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»Ich bleibe hier und wache über dich. Egal, was kommt.« Isai wünscht sich nur eins: Weg aus der Großstadt in Oregon und nach Hause zu seiner Familie in Alaska. Doch weil er bis auf die Knochen pleite ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu trampen. Zum Glück hält kurz hinter der kanadischen Grenze ein Truck und nimmt ihn mit. Der Truckfahrer, Brock, ein Kerl Anfang dreißig mit breiten Schultern und einer grässlichen »Make America Great Again«-Mütze, geht Isai mit seinem Südstaatendialekt, seinen komischen Fragen und seiner Geheimniskrämerei zunächst ziemlich auf die Nerven, doch im Laufe der mehrtägigen Fahrt durch die winterliche Landschaft freunden sie sich an und entdecken etliche Gemeinsamkeiten. Auch solche, die Brock bisher geleugnet hat. Aber dann geschieht etwas Furchtbares und Isai ist gezwungen, zu handeln. Nur ein altes, schamanisches Ritual, das er bruchstückhaft aus den Überlieferungen seines Volkes kennt, kann Brock und ihn noch retten. Doch die Konsequenz, die ihrer beider Leben für immer aneinanderkettet, wird ihnen erst viel später klar … Nordmond: Qilak ist eine Geschichte voller Romantik, nordischer Magie und Humor!
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Gay Romance
© Urheberrecht 2022 Jona Dreyer
Impressum:
Tschök & Tschök GbR
Alexander-Lincke-Straße 2c
08412 Werdau
Text: Jona Dreyer
Coverdesign: Jona Dreyer
Coverbilder: depositphotos.com
Lektorat/Korrektorat: Kristina Arnold, Kelly Krause, Shannon O’Neall & Sandra Schmitt
Kurzbeschreibung:
»Ich bleibe hier und wache über dich. Egal, was kommt.«
Isai wünscht sich nur eins: Weg aus der Großstadt in Oregon und nach Hause zu seiner Familie in Alaska. Doch weil er bis auf die Knochen pleite ist, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu trampen. Zum Glück hält kurz hinter der kanadischen Grenze ein Truck und nimmt ihn mit.
Der Truckfahrer, Brock, ein Kerl Anfang dreißig mit breiten Schultern und einer grässlichen »Make America Great Again«-Mütze, geht Isai mit seinem Südstaatendialekt, seinen komischen Fragen und seiner Geheimniskrämerei zunächst ziemlich auf die Nerven, doch im Laufe der mehrtägigen Fahrt durch die winterliche Landschaft freunden sie sich an und entdecken etliche Gemeinsamkeiten. Auch solche, die Brock bisher geleugnet hat.
Aber dann geschieht etwas Furchtbares und Isai ist gezwungen, zu handeln. Nur ein altes, schamanisches Ritual, das er bruchstückhaft aus den Überlieferungen seines Volkes kennt, kann Brock und ihn noch retten. Doch die Konsequenz, die ihrer beider Leben für immer aneinanderkettet, wird ihnen erst viel später klar …
Eine Geschichte voller Romantik, nordischer Magie und Humor!
Über die Autorin
»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«
Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.
»Der Welt - also: uns allen! - wäre sehr geholfen, wenn wir nicht in jedem Wort immer das Schlimmste annähmen und anderen Menschen immer die übelsten Gedanken unterstellten.«
(Hasnain Kazim)
»Nordmond« war schon immer als Reihe geplant, denn ich finde, das Konzept der Seelenwanderer in Verbindung mit dem nordischen Winter und der dazugehörigen Mythologie, gibt viel her.
Nachdem beim ersten Band allerdings so einige Leser sauer auf mich waren, weil ich das Seelenwanderer-Geheimnis nicht schon im Klappentext verraten habe (an dieser Stelle bitte ein lautes Seufzen einfügen), nahm ich erst einmal Abstand davon.
Da dieses Thema allerdings viel zu schade ist, um es zu den Akten zu legen – im Gegensatz zu den »normalen« Gestaltwandlern in der Literatur könnte es diese schließlich wirklich geben! – geht es jetzt weiter.
Damit nicht wieder erboste Nachrichten kommen, diesmal gleich vorweg: In dieser Geschichte kommen Seelenwanderer vor. Deren Seele kann zwischen einem Menschen- und einem Tierkörper hin und her wandern.
Viel Spaß beim Lesen!
Yup’ik: ein indigenes Volk Alaskas, Bedeutung: »echter Mensch«, Mehrzahl: Yupiit
Qilak: das Himmelszelt
Qaspeq: eine traditionelle Art von langem Kapuzenpullover mit einer großen Tasche
Angakkuq: Schamane
Ellam Yua: das Universum
Chagluak: Eigenname, Bedeutung »kleine Maus«
Taqukaq: Grizzlybär
picirkiutet: die Regeln der Gemeinschaft
Es war einer dieser Abende, an denen die Kälte mit spitzen Zähnen an den Fingern fraß, wenn man diese nicht in dicke Handschuhe steckte. An denen sie einen in die Nase zwickte und kleine Eiskristalle auf den Wimpern bildete.
Aber obwohl er noch klein war, wusste er, wie man sich gegen die Eiseskälte wappnete. Weil sie mit ihren langen Wintern zu seinem Leben gehörte wie der Sternenhimmel und die Nordlichter. Also zog er sich an. Lange Unterwäsche, Thermohose, Qaspeq-Pullover, Anorak, Mütze, Schal, Fellstiefel. Die Handschuhe nicht zu vergessen.
Eigentlich sollte er im Bett liegen und schlafen, aber er war heimlich wieder aufgestanden. Denn irgendwas war da draußen in der Siedlung los und er wollte wissen, was. Niemand war im Haus, seine Eltern nicht und auch nicht seine Tante Lynn, die gerade zu Besuch war. Trotzdem tapste er auf leisen Füßen, als könnte jemand ihn hören, bis zur Haustür.
Von draußen schimmerte ein Licht durch das Fenster neben der Tür. Kein Lampenlicht, denn es flackerte wie ein Feuer. Feierte das Dorf etwa ein Fest und er war nicht eingeladen? Aber warum nicht? Er war doch brav gewesen!
Vorsichtig öffnete er die Haustür. Sofort erfasste die eisige Luft sein Gesicht und er zog seinen Schal bis über die Nase. Ja, irgendwo hier in der Nähe, wahrscheinlich auf dem Dorfplatz, brannte ein Feuer. Und er hörte Stimmen. Entschlossen setzte er den ersten Fuß auf die Treppe. Das Haus seiner Familie stand, wie alle anderen Häuser in der Siedlung ebenfalls, auf Stelzen. Grandpa hatte ihm erklärt, dass das so sein musste, damit der immer gefrorene Boden darunter durch die Wärme des beheizten Hauses nicht schmolz, denn sonst würde das Gebäude einfach im Schlamm versinken. Er stellte es sich grässlich vor, nachts aufzuwachen und auf einmal mitten in einer Schlammgrube zu liegen. Manchmal tastete er deshalb sogar den Boden unter dem Haus ab, um zu sehen, ob er wirklich noch gefroren war.
Er ging die Treppe hinab, immer auf der Hut, ob jemand ihn beobachtete. Eigentlich hatten seine Eltern ihm verboten, nach Anbruch der Dunkelheit allein draußen zu sein, aber wenn sie einfach allein auf eine Feier gingen, mussten sie sich nicht wundern, wenn er nicht gehorchte. Dads Jeep stand neben dem Haus. Weit konnte seine Familie also nicht sein. Außerdem war es hell; die Nacht war sternenklar und der weiße Schnee reflektierte den Vollmond.
Er setzte den ersten Fuß in den knirschenden Schnee. Der Schnodder in seiner Nase begann trotz des Schals bereits, zu gefrieren, was ihn allerdings nicht davon abhielt, seinen Weg fortzusetzen. Die Stimmen wurden lauter, aber es klang nicht wirklich nach einer Feier, sondern mehr, als würden Leute sich streiten. Er meinte, die Stimme seines Vaters zu hören und auch die seines Grandpas. Warum stritten sie sich mitten in der Nacht? Und warum auf dem Dorfplatz an einem Feuer? Grandpa war heute mit Tante Suzanne und noch ein paar anderen zum Eisfischen gegangen. Hatten sie etwa nichts gefangen und Dad war wütend darüber? Er hasste es, wenn Erwachsene sich stritten.
Als das Feuer in Sichtweite kam, verlangsamte er seine Schritte. Schatten huschten aufgeregt um die Flammen und auf einmal fürchtete er sich.
Vielleicht hätte ich doch lieber im Haus bleiben sollen.
Aber als er genauer hinsah, erkannte er die Leute aus dem Dorf. Und seine Eltern. Und Grandpa. Und, dass neben dem Feuer etwas lag. Ein großes Bündel. Er schlich langsam näher und erkannte Fell. Waren sie noch auf der Jagd gewesen und hatten doch noch etwas gefangen? Aber warum stritten die Erwachsenen dann?
»Du hättest das niemals tun dürfen!«, schrie Dad.
Erschrocken wich er zurück, weil er dachte, Dad meinte ihn, weil er das Haus verlassen hatte. Aber dann bemerkte er, dass er mit Grandpa sprach.
»Ich hatte keine Wahl«, erwiderte dieser und seine Stimme klang gequält. »Ich konnte sie doch nicht ...«
»Ich verstehe deinen Schmerz«, hakte Mama ein, »aber es ist uns nicht ohne Grund verboten. Du bringst damit eine riesengroße Gefahr über unsere ganze Siedlung ...«
Jetzt bekam er es doch wieder mit der Angst zu tun. »Mama, was ist los?«, entfuhr es ihm und er rannte noch ein Stück auf das Feuer zu.
»Chagluak!« Mama kam ihm entgegen, die Stirn sorgenvoll gerunzelt. »Was machst du hier draußen? Du solltest doch im Bett liegen und schlafen.«
»Es war keiner mehr da! Was ist denn los?«
»Nichts für kleine Kinder«, erklärte Mama, ging in die Hocke und hob ihn hoch.
Er blickte über ihre Schulter und entdeckte ein Bündel schwarzes Haar, das aus dem Fell am Feuer ragte. »Was ist denn passiert?«
»Nichts, mein Schatz. Alles ist gut.«
»Warum streitet ihr dann?«
»Wir streiten nicht«, beschwichtigte sie weiter. »Es ging nur um die Jagd. Mach dir keine Sorgen.«
Es war ihr Tonfall, der ihm verriet, dass es keinen Zweck hatte, weiter nachzufragen. Wenn Mama nein sagte, dann bedeutete es genau das. Als er über ihre Schulter in den Himmel sah, tanzten die Lichter des Nordens über ihnen, in Wellen, so wie das große Meer, wenn der Winter es nicht erstarren ließ.
Mama trug ihn zurück ins Haus, half ihm beim Ausziehen und legte ihn ins Bett.
»Es ist alles gut«, bekräftigte sie noch einmal, »hörst du?«
Er nickte, aber in seinem Bauch kribbelte es unangenehm. Er hatte das Gefühl, dass Mama log. Und das war nicht gut, denn Mama log nie. Am besten war es wohl, morgen Grandpa zu fragen.
Er war sehr müde, denn er hatte schlecht geschlafen. Wirre Träume von wilden Tieren und fliegenden Menschen hatten ihn immer wieder hochschrecken lassen. Hatte er auch das mit dem Feuer vielleicht nur geträumt? Das große Stück Fell, unter dem Haare herausgeschaut hatten? Vielleicht. Es war ja eigentlich schon fast zu komisch, um wirklich passiert zu sein.
Am Frühstückstisch verhielten sich seine Eltern so, als sei gestern Abend nichts passiert, aber das komische Gefühl in seinem Bauch wollte einfach nicht weggehen. Er musste Grandpa fragen, um ganz sicherzugehen, dass wirklich alles in Ordnung war.
Nach dem Frühstück zog er sich an und ging hinaus. Seinen Eltern hatte er gesagt, dass er mit seinen Freunden spielen wollte, aber in Wahrheit machte er sich auf den Weg zu Grandpas Haus, das nur drei Häuser weiter von ihrem eigenen stand. Dort wohnte er mit Grandma und Tante Suzanne. Er klopfte an die Tür, aber niemand öffnete. War Grandpa etwa schon wieder zur Jagd oder zum Eisfischen aufgebrochen? Er klopfte noch einmal. Nun waren doch Geräusche aus dem Inneren des Hauses zu vernehmen und die Tür wurde geöffnet. Grandmas kleine, rundliche Gestalt stand vor ihm.
»Chagluak!«, rief sie erfreut. »Was willst du denn hier, mein kleines Mäuschen?«
»Ist Grandpa da?«, wollte er wissen.
Plötzlich verschloss sich Grandmas Miene und wurde abweisend. »Nein, er ist fort.«
»Und Tante Suzanne?«
»Fort«, wiederholte Grandma. »Und du gehst jetzt besser nach Hause.«
»Aber wann kommen sie denn wieder?«, hakte er nach und das Gefühl im Bauch wurde immer schlimmer.
»Sie kommen nicht wieder«, erklärte Grandma und ihre Stimme klang hölzern. »Sie sind fort.«
Isai stieß einen verzweifelten Schrei aus. Schon wieder war ein Auto an ihm vorbeigefahren und hatte nicht angehalten; es war überhaupt das einzige Auto in den letzten fünfzehn Minuten gewesen. Es war kalt. Er war müde. Warum hatte keiner Gnade mit ihm?
Ich bin nicht mal ganz einssiebzig und sehe alles andere als furchteinflößend aus. Die Leute haben doch keine Angst vor einem Yup’ik.
Er hätte nicht warten sollen, bis er pleite war, ehe er sich dazu entschlossen hatte, zurück nach Alaska zu reisen. Dann hätte er sich vielleicht noch ein Bus- oder Flugticket leisten können und nicht hoffen müssen, dass jemand ihn als Tramper mitnahm.
Er befand sich etwa hundert Meilen hinter der kanadischen Grenze am transkanadischen Highway und saß seit Stunden hier fest, weil ihn niemand mehr mitnahm. Und selbst der Weg bis hierher war schon ein Kampf gewesen. Langsam wurde es dunkel.
Ich will einfach nur noch nach Hause.
Das Leuchten zweier großer Scheinwerfer aus der Ferne kündigte an, dass sich ein Truck näherte. Mutlos blickte Isai ihm entgegen, streckte dennoch den Arm aus, Daumen nach oben. Zu seiner Überraschung schien der Koloss langsamer zu werden und hielt schließlich neben ihm an. Die Scheibe der Beifahrerseite wurde heruntergelassen.
»Wo willst du hin?«, fragte der Fahrer, ein bärtiger Kerl mit einem Basecap auf dem Kopf. Sein Dialekt klang nicht, als käme er von hier.
»Nach Alaska, aber ich bin froh über jeden, der mich ein Stück nordwärts mitnimmt.«
»Da hast du Glück. Ich will nach Fairbanks. Spring rein!«
Am liebsten hätte Isai ein erleichtertes Stöhnen von sich gegeben, aber er verkniff es sich, öffnete die Tür und kletterte in den Truck. Kaum, dass er auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, folgte die erste Ernüchterung. MAKE AMERICA GREAT AGAIN stand in großen, weißen Lettern auf dem roten Basecap des Fahrers.
Na toll. Ein Trump-Fan. Womit hab ich das verdient? Vermutlich schmeißt er mich gleich wieder raus.
Aber das tat er nicht, sondern gab Gas und fuhr los. Am Ende war es immer noch besser, mit einem Trump-Fan mitzufahren, als nachts in der Kälte am Highway zu stehen und zu erfrieren.
Er nahm den Kerl aus dem Augenwinkel nochmals in Augenschein. Und war überrascht. Auf den ersten Blick täuschte der dunkelblonde Vollbart über seine Jugend hinweg, aber jetzt, wo Isai genauer hinsah, erkannte er, dass der Mann noch recht jung war. Dreißig, wenn überhaupt. Also nur wenige Jahre älter als er selbst. Sein Körperbau wirkte groß und stämmig, sein dickes Haar war im Nacken zu einem Zopf zusammengebunden.
»Hast echt Glück«, sagte der Fahrer noch einmal, »hier kommen nicht viele vorbei.«
»Ja, hab ich gemerkt. Danke, dass du mich mitnimmst.«
»Hm. Was willst du eigentlich in Alaska?«
»Ich will zu meiner Familie.«
Jetzt war es der Kerl, der Isai von der Seite musterte. »Bist du ’n Eskimo oder so?«
»Ja.«
Die Miene des anderen wurde seltsam. »Bist du gar nicht beleidigt?«
»Worüber denn?«
»Weil ich Eskimo gesagt habe.«
Isai kratzte sich am Hinterkopf. »Wolltest du mich damit denn beleidigen?«
Am Ende hat der mich nur mitgenommen, damit er jemanden rassistisch beschimpfen kann, der nicht abhauen kann, oder was?
»Nee. Wollte nur gucken, wie du reagierst. Sind doch jetzt immer alle angepisst über alle möglichen Bezeichnungen, die früher gang und gäbe waren.«
»Weil manche ja auch ziemlich beleidigend sind. Aber Eskimo nicht.«
»Wieso nicht? Heißt es nicht, man soll lieber Inku... Inki... irgendwas sagen?«
»Inuit. Aber ich wäre nicht gerade glücklich, wenn man mich als Inuit, beziehungsweise Inuk bezeichnet.«
»Warum?«
Isai seufzte leise. Er saß noch keine fünf Minuten in diesem Truck und war schon in eine solch nervtötende Diskussion verwickelt. »Weil ich kein Inuk bin. Ich bin ein Yup’ik.«
Der Trucker runzelte die Stirn. »Ein Yuppie?«
Mann, ist der dumm.
»Yup’ik. Wir Yupiit leben traditionell im Westen Alaskas. Darum nennen wir uns manchmal auch Western Eskimo. Hauptsache, nicht Inuit. Das ist so bescheuert, als würde man alle Indian Americans als Cherokee oder so bezeichnen.«
»Ah, okay.«
Endlich hielt er seine Klappe. Erleichtert lehnte sich Isai zurück. Bis Alaska würde er wohl eher nicht freiwillig mit diesem Kerl mitfahren, sein breiter Südstaatendialekt und seine komischen Fragen nervten ihn jetzt schon. Aber für die Nacht war er erst mal von der Straße herunter, das war die Hauptsache. Umso mehr jetzt, wo es zu schneien begann. Nicht heftig, aber doch genug, dass ein kleiner Schauer Isai durchfuhr, wenn er daran dachte, dass er ohne diesen Trucker jetzt immer noch da draußen in der Kälte stehen müsste. Die traditionelle Winterkleidung seines Volkes besaß er schon lange nicht mehr, was sich spätestens jetzt rächte. Aber er hatte ja gemeint, alles besser zu wissen. Großer Fehler.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte der andere schließlich, als sie sich sicher schon eine Viertelstunde angeschwiegen hatten.
»Isai. Und du?«
»Brock. Isai ist ein komischer Name, den hab ich noch nie gehört.«
»Stimmt, er ist nicht so häufig. Er kommt aus der Bibel. Eine geläufigere Form davon ist Jesse.«
»Warum haben deine Eltern dich dann nicht gleich Jesse genannt?«
Isai zuckte mit den Schultern. »Was weiß ich.«
Wieder schwiegen sie und Isai starrte in die Dunkelheit. Nur die Scheinwerfer, in denen die Schneeflocken reflektierten, spendeten etwas Licht. Aber im Truck war es warm und irgendwie gemütlich, und die Countrymusik, die leise im Radio lief, war auszuhalten. Und er kam seinem Ziel näher. Seinem Dorf, seiner Familie. Manchmal wusste man Dinge erst dann zu schätzen, wenn man sie plötzlich nicht mehr im Leben hatte.
»Sag mal, wenn du ein Western Yupi-Eskimo-Dingens aus Alaska bist«, begann Brock und Isai seufzte innerlich, »was machst du dann hier unten in Kanada, an der Grenze zu den Staaten?«
Das geht dich überhaupt nichts an, dachte Isai, aber er entschied sich doch, zu antworten. Wenn man netterweise von jemandem mitgenommen wurde und mehrere Stunden mit ihm verbrachte, war es wohl nur höflich, sich auf ein Gespräch einzulassen. »Ich hab zwei Jahre in Seattle und Portland gelebt, weil ich der Meinung war, mein eintöniges Dorfleben da oben in Alaska sei nicht das, was ich für mein Leben will und so weiter. Ich wollte raus in die Welt. Aber so aufregend die ersten Wochen waren, ich konnte nie so richtig Fuß fassen. Es ist mir alles zu fremd geblieben und zuletzt hatte ich nur noch Heimweh. War eine dumme Idee, aber ich hab meine Lektion gelernt, denke ich.«
»Heimweh und ein leeres Bankkonto, sonst müsstest du jetzt nicht trampen«, schloss Brock.
Isai hob die Hände. »So sieht’s aus. Und du? Du klingst, als kämst du aus den Südstaaten, was machst du hier oben in Kanada und Alaska? Musst du deine Fracht echt von Texas oder so bis nach da oben fahren?«
»Nee. Ich stamme aus Arkansas. Ich fahre meistens zwischen Kanada und Alaska hin und her.«
»Und warum hier und nicht in Arkansas?«
Plötzlich musterte Brock ihn lange und intensiv und wäre die Fahrbahn nicht schnurgerade, hätte Isai Angst, weil er nicht auf sie achtete. Seine dunklen Augen blitzten. »Trucker in Kanada und Alaska zu sein, ist ein harter Job. Nichts für Weicheier. Und genau deshalb fragt hier keiner, wer du bist, wo du herkommst und was du in deiner Vergangenheit getan hast.«
Isai schluckte. Seine Kehle war mit einem Schlag trocken.
Vielleicht hätte ich doch nicht in diesen Truck einsteigen, sondern lieber auf den nächsten warten sollen.
»Und ... was hast du getan?«, entfuhr es ihm.
»Wie gesagt«, erwiderte Brock. »Danach fragt hier keiner.« Es klang wie eine unterschwellige Drohung und Isai würde den Teufel tun, weiter nachzuhaken.
Vielleicht ist er ein Mörder, der in mir ein leichtes Opfer sieht. Womöglich sogar mit rassistischen Motiven. Hier draußen würde mich ja keiner retten, weil hier einfach niemand ist!
Jetzt empfand Isai die Wärme im Truck nicht mehr als angenehm, sondern als erdrückend. Was sollte er tun, wenn Brock ihn angriff? Er wusste mit möglichen Angriffen von Wildtieren umzugehen, aber mit Menschen hatte er seine Schwierigkeiten. Sie waren viel unberechenbarer.
»Hast du Hunger?«, fragte Brock unvermittelt und sein Ton klang wieder völlig arglos. »In dreißig Meilen gibt es einen Truck Stop, dort kann man was essen. Ich könnte was vertragen, hab seit heute Morgen nichts mehr gehabt.«
Isai nickte. Dass er tatsächlich Hunger hatte, war nebensächlich; vielmehr sah er den Truck Stop als eine Möglichkeit, sich von Brock abzuseilen. Er würde ihm, sobald sie angehalten hatten und ausgestiegen waren, mitteilen, dass er hierbleiben würde. Dort waren noch andere Leute und Brock konnte ihn nicht zwingen, wieder mit ihm mitzufahren.
Zum Glück schien Brock nun doch keine große Lust mehr auf ein Gespräch zu verspüren, sondern drehte die Musik lauter und klopfte mit den Fingern im Takt aufs Lenkrad. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen endlich die erlösenden Lichter in Sicht. Der Truck Stop. Als sie auf dem Parkplatz einfuhren und anhielten, atmete Isai im Stillen auf.
»Da wären wir.«
Isai nickte und stieg aus. Vielleicht war Brock ja wirklich kein böser Mensch und hatte mit seiner Anspielung nur einen blöden Scherz machen wollen, aber Isai hatte in den letzten zwei Jahren auf die harte Tour gelernt, dass man lieber einmal zu misstrauisch als einmal zu naiv sein sollte.
»Scheiße, ist das schon wieder eisig.« Brock schüttelte sich, als sie das Truck-Stop-Diner betraten, und seine Nase hatte in den kurzen Momenten, die sie vom Truck bis hierher gebraucht hatten, eine knallrote Färbung angenommen.
Isai verbiss sich ein Grinsen. »Das ist noch gar nichts.«
Sie suchten sich einen Platz und setzten sich hin. Tatsächlich waren sie nicht die Einzigen hier, aber es waren nur wenige, andere Leute anwesend, die kurz aufgeblickt hatten, als sie hereinkamen. Ohne Umschweife und mit vor Konzentration zwischen die Zähne geklemmter Zunge studierte Brock die Speisekarte und Isai hatte die leise Ahnung, dass der Kerl vermutlich nicht der flüssigste Leser war. Aber bevor er weiter darüber nachdachte, vertiefte er sich selbst in die Karte. Und nahm direkt Abstand von der Idee, etwas zu essen.
»Was nimmst du?«, fragte Brock.
»Ich fürchte, nichts.«
»Hä? Aber du hast doch vorhin noch gesagt, dass du Hunger hast. Bist du etwa einer von diesen Veganern?«
»Nee. Aber die Preise sind hier echt gesalzen und ich hab nur noch dreißig US-Dollar. Die will ich mir lieber für den Notfall aufheben.«
»Noch dreißig Dollar? Mann, du bist echt blank.« Brock schüttelte den Kopf. »Ja, die Diners an den Truck Stops sind oft etwas teurer, die haben ja keine Konkurrenz im meilenweiten Umkreis und wenn du nach einer langen Fahrt richtig hungrig und erschöpft bist, ist es dir auch egal, was der Fraß kostet. Ich lad dich ein.«
»Nee«, Isai winkte ab, »ist schon gut. Ich werd nicht gleich verhungern.«
»Siehst aber so aus, dürr, wie du bist. Hatte euch Eskimos irgendwie moppeliger in Erinnerung.«
Isai zog eine Grimasse. »Wir Yup’ik haben, genau wie die Inuit und die meisten anderen Zirkumpolarvölker, durch eine Genmutation einen etwas veränderten Fettstoffwechsel. Wir sind auf fett- und proteinreiche Nahrung ausgelegt und werden davon auch nicht krank und dick, sie gibt uns die Energie, die wir in dem Klima brauchen. Aber inzwischen sind Pommes und Burger und Zucker auch in Alaska angekommen und wirken sich auch bei uns aus.«
»Aber wieso bist du dann dünn und nicht dick?«
»Weil ich in letzter Zeit kaum noch Kohle für Essen hatte. Hab meist nur einmal am Tag was gefuttert und war viel auf Arbeit.«
»Das erklärt, warum du dünn bist, aber nicht, warum du pleite bist.«
»Hab mich mit sinnlosen Investments über’n Tisch ziehen lassen. Von Leuten, denen ich vertraut habe. Ich hab nur noch das, was in meinem Rucksack ist, und in den letzten Wochen hatte ich auch keine Wohnung mehr, sondern hab Couchsurfing betrieben.« Isai schüttelte den Kopf. »Ich will jetzt nicht drüber reden.«
»Ja, na ja. Meine Einladung steht. Ich geb dir was zu essen aus und du wirst es annehmen. Hunger macht schlechte Laune und ich hab keine Lust, mir bis Fairbanks dein Genöle anzuhören.«
»Keine Sorge. Ich habe nicht vor ...« Isai brach ab.
»Was hast du nicht vor?«
»Deine Einladung auszuschlagen.« Eigentlich hatte er sagen wollen: Bis Fairbanks mit dir mitzufahren, aber nun zweifelte er doch wieder, ob er diese Gelegenheit wirklich nicht wahrnehmen sollte.
Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass er noch einmal jemanden traf, der bereit war, ihn bis nach Alaska mitzunehmen? Und der vertrauenswürdiger erschien als Brock? Wieso erschien der ihm eigentlich nicht vertrauenswürdig? Wegen seiner komischen Andeutungen, die er wahrscheinlich nur gemacht hatte, um irgendwie cool zu wirken? Weil er ein Südstaatler war, scheinbar nicht unbedingt der Hellste, und andere Wahlpräferenzen hatte? Im Grunde begegnete er Brock mit genauso vielen Vorurteilen wie der ihm, nur dass seine eigenen tatsächlich negativer Natur waren.
»Also, was nimmst du?«, hakte Brock nach.
Isai blickte auf und bemerkte, dass eine Bedienung wartend neben ihrem Tisch stand. »Das Steak mit dem Spiegelei und den Hash Browns. Dazu einen schwarzen Kaffee.«
Die Bedienung, eine ältere Dame, nickte und wandte sich an Brock. »Und du, Schätzchen?«
»Den Trucker Special Burger und dazu die Poutine Fries. Die grüne Garnitur kannst du weglassen, ess ich sowieso nicht mit. Und ein großer Orangensaft.«
»Geht klar.«
Sie entfernte sich und Isai beobachtete Brock, der endlich seine Trump-Mütze absetzte und sein halblanges, zurückgebundenes Haar etwas auflockerte. »Stört es dich nicht, wenn ich bis Alaska bei dir im Truck sitze?«, entfuhr es ihm.
Brock zuckte mit den Schultern. »Wenn du mir nicht auf den Sack gehst, nicht. Bin ja sonst immer allein unterwegs, ab und zu mal Gesellschaft ist gar nicht schlecht.«
»Und womit kann man dir so auf den Sack gehen?«
»Politik«, antwortete Brock überraschend.
»Okay?« Isai kratzte sich hinterm Ohr. »Hätte ich angesichts deiner Mütze jetzt nicht erwartet.«
»Dass ich eine Meinung hab, bedeutet nicht, dass ich sie diskutieren will.«
»Ach so. Dabei lebt die politische Meinungsbildung ja vom Diskurs ... aber lassen wir das.«
»Hm. Und wenn du schnarchst, fänd ich das auch scheiße.«
»Nicht, dass ich wüsste. Wo schlafen wir eigentlich?«
»Na im Truck. Hinter dem Vorhang.«
Jetzt überlegte Isai doch wieder, lieber hierzubleiben. Irgendwie hatte er gehofft, dass sie die Nacht durchfuhren, aber natürlich war diese Überlegung schwachsinnig gewesen. Auch ein Trucker musste mal schlafen und hatte Ruhezeiten einzuhalten.
»Du kannst auch auf dem Sitz schlafen, wenn’s dir da hinten zu kuschelig ist«, ergänzte Brock, als hätte er Isais Gedanken gelesen.
Die Bedienung brachte die Getränke und Isai sog den wohligen, beruhigenden Duft seines Kaffees ein, wärmte die Hände an seiner Tasse. »Magst du keinen Kaffee?«, fragte er Brock.
»Warum?«
»Na, weil du Orangensaft bestellt hast. Ich hätte gedacht, du gießt dir als Trucker den schwarzen Kaffee literweise rein.«
»Nö.« Brock schüttelte den Kopf. »Der macht nur fahrig und verschleiert die Erschöpfung. Wenn ich müde werde, will ich es merken und dann auch Pause machen, anstatt mich mit der Brühe künstlich munter zu halten. Wenn man hier oben unterwegs ist, muss man wach und konzentriert sein. Also so richtig wach, nicht koffein-nervös-wach.«
»Das macht Sinn.«
Vielleicht ist er ja doch nicht so dumm, wie ich dachte.
Kurz danach kam das Essen. Wie hungrig er war, merkte Isai erst so richtig, als ihm der Duft des gebratenen Fleisches direkt in die Nase stieg. Er aß das Essen nicht, er verschlang es förmlich, während Brock sich seines in aller Seelenruhe Bissen für Bissen einverleibte. Aber der hatte ja auch nicht hungern müssen.
Seufzend lehnte sich Isai zurück. Für den Moment fühlte er sich satt und glücklich und trank in aller Ruhe seinen Kaffee, während Brock, schmatzend und sich die Finger leckend, aufaß. Isai warf einen Blick zum Fenster hinaus. Es war aufgrund der Dunkelheit draußen und des hellen Lichts im Diner nicht viel zu erkennen, aber als er die Augen zusammenkniff, sah er, dass es wieder schneite.
»Fährst du eigentlich noch weiter oder übernachtest du hier auf dem Parkplatz?«, wollte er wissen.
Brock schob seinen leeren Teller von sich. »Wir fahren noch ein Stück. So hundert Meilen. Da gibt es einen kleinen Ort mit einem Walmart, der einen großen Parkplatz hat. Dort kann man gut stehen.«
Scheiß drauf. Ich fahre erst mal noch bis zum Walmart mit und dann sehen wir weiter.
Inzwischen glaubte er nicht mehr wirklich daran, dass Brock ein Killer war. Im Gegenteil, er erschien ihm immer harmloser und erinnerte ihn an einen sattgefressenen Braunbären, der einfach nur in Frieden gelassen werden wollte.
Nach dem Essen bezahlte Brock wie versprochen die gesamte Rechnung und sie machten sich auf den kurzen Weg zum Truck, der mit laufendem Motor auf sie wartete.
»Bleibt der Motor eigentlich immer an?«, fragte Isai.
»Jupp, sonst springt er bei den kalten Temperaturen schlimmstenfalls nicht mehr an und ich sitze fest. Außerdem muss ständig das Kühlaggregat hinten im Trailer laufen.«
»Was hast du da eigentlich drin?«
»Tierfutter. Das Kühlaggregat ist dazu da, dass es nicht einfriert ... es hält das Futter auf einer Temperatur kurz über dem Gefrierpunkt.«
»Ja.« Isai lächelte. »Wir hatten auch Kühlschränke in der Vorratskammer, damit uns das Zeug nicht alles zu Stein gefriert.«
Sie stiegen zurück in den Truck und fuhren los. Die Reise mit diesem seltsamen Kerl ging also weiter. Aber wenigstens hatte Isai jetzt einen gefüllten Magen – und Brock fand ihn vermutlich genauso seltsam.
»Hast du eigentlich auch einen Eskimo-Namen?«
Isai stöhnte innerlich auf. Inzwischen war er zwar ziemlich sicher, dass Brock diese Fragen nicht böse meinte, aber die Art, wie er sie stellte, war zum Haareraufen. Er konnte nie ganz sicher sein, ob Brock echtes Interesse an seiner Kultur zeigte oder sich eigentlich nur lustig machen wollte.
»Und hast du noch mehr Klischees auf der Pfanne?«
Brock warf ihm einen irritierten Seitenblick zu. »Wieso denn Klischees?«
»Na, kannst du dir nicht vorstellen, dass ich einfach nur Isai heiße und nicht auch noch Hüpfendes Karibu im Schnee oder so was?«
»War ja nur ’ne Frage, du Schneeflocke. Mich hat’s halt interessiert. Musst jetzt nicht gleich einen woken Jammertweet absetzen oder so was.«
Isai seufzte und ließ seinen Kopf gegen den Sitz sinken. »Chagluak.«
»Hä?«
»Chagluak. Das ist mein Yup’ik-Name, aber so ruft mich nur meine Familie.«
»Und hat der auch eine Bedeutung? Hüpfendes Karibu?«
»Nein, nicht hüpfendes Karibu.«
»Sondern? Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
»Versprich, dass du nicht lachen wirst.«
»Ist die Bedeutung so lustig?«
»Du findest sie bestimmt lustig. Aber ich hab keine Lust, mich von dir auslachen zu lassen.«
»Okay, okay.« Brock hob zum Schwur eine Hand vom Lenkrad. »Großes Indianer-Ehrenwort.«
»Indianer-Ehrenwort?« Isai stieß einen langen Atemzug aus. »Du willst mich echt verarschen, oder?«
»Nein, das sagt man eben so!« Brock runzelte die Stirn. »Du legst ja jedes Wort auf die Goldwaage, meine Güte!«
»Du trägst ’ne MAGA-Mütze! Da gehe ich automatisch vom Schlimmsten aus!«
»Ja, ja. Also, ich werd nicht lachen, versprochen.«
»Kleine Maus.«
»Hm?«
»Das ist die Bedeutung von Chagluak: kleine Maus.«
»Okay. Du heißt also kleine Maus. Hallo, kleine Maus.« Brock wandte den Blick nach oben, zog die Lippen ein und summte eine leise Melodie. Es war nicht zu übersehen, dass er sich mit aller Macht das Lachen verkniff. Aber immerhin versuchte er, sein Versprechen zu halten.
»Dir platzt gleich die Rübe, oder?«
»Mir? Ach was.« Er biss sich auf die Unterlippe und seine Augen schimmerten feucht. Er kämpfte mit sich.
»Jetzt lass es halt raus.«
»Nein, ich hab’s versprochen.« Er zog angestrengte Grimassen, während er sprach.
»Und ich erkenne deine Bemühungen an. Aber ich hab Angst, dass du einen Unfall baust, weil du so sehr damit beschäftigt bist, nicht zu lachen.«
Brock ließ locker, aber anstatt wie erwartet loszuwiehern, gackerte er nur leise. »Eigentlich ist es ja nicht witzig, sondern nur niedlich. Haben deine Eltern gar nicht dran gedacht, dass du irgendwann mal erwachsen wirst? Ein erwachsener Mann namens kleine Maus ...«
»Tja ...« Isai zuckte mit den Schultern. Er mochte seinen Yup’ik-Namen auch nicht sonderlich, aber obwohl Brock feixte, bereute er es nicht unbedingt, ihm davon erzählt zu haben. »Sie wussten wahrscheinlich, dass ich immer niedlich bleiben werde.«
»Ja, das stimmt.«
»Hm.« Isai schloss die Augen und lehnte sich zurück.
Moment. Das stimmt? Findet er mich niedlich oder was?
Verstohlen musterte er Brock von der Seite, aber der schien ganz und gar auf die Straße konzentriert.
Ich interpretiere da gerade zu viel hinein.
Sie setzten ihren Weg fort, diesmal schweigend, und Isai rechnete sich im Stillen aus, dass es bis zu dem Ort mit dem Walmart nicht mehr weit sein konnte.
Unvermittelt leuchtete Brocks Handydisplay in seiner Halterung auf. Es ging scheinbar eine Nachricht ein, aber die war es nicht, die Isai interessierte, sondern das Hintergrundbild. Es war das Schwarz-Weiß-Bild eines schmalen, durchtrainierten, halb nackten Mannes.
»Hübscher Kerl da auf deinem Handy«, entfuhr es Isai.
»Das ...« Brocks Arm schoss nach vorn, griff das Handy, aber in seiner Fahrigkeit ließ er es fallen und es purzelte in den Fußraum. »Das ist nur mein Körpervorbild.«
»Echt?« Isai hob die Brauen. »Du willst schmal und drahtig sein? Könnte schwierig werden bei deinem bärigen Körperbau.« Er hatte das Gefühl, hier etwas sehr Interessantem auf der Spur zu sein. Hatte dieser Trump-Fan aus den Südstaaten etwa ein kleines Geheimnis?
»Ich meine das Fitness-Level!«
»Aha.« Jetzt war es Isai, der sich ein Grinsen verkneifen musste. Brock klang sehr ertappt. »Ja, wenn man den ganzen Tag nur sitzt und fährt, dann kann man sich Fitness nur auf Bildern angucken ...«
»Das geht dich alles gar nichts an!«, fuhr Brock ihn unerwartet heftig an. »Was hast du überhaupt auf mein Handy zu glotzen? Neugier ist übrigens auch was, was mir mächtig auf die Eier geht!«
»Echt? Ein Glück, dass du gar nicht neugierig bist und mich nicht ständig mit komischen Fragen löcherst.«
»Das ist ganz was anderes!«
»Ja, ja, ich weiß, hier oben fragt niemand und so weiter. Scheint aber nur für die zu gelten, die dich was fragen wollen.« Und dein großes Geheimnis ist offenbar, dass du auf Kerle stehst. »Aber jetzt verstehe ich, warum du dich aus Arkansas verpieselt hast. Man hat’s dort ja nicht leicht als–«
»Halt die Klappe! Unterstell mir ja nicht, ich wäre eine Schwuchtel!«
»Wow, okay.« Isai kniff die Augen zusammen und drückte Daumen und Zeigefinger gegen die Nasenwurzel. Ihm tat auf einmal der Kopf weh. »Weißt du was? Sobald wir beim Walmart sind, werde ich selbst sehen, wie ich weiterkomme.«
Den Mann und seine abfällige Sprache ertrug er nicht bis Alaska. Seine dümmlichen, wahrscheinlich wirklich nicht böse gemeinten Fragen hätte er noch tolerieren können, aber Schwuchtel traf ihn. Denn er hatte auch ihn damit unwissentlich beschimpft. Isai war schwul und er wollte in keiner Welt leben, in der er noch mit solchen Worten bezeichnet wurde.
»Von mir aus«, grummelte Brock.
Eine Weile schwiegen sie betreten. Was für eine blöde Situation.
»Soll ich dein Handy aufheben?«, fragte Isai schließlich.
»Du lässt die Finger davon.«
»Und wenn es sich unter deinem Bremspedal verklemmt?«
Brock umgriff das Lenkrad so fest, dass seine Knöchel weiß hervortraten. »Heb es auf«, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und dann leg es da hin, wo es war. Keine Schnüffeleien.«
»Ich hatte nicht vor, dein Handy auszuspionieren«, entgegnete Isai kopfschüttelnd. »Und wieso machst du dir so ins Hemd, wenn der Typ da vorne drauf nur ein Fitnessvorbild ist?« Er ging vor dem Sitz auf die Knie, streckte den Arm aus und tastete nach dem Handy in Brocks Fußraum.
»Weil ich weiß, was du jetzt denkst, und ich will, dass du damit aufhörst.«
»Meine Gedanken wirst du wohl eher nicht kontrollieren können.« Er bekam das Handy zu fassen und hob es auf. »Und jetzt krieg dich ein. Ich hab den sexy Typen auf deinem Handy gesehen und du weißt, dass ich kleine Maus heiße. Ich finde das zumindest ein bisschen fair.«
In Brocks versteinerter Miene zuckte es. Er verbiss sich offenbar ein Lächeln, vermutlich der kleinen Maus wegen. Und dann zeigten sich die Lichter, die eine Ortschaft ankündigten. Der Truck verließ den Highway und da der Ort nicht sonderlich riesig war, dauerte es nicht lange, bis sie den Walmart mit seinem Parkplatz erreichten.
»Also dann«, verkündete Isai und nahm seinen Rucksack. »Danke fürs Mitnehmen und das Essen und mach’s gut.«
»Wo willst du hin?«
Isai runzelte die Stirn. »Ich hatte dir doch gesagt, dass ich ab hier wieder selbst sehe, wie ich weiterkomme.