Runa nickte und hob ihren Zeigefinger.

Birte lachte.

»Du sollst nicht in der Nase bohren, sondern sie zuhalten. Schau her.«

Birte machte es zweimal vor, dann stieg die Kleine mit einer Selbstverständlichkeit ein, als hätte sie nie etwas anderes getan. Und so saßen die beiden am Jahrestag der größten Katastrophe der Menschheit schnaufend auf dem Rasen, während ihre Freunde mit Kriegsvorbereitungen beschäftigt waren.

Jahr zehn, 17. Juli, Morgen

»Und? Was meint ihr? Kriegen wir die Anlage wieder zum Laufen?«

Alv stand am Fuße des großen südlichen Verteidigungswalls und beriet mit Eckhardt und Holger die Sachlage. Die Gemeinschaft hatte vom ersten Tag der Besiedelung des verlassenen Bergdorfes an dasselbe mit ständig erweiterten Verteidigungsanlagen versehen, die letztlich sogar gegen Gärtners Soldaten Wirkung gezeigt hatten. Die zum Teil äußerst unkonventionellen Anlagen hatten Eckhardt, Holger und Ralle erdacht und sie aus allen möglichen Materialien zusammengesetzt. Nicht schön, aber selten waren diese Mechanismen. Und sie hatten in mehr als einer bedrohlichen Situation hervorragend funktioniert. Seit nunmehr zwei Jahren standen die Anlagen still, da die Zed-Angriffe merklich abgenommen hatten und man die Bewohner nicht unnötig gefährden wollte.

»Die Pneumatik muss gründlich überholt werden«, meinte Holger, einige Teile mit der Hand bewegend, »und der ganzen Kram gehört ordentlich abgeschmiert. Aber ich sehe keinen Grund, warum wir das nicht wieder in Gang bekommen sollten.«

Eckhardt zeigte sich ähnlich zuversichtlich.

»Auch die federgelagerten Mechanismen müssen komplett überholt werden. Da hat sich etwas Rost breitgemacht. Aber im Großen und Ganzen stimme ich Holger zu, das kriegen wir schon hin.«

»Wir fangen heute noch an«, ergänzte Holger. »Schätze, in gut einer Woche sind alle Anlagen wieder einsatzbereit.«

»Wir müssen wohl noch Teile der äußeren Begrünung entfernen«, meinte Eckhardt nachdenklich. »Ich könnte mir gut vorstellen, dass die Ranken dort für die Hunter eine Einladung zu einer Kletterpartie darstellen.«

Alv blickte an der aus Stahlcontainern errichteten Wand hinauf. In den letzten Jahren hatten dicke Ranken aus Wein und Brombeeren die schmalen Schlitze zwischen den Containern gefüllt und begonnen, den gesamten Wall zu überwuchern. Für die Bewohner des Dorfes bildete dieses gigantische Spalier eine reiche Quelle an gesundem Obst, und Alv fand es grundsätzlich schade, es zu zerstören. Doch letztlich hatte Eckhardt natürlich recht und es oblag schließlich ihm, über die Sicherheit der äußeren Verteidigungsanlagen zu befinden.

»Wir setzen die Pflanzen auf den Stock«, erwiderte er. »Dann können sie wieder ausschlagen und in zwei, drei Jahren sieht es wieder so aus wie jetzt. Vielleicht sollten wir das Gestrüpp unten am Hang ablegen. Wenn es trocken ist, können wir es notfalls in Brand setzen, falls dann genug Zeds darin herumturnen.«

»Nicht die schlechteste Idee«, fand Holger. »Und wo wir gerade dabei sind, könnte ich auch noch ein paar zusätzliche perforierte Gasleitungen verlegen, um den Hackfressen etwas Feuer unterm Hintern zu machen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Unsere LNG-Tanks sind bis obenhin gefüllt. Selbstauslöser-Zünder und Sicherheitsschaltungen hab ich schnell gebaut, sollte kein Problem sein.«

»Darüber wäre ernsthaft nachzudenken«, stimmte Eckhardt nickend zu. »Und wenn die Systeme auf dem neuesten Stand sind, sollten wir unbedingt wieder eine No-go-Area einrichten. Nicht dass einer unserer Bewohner noch verletzt wird. Wir wollen ja schließlich die Zeds loswerden und nicht die Nachbarn. Wir sollten das bei der nächsten Versammlung ansprechen, Alv … Alv?«

Der bärtige Nordmann hörte offenbar gar nicht zu. Er stand dort am Fuß des Verteidigungswalls und ließ seinen Blick in die Ferne schweifen. Eigentlich war er stets ein Kind der Küste gewesen, doch das, dieser Platz, war ihm zu einem Zuhause geworden. Der Blick von hier hatte etwas Atemberaubendes. Bei gutem Wetter konnte man mehr als dreißig Kilometer weit schauen. Ringsum erhoben sich mehr oder weniger sanfte Hügel und kleinere Berge aus den tief eingeschnittenen Flusstälern der Vorpyrenäen, und die wechselhafte Vegetation erweckte den Eindruck, ein Titan habe die Hügel mit einem grünen Vlies überdeckt.

Jetzt im Sommer dominierte der starke Geruch der Lavendelfelder, der aus den nicht mehr kultivierten Anbaugebieten der Täler die Hügel hinaufkroch. Er vermischte sich mit dem Geruch von Thymian, Rosmarin, Oregano und anderen Kräutern zu dem unverkennbar mediterranen Potpourri, das hier den Sommer begleitete. Eine leicht schwüle Feuchtigkeit, die der Ostwind mit sich trug, steuerte eine salzige Prise zum Odeur der Berge bei.

Alv sog diesen Duft der neuen Heimat tief in seine Lungen ein, wo er ein wohliges Kribbeln erzeugte. Das Paradies, das sich die Gesellschaft des Willens, wie sich die Gemeinschaft der Dorfbewohner selbst nannte, geschaffen hatte, wurde nun ein weiteres Mal von Zed-Horden bedroht. Wieder und wieder brandete die Gefahr an die Gestade hier. Dem Zyklus von Ebbe und Flut gleich bedrohte sie das ungesicherte Vorland. Wenn dieser schier endlose Zyklus sich doch nur unterbrechen ließe …

»Alv! Sag mal, hörst du mir überhaupt zu?«

Es war Eckhardts Stimme, die Alv Bulvey aus seinen Gedanken riss und in die Wirklichkeit zurückholte.

»Hallooo? Jemand zu Hause?«

Eckhardt fuchtelte mit einer seiner Pranken vor Alvs Gesicht herum. Der schloss die Augen und schüttelte den Kopf, was seinen Freund zum Abbruch seiner Erweckungshandlung veranlasste.