Wenn die Berge singen - Jona Dreyer - E-Book

Wenn die Berge singen E-Book

Jona Dreyer

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Beschreibung

»Vielleicht ist dieses kleine Dorf hier am Polarkreis wirklich meine Rettung.« Oscar Berg ist auf der Flucht – vor seinem alten Leben. Kopflos macht er sich auf den Weg nach Norden, bis eine Autopanne ihn zum Anhalten zwingt. Verloren und verzweifelt steht er in der Kälte Schwedisch Lapplands, doch dann naht unerwartet Hilfe in Form eines freundlichen Einheimischen. Ingmar Lindström sieht sich als Polizist in der Pflicht, sich des seltsamen, gehetzt wirkenden Fremden anzunehmen, den er am Straßenrand aufgelesen hat. Er bringt ihn in sein kleines Dorf Bergetssånger, wo der verängstigte junge Mann sich langsam öffnet und Gefühle in ihm weckt, die er nie für möglich gehalten hätte. Aber Oscar fühlt sich von jemandem verfolgt, und bald muss Ingmar erkennen, dass die Gefahr, die ihnen droht, durchaus real werden und ihre friedliche Idylle zutiefst erschüttern könnte … "Wenn die Berge singen" ist der 1. Roman der "Bergets Sånger"-Reihe. Jede Geschichte ist in sich abgeschlossen und hat jeweils einen anderen Bewohner des Ortes als Hauptfigur.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Wenn die Berge singen

Gay Romance

© Urheberrecht 2024 Jona Dreyer

 

Impressum:

Tschök & Tschök GbR

Alexander-Lincke-Straße 2c

08412 Werdau

 

Text: Jona Dreyer

Coverdesign: Jona Dreyer

Coverbilder: depositphotos.com

Lektorat/Korrektorat: Kelly Krause & Shannon O’Neall

 

Kurzbeschreibung:

 

»Vielleicht ist dieses kleine Dorf hier am Polarkreis wirklich meine Rettung.«

Oscar Berg ist auf der Flucht – vor seinem alten Leben. Kopflos macht er sich auf den Weg nach Norden, bis eine Autopanne ihn zum Anhalten zwingt. Verloren und verzweifelt steht er in der Kälte Schwedisch Lapplands, doch dann naht unerwartet Hilfe in Form eines freundlichen Einheimischen.

Ingmar Lindström sieht sich als Polizist in der Pflicht, sich des seltsamen, gehetzt wirkenden Fremden anzunehmen, den er am Straßenrand aufgelesen hat. Er bringt ihn in sein kleines Dorf Bergetssånger, wo der verängstigte junge Mann sich langsam öffnet und Gefühle in ihm weckt, die er nie für möglich gehalten hätte.

Aber Oscar fühlt sich von jemandem verfolgt, und bald muss Ingmar erkennen, dass die Gefahr, die ihnen droht, durchaus real werden und ihre friedliche Idylle zutiefst erschüttern könnte …

Über die Autorin

»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«

Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.

Vorwort

Schweden – ein Sehnsuchtsort für viele von uns, und nicht nur, weil es dort die besten Möbel und Zimtschnecken gibt.

Mit Schweden verbinden wir rot bemalte Häuser, Seen, lange Winter, Midsommar, traumhafte Natur und Geschichten von abenteuerlustigen Kindern.

Über Kinder schreibe ich in meiner neuen Reihe »Bergets Sånger« (zu Deutsch so viel wie »Die Lieder des Berges«) zwar nicht, aber über durchaus abenteuerlustige Männer, die in einem kleinen Dorf im Norden Schwedens ihr Glück finden. Den Anfang machen, in diesem ersten Band, Oscar und Ingmar.

Wir werden im Laufe der Reihe den langen, dunklen Winter mit seinen herrlichen Polarlichtern erleben, aber auch den erwachenden Frühling und einen Sommer, in dem die Sonne nie untergeht.

Ich wünsche ganz viel Freude beim Lesen!

Prolog

Es musste ja schiefgehen. Ja, es hätte doch an ein Wunder gegrenzt, wenn sein Plan aufgegangen wäre. Aber so viel Glück hatte Oscar nicht.

So viel Glück habe ich niemals.

Dabei wollte er doch nur anhalten, um zu pinkeln. Kurz am Straßenrand stehen bleiben und sich erleichtern. Jetzt sprang das Auto nicht mehr an. Wieso, wusste Oscar nicht, dazu kannte er sich mit Autos zu wenig aus. Vielleicht, weil es so kalt war. Weil ihm eisiger Wind und Schneeflocken ins Gesicht peitschten, obwohl es erst Ende Oktober war.

Ich hätte daran denken müssen, dass der Winter hier oben deutlich zeitiger beginnt.

Er wusste nicht einmal, wo genau er sich überhaupt befand. Wie lange und wie weit er schon gefahren war. Ein- oder zweimal hatte er angehalten, um zu tanken, aber nie wirklich darauf geachtet, an welchem Ort er war. Es gab ohnehin nur eine Richtung: nordwärts, immer weiter, Richtung Ende der Welt. Und gerade kam es ihm so vor, als hätte er es tatsächlich erreicht. Keine Menschenseele war zu sehen, keine anderen Autos, nichts. Nur die schmale Straße und der Schnee, der in eisigen Böen darüberwehte und ihre Konturen immer weiter verschwinden ließ.

»Was mache ich denn jetzt?«, fragte er sich selbst.

Einen Pannendienst rufen. Das wäre das einzig Vernünftige. Einen Pannendienst rufen und hoffen, dass der kam, bevor er eingeholt wurde. Bevor sich der Abstand zwischen ihm und seinem Verfolger weiter verkleinerte, falls der ihm bereits auf der Spur war.

Aber ich kann doch nicht ewig nur fahren. Fahren und fahren, bis das Polarmeer mich zum Umkehren zwingt. Ich darf nicht umkehren. Niemals.

Mit zitternden Händen holte er sein Handy aus der Jackentasche. Für einen Moment setzte sein Gehirn aus, war wie eingefroren, und er wusste nicht mehr, was er eigentlich hatte tun wollen.

Den Pannendienst rufen. Du wolltest einen Pannendienst rufen.

Dazu musste er aber überhaupt erst einmal wissen, wo er war. Also Maps aufrufen. Maps aufrufen und–

Das Geräusch eines tief brummenden Motors kam näher. Das Licht von Scheinwerfern blendete in das Schneegestöber.

O nein. O nein, es ist zu spät. Er hat mich gefunden. Er hat mich eingeholt. Ich kann einfach nichts richtig machen. Bei allen Plänen habe ich zu wenig über die Zeit danach nachgedacht.

Was war eine Flucht wert, wenn man sie nicht bis zum Ende gedacht hatte? Was eine offene Tür, wenn man nicht wusste, was man tun sollte, sobald man sie hinter sich schloss?

Seine Hände verloren jede Kraft, ließen das Telefon in den Schnee fallen. Er hob es nicht auf, weil er vergessen hatte, wie man sich bewegte. Nur sein Herz wusste es noch, und es schlug umso heftiger.

Das war’s also. Alles war umsonst. All das Planen, all das Hoffen. Wie dumm von mir, es überhaupt zu versuchen.

Das Auto wurde langsamer. Immer langsamer. Direkt neben ihm hielt es an.

1

Vintervinden

Ingmar konnte nicht anders, als zu lächeln. Die Wettervorhersage hatte richtig gelegen: Es schneite. Es schneite heftig. Der Winter zog ein. Und damit Ingmars liebste Jahreszeit.

Vorhin war er im dreißig Kilometer entfernten Kiruna gewesen, um seinen Wocheneinkauf zu erledigen; nun war er auf dem Heimweg. Die Dunkelheit brach bereits herein und versprach einen gemütlichen Abend bei Feuerknistern.

Ingmar würde nie die Menschen verstehen, die den Winter nicht mochten. Gewiss, er brachte mehr Arbeit mit sich, vor allem, wenn man in einem altmodischen Haus wohnte wie er. Da gab es eine Menge Holz zu hacken und das Feuer im Ofen musste den ganzen Tag am Brennen gehalten werden, sonst kühlte das Haus rasch aus. Nicht selten kam er von der Arbeit in eisige Zimmer, weil das Feuer zu zeitig ausgegangen war. Aber er mochte auch das Gefühl, wenn sich langsam alles aufwärmte, wenn die Gemütlichkeit einkehrte und er einfach entspannen konnte.

Konzentriert hielt er seinen Blick auf die Straße gerichtet, weil der Schneesturm die Sicht erschwerte und weil er immer damit rechnen musste, dass Rentiere oder ein Elch seinen Weg kreuzten. Doch was er plötzlich keine hundert Meter vor sich am Straßenrand entdeckte, war kein Tier, sondern ein offenbar liegen gebliebenes Auto. Und eine schmale Gestalt, die wie angewurzelt danebenstand.

Misstrauisch drosselte Ingmar sein Tempo. Das konnte ein Trick sein; andererseits wäre dies hier wohl ein denkbar unpassender Ort, um jemanden zu überfallen – weil einfach so gut wie niemand vorbeikam. Wahrscheinlicher war, dass diese Person wirklich Hilfe brauchte. Und notfalls konnte Ingmar sie überwältigen. Er war Polizist. Er hatte eine Waffe im Handschuhfach.

Direkt auf Höhe der Person neben dem Auto hielt er an und nahm sie durch das Beifahrerfenster in Augenschein. Es handelte sich um einen Mann, mittelgroß, dünn. In seiner Stirn, unter seiner Mütze, ringelte sich blondes Haar und wurde vom Wind zerzaust. Er wirkte ängstlich und erschrocken, das zeigten seine weit aufgerissenen Augen. Dass es sich um einen Trickverbrecher handelte, war eher unwahrscheinlich. Ingmar stellte den Motor aus, steckte vorsichtshalber seine 9mm Sig-Sauer ein und stieg aus.

»Hej!«, sprach er den Kerl an. »Panne?«

Der junge Mann schien sich ein wenig zu entspannen.

»M-mein ... mein Auto springt nicht mehr an und ich weiß nicht, wieso.«

»Ist es mitten in der Fahrt ausgegangen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe angehalten, um zu pinkeln ... und dummerweise den Motor ausgemacht. Kennst du vielleicht die Nummer eines Pannendienstes hier in der Nähe, der mir helfen könnte?«

Ingmar winkte ab. »Da kommt jetzt hier keiner. Lass mich mal schauen, wahrscheinlich brauchst du nur Starthilfe. Kann ich dir geben.«

Dem anderen gelang ein zitterndes Lächeln. »Das wäre echt nett.«

Ingmar stieg wieder in sein Auto und parkte es so, dass es dem Wagen des Fremden direkt gegenüberstand. Dann stieg er wieder aus und holte die Starthilfekabel aus seinem Kofferraum.

»Das haben wir gleich.«

Er öffnete seine Motorhaube und die des anderen Autos, koppelte die Kabel mit den Batterien und ließ seinen Motor an.

»Jetzt versuch du, deinen Wagen zu starten!«, rief er dem Fremden durch die geöffnete Seitenscheibe zu.

Der junge Mann setzte sich in seinen in die Jahre gekommenen Renault und versuchte, den Motor zu starten. Nichts geschah und er hob verzweifelt die Hände.

»Versuch’s noch mal!«

Wieder nichts. Noch ein Versuch. Nein.

»Liegt wohl nicht an der Batterie.« Ingmar stellte seinen Motor wieder aus, verließ sein Auto und entfernte die Kabel. »Vielleicht sind es die Zündkerzen.«

»Was mache ich denn jetzt?«, fragte der Kerl verzweifelt.

Was weiß denn ich?

»Wo bin ich überhaupt?«, setzte er nach. »Ich weiß das nicht mal. Und ich hab noch Sommerreifen.«

»Du liebe Güte.« Ingmar runzelte die Stirn. »Du fährst mit Sommerreifen Ende Oktober in den schwedischen Norden? Das ist ... mutig.«

»Du meinst dumm.«

»Das wollte ich so nicht formulieren. Wo kommst du denn her?«

Der andere sah Ingmar zunächst prüfend an, ehe er antwortete. »Aus Göteborg.«

»Oha!«

»Oha?«

»Das ist verdammt weit weg. Du bist hier in der Nähe von Kiruna. In etwa 1600km von Göteborg entfernt.«

Im Gesicht des jungen Mannes machte sich so etwas wie Erstaunen breit. »Ich bin so weit von dort weg?«, sagte er mehr zu sich selbst.

Irgendetwas an ihm kam Ingmar ziemlich seltsam vor. »Warum fährst du denn irgendwohin, wenn du gar nicht weißt, wo du dann bist?«

»Ich – ich hatte kein direktes Ziel«, gab er zurück und wich einen winzigen Schritt nach hinten aus, was Ingmars Misstrauen nur noch verstärkte. »Bin einfach los.«

»Wann?«

Der andere überlegte kurz. »Vor zwei Tagen.«

Ingmar beschloss, sich dieser Sache in der einen oder anderen Form anzunehmen. Der Mann kam ihm irgendwie verwirrt vor. Ihn mit seinem kaputten Auto hier draußen stehenlassen konnte er jedenfalls nicht. »Wie ist dein Name?«

»Oscar«, kam nach kurzem Zögern zurück.

»Oscar.« Er streckte ihm die Hand hin. »Ich bin Ingmar Lindström. Und ich würde sagen, wir schleppen dein Auto auf meinen Hof ab. Morgen kann ich dann bei Tageslicht in Ruhe schauen, wo das Problem liegt und es gegebenenfalls reparieren.« Und bis dahin vielleicht auch herausfinden, was du im Schilde führst.

»Ich weiß nicht«, kam zögerlich zurück. »Kann-kannst du das denn? So was reparieren?«

»Hier oben muss man so was können«, versetzte Ingmar wider Willen amüsiert. »Da gibt es nicht an jeder Ecke eine Werkstatt. Und bis der Pannendienst kommt, ist man erfroren.« Er öffnete erneut den Kofferraum und holte das Abschleppseil heraus. »Du siehst auch schon halb erfroren aus.«

»Weißt du, wo ich übernachten könnte?«, erkundigte sich Oscar zögerlich. »Ich hab Bargeld dabei.«

»Du meinst eine Pension oder so was? Da müsstest du zurück nach Kiruna. Von dort komme ich gerade. Bis zu meinem Haus sind es nur noch vier Kilometer. Ich biete dir meine Couch an. Die ist bequem.«

Oscar warf einen seltsamen Blick zurück auf die Straße und blinzelte gegen den Schnee. »Okay«, sagte er schließlich. Es schien ihn Überwindung zu kosten.

Ingmar konnte das durchaus verstehen, schließlich waren sie Fremde. Und besonders glücklich darüber, sich einen Fremden ins Haus zu holen, war er auch nicht. Aber wie er bereits festgestellt hatte, war irgendetwas an dieser Situation, irgendetwas an Oscar seltsam. Und er gedachte, herauszufinden, was es damit auf sich hatte. Hier oben passierten wirklich selten aufregende Dinge. Vielleicht änderte sich das ja heute.

»Steig schon mal ein«, forderte er Oscar auf. »Ich befestige das Abschleppseil.«

Angestrengt machte er sich an die Arbeit. Es wurde Zeit, von hier wegzukommen, denn das Wetter wurde immer unwirtlicher und die Straße verwehte jede Minute etwas mehr. Die Dunkelheit, nur unterbrochen vom Scheinwerferlicht seines Jeep Compass, war auch nicht eben hilfreich. Als endlich alles befestigt war, atmete er erleichtert auf, gab Oscar ein Handzeichen und setzte sich wieder in seinen Wagen.

»Auf nach Hause«, sagte er zu sich und stellte den Motor an. »Ich glaube, das wird noch ein spannender Abend.«

2

Räddningen

»Willkommen in Bergetssånger«, verkündete Ingmar, als er Oscar über die Türschwelle in sein kleines, rot gestrichenes Holzhaus schob. »Wir haben sagenhafte einundvierzig Einwohner. Nein, Halt – es sind zweiundvierzig. Kari und Sven Ahlgren haben vor einer Woche ein Baby bekommen.«

Im Windfang zogen sie ihre Schuhe aus. Ingmar schob Oscar weiter ins Wohnzimmer, einen kleinen, gemütlichen Raum mit einer altmodischen, gemusterten Couch und Schränken aus Fichtenholz. Die Dielen unter den bunten, gewebten Läufern knarrten bei jedem Schritt, den Oscar machte. Der Raum war kalt. Natürlich deutlich wärmer als draußen, aber die erhoffte, einhüllende Gemütlichkeit, die seine Wangen rot färbte, blieb aus.

»Verdammt, das Feuer ist ausgegangen«, fluchte Ingmar, als hätte er seine Gedanken gelesen. »Aber keine Panik. Ich heize ein, gleich wird es warm. Und währenddessen trinken wir einen schönen, heißen Kaffee.«

»Das klingt sehr gut.«

Ingmar ging hinüber in die Küche, wo sich vermutlich auch der zentrale Heizofen befand, und ließ Oscar allein im Wohnzimmer zurück.

Ich bin mit einem fremden Mann in sein Haus gegangen. In sein Haus in einem abgelegenen Dorf.

Dabei hatte er sich doch fest vorgenommen, möglichst niemanden um Hilfe zu bitten. Und wenn, dann nur Frauen. Am besten Frauen mit Kindern. Von denen ging die geringste Gefahr aus.

Andererseits sind es nie fremde Menschen gewesen, die mir Böses getan haben. Am gefährlichsten sind doch die, die man zu kennen glaubt.

Er versuchte, die aufkeimende Panik mit rationalen Gedanken niederzukämpfen. Wenn dieser Ingmar Böses im Sinn gehabt hätte, dann hätte er ihm wohl keine Starthilfe gegeben. Es hätte schließlich funktionieren und Oscar einfach davonfahren können. Nein, er war schlicht und ergreifend hilfsbereit. Ganz sicher. Und welche Wahl hatte Oscar denn auch gehabt? Dass eine hilfsbereite Frau mit Kind vorbeigekommen wäre und sein Auto abgeschleppt hätte, war wohl eher unwahrscheinlich.

Der Duft von Kaffee zog durch das Haus, karamellig und beruhigend. Kaffeeduft erinnerte ihn immer an seine Mormor, an ihre Stube, in der die Dielen genauso geknarrt hatten wie hier, und ihr köstliches Gebäck.

»Milch und Zucker?«, rief Ingmar aus der Küche.

»Ja ... gerne. Viel Milch und zwei Stück Zucker, bitte.«

Kurz darauf kehrte sein mutmaßlicher Retter mit zwei dampfenden Tassen zurück. Seine Jacke hatte er inzwischen abgelegt; Oscar trug seine noch.

»Es wird gleich warm werden. Ich habe noch Hagebuttensuppe und Zimtbrötchen da, für nachher zum Essen.«

»Oh, das klingt lecker. Aber mach dir meinetwegen nicht so viele Umstände.«

»Das macht keine Umstände. Ich muss mir ja so oder so etwas zu essen machen, eine Person mehr macht den Kohl nicht fett.«

»Danke.« Oscar nahm seine Kaffeetasse entgegen und trank vorsichtig einen Schluck. Ingmar hatte recht, es wurde warm. Zögerlich zog Oscar seine Jacke aus.

»Du bist also einfach Richtung Norden losgefahren?«, begann Ingmar unvermittelt. Er klang etwas misstrauisch.

»Ja.«

»Warum?«

Oscar sah ihn an, während er nach einer Antwort suchte. Ingmar war ein hochgewachsener, drahtig-sportlicher Kerl, der kurze Vollbart fast schwarz, das bis auf wenige Millimeter geschorene Haar am Oberkopf sehr licht. In seinen grünlich-braunen Augen lag Wärme, aber das mochte täuschen. Oscar traute seiner eigenen Wahrnehmung schon lange nicht mehr.

»Wolltest du einfach mal dem Großstadttrubel entkommen?«, hakte Ingmar nach und lieferte ihm damit die passende Antwort.

»Ja, das kann man wohl so sagen. Einfach weg ... weg von allem.«

»Kann ich durchaus verstehen. Du bist allerdings mitten in den Winter gefahren.« Ingmar lachte leise. Irgendwie war dieses Lachen ansteckend.

»Ich hatte leider keine Zeit, noch Winterreifen aufzuziehen.«

»Die Zeit muss man sich unbedingt nehmen«, erwiderte Ingmar tadelnd. »Wir müssen dir welche besorgen. Egal, was nun mit dem Auto ist – so kannst du keinesfalls weiterfahren.«

Da hat er wohl recht.

»Wie ist es so, hier oben zu leben?«, erkundigte sich Oscar, weil das die Frage war, die ihn eigentlich beschäftigte.

»Extrem«, gab Ingmar nüchtern zur Antwort. »Zwanzig Tage im Jahr geht die Sonne gar nicht auf, fünfzig Tage lang geht sie im Sommer nicht unter. Die Temperaturen fallen im Winter gern unter die minus dreißig Grad. Zum Großeinkauf muss ich dreißig Kilometer fahren, zum Arzt und in die Apotheke auch. Im Sommer muss ich unzählige Kubikmeter Holz für den Winter zum Heizen vorbereiten, im Winter mich oft morgens erst mal aus dem Haus schaufeln. Der Alltag hier will gut durchgeplant sein. Aber versteh mich nicht falsch: Ich würde nirgendwo anders leben wollen. Ich mag die Abgeschiedenheit. Die Polarlichter, die wir hier im Winter fast täglich sehen. Die raue Natur und ihre Tierwelt. Die Kultur der Sámi in der Umgebung. So etwas bekomme ich in einer Großstadt im Süden nicht.«

Es war vor allem dieses eine Wort, das bei Oscar hängen blieb: Abgeschiedenheit. Einfach untertauchen, von der Bildfläche verschwinden, und ein unentdecktes Leben führen.

»Was arbeitest du hier in der Abgeschiedenheit? Wenn ich fragen darf ...«

»Ich bin Polizist.«

Oscars Muskeln reagierten auf diese Offenbarung mit vollkommener Starre. »Polizist«, wiederholte er tonlos.

»Genau. Wir haben zwei Ortschaften weiter eine kleine Polizeistation und sind für die umliegenden Dörfer zuständig. Ich kann nicht behaupten, dass wir allzu viel zu tun hätten. Es geht eher mal um Hausfriedensbruch, oder darum, dabei zu helfen, ein entlaufenes Tier einzufangen. Das Schlimmste, was hier in den letzten Jahren passiert ist, war ein dreijähriges Mädchen, das aus ihrem Elternhaus gelaufen und verschwunden war. Wir fanden sie glücklicherweise nach einer Stunde, unterkühlt, aber ansonsten wohlauf.«

Dass Ingmar Polizist war, machte die Situation für Oscar nicht eben einfacher. Er hatte triftige Gründe, Polizisten kein großes Vertrauen zu schenken. Gründe, für die Ingmar zwar nichts konnte, aber das änderte für den Moment nichts.

»Ich mach dann mal die Suppe warm.« Entschlossen schlug sich Ingmar auf die Schenkel, stand auf und verschwand wieder in der Küche. Wahrscheinlich wollte er ihrem schleppenden Gespräch entkommen.

Es tat Oscar leid, ihn zu behelligen. Nutzlos in seinem Haus herumzusitzen und seine Zeit, seinen Kaffee und sein Essen zu stehlen. Aber Ingmar hatte es ihm ja angeboten.

»Ich kann auch im Auto schlafen«, schlug Oscar vor, als Ingmar mit einem Tablett mit zwei dampfenden Schüsseln und einem Teller mit Zimtbrötchen zurückkehrte.

»Du möchtest wohl gern erfrieren? Du bist ja ein lustiger Kerl.« Ingmar stellte das Tablett ab.

Ein köstlich süßer Duft stieg in Oscars Nase. Dieses alte Haus mit all seinen Gerüchen und Geräuschen strahlte eine gewisse Geborgenheit aus. Als ob hier nie etwas Schlimmes passieren könnte. Weil alles Schlimme gar nicht erst hierher fand.

»Ich möchte nicht erfrieren, aber auch nicht einfach deine Couch belegen.«

»Ich habe sie dir angeboten. Wenn ich du wäre, würde ich das Angebot annehmen. Heute Nacht soll es kalt und stürmisch bleiben. Guten Appetit!«

Oscar nahm einen Löffel von der dicken, rotbraunen Suppe, pustete und kostete davon. Ließ die weiche, cremige Textur auf seiner Zunge zergehen, genoss das süßlich-herbe Aroma der zu Mus zerkochten Hagebutten. Dann ein herzhafter Biss in ein Zimtbrötchen. Es war eine Wohltat.

Wann habe ich zuletzt gegessen?

Er überlegte.

Es musste irgendwann gestern Mittag gewesen sein. Und wann er zuletzt etwas getrunken hatte, fiel ihm überhaupt nicht ein. Geschlafen hatte er auch zu wenig. Er war einfach gefahren. Fahren, tanken, wieder einsteigen, weiter Gas geben in Richtung Norden. Jetzt saß er hier, in diesem stillen, warmen Haus mit den knarrenden Dielen und verspürte mit einem Mal eine lähmende Müdigkeit.

»Darf ich dein Bad benutzen?«, fragte er nach dem Essen. »Ich würde mich gern waschen.«

»Aber natürlich. Über den Flur, die erste Tür gleich neben dem Windfang.«

»Danke. Ich bin schon sehr müde ... stört es dich, wenn ich mich dann gleich hinlege?«

»Natürlich nicht. Ich verräume noch meine Einkäufe, dann gehe ich nach oben in mein Schlafzimmer und sehe ein wenig fern. Morgen früh, sobald es hell wird, schaue ich mir dein Auto an.«

»Danke für deine Hilfe«, erwiderte Oscar, suchte seinen Schlafanzug aus seiner Tasche und ging hinüber ins Badezimmer.

Für heute Nacht sah es erst einmal so aus, als sei er sicher. Als könnte er Schlaf nachholen. Aber ab morgen brauchte er einen Plan. Einen neuen Plan.

3

Nyfikenheten

Sobald Ingmar sicher sein konnte, dass Oscar im Badezimmer beschäftigt war, durchsuchte er dessen Rucksack nach Dokumenten. Er fand sein Portemonnaie in einem Seitenfach, darin Oscars Identitetskort und Führerschein.

Oscar Filip Berg, geboren am 22.06.1994.

Er notierte sich eilig Oscars Personennummer und steckte alles wieder zurück an seinen Platz. Diese Informationen würden ihm nachher nützlich sein. Zwar gehörte es sich nicht, in fremder Leute Sachen zu schnüffeln, aber er musste wissen, wen er sich hier ins Haus geholt hatte, denn irgendetwas stimmte mit diesem Oscar gewaltig nicht. Ingmar spürte es. Und er sah es an Oscars nervösen Blicken, seiner Schreckhaftigkeit, seiner angespannten Körperhaltung.

Während sich Oscar wusch, räumte Ingmar wie angekündigt seine Einkäufe weg und holte Kissen und Decken. Er war gerade fertig, als sein ungeplanter Gast, in einen dunkelblauen Schlafanzug gekleidet und nach Seife duftend, zurückkehrte. Er war ein hübscher, gepflegter Kerl; das blonde Haar wirkte weich, wenn auch länger nicht geschnitten, die Haut rein, und die blauen Augen waren von langen Wimpern umrandet.

»Kann ich dir noch irgendwie helfen?«, erkundigte er sich.

»Danke, ich bin so weit fertig. Wenn du Hunger oder Durst hast, darfst du dich in der Küche gern bedienen. Ich ziehe mich dann zurück. Oben die vorletzte Tür im Gang, falls was ist.«

»Okay. Vielen Dank fürs Retten ...« Oscar richtete den Blick auf seine Füße. »Ich hätte echt nicht gewusst, was ich sonst machen soll.«

»Kein Thema. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Und, wie gesagt, wenn was ist, klopf einfach an.«

Ingmar wandte sich ab und ging nach oben in sein Schlafzimmer. Er schloss die Tür hinter sich, setzte sich aufs Bett und atmete einmal tief durch. Was für ein seltsamer Abend, und so gar nicht, wie von ihm geplant.

Sei’s drum.

Er griff nach seinem Handy und wählte den Kontakt eines Kollegen von der Kriminalpolizei an.

»Hej, Ingmar«, begrüßte der ihn, »was gibt’s?«

»Hej, Hans. Kannst du jemanden für mich checken?«

»Ich hab schon Feierabend.«

»Hast du morgen früh Dienst?«

»Ja. Dann könnte ich es machen, wenn du mir einen guten Grund gibst.«

»Ich hab jemanden auf der Straße aufgelesen, der eine Panne hat, aber irgendwie kommt er mir seltsam vor. Ich habe den Eindruck, er ist auf der Flucht – möglicherweise aus einer Einrichtung ausgebrochen oder versucht, sich dem Zugriff er Justiz zu entziehen, etwas in der Art.«

»Na schön, das kann ich rechtfertigen. Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung.«

»Gut. Schreib mir dann einfach, was du rausgefunden hast, oder ruf an, wenn’s viel und kompliziert ist. Es handelt sich um Oscar Filip Berg, geboren am 22.06.1994. Ich gebe dir seine Personennummer durch.« Er sagte Hans die Nummer an.

»Alles klar. Sei auf der Hut, Ingmar. Wenn das wirklich ein fauler Apfel ist und du allein mit ihm im Haus bist ...«

»Ich bitte dich. Ich bin kein Kindergärtner, ich weiß mich schon zu verteidigen.«

»Klar. Dann erst mal eine gute Nacht. Ich melde mich.«

»Gute Nacht.«

Ingmar legte das Handy beiseite und dachte nach. Falls Oscar wirklich ein flüchtiger Krimineller oder psychisch Kranker war, mochte er die Gefahr wittern, die von Ingmar als Polizist ausging, und vielleicht schon in der Nacht verschwinden. Er beschloss, nachher noch einmal hinauszuschleichen und sich das Autokennzeichen zu notieren – für den Fall, dass es sich um ein gestohlenes Fahrzeug handelte.

Nicht sicher war er allerdings, ob er Vorkehrungen zur Verhinderung einer möglichen Flucht treffen sollte. Schließlich bestand immer noch die Möglichkeit, dass Oscar vollkommen harmlos war – und sich Ingmar damit der Freiheitsberaubung schuldig machen würde.

Er beschloss, Oscar nicht einzusperren, aber wachsam zu bleiben. Allein schon aus Selbstschutz. Denn er war zwar hilfsbereit, aber nicht naiv. Und sein Gefühl trog ihn nur selten.

Das Ticken der Uhr im Wohnzimmer hielt Oscar wach. Er starrte an die Decke, das kleine Nachtlicht in der Steckdose neben der Tür beleuchtete die Möbel nur schemenhaft.

Es wäre vernünftig, zu schlafen. Er war müde, er war erschöpft von zwei Tagen fast ununterbrochener Fahrt und zu wenig Trinken und Essen. Aber sein Körper schaffte es nicht, sich aus dem Überlebensmodus zu befreien.

Er war im Haus eines Fremden. Eines Polizisten. Sein Auto stand draußen. Wenn er sicher sein könnte, dass er nicht verfolgt wurde, könnte er vielleicht trotzdem ein wenig aufatmen.

Eintausendsechshundert Kilometer. Es liegen eintausendsechshundert Kilometer zwischen mir und Göteborg.

Allzu gern würde er seine Eltern anrufen, mit denen er seit langer Zeit nicht gesprochen hatte. Aber das schien ihm zu riskant. Noch wollte er nicht, dass irgendjemand wusste, wo er war. Würde es je einen Ort geben und eine Zeit, in der er sich sicher fühlte – zumindest einigermaßen? Sicher genug, um zu schlafen und irgendwie zur Ruhe zu kommen? Waren eintausendsechshundert Kilometer genug, und wenn nicht, wie viele waren es dann?

Er hatte seine Flucht geplant, aber nicht, für immer und ewig auf der Flucht zu sein. Für einen Augenblick verspürte er den irrsinnigen Wunsch, sich Ingmar anzuvertrauen. Ihm einfach zu sagen, warum er hier oben war, warum er sich wirklich einfach ins Auto gesetzt und ziellos Richtung Norden auf den Weg gemacht hatte.

Aber so freundlich ihm Ingmar bisher auch begegnet war – sie kannten sich nicht. Und Oscar hatte die seltsamen, stirnrunzelnden Blicke bemerkt, mit denen Ingmar ihn in scheinbar unbeobachteten Momenten bedachte.

Er traut mir vermutlich genauso wenig, wie ich ihm.

Wahrscheinlich lag er da oben auch wach im Bett, nicht sicher, ob er sich einen Serienkiller ins Haus geholt hatte. Es war eine absurde Situation. Aber er musste sich damit arrangieren, bis sein Auto wieder funktionierte und er weiterfahren konnte ... wohin auch immer.

Hoffentlich kann Ingmar es reparieren.

Und dann war da ja noch die Sache mit den Sommerreifen. Vielleicht gab es in Kiruna Winterreifen. Ganz bestimmt. Und Schneeketten, die waren hier sicher auch nützlich. Der schwedische Winter im Süden war kein Vergleich zu dem, was ihn hier erwarten würde.

Schnee, der meine Spuren verwischt. Viel davon.

Der Winter gab ihm eine gewisse Sicherheit, als ob die Wehen hinter ihm aufräumten, die Straßen jungfräulich erscheinen ließen, als hätte er sie nie befahren.

---ENDE DER LESEPROBE---