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Kinder der Kälte halten eine Menge aus. Nur mit Wärme sind sie manchmal überfordert. Fünf Jahre nach ihrer Entführung durch den satanischen Zirkel sind Jon Askil und David in ihrem englischen Dörfchen zur Ruhe gekommen. Nun stellen jedoch erneute Schicksalsschläge ihre Beziehung auf eine harte Probe. Jon Askil beschleicht zunehmend das Gefühl, dass sein Mann ihm immer mehr entgleitet – und dann wird auch noch ein kleines Mädchen aus dem Heim in Norwegen entführt, in dem er schreckliche Jahre seiner Kindheit verbracht hat. Steckt etwa erneut der Zirkel dahinter? Warum wurde das Mädchen »Teufelskind« genannt? Und was hat Schwester Inger, der Albtraum seiner Vergangenheit, damit zu tun? Jon Askil entschließt sich, bei den Ermittlungen zu helfen. Doch in ihm lauert noch etwas anderes. Etwas, das alles bedroht, was er sich aufgebaut hat. Nur David könnte ihm die Kraft geben, damit fertigzuwerden. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt ... »Absinth mit dem Teufel: Kinder der Kälte« ist der dritte und abschließende Band der Geschichte um Jon Askil und David. Für den perfekten Lesegenuss und um alle Zusammenhänge zu kennen, empfiehlt es sich, vorher »Absinth mit dem Teufel: Spiele der Nacht« und »Absinth mit dem Teufel: Klippen der Hölle« zu lesen.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Gay Dark Romance
© Urheberrecht 2023 Jona Dreyer
Impressum:
Tschök & Tschök GbR
Alexander-Lincke-Straße 2c
08412 Werdau
Text: Jona Dreyer
Coverdesign: Jona Dreyer
Coverbilder: depositphotos.com
Lektorat/Korrektorat: Kelly Krause, Shannon O’Neall & Sandra Schmitt
Kurzbeschreibung:
Kinder der Kälte halten eine Menge aus. Nur mit Wärme sind sie manchmal überfordert.
Fünf Jahre nach ihrer Entführung durch den satanischen Zirkel sind Jon Askil und David in ihrem englischen Dörfchen zur Ruhe gekommen. Nun stellen jedoch erneute Schicksalsschläge ihre Beziehung auf eine harte Probe. Jon Askil beschleicht zunehmend das Gefühl, dass sein Mann ihm immer mehr entgleitet – und dann wird auch noch ein kleines Mädchen aus dem Heim in Norwegen entführt, in dem er schreckliche Jahre seiner Kindheit verbracht hat.
Steckt etwa erneut der Zirkel dahinter? Warum wurde das Mädchen »Teufelskind« genannt? Und was hat Schwester Inger, der Albtraum seiner Vergangenheit, damit zu tun?
Jon Askil entschließt sich, bei den Ermittlungen zu helfen. Doch in ihm lauert noch etwas anderes. Etwas, das alles bedroht, was er sich aufgebaut hat. Nur David könnte ihm die Kraft geben, damit fertigzuwerden.
Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt ...
Über die Autorin
»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«
Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.
Schon vor bald 6 Jahren, als die ersten beiden Teile von »Absinth mit dem Teufel« erschienen sind, habe ich angekündigt, dass es irgendwann noch einen dritten Teil geben wird – schließlich sind noch Fragen offen.
Bereits damals standen der Titel des Romans sowie der grobe Inhalt fest. Dass es trotzdem so lange gedauert hat, hat verschiedene Gründe – es muss eben einfach erst »klick« machen und das letzte Puzzleteil muss sich finden.
Das war nun endlich so weit. Dieser Teil wird aber definitiv der Abschluss der »Absinth mit dem Teufel«-Serie sein.
Natürlich wird es zwischendurch so aussehen, als müsste es traurig enden. Aber ihr kennt mich – das wird es nicht. Versprochen.
Viel Spaß bei der Lektüre!
Vi bygger ikke rede,
vi har hjem, vi to.
Fru Spurv er mor til barna
vi galer kun ko-ko.
Wir bauen keine Nester,
Wir haben ein Zuhause, nur wir zwei.
Frau Spatz ist die Mutter unserer Kinder.
Wir machen nur ku-ku.
(»Jeg gikk en tur på stien«, norwegisches Kinderlied)
Durch seinen Nebenjob als Zeitungsausträger lernt der junge Buchhändler David Rowbotham den geheimnisvollen, menschenscheuen Schriftsteller Jon Askil Fjallgren kennen. Zwischen den beiden entwickelt sich eine intensive, von Rückschlägen geprägte Beziehung, durch die Jon Askil langsam lernt, seine tiefsitzenden Ängste zu überwinden. Allerdings fördert seine neugewonnene Offenheit auch dunkle Erinnerungen aus seiner Vergangenheit zutage, die lieber vergessen geblieben wären. David ist fest entschlossen, diese Angelegenheiten zu bereinigen, um gemeinsam mit Jon Askil ein Leben ohne Angst führen zu können – und setzt damit eine unaufhaltsame Verkettung von Ereignissen in Bewegung, die alles aufs Spiel setzen, was sie sich gemeinsam aufgebaut haben.
Jon Askil und David reisen nach Norwegen, um den Geheimnissen der Vergangenheit auf die Spur zu kommen – jedoch nicht, ohne vorher den Bund der Ehe einzugehen, denn Jon Askil will seinen Mann in jedem Fall abgesichert wissen. David schleust sich beim Zirkel ein, der sich aus fanatischen Lesern von Jon Askils »Teufels«-Romanreihe und seinem einstigen Literaturprofessor zusammensetzt, und immer schrecklichere Dinge kommen ans Tageslicht. Doch dann fliegt seine Tarnung auf und er befindet sich in großer Gefahr.
Jon Askil eilt zu seiner Rettung und schlüpft dazu in die Rolle, in der die Zirkelmitglieder ihn immer sehen wollten: die des Teufels. Mithilfe der Polizei können er und David schließlich befreit und etliche Zirkelmitglieder verhaftet werden.
Doch es ist noch nicht vorbei ...
Es war kalt. Der Hals tat ein bisschen weh beim Luftholen, aber die Luft brauchte sie zum Singen.
Und Singen war ja das, was der Mann ihr befohlen hatte. Ihr Lieblingslied. Das Lied vom Kuckuck. So lange, bis er wieder zurückkehrte.
Jeg gikk en tur på stien og søkte skogens ro.
Da hørte jeg fra lien en gjøk som gol ko-ko.
Ko-ko, ko-ko, ko-ko, ko-ro, ko-ko
Ko-ko, ko-ko, ko-ko, ko-ro, ko-ko.
Vielleicht hatte der Mann ja sogar gewusst, dass sie weniger Angst hatte, wenn sie sang. Dass man mit Liedern böse Geister vertreiben konnte, zumindest für ein Weilchen.
Jeg spurte den hvor mange hvor mange år ennu.
Den svarte meg med lange og klagende koko.
Ko-ko, ko-ko ...
Jemand schrie. Es kam aus dem Inneren der Hütte hinter ihr. Die Stimme gehörte zum bösen Mann. Nicht zu dem, der ihr das Singen befohlen hatte. Der war lieb. Jedenfalls hoffte sie es. Und je lauter das Schreien wurde, desto lauter sang sie.
Jeg spurte om dens make og om dens eget bo.
Den satt der oppå grenen og kikket ned og lo.
Ko-ko, ko-ko ...
Das Brüllen wurde leiser und mehr ein Jammern, so wie sie jammerte, wenn sie Bauchweh hatte. Aber sie sang weiter, denn das sollte sie ja, bis der Mann zurückkehrte. Ihr Hals tat weh und die Stimme wurde kratzig. Sie hatte Durst. Und Hunger. Und ihr war kalt.
Vi bygger ikke rede, vi har hjem, vi to.
Fru Spurv er mor til barna vi galer kun koko
Ko-ko, ko-ko ...
Der Mann kam aus der Hütte. Nicht der böse, sondern der vielleicht liebe. Er hatte Blut am Mund und schaute wie ein wildes Tier, ein bisschen wie ein Wolf, der gerade ein Schaf gefressen hatte. Er sagte nichts, aber sie wusste es trotzdem: Es war vorbei.
Ko-ko, ko-ko, ko-ko, ko-ro, ko-ko
Ko-ko, ko-ko, ko-ko, ko-ro, ko-ko.
Ein Foto nach dem anderen nahm Jon Askil in die Hand und sah es an. Betrachtete jedes Detail, die Belichtung, den Winkel. Die Fotografie war ein Hobby, das ihm in den letzten Jahren eine gewisse Freude gebracht hatte, auch wenn er sich nicht für sonderlich talentiert hielt.
Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.
Er nahm einen Zug von seiner Zigarette, legte sie am Rand des Aschenbechers ab und nahm das nächste Bild zur Hand. Sein Lieblingsmotiv. David. David unterm Kirschbaum im Garten, lachend. David beim Schlafen mit zerzaustem Haar. David im King’s Head mit Maria und Ron.
Alles Makulatur. Was glänzt, ist für den Augenblick geboren.
Mit einer bitteren Grimasse stopfte Jon Askil die Bilder zurück in den Umschlag, nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und drückte sie aus. Das Geräusch eines sich nähernden Autos erklang von draußen; er stand auf und zog sich an. Es musste das Taxi sein, das er gerufen hatte. Denn er hatte etwas vor. Etwas, das schon lange überfällig war.
»Nach Southampton«, verlangte er grußlos, als er einstieg, und nannte die genaue Adresse.
Der Taxifahrer fuhr los. Jon Askil würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass er den Mann mochte, aber er verlangte vom Taxiunternehmen stets, ihm genau diesen Fahrer zu schicken. Er stellte keine dummen Fragen, drängte ihm keine nervtötenden Gespräche auf, sondern fuhr ihn einfach, wohin er wollte. Dafür bekam er reichlich Trinkgeld. Ein stilles Abkommen zwischen zwei Männern.
Die eineinhalbstündige Fahrt verlief erwartungsgemäß schweigend. Er hatte David nichts von seinem Vorhaben erzählt und auch niemand anderem, zumal er sich selbst nach wie vor nicht sicher war, ob er es tatsächlich durchziehen würde. Es hing nicht ganz allein von ihm ab.
Am Ziel angekommen, bezahlte er den Fahrer großzügig. »Voraussichtlich heute Abend müssen Sie mich wieder abholen«, verkündete er.
»Wie spät in etwa?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich werde mich aber rechtzeitig melden.«
»Na schön.« Der Fahrer seufzte. »Ich werde versuchen, da zu sein.«
»Es wäre mir lieb, wenn es nicht nur beim Versuch bliebe«, entgegnete Jon Askil spitz.
Der Fahrer zog eine kleine Grimasse. »Ja, Mr Rowbotham. Ich werde es schon möglich machen.«
»Gut. Bis dann.« Jon Askil stieg aus, schlug die Autotür zu und hielt einen Moment inne.
Da war er also. Annie Sama’s Tattoo Art. Er hatte lange recherchiert, sich verschiedene Arbeiten von allen möglichen Tattoo-Künstlern im Umkreis von hundert Meilen angesehen und war dann doch bei diesem kleinen, aber feinen Studio gelandet. Lange hatte er mit sich gehadert. Aber es wurde Zeit, mit ein paar Dingen abzuschließen. Oder sie zumindest zu berichtigen.
Er betrat das Studio, das gerade erst geöffnet hatte, und fand eine stark tätowierte, kleine Frau Ende dreißig, an einem Zeichentablet hinter der Theke vor. Sie blickte auf, als sie ihn entdeckte.
»Guten Tag«, grüßte er förmlich, »sind Sie Annie Sama?«
»Bin ich«, bestätigte sie. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich will ein Cover-up.«
»Okay.« Sie legte ihren Zeichenstift beiseite. »Erzähl mir ein bisschen mehr davon. Welche Körperstelle? Wie groß? Kannst du es mir zeigen?«
Er spürte, wie seine Kehle trocken wurde. »Es ... es ist auf meinem Bauch. Ein hässlicher Ziegenkopf in einem Pentagramm.«
»Oh, okay. Kannst du es mir bitte zeigen?«
»Ich ...« Er fasste an den Saum seines Henley-Shirts, hielt dann jedoch inne. »Erst, wenn Sie mir sagen, dass Sie es machen.«
Sie lachte auf und wirkte ehrlich amüsiert. »Tut mir leid, aber ich kann keinem Projekt zusagen, von dem ich noch gar nicht weiß, ob ich es verwirklichen kann.«
»Das können Sie. Ich habe Ihre Arbeiten gesehen.«
»Schon, aber jeder hat andere Voraussetzungen. Ich muss sehen, was ich covern soll und was du dir überhaupt vorstellst, sonst kann ich noch gar nichts dazu sagen.«
Jon Askil fluchte innerlich. Er hatte so etwas schon befürchtet, und dieses grässliche Ding irgendjemandem zeigen zu müssen, war wohl der schlimmste Teil seines Vorhabens. »Muss das hier vorn sein, wo jeden Moment jemand reinkommen kann?«
»Nein, natürlich nicht«, gab die Tätowiererin zurück. »Komm mal mit hinter.«
Sie führte ihn durch eine Tür neben der Theke in den eigentlichen Tätowierraum. Kunstvolle, gerahmte Zeichnungen hingen an den elegant-dunklen Wänden, alles wirkte sauber, aber nicht unangenehm steril wie in einem Krankenhaus. Eine Mitarbeiterin, die gerade die Oberflächen abwischte, blickte ihnen neugierig entgegen.
»Mary, gehst du kurz raus?«, bat Annie diskret.
»Klar.« Die junge Frau nickte und verschwand.
»Also?«, fragte die Tätowiererin.
Jon Askil nahm einen tiefen Atemzug. Seine Finger fühlten sich kalt und klamm an, als er erneut den Saum seines Shirts umfasste. Stück für Stück zog er den Stoff nach oben und offenbarte die Scheußlichkeit, mit der er seit ungezählten Jahren leben musste.
Du bist recht appetitlich oben anzuschauen. Doch unten hin die Bestie macht mir Grauen.
»Scheiß doch der Hund die Wand an!«, entfuhr es der Tätowiererin. »Wer zur Hölle hat denn das verbrochen?«
Jon Askil räusperte sich. »Eine Bedingung für unsere Zusammenarbeit wäre, dass wir nicht über die alte Tätowierung reden. Weder, wer sie gemacht hat, noch unter welchen Umständen sie entstanden ist.«
»Kann ich verstehen«, gab Annie zu, »und wahrscheinlich ist es auch besser so. Wenn ich diesem Scratcher, der das hier verzapft hat, begegnen würde, wäre er danach wahrscheinlich einen Kopf kürzer.«
Jon Askil lachte leise. Er mochte ihre ungestüme Art. »Können Sie das übertätowieren?«
»Grundsätzlich schon. Die Frage ist, was dir für ein Motiv vorschwebt.«
»Das Gleiche, nur in hübsch. Schwarzweiß.«
»Also ein Ziegenkopf mit einem Pentagramm?«
»Ja. Es ist nicht so, dass ich das für ein besonders schönes Motiv halte, aber ich laufe nun schon so viele Jahre mit einem Ziegenkopf auf dem Bauch herum, dass er irgendwie zu mir gehört.«
»Das ist kein Ziegenkopf, das ist eine Monstrosität.« Noch immer sichtlich fassungslos schüttelte Annie den Kopf. »Aber wir machen einen Ziegenkopf daraus, ja. Das kriegen wir hin.« Sie nickte ihm aufmunternd zu. »Ich setz dich auf meine Warteliste.«
»Warteliste?«, fragte Jon Askil irritiert.
»Ja, ich habe eine Warteliste«, bestätigte die Tätowiererin. »Aktuell sind wir bei etwas mehr als einem Jahr. Ich hatte auch vor der Pandemie schon mehrere Monate Wartezeit, aber durch die Schließungen hat sie sich noch mal deutlich verlängert, weil ich erst mal die ganzen Termine abarbeiten muss, die damals ausgefallen sind.«
»Ich will auf keine Warteliste«, erklärte Jon Askil. »Ich will jetzt tätowiert werden.«
Sie lachte und wirkte ziemlich amüsiert. »Ich fürchte, du hast keine Ahnung, wie Tätowierer arbeiten. Also, richtige Tätowierer, nicht so was wie der, der dich verunstaltet hat. Wir setzen uns nicht einfach hin und tätowieren drauf los. Erst mal machen wir einen Entwurf und sprechen ihn mit dem Kunden ab.«
»Dann machen wir das jetzt.«
»Hör mal.« Sie seufzte. »Ich kann verstehen, dass du dieses Ding so schnell wie möglich loshaben willst, aber du wirst noch ein bisschen Geduld haben müssen.«
Jon Askil spürte, wie Panik in ihm aufstieg. Panik und das brennende Gefühl der Enttäuschung. War etwa alles umsonst gewesen? Dass er sich überwunden hatte, hierherzukommen und dieser fremden Frau sein Kainsmal zu zeigen? »In einem Jahr weiß ich doch gar nicht, ob ich mich dann noch traue!«, gab er verzweifelt zurück.
»Wenn du so unsicher bist, ob du dieses Tattoo überhaupt willst, solltest du vielleicht sowieso noch warten«, gab Annie zu bedenken.
»Nein, darum geht es nicht!«, erwiderte er mit wachsender Verzweiflung. »Ich will dieses Tattoo, das steht gar nicht zur Diskussion. Aber heute ist der Tag.«
»Was für ein Tag?«
»Der Tag, an dem ... an dem ich den Mut finde, es mir stechen zu lassen. Dieses alte Tattoo und die Narben ... sie haben in ihrer Entstehung ein Trauma hinterlassen.«
»Das verhunzte Tattoo war nicht dazu da, die Narben zu überdecken?«
Er schüttelte den Kopf.
Sie nahm einen tiefen Atemzug. »Manchmal springt jemand ab und ein Termin wird frei. Ich kann dich dann anrufen, dann geht es vielleicht schneller als ein Jahr.«
»Es muss heute sein!«, flehte Jon Askil und hasste sich dafür. Er wollte keine Menschen anbetteln, aber er wollte auch nicht so einfach aufgeben. Wer weiß, wann er sich sonst wieder trauen würde.
Was muss geschehn, mag’s gleich geschehn!
»Es tut mir leid, aber ich habe heute schon Kunden. Ich kann denen nicht einfach absagen. Die haben teilweise schon länger als ein Jahr gewartet.«
»Sind Sie bestechlich?«
Annie legte den Kopf schräg und hob eine Braue. »Da müsstest du mir schon zehntausend Pfund für das Tattoo geben, dann könnten wir vielleicht darüber reden.«
Er wusste, dass sie scherzte, aber auch, dass in jedem Scherz ein Körnchen Wahrheit steckte. »In Ordnung«, sagte er. »Zehntausend Pfund sind abgemacht, wenn ich heute noch drankomme.«
»Machst du Witze?«
»Nein. Sehe ich aus, wie jemand, der gern Witze macht?«
»Nein«, gab sie zu und wurde wieder ernst. »Wo willst du denn jetzt zehntausend Pfund herbekommen? Das ist doch verrückt.«
»Buchen Sie sie von meiner Karte ab. Da ist genug drauf.«
»Und dann platzt die Abbuchung und ich hab dich gratis tätowiert ...«
»Hier platzt keine Abbuchung«, widersprach er. »Ich habe Millionen auf diesem Konto.«
»Ach so. Und wo kommen die her?« Sie wirkte ziemlich misstrauisch, hielt ihn offenbar für einen Hochstapler.
»Ich habe eine Buchreihe geschrieben, die sich millionenfach verkauft hat und verfilmt wurde. Hat mich reich gemacht, ich weiß mit dem Geld nur nicht viel anzufangen.«
»Moment!« Ihre Augen weiteten sich in plötzlicher Erkenntnis. »Bist du nicht ... bist du etwa der Autor der Teufels-Reihe? Lucian Blackthorne?«
»Ja, das bin ich«, antwortete Jon Askil etwas unglücklich, denn dies war nicht der Weg gewesen, auf dem er die Tätowiererin hatte überzeugen wollen. »Sind Sie ein Fan?«
Sie zog eine zerknirschte Grimasse. »Nein, sorry. Überhaupt nicht mein Genre.«
Er lächelte. »Sehr gut.« Von einem Fan tätowiert zu werden, wäre eine Sache gewesen, an der er sich ziemlich gestört hätte.
»Dein Gesicht kam mir aber gleich bekannt vor. Selbst wenn man kein Fan ist, man kommt ja nicht ganz an der Reihe und den Filmen vorbei. Ist wie mit Harry Potter und so was.«
»Kann sein. Also, tätowieren Sie mich heute? Die zehntausend Pfund bekommen Sie.«
Annie legte den Kopf in den Nacken und strich sich durch das dunkle, kurz geschnittene Haar. »Ich könnte mir davon eine Menge Materialien und eine neue Tätowiermaschine kaufen. Aber es fühlt sich den anderen Kunden gegenüber unfair an.«
»Wie viele wären das heute?«
»Zwei. Jeder für einen halben Tagestermin.«
»Dann machen Sie die am Wochenende. Ein paar Überstunden sind für das Geld sicher zumutbar.«
»Du bist ganz schön dreist«, gab Annie zurück. »Aber okay. Ich mach’s. Nicht in erster Linie für das Geld, sondern wegen der Sache mit dem Trauma. Ich hab in deinen Augen gesehen, dass du mir nichts vorspielst. Ich hoffe, du hast gut gefrühstückt. Es wird ein langer Tag.«
Jon Askil nickte. Und bezahlte Annie im Voraus. Sie erarbeiteten gemeinsam ein Motiv und als sich schließlich die ratternden Nadeln auf seinen Bauch senkten, kniff er die Augen zusammen und wünschte sich, eine Flasche Absinth bei sich zu haben. Aber die befürchtete Reise in den vergangenen Horror kam nicht. Sie schien zu weit. Sein Geist blieb lieber im Hier und Jetzt.
Als Jon Askil gegen Mitternacht nach Hause zurückkehrte, war er überrascht, David am Küchentisch vorzufinden.
Der blickte schläfrig auf, als er den Raum betrat. »Skatten min! Da bist du ja.«
»Da bin ich, kylling. Ich hatte gar nicht mehr mit dir gerechnet.«
»Ich hatte ja gesagt, dass ich auf dich warte.« David stand auf.
»Und ich hatte gesagt, dass es spät wird.«
David zog eine Grimasse. »Stimmt. Ich hatte nicht gedacht, dass es so spät wird. Ich war kurz eingenickt am Tisch. Verrätst du mir jetzt endlich, wo du warst und was du gemacht hast?«
Wortlos trat Jon Askil einen Schritt zurück und zog sein Shirt nach oben, offenbarte das von Klarsichtfolie bedeckte Werk.
»O mein Gott, du hast es getan!«, rief David und sein erstaunter Ausdruck verwandelte sich in ein breites Grinsen. »Und das, was ich unter der Folie erkennen kann, sieht ziemlich, ziemlich geil aus. Aber warum hast du mir nichts verraten?«
»Weil ich bis zum letzten Moment selbst nicht sicher war, ob ich es wirklich durchziehe.«
»Da hast du ja echt lange durchgehalten. Auf so einen Termin muss man ja ewig warten, hab ich gehört.« David pustete sich eine Strähne aus der Stirn. Sein Haarschnitt war noch immer eine zottelige Katastrophe, aber das würde wohl auch für immer so bleiben. Es gehörte einfach zu ihm.
»Theoretisch schon. Aber ich habe den Entschluss erst heute Morgen gefasst.«
»Und bist gleich drangekommen?«, fragte David erstaunt. »Wie ist das möglich?«
»Sagen wir, ich habe die Tätowiererin überzeugen können.«
David wurde blass. »Du hast aber keine Gewalt angewendet, oder?«
»Danke für dein Vertrauen in meine Integrität«, ätzte Jon Askil und zog das Shirt wieder herunter. »Nein, ich musste keine Gewalt anwenden. Es hat gereicht, das Portemonnaie zu schütteln.«
»Okay, wie auch immer«, erwiderte David, klang aber durchaus erleichtert. »Ich bin froh, dass du’s gemacht hast. Jetzt hast du wirklich keinen Grund mehr, dich zu schämen, wenn du dich irgendwo ausziehen musst. Im Gegenteil – alle werden dein Tattoo bewundern.«
»Oh, ich habe nicht vor, oberkörperfrei irgendwo herumzulaufen und die Blicke auf mich zu ziehen. Ich hab das hier für mich getan ... für uns.«
David lächelte. »Ich bin stolz auf dich.« Er umarmte ihn und Jon Askil drückte ihn so fest an sich, wie es ihm das leicht brennende Gefühl seiner aufgeschürften Haut erlaubte. Noch immer fand er, dass sein Mann wie Kuchen roch. Süß, tröstlich, ein bisschen zum Anbeißen.
»Du redest schon wieder mit mir wie eine Mutter, die ihr Kind für seinen ersten Gang aufs Töpfchen lobt«, grollte er leise.
»Ja, ja, ist ja gut.« David machte sich von ihm los. »Du kennst mich doch. Ich bin so.«
Jetzt musste Jon Askil doch lächeln. »Ich weiß.«
Und dafür liebe ich dich so sehr, obwohl es mich manchmal nervt.
»Hat es sehr wehgetan?«, erkundigte sich David und bewegte sich in Richtung Backofen.
»Es ging. Ich kann Schmerzen ja gut ausschalten.«
»Und ... und die Erinnerungen?«, hakte er vorsichtig nach.
»Kamen überraschenderweise nicht. Es war ganz anders.«
David nickte und wirkte ein wenig traurig. »Ich hätte dir trotzdem gern beigestanden.«
»Durch manche Dinge muss ich allein durch.« Jon Askil setzte sich an den Küchentisch und fischte eine Zigarette aus dem Etui. Aber gerade, als er sie sich anzünden wollte, hielt David ihn davon ab.
»Warte. Ich hab Essen gekocht. Wenn du willst, kann ich es aufwärmen. Hast du Hunger?«
»Ehrlich gesagt, ja«, gestand Jon Askil und legte die Zigarette beiseite. »Es war ein langer Tag.« David mochte es sowieso nicht, wenn er in der Küche rauchte, aber zur Zeit konnte und wollte er darauf nur wenig Rücksicht nehmen.
»Ich hab Kartoffelauflauf gemacht.« David schaltete den Backofen an und nicht lange danach duftete es köstlich nach Kartoffeln, Zwiebeln und Käse.
Ein Druck baute sich in Jon Askils Brust auf; er drehte sich diskret zur Seite und hustete in seine Ellenbeuge.
»Du solltest damit wirklich mal zum Arzt gehen«, bemerkte David und holte Teller und Besteck für sie beide aus dem Schrank. »Jetzt muss es dir ja auch nicht mehr peinlich sein, wenn du dich zum Abhören freimachen musst.«
»Und was soll der Arzt mir sagen, was ich nicht schon weiß?«, versetzte Jon Askil. »Dass es noch eine Folge meiner Covid-Erkrankung ist und dass ich Geduld haben muss.«
»Er könnte dir Medikamente dafür geben.«
»Ich nehme schon genug Medikamente für meinen kaputten Kopf, ich brauche nicht noch welche für meine Lunge.«
»Vielleicht würde es ja auch schon reichen, wenn du endlich mit dem Rauchen aufhörst.«
Jon Askil seufzte. Auch nach fünf Jahren Ehe begleitete sie die Diskussion um seinen Zigarettenkonsum immer wieder. Er hatte mehrmals versucht, aufzuhören, es hatte nicht funktioniert und irgendwann hatte er beschlossen, keinen Gedanken mehr daran zu verschwenden. Die Zigaretten gehörten zu ihm wie der Absinth und seine Narben, so wie Davids gluckenhafte Besorgtheit eben zu diesem gehörte.
David servierte ihnen das Essen und sie nahmen es schweigend ein. Seine Kochkünste waren neben denen seiner Ziehmutter Maria aus dem King’s Head oftmalsdie einzigen, die Jon Askil Appetit zu machen vermochten.
»Bleibst du heute Nacht hier?«, fragte er.
Zu seiner Bestürzung schüttelte David den Kopf. »Nein. Ich denke, ich gehe nach Hause.«
»Im Ernst?«, fuhr Jon Askil auf. »Du wartest hier bis Mitternacht auf mich, um mir dann zu verkünden, dass du zum Schlafen nach Hause gehst? Außerdem ist hier dein Zuhause!«
»In meinem Haus aber auch. Und das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich wollte wissen, wo du warst, und dass du was isst.«
»Dann ist deine Neugier ja jetzt befriedigt«, erwiderte Jon Askil verbittert. »Eine Dose Chilibohnen hätte ich mir notfalls auch selbst warm machen können. Kein Grund, deine wertvolle Zeit an mich zu verschwenden.«
»Jetzt wirst du albern.« David verschränkte die Arme und in seinen grünen Augen funkelte Trotz.
»Werde ich nicht«, widersprach Jon Askil. »Wie lange soll das noch so weitergehen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Vielleicht habe ich meine Frage auch falsch gestellt«, mutmaßte er, »anders gefragt: Wie lange willst du dir noch von diesem Arschloch von Therapeuten vorschreiben lassen, dass du keine Zeit mit mir verbringen darfst?«
»Gott, Jon Askil.« David lehnte sich gegen den Küchenschrank und starrte an die Decke. »Nicht schon wieder. Er ist kein Arschloch und er schreibt mir nicht vor, dass ich keine Zeit mit dir verbringen darf. Er versucht, mir zu helfen, dieses beschissene Trauma zu überwinden!«
»Indem er unsere Ehe zerstört?«
»Das tut er nicht! Er hat mir lediglich zu etwas Distanz geraten, um mich auf mich selbst konzentrieren zu können. Genau deshalb!«
»Genau weshalb?«
»Weil du dich mir und der Therapie in den Weg stellst und damit meiner Heilung!«
Jon Askil schnaubte. »Das tue ich keineswegs. Ich weiß nur ein, zwei Dinge mehr über die Sachen, die wir erlebt haben, als dieser Shrink. Und über Traumata.«
»Sorry, aber ich will nicht ...« David beendete den Satz nicht und sah beschämt zu Boden.
Jon Askil wusste genau, was er hatte sagen wollen. »Du willst nicht so enden, wie ich, ich weiß.« Er lachte freudlos. »Aber dazu, dass ich bin, wie ich bin, haben auch sogenannte Therapeuten ihren guten Teil beigetragen. Ich traue ihnen nicht und du weißt das. Und die Art, wie dieser Mann einen Keil zwischen uns treibt, bestätigt mich nur darin.«
»Nicht er treibt einen Keil zwischen uns«, widersprach David. »Du tust es. Ich brauche doch nur etwas Abstand, etwas Zeit für mich, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Du hast doch vorhin selbst gesagt, dass man durch manche Dinge allein durch muss.«
»Dann gute Nacht, David.« Jon Askil schluckte an etwas Bitterem.
»Ja ... gute Nacht.« David ging in den Flur und zog sich an. Jon Askil beobachtete ihn von der Küchentür. »Ich komme morgen Mittag und bringe Essen mit.«
»Wie du meinst.«
Wortlos ging David hinaus und schloss die Tür. Eine Weile stand Jon Askil noch in der Küchentür und starrte auf den leeren Fleck, an dem sein Mann gerade noch gestanden hatte.
Die letzten beiden Jahre waren zur Belastungsprobe für sie beide geworden. Zunächst hatte es den Anschein gehabt, als hätte David die schrecklichen Erlebnisse, die sie vor fünf Jahren gemeinsam durchgestanden hatten, seine Entführung, in seiner humorvollen und etwas naiven Art gut verwinden können. Aber diese Annahme war falsch gewesen. Etwas in ihm war zerbrochen. Und das wurde offenbar, als die Corona-Pandemie über sie gekommen war und die heile Welt, die sie sich aufgebaut hatten, erschüttert hatte.
Plötzlich war David von Flashbacks, Albträumen und Angstattacken heimgesucht worden – Gefühle, die Jon Askil nur allzu gut kannte und die viel zu lange sein Leben bestimmt hatten. Schließlich hatte sich Davids demenzkranke Mutter mit Covid-19 infiziert und war gestorben. An diesem Punkt hatte sich David entschlossen, eine Psychotherapie zu machen, um dem Kreislauf aus Angst und Trauer zu entkommen.
Was alle anderen für eine vernünftige Entscheidung hielten, betrachtete Jon Askil mit Skepsis, denn seine Erfahrungen mit Psychiatern und Psychotherapeuten hatten sein Vertrauen in diese zutiefst erschüttert. Oft war er sich sicher, dass es ihnen nicht darum ging, Menschen zu heilen, sondern sie von sich abhängig zu halten, um davon zu profitieren – sei es Macht oder Geld oder beides gleichzeitig. Und dass David einem solchen Therapeuten so sehr vertraute, dass er sogar auf Distanz zu ihm ging, seinem eigenen Ehemann, der all diese Dinge mit ihm erlebt hatte, machte Jon Askil rasend.
Gleichzeitig fühlte er sich schuldig. Hätten sie sich nie näher kennengelernt, hätte er sich nie auf den Kontakt mit David eingelassen, wären sie keine Freunde, später Liebhaber und schließlich Ehemänner geworden. Und all diese schrecklichen Dinge wären ihm nie passiert. Er wollte ihm ja helfen. Er wollte ihm beistehen, aber eben auf seine Weise. Und vor allem ließ er sich dabei nicht von einem elenden Psychopfuscher in die Suppe spucken.
Wo ich ihn nicht hab, ist mir das Grab; die ganze Welt ist mir vergällt.
Ungeduldig blickte Jon Askil auf die Uhr, während er vor dem weiß gestrichenen Reihenhaus wartete. Es war zehn vor neun am Morgen. Bald müsste das Arschloch auftauchen, denn um neun Uhr öffnete seine psychotherapeutische Praxis.
Schließlich fuhr ein dunkler Vauxhall vor und ein Mann mit einer großen Tasche stieg aus. Sein dunkles Haar war schütter und er trug eine schmale Brille.
»Guten Morgen.« Jon Askil trat hinter dem Gebüsch hervor, in dem er sich verborgen hatte.
Erschrocken fuhr der Mann zusammen. »Guten Morgen ... wie kann ich Ihnen helfen?«
»Das ist eine wirklich gute Frage«, sinnierte Jon Askil, »wie können Sie mir helfen? Ich hätte da einen ganz konkreten Vorschlag.« Er senkte seine Stimme und trat einen Schritt näher. »Sie hören auf, meine Ehe zu zerstören, wie wäre das?«
»Entschuldigung?« Der Therapeut wich einen Schritt zurück. »Wer sind Sie?«
»Rowbotham ist mein Name«, erwiderte Jon Askil nonchalant.
»Ah.« In den Augen seines Gegenübers blitzte Erkenntnis auf. »Und wie kommen Sie auf die Idee, ich wolle Ihre Ehe zerstören?«
»Weil Sie meinen Mann angewiesen haben, Distanz zu mir aufzubauen«, erklärte Jon Askil. »Und das alles, ohne mich und meine Sicht der Dinge zu kennen.«
»Nun, wenn ich mich recht entsinne, hatte ich Sie zu einem Gespräch eingeladen – und Sie haben abgelehnt.«
»Weil ich Ihnen und Ihresgleichen nicht traue«, versetzte Jon Askil. »Jedes Wort wird einem im Mund verdreht und gegen einen verwendet. Darauf lasse ich mich im ganzen Leben nicht mehr ein.«
»Sehen Sie? Und das ist das Problem – sie torpedieren die Therapie Ihres Mannes. Sie arbeiten dagegen an, weil Sie schlechte Erfahrungen gemacht haben.«
»Die sich gerade einmal mehr bestätigen.«
»Ihr Mann macht Fortschritte in seiner Therapie, weil er sich – Pardon – Ihrer Sabotage entzieht, Mr Rowbotham. Vielleicht sollten Sie darüber einmal nachdenken und Ihre Einstellung zum Thema Psychotherapie noch einmal überdenken – auch in Bezug auf sich selbst.«
Jon Askil lachte auf. »Sie sind so ziemlich der Letzte, dem ich mich anvertrauen würde. Aber um es noch einmal klarzustellen: Sie halten sich ab sofort aus meiner Ehe heraus und werden aufhören, meinen Mann dazu zu bequatschen, nicht mehr mit mir zusammenzuwohnen.«
»Sonst?«
»Sonst werden Sie es bereuen.«
Der Therapeut hob eine Braue. »Drohen Sie mir etwa gerade?«
»Nicht doch.« Jon Askil zwang sich ein Lächeln ab, das vermutlich eher einer Grimasse ähnelte. »Ich teile Ihnen lediglich mit, dass kein Handeln ohne Konsequenz bleibt. Denken Sie darüber nach, Mr Thanish.«
Er wandte sich ab und ging, einigermaßen zufrieden mit sich selbst. Ob seine Drohung – natürlich war es eine – Wirkung zeigte, würde sich noch herausstellen, aber er war guter Dinge, schließlich war er sich der Tatsache, dass seine Präsenz auf viele Leute einschüchternd wirkte, durchaus bewusst.
Ehe er ein Taxi rief, um zurück nach Hause zu fahren, gönnte er sich noch einen schwarzen Kaffee in der kleinen Bäckerei nebenan.
David war außer sich. Er fühlte sich gedemütigt. Blamiert. Und irgendwie auch verraten. So schnell wie heute war er noch nie das Dorf hinauf zu Jon Askils Haus gefahren. Er wusste mit dem ganzen Zorn in sich gar nicht wohin.
Er fand seinen Mann im Wohnzimmer vor, seelenruhig ein Buch lesend. »Jon Askil!«
Der blickte auf. »Dir auch einen guten Morgen, David. Was brüllst du mich so an?«
»Du weißt genau, warum!«
Jon Askil klappte das Buch zu. »Nein. Und ich werde mich jetzt auch nicht auf Ratespielchen einlassen. Also?«
»Hast du heute Morgen meinen Therapeuten bedroht?«
»Nein.«
»Nein?«, wiederholte David verwirrt.
»Nein, ich habe deinen Therapeuten heute Morgen nicht bedroht.«
»Und warum sagt er mir so was dann?«
Jon Askil hob die Schultern. »Weil er ein Arschloch ist?«
»Du willst mir also sagen, dass du heute Morgen nicht bei ihm warst?« Was war hier los?
»Oh, das habe ich nicht gesagt. Bei ihm war ich heute Morgen durchaus, aber bedroht habe ich ihn nicht.«
»Jon Askil!« David raufte sich die Haare. »Was wolltest du von ihm? Er war ziemlich aufgebracht und hat mir erzählt, dass du bei ihm warst und ihm gedroht hast für den Fall, dass er nicht aufhört, sich in unsere Ehe einzumischen!«
»Und was soll ich ihm angedroht haben?«
»Das hat er nicht gesagt«, gab David verunsichert zu. Verarschten ihn hier gerade alle?
»Siehst du. Ich habe ihm lediglich angeraten, aufzuhören, sich in unsere Beziehung einzumischen.«
»Angeraten«, wiederholte David bitter, denn er wusste genau, was das zu bedeuten hatte. »Und das alles über meinen Kopf hinweg. Ich bin ... echt enttäuscht.«
»Dann sind wir ja schon zwei.«
David ließ die Schultern hängen. »Warum kannst du es nicht akzeptieren? Willst du denn nicht, dass ich heile?«
»David ...« Jon Askil schüttelte den Kopf. »Ich will nichts mehr als das. Nichts auf dieser Welt. Aber diese Therapie wird dich nicht heilen. Weil sie unser Fundament abträgt. Wir haben diese Sache zusammen erlebt, jetzt sollten wir auch die Nachwehen zusammen durchstehen. Niemand außer wir beide wird doch je verstehen, was wirklich war. Du warst damals für mich da. Wolltest mich retten, mich heilen, und niemandem ist das je so sehr gelungen. Jetzt lass mich doch das Gleiche für dich tun – ohne, dass uns einer dazwischenfunkt.«
Aber du bist doch immer noch zu kaputt, um mich zu heilen. Ich muss doch gesund werden, damit wir dich weiter zusammenpuzzeln können.
»Wenn du mir helfen willst, bedroh nicht meinen Therapeuten«, bat er resigniert. »Lass mich meinen Weg finden. Nur, weil etwas für dich nicht funktioniert hat, heißt das nicht, dass es bei mir genauso sein muss. Kannst du das nicht respektieren?«
»Ich habe Angst«, gestand Jon Askil schlicht. »Angst davor, was aus uns wird, wenn du diese Therapie weitermachst. Dass dir der Therapeut weiter einredet, dass ich nicht gut für dich bin.«
»Vertraust du mir so wenig?«
»Darum geht es nicht. Ich vertraue anderen nicht.«
David senkte den Blick. »Jon Askil, diese Sache von heute früh ... ich muss das erst mal sacken lassen. Ich werde für eine Weile nicht mehr herkommen.«
»Auch zum Essen nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Auch dafür nicht, nein. Ich muss erst mal klarer im Kopf werden. Nachdenken ...«
»Worüber?«, erwiderte Jon Askil hörbar verbittert. »Ob du mich verlässt?«
»Ich will dich nicht verlassen!«, widersprach David. »Ich liebe dich. Aber du machst es mir gerade verdammt schwer.« Er öffnete seinen Rucksack und holte etwas heraus. Etwas, das ihm viel bedeutete.
»Warum hast du Lille mit?«, fragte Jon Askil mit kehliger Stimme, als er seine alte Puppe erblickte, den einzigen Tröster seiner Kindheit.
»Ich will sie erst mal hierlassen.«
»Nein!«, begehrte sein Mann auf. »Ich habe sie dir geschenkt. Sie muss dort sein, wo du bist!«
»Ich weiß. Sie ist das wichtigste Geschenk, das du mir je gemacht hast und sie bedeutet mir sehr viel. Aber gerade deshalb ... gerade deshalb fühlt es sich nicht richtig an, sie im Moment bei mir zu haben.«
Als ob ich sie nicht verdiene.
»Ich ...« Jon Askil stockte.
»Sieh sie als Faustpfand. Als Versprechen, dass ich zurückkomme, wenn ich so weit bin.«
Sein Mann nickte. In seinen Augen standen Tränen, aber die deutliche Bewegung seines Kehlkopfes an seinem vernarbten Hals verriet, dass er sie hinunterschluckte.
Es fiel David schwer, nicht selbst in Tränen auszubrechen. Der Druck in seinem Inneren war kaum zu ertragen. Er wollte das ja nicht. Er wollte keine Zeit ohne Jon Askil verbringen, ihn nicht verlassen, aber welche Wahl hatte er denn, um zu sich selbst zurückfinden zu können? Um mit professioneller Hilfe aufarbeiten zu können, dass man ihn entführt, festgehalten und ihm den Finger amputiert hatte, um seinen Mann in eine Falle zu locken und für die Befreiung des Satans zu opfern? Und dann noch den Tod seiner demenzkranken Mutter, die ihn zuletzt kaum noch erkannt hatte und die er aufgrund der Schutzmaßnahmen nicht einmal an ihrem Sterbebett hatte besuchen dürfen?