Der Veilchengraf - Jona Dreyer - E-Book

Der Veilchengraf E-Book

Jona Dreyer

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Beschreibung

»Jede Rose hat Dornen. Nehmt sie, oder ich werfe sie weg.« Der junge Arved kehrt seinem Volk und seiner Heimatsiedlung den Rücken, um in Tumbrias Hauptstadt als Heiler zu arbeiten und mehr von der Welt außerhalb des Waldes zu erfahren. Eines Tages erhält er eine ungewöhnliche Einladung: Graf Gilbert de Aryet, seines Zeichens der mächtigste Mann des Landes, erbittet seine Hilfe. Kaum auf Aryet Manoir angekommen, findet sich Arved in einem Trubel aus Hochzeitsvorbereitungen wieder. Doch die junge Braut des Grafen lebt in Todesangst, denn der unnahbare Mann mit der Maske auf dem Gesicht soll seine bisherigen Gemahlinnen kaltblütig ermordet haben. Kurzerhand beschließt Arved, ihr zur Flucht zu verhelfen. Doch schon bald muss er erkennen, welch einen fatalen Fehler er damit begangen hat ... Hegt der Graf wirklich ein mörderisches Geheimnis unter seinen unzähligen Masken?Und welches Schicksal blüht Arved hinter den grauen Mauern von Aryet Manoir?

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Der Veilchengraf

Gay Historical Fantasy

© Urheberrecht 2018 Jona Dreyer

 

Impressum:

Tschök & Tschök GbR

Alexander-Lincke-Straße 2c

08412 Werdau

 

Text: Jona Dreyer

Coverdesign: Jona Dreyer

Coverbild: depositphotos.com

Zeichnungen: Jona Dreyer & Anika Bonan

Lektorat/Korrektorat: Kelly Krause, Johanna Temme, Kristina Arnold, Doris Lösel, Shan O’Neall & Sandra Schmitt

 

Kurzbeschreibung:

»Jede Rose hat Dornen. Nehmt sie, oder ich werfe sie weg.«

Der junge Arved kehrt seinem Volk und seiner Heimatsiedlung den Rücken, um in Tumbrias Hauptstadt als Heiler zu arbeiten und mehr von der Welt außerhalb des Waldes zu erfahren. Eines Tages erhält er eine ungewöhnliche Einladung: Graf Gilbert de Aryet, seines Zeichens der mächtigste Mann des Landes, erbittet seine Hilfe.

Kaum auf Aryet Manoir angekommen, findet sich Arved in einem Trubel aus Hochzeitsvorbereitungen wieder. Doch die junge Braut des Grafen lebt in Todesangst, denn der unnahbare Mann mit der Maske auf dem Gesicht soll seine bisherigen Gemahlinnen kaltblütig ermordet haben. Kurzerhand beschließt Arved, ihr zur Flucht zu verhelfen. Doch schon bald muss er erkennen, welch einen fatalen Fehler er damit begangen hat ...

Hegt der Graf wirklich ein mörderisches Geheimnis unter seinen unzähligen Masken?

Und welches Schicksal blüht Arved hinter den grauen Mauern von Aryet Manoir?

Über die Autorin

»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«

Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Eine Maske erzählt uns mehr als ein Gesicht.«

(Oscar Wilde)

Vorwort

Eigentlich wollte ich erst im nächsten Jahr wieder einen Inselreich-Roman schreiben, aber wer die Reihe kennt, der weiß um die besondere Magie, die die Inselreiche auf einen ausüben. Deshalb hat sich der Veilchengraf sehr nachdrücklich in den Vordergrund gedrängt und wollte gern noch diesen Herbst erscheinen. Da war ich natürlich machtlos.

Auch hier wieder ein kleiner Lesehinweis, der eigentlich immer und für alle Inselreich-Bände gilt: Nichts ist so wie es scheint, ob Gut oder Böse, ob Harmonie oder Konflikt.

In diesem Sinne: Viel Freude mit dem Veilchengraf und seiner Geschichte.

Dramatis Personae

Eine Übersicht der wichtigsten handelnden Personen und Orte. Die Hauptfiguren sind mit einem * gekennzeichnet. Die ungefähre Aussprache wird in den eckigen Klammern erläutert.

Frethingam

Arved Sainedact* [ar’wed sän’dakt]: ein junger alvaeischer Heiler

Thibaut [ti’bo]: Schmied und Freund Arveds

Dov ben Aharon [doff ben a’haron]: yishkarischer Heiler und Arveds einstiger Lehrmeister

Vater Polyte [po’lüt]: Priester, Mönch und Heiler in der königlichen Abtei von Fontevary

Eliam ben Chayim[e’liam ben cha’im]: yishkarischer Heiler aus Farolaín und entfernter Verwandter von Dov

Branceánn Ládall Iarainn[bran'ke:ann la'dall i’renn]: ein tharoganischer Nationalheld auf Reisen

Garbhán Iarainn ná Dunegal[gar'bahn i'renn na dunne’gall]: tharogaischer Thayne, Nationalheld und Ehemann von Branceánn

Aryet Manoir

Gilbert de Aryet*[gil’bert de ari’jeh]: Graf von Aryet und einflussreichster Adeliger Tumbrias

Agatha de Aryet*: die Mutter des Grafen, auch »Medâme Corbel« und »Krähe« genannt

Birla Biúrrsdóttir [bir’la bjurrs’dottir]: die Braut des Grafen

Jarl Biúrr [jarl bjurr]: eharländischer Jarl und Vater von Birla

Geirdís [ger’dis]: Birlas Leibdienerin

Äbtissin Ghislaine*[gis’lähn]: Schwester des Grafen und Äbtissin von Fontevary

Julot [schü’loh]: Neffe des Grafen

Catlinne [kat’linn]: Lieblingsnichte des Grafen

Ezilda [e’ßilda]: Schwester des Grafen

Dardot [dar’doh]: Ezildas Gemahl und gräflicher Vogt

Vater Balduin: Hauskaplan

Mâster Luisot [lui’soh]: gräflicher Leibarzt, der nach altmodischen Methoden vorgeht

Richilda [ri’schilda]: Schwester des Grafen

Dhuoda [du’oda]: Schwester des Grafen

Odo: Dhuodas Gemahl

Adalaide [ada’lähd]: Schwester des Grafen

Clêmentin [klemen’tin]: Neffe des Grafen, Richildas Sohn

Leân [le’ahn]: ein Kind

Trygve[trügg’we]: Birlas Geliebter

Aryet (Dorf)

Ferion: ein weitgereister Alvaeon

Gemüsehändlerin: ein tratschendes Marktweib

Francot [frang’koh]: ein Bauer

Der Pockennarbige: ein angriffslustiger Dorfbewohner

Königlicher Hof

Tancred [tang’kred]: schwacher und beeinflussbarer König von Tumbria, langjähriger Freund Gilberts

Halvor Machbalian [hall’wor mak’balian]: charismatischer König von Balian und Großkönig der vereinten Inselreiche

Basile de Herbayn [ba’sil de her’bähn]: tumbrischer Graf aus dem mit Aryet verfeindeten Haus Herbayn

Êtian de Herbayn [ä’tjohng de her’bähn]: Basiles älterer Bruder

Alberic de Luignan [albe’rik de luin’johng]: tumbrischer Graf

Constant de Symbelain[kon’stant de sim’be’lähn]: aufrührerischer tumbrischer Graf

Ludovic de Gormand [lüdo’wik de gor’mong]: tumbrischer Graf

Thiophil de Falon [tio’fil de fa’lohng]: tumbrischer Graf und Geliebter Richildas

Piêrin de Moras [pje’rin de mo’rass]: ein weiterer tumbrischer Graf

Prolog

Es war der Gesang des Waldes. Ein Wispern des Windes in den Zweigen. Das Rascheln der Blätter in den Wipfeln, das leise Knacken von Geäst und Unterholz. Wenn man einen Wald betrat, durchschritt man das Tor zu einer anderen Welt. Eine, die langsamer wurde. In der das Leben im Verborgenen wimmelte. Das Licht schien anders. Jeder Lärm wurde abgeschnitten, wie von einer Blase umgeben, die Schritte weich und gedämpft von buntem Laub und Moos. Ein Wald war voller Leben, das nicht auf den ersten Blick sichtbar wurde, aber Spuren hinterließ. Abgewetzte Rinde an einem Baumstamm. Zerkaute Zweige, niedergetrampeltes Unterholz. Manchmal die Abdrücke von Hufen, Pfoten oder Tatzen im weichen Boden.

Arved sog jeden Eindruck in sich auf. Betrachtete jeden moosbewachsenen Stein, sammelte hier und da ein paar Beeren, beobachtete die Vögel in den Kronen der Bäume. Er war ein Teil dieses Waldes, ein Geschöpf, geboren und gewachsen in seinen Tiefen, und der Wald war Teil von ihm. Deshalb würde es ohne jeden Zweifel schwer werden, ihn zu verlassen. Aber es musste sein. Denn die Wälder waren nicht die ganze Welt, sondern nur ein Teil davon. Da draußen, wenn sich die Bäume lichteten, warteten Berge auf ihn. Klippen und Ufer. Weit im Süden sogar das große Meer. Er konnte die salzige Luft vor lauter Sehnsucht fast riechen, obwohl er noch weit von der Küste entfernt war.

Als der Abend anbrach, erreichte er den Saum des Waldes. Weder Berge noch das Meer taten sich vor ihm auf, sondern eine hügelige Landschaft, die in den satten, rötlichen Farben des Herbstes leuchtete. Der Herbst war die Jahreszeit, der sich Arved am meisten verbunden fühlte, denn in sie war er geboren worden und sein Haar besaß passend dazu die Farbe von reifen Kastanien.

Nicht weit von hier gab es ein Dorf mit einem Wirtshaus, in dem er einen Schlafplatz finden konnte, und er sehnte sich sehr nach einem Bett. Seit nunmehr drei Tagen war er unterwegs, um den Tiefen der tumbrischen Wälder zu entkommen, und hatte auf Bäumen nächtigen müssen, um sicher vor wilden Tieren zu sein. Er war allein. Allein, aber nicht einsam. Es hatte alles seine Richtigkeit, diese Reise und auch die Ungewissheit. Welcher Weg vor ihm lag, würde so eine Überraschung werden wie die Herbstlandschaft, die sich ihm beim Verlassen des Waldes offenbart hatte. Aber so oder so: Der Weg führte aus dem Wald hinaus. Das wusste er, seit sein Lehrmeister ihn einmal in die große Stadt Frethingam mitgenommen hatte.

Das Volk, dem Arved entstammte – die Alvaei – war eins mit der Natur. Eins mit den Wäldern, in denen sie lebten. Aber manche zog es fort, denn sie suchten nach mehr. Er war einer dieser Suchenden. Vielleicht war es der Mensch in ihm, der Sehnsucht nach anderen Menschen hatte. Der von der langsamen, gedämpften Welt in die treten wollte, die sich schneller drehte.

Das Dorf, das ihm sein Lehrmeister beschrieben hatte, erreichte er bei Anbruch der Dunkelheit. Es war eine kleine Siedlung, von der man die ersten Ausläufer des Gebirges erkennen konnte, das es zu überqueren galt, wenn man die große Stadt Frethingam erreichen wollte. Und zwar ohne einen riesigen Umweg über das nördliche Land zu machen, so wie sie es damals getan hatten. In der Schänke brannte ein einladendes Licht und es schien nicht allzu viel los zu sein; jedenfalls war von draußen kein Lärm zu hören. An der Tür zögerte er kurz. Es war lange her, dass er mit Menschen gesprochen hatte. Dann trat er ein.

Die Schankstube war leer, bis auf einen Tisch, an dem eine Gruppe von vier grobschlächtigen Kerlen saß, die neugierig aufblickten. Auch die Wirtin, die gerade mit einem schmierigen Lappen einen irdenen Becher säuberte, hielt inne.

»Seid gegrüßt«, sagte Arved, die Stimme rau, weil er sie zu lange nicht benutzt hatte. »Habt Ihr ein Bett und etwas zu essen für einen müden Wanderer?«

»Wenn der Wanderer genügend Münzen bei sich trägt, sicher«, erwiderte die Wirtin und stellte den Becher beiseite.

»Daran soll es nicht scheitern«, gab Arved zurück und nahm an einem der freien Tische Platz. Aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie die vier Kerle ihn argwöhnisch beobachteten.

»Wer seid Ihr?«, erkundigte sich einer von ihnen mit unverhohlenem Misstrauen in der Stimme.

»Ein Wanderer, wie ich schon sagte«, erklärte Arved und wandte sich dem Kerl zögerlich zu. Ein Blick aus kleinen, fast schwarz erscheinenden Augen traf ihn und ließ ihn frösteln.

»Und wo wollt Ihr hinwandern?«

»Nach Frethingam.«

»Was wollt Ihr dort?«

Arved runzelte die Stirn. Die Neugier des Mannes fiel ihm lästig. »Es geht Euch zwar nichts an, aber ich bin Heiler und möchte noch einige Dinge lernen.«

»So hübsch, wie du bist, solltest du dich eher als Hure verdingen«, bemerkte ein anderer der vier Männer und seine Kumpane lachten kehlig auf.

Im Stillen beschloss Arved, auf die Mahlzeit zu verzichten und sich gleich auf sein Zimmer zu begeben, aber in diesem Moment kam die Wirtin mit einer verführerisch duftenden Schale Eintopf und einem Stück Brot.

»Lasst die Dummschwätzer reden«, empfahl sie ihm. »Eine Silbermünze für den Eintopf und die Übernachtung, wenn’s recht ist.«

Arved fand den Preis ziemlich unverschämt, aber er zahlte, ohne zu klagen. In seinem Dorf war Geld bedeutungslos, aber da sie gelegentlich außerhalb des Waldes Handel auf den Märkten trieben, wusste er damit umzugehen.

»Du bekommst einen Kupferpfennig, wenn du mir den Schwanz lutschst«, rief einer der Männer zu ihm herüber. Sein schmieriges Lächeln offenbarte bräunliche Stümpfe, wo eigentlich Zähne sein sollten.

»Kein Interesse«, versetzte Arved kurz angebunden und wandte sich seinem Eintopf zu. Sein Magen knurrte. Am Morgen war sein Proviant zur Neige gegangen und er musste dringend neue Vorräte einkaufen, bevor er sich auf den Weg zum Gebirgspfad machte.

»Ich gebe dir einen Schilling, wenn du dich für mich bückst«, bot ein anderer an und seine Kumpane pfiffen anzüglich.

Wie dreist wollten diese Männer eigentlich noch werden? »Ich bin keine Hure und ich gedenke auch nicht, eine zu werden«, erklärte Arved fest und warf den Kerlen einen zornigen Blick zu, der ihnen hoffentlich endgültig begreiflich machte, dass sie bei ihm auf Granit bissen.

Der, der zuerst zu ihm gesprochen hatte, spuckte aus. »Du bist doch einer von diesen Alvaei, nicht wahr? Man sagt ja, dass die sich für etwas Besseres halten und glauben, die gewöhnlichen Menschen hätten sich ihnen unterzuordnen.«

»Das ist nicht wahr«, entgegnete Arved entschieden. »So etwas denkt niemand von uns.«

»Ach nein? Und warum sitzt dann einer von euch auf dem Thron des Großkönigs und maßt sich an, über die gesamten Inselreiche herrschen zu wollen? Gott sei’s gedankt, dass der alte Balian in die Unterwelt gefahren ist, aber sein Sohn, der hübsche Halvor Silberhaar, scheint keinen Deut besser zu sein. Marschiert ein, wo man sich ihm nicht unterwerfen will. Und du? Bist dir zu fein für ein bisschen Spaß mit hart arbeitenden Männern?«

Arved schob seinen Eintopf von sich. Ihm war schlagartig der Appetit vergangen. »Ich kenne den Großkönig nicht.« Das war die Wahrheit. Selbst, wenn es stimmte und Halvor und dessen Vater wirklich seinem Volk entstammten, so doch nicht den Wäldern Tumbrias.

»Ihr seid wahrscheinlich von Haus aus alle gleich.« Der Kerl spuckte nochmals aus. »Am besten wär’s, ihr bliebet in euren Wäldern, und wenn nicht, dann jagen wir euch schon wieder hinein.«

In aller Hast zwang sich Arved drei Löffel Suppe hinunter, um wenigstens irgendetwas im Magen zu haben, und steckte sich kurzerhand die Scheibe Brot in die Tasche. »Wärt Ihr so freundlich, mir zu sagen, wo ich mein Zimmer finde?«, bat er die Wirtin, deren Blick bei der Erwähnung der Alvaei deutlich kühler geworden war.

»Die Stiege hinauf und dann den Gang hinunter, die dritte Tür links.« Sie überreichte ihm den Schlüssel. »Macht mir keinen Ärger.«

Er schob ihr die vereinbarte Silbermünze über den Tresen und nahm den Schlüssel an sich. Mit einem ungläubigen Kopfschütteln erklomm er die Treppe nach oben. Wenn hier jemand Ärger machte, dann waren das doch wohl diese vier aufdringlichen Kerle und nicht er. Wahrscheinlich war es das Beste, die Tür von innen zu verriegeln und noch ein Möbelstück davorzurücken, damit keiner unbefugt in sein Zimmer eindringen konnte, während er schlief. Woran hatten sie seine Herkunft überhaupt erkannt? Er wusste, dass Alvaei unter den Menschen als ungewöhnlich schön galten, aber durch seinen eigenen Blick verstand er es nicht. Schönheit war für ihn mehr als nur glänzendes Haar und liebliche Gesichtszüge. Er fand viele Menschen schön in ihrer Vielfalt und Unperfektheit, mit ihren Falten und Flecken und grau werdenden Haaren. Sie waren Geschöpfe einer Welt, die sich schneller drehte als seine eigene. Und in der die Dinge folglich auch schneller verfielen. Aber war eine Blume wirklich nur dann schön, wenn sie in voller Blüte stand?

Er schloss die Tür seiner Kammer, schob den Riegel vor und atmete einmal tief durch. Es stimmte also, was Erandvor, der Dorfälteste, gesagt hatte: Es war nicht mehr ungefährlich, als Alvaeon offen in die Dörfer und Städte der Menschen zu gehen. Auch waren im Grunde nur Menschen, aber so, wie das Leben nur langsam und gedämpft durch einen Schleier in die Wälder drang, so verlief auch das Dasein eines Alvaeon, das ihm die Gnade verlieh, um ein Vielfaches länger zu leben. Und dadurch mehr Wissen und Erfahrung anzusammeln und vielleicht ein wenig weiser zu sein. Es gab auch noch andere Dinge, in denen sich Alvaei und Menschen unterschieden, aber die waren nicht von Belang, fand Arved. In den bedeutsamen Dingen, das hieß, in der Liebe, der Sehnsucht und der Trauer, waren sie gleich.

Aber offenbar sahen die Menschen das zunehmend anders. Er verstand es. Aber er verstand es auch nicht. Was konnten er und die anderen dafür, dass es Könige gab, die schlimme Dinge taten? Er hatte in Varle, seiner Siedlung tief in den Wäldern Tumbrias, nichts davon mitbekommen. Trotz aller Warnungen hatte er nicht damit gerechnet, dass ihm eine so offene Feindschaft entgegenschlagen würde.

»Hoffentlich ist es in Frethingam anders«, sagte er zu sich selbst, während er die Bettdecke zurückschlug und sich mit einem erschöpften Seufzen auf der durchgelegenen Strohmatratze niederließ.

Sein wertvollstes Hab und Gut, eine lederne Tasche mit seinen Utensilien und den wichtigsten Kräutern und Tinkturen, schob er neben sich unter das Kopfkissen. Ohne diese Dinge brauchte er gar nicht erst zu versuchen, irgendwo eine Anstellung als Heiler zu finden. Es würde vermutlich so schon schwierig genug werden.

Die Nacht blieb ruhig und im Morgengrauen wachte Arved einigermaßen erholt auf. Er hatte von seiner Wanderung über den Gebirgspfad geträumt, die ihm nun bevorstand, aber alles war gut ausgegangen. Vielleicht waren diese Männer gestern in der Schankstube nur besonders dumm und dreist gewesen. Stadtmenschen, hieß es, waren anders. Sie bekamen täglich die unterschiedlichsten Gestalten zu sehen; mithin waren sie weniger misstrauisch, wenn ein Fremder durch das Tor schritt.

Ich kann ja jederzeit zurück, dachte Arved, obwohl das nicht so ganz stimmte. Der Ältestenrat hielt nichts davon, wenn einer der ihrigen den Wald und seine Siedlung für längere Zeit verließ. Es mache die Menschen zu neugierig, sagten sie. Man würde nach ihnen suchen, ihre Geheimnisse lüften wollen und ihre Siedlungen zerstören. Arved glaubte nicht, dass Menschen so böse waren, und in den Wäldern würden sie sich verlaufen und umkommen, bevor sie je auf eine alvaeische Siedlung stießen. Sie waren nicht eins genug mit der Natur, um sich in ihr zurechtzufinden, betrachteten sie zuweilen mehr als Feind, denn als Partner.

Er ging hinunter in die Schankstube, in der keine vier schmierigen Kerle mehr auf ihn warteten, sondern nur ein Mann und ein altes Weib an einem Tisch, die nicht einmal aufblickten. Arved kaufte der Wirtin Proviant ab und verlor keine weitere Zeit. Eine beschwerliche Reise zu Fuß stand ihm bevor, denn einige der Gebirgspfade waren zu Pferde unpassierbar. Dennoch blieb er frohen Mutes und verließ sogar mit einem Lied auf den Lippen das Dorf. Die Welt lag vor ihm, als er am Fuße des Gebirges von Porinac stand und auf die grauen, von dichtem Nebel umwaberten Gipfel blickte. Die Welt lag vor ihm. Und die Zukunft lag dahinter.

Kapitel 1

Heilende Hände

Arved erschrak sich fast zu Tode, als die Glocke am Türrahmen verkündete, dass jemand eintrat. Beinahe wäre der Stößel seines Mörsers polternd zu Boden gefallen, aber er fing ihn gerade noch rechtzeitig auf und legte ihn beiseite, bevor er seine Apothekenkammer verließ und in den Vorraum trat.

Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, wie sich die Augen eines Menschen, der ihn zum ersten Mal erblickte, kurz weiteten, und nicht selten ein Anflug von Lüsternheit darin lag. Egal ob Mann oder Frau. Ein schlanker Wuchs, blasse Haut, liebliche Züge und feine Glieder weckten ihr Begehren. Arved besaß genau wie alle anderen Alvaei diese Attribute, auch wenn er sich selbst überhaupt nichts daraus machte. Auch die Augen des halbwüchsigen, senfblonden Kerls, der nervös in seinem Vorraum stand und seine speckige Kappe in den Händen drehte, blitzten für einen Moment auf. Aber er schien zu nervös, um ihn ausgiebig zu mustern und schlimmstenfalls noch zotige Bemerkungen zu machen, was Arved ganz recht war.

»Wie kann ich Euch helfen?«

»I – ich bin der Sohn von Thibaut. Dem Schmied«, ergänzte er. »Mein Vater hat sich vor drei Tagen eine üble Brandwunde zugezogen. Jetzt eitert sie und der Bader sagt, dass er den Arm abnehmen muss. Aber mit nur einem Arm könnte Vater nicht mehr als Schmied arbeiten und ich bin erst im zweiten Jahr meiner Lehre. Die Nachbarin hat mich zu Euch geschickt, weil Ihr ihr Wochenbettfieber geheilt habt, woran sonst alle sterben. Könnt Ihr meinem Vater helfen?«

»Ich kann es nicht versprechen«, erwiderte Arved. »Aber ich werde mein Bestes versuchen. Warte kurz hier, ich muss meine Tasche packen.«

Er ging zurück in seine Apothekenkammer und suchte zusammen, was er für die Behandlung einer schwärenden Brandwunde brauchen würde. Eine Brandsalbe mit einer besonderen Rezeptur, die den Eiter aus der Wunde zog und dafür sorgte, dass sich kein neuer bildete. Eine Tinktur, um die Wunde vorab zu reinigen. Und eine Kräutermischung, aus der er dem Schmied einen Tee brühen würde, der das Fieber aus seinem Körper vertrieb. Er wusste nicht, ob er den Arm und den Mann würde retten können, aber er tat stets sein Bestes, auch wenn das zuweilen heikel war. Manch einer wurde misstrauisch und sprach von dunklen Zauberkräften, wenn ein alvaeischer Heiler ein Leiden zu kurieren vermochte, an dem ein gewöhnlicher Bader oder Arzt scheiterte. Dieses Misstrauen war in den letzten Jahren schlimmer geworden – umso mehr, je weiter sich dieser neuartige Glaube an einen sogenannten Allvater in den gesamten Inselreichen ausbreitete.

Arved empfand nicht allzu viel Sympathie für diesen Glauben. Was war das für eine blödsinnige Vorstellung, dass ein einziges Wesen die ganze Welt beherrschte und ihren Bewohnern so enge Grenzen steckte? Er wurde den Eindruck nicht los, dass vielmehr die Priester dieser Gottheit wie Könige über ihre Untergebenen herrschen wollten, aber er behielt solche Gedanken für sich, denn sie konnten gefährlich werden. Seit vor wenigen Jahren in der Hafenstadt Farolaín ein großes Konzil stattgefunden hatte, bei dem viele Glaubenssätze festgelegt wurden und man nochmals zur Bekehrung derer aufrief, die immer noch zu den alten Göttern beteten, hatte sich der Allvaterglaube noch mehr in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Und in Ländern wie Tumbria, wo sie längst in der Mehrheit waren, konnte man in ernste Schwierigkeiten kommen, wenn man allzu offen mit seiner Ablehnung umging. Nichtsdestotrotz gingen auch hier die Menschen nur so weit, wie sie zu gehen bereit waren. Sie schlossen die Ehe, mit wem sie es wünschten, und wenn die vermeintlichen dunklen Zauberkräfte eines alvaeischen Heilers die letzte Rettung versprachen, nahmen sie auch diese in Anspruch.

»Ich bin bereit«, verkündete Arved, als er wieder in den Vorraum trat. »Die Schmiede ist die in der Frieur-Gasse, nicht wahr?«

»Genau die«, bestätigte der junge Mann und lief eiligen Schrittes voran.

Seit sieben Jahren lebte Arved nun in Frethingam. Er war weit davon entfernt, alle Straßen und Gassen zu kennen, aber im Umkreis seines Viertels fand er sich nahezu blind zurecht.

Die Schmiede war dunkel und stickig und Arved war froh, dass der Junge ihn wieder hinaus und über einen Hinterhof in ein Wohngebäude führte. Dort war es allerdings kaum weniger dunkel und stickig, denn die Fensterläden waren aus unerfindlichen Gründen geschlossen, aber wenigstens war es nicht unerträglich warm.

Er roch die Krankheit schon, ohne den Schmied überhaupt gesehen zu haben. Den bitter-süßlichen Gestank von Fäulnis, mühsam überdeckt von den flüchtigen Anklängen verbrannter Kräuter. Die Tür zu einem Nebenzimmer wurde aufgerissen und heraus trat eine beleibte, rotgesichtige Frau, deren Kopftuch verrutscht war und senfgelbe Strähnen offenbarte, die sich auf ihrer verschwitzten Stirn ringelten.

»Da seid Ihr ja endlich!« Für einen Moment glaubte Arved, sie würde ihn am Kragen packen und rütteln. »Ihr müsst meinen Mann retten, hört Ihr? Er braucht beide Arme und beide Hände zum Arbeiten und mein Sohn ist noch nicht mit seiner Lehre fertig. Wir hätten nichts mehr!«

»Ich werde mein Bestes tun«, gelobte Arved neuerlich und gab der aufgebrachten Frau mit einer sanften Geste zu verstehen, beiseitezutreten. »Aber Ihr müsst mich schon zu ihm lassen.«

Händeringend machte sie ihm Platz und er trat in die abgedunkelte Kammer, die nur von einem flackernden Kerzenlicht erhellt wurde. Die Luft war so dick, dass man sie in Scheiben hätte schneiden können.

»Gibt es hier kein Fenster?«, fragte Arved und unterdrückte ein Husten.

»Doch, aber der Arzt hat gesagt, wir sollen es geschlossen halten, weil sonst üble Luftzüge von Süden hereinziehen und die Krankheit verschlimmern können.«

»Was für ein Blödsinn«, murmelte Arved, suchte den Raum im Kerzenschein nach den Fensterläden ab und fand sie. Er tastete nach dem Riegel und öffnete ihn, riss die hölzernen Läden auf und ließ frische Luft und Licht herein.

»Was tut Ihr da?«, fragte die Schmiedin entsetzt.

»Die schädlichen Dämpfe der Krankheit hinaus-, und heilende Luft und Sonnenlicht hineinlassen«, erklärte er und wandte sich der Bettstatt zu, auf der er bereits eine Silhouette erkannt hatte. Diese offenbarte sich nun als ein überraschend gutaussehender Mann, der die vierzig Jahre überschritten haben mochte. Sein kurzgeschnittenes Haar und sein ebenfalls kurzer Bart schimmerten in einem dunklen, fast bronzen wirkenden Blond. Er besaß die typische, breitschultrige Statur eines Schmiedes, und sein kantiges Gesicht war vor Schmerz verzerrt.

»Ich grüße Euch, Mâster Thibaut«, sprach Arved und trat an das Bett, das aus kaum mehr als einer Decke und einem Strohsack bestand. »Ich bin gekommen, um Euch zu helfen.«

»Wenn Ihr meinen Arm nicht retten könnt«, keuchte der Schmied, »dann tötet mich besser gleich. Ohne ... ohne meine Arbeit hat alles keinen Zweck.«

»Ihr solltet nicht so reden«, widersprach Arved und nahm vorsichtig den verbrannten Arm in Augenschein. »Auch mit nur einem Arm könnt Ihr Euren Sohn immer noch anleiten, damit er die Schmiede eines Tages übernehmen kann.«

»Heißt das, Ihr könnt nichts tun?«

»Das weiß ich noch nicht. Ich muss mir die Wunde erst einmal genau ansehen.«

Matt ließ der Schmied den Kopf zurück auf die Matratze fallen. Es war kaum möglich, die Wunde zu untersuchen, weil sie von irgendeinem Quacksalber mit einer stinkenden, vermutlich mit Ziegendung versetzten Paste eingeschmiert worden war. Das Zeug würde Thibaut vergiften, wenn er es nicht schleunigst abwusch.

»Bringt mir warmes Wasser und saubere Leinentücher«, bat er die Schmiedin, die nach einem kurzen Zögern aus dem Zimmer eilte, um seiner Anweisung Folge zu leisten.

Währenddessen nahm er seine Tasche zur Hand und packte die mitgebrachte Salbe, die Tinktur und die Kräutermischung aus. Thibaut beobachtete jeden seiner Handgriffe mit erstaunlich wachen Augen, obwohl das Fieber ihm das Bewusstsein trüben musste. Gleich darauf kehrte die Schmiedin mit dem Wasser und den Tüchern zurück.

»Ich werde zunächst den Brei abwaschen«, erklärte er und tunkte eines der Tücher in das Wasser. »Er verschlimmert das Ganze nur, anstatt zu helfen.« Er hatte es sich angewöhnt, jeden seiner Schritte genau zu erklären. Das nahm den Menschen ihr Misstrauen und zeigte ihnen, dass hier keine dunklen Zauber im Spiel waren, sondern simple Heilkunde. Ein Wissen, das sich sein Volk über die Jahrhunderte, vielleicht sogar Jahrtausende angeeignet hatte.

»Wollt Ihr damit sagen, dass mein Mann bisher nur von Pfuschern behandelt worden ist?«, fragte die Schmiedin lauernd.

»Das will ich nicht«, versicherte Arved und setzte vorsichtig nach: »Aber offenbar kamen die Ärzte und Bader an ihre Grenzen, denn sonst wäre Euer Gemahl jetzt wieder gesund, nicht wahr?«

»Da habt Ihr wohl recht«, gab sie zu.

Vorsichtig wusch Arved dem Schmied den übelriechenden Brei vom Arm und bat die Schmiedin, die Tücher auszuspülen und noch einmal frisches Wasser zu bringen. Diesmal mischte er dem Wasser die Tinktur bei.

»Es wird brennen«, kündigte er dem Schmied an, während er ein Tuch tränkte.

Thibaut nickte tapfer. »Ich habe in den letzten Tagen schon schlimmere Dinge über mich ergehen lassen.«

Trotzdem schrie er, als das Tuch seine Wunde berührte, so laut, dass sein Weib vor Schreck die Fensterläden wieder zuschlug.

»Ich kann im Dunkeln nicht arbeiten!«, mahnte Arved und klang gereizter, als er es eigentlich beabsichtigt hatte. »Bitte öffnet das Fenster wieder.«

Widerwillig ging die Schmiedin seiner Anweisung nach. Arved säuberte die Wunde so gründlich wie möglich und sah sie sich genauer an. Es war nicht ganz so schlimm, wie er befürchtet hatte. Vielleicht ließ sich doch noch etwas retten.

»Ich habe eine Brandsalbe«, erklärte er. »Ich werde sie Euch auftragen und anschließend die Wunde mit sauberen Tüchern verbinden. Ihr dürft die Tücher nicht abnehmen, bis ich morgen wiederkomme und den Verband wechsle. Außerdem werde ich Euch einen Tee bereiten, der Eure Schmerzen stillt, das Fieber vertreibt und Euch schläfrig macht. Schlaf ist die beste Medizin, und während Ihr ruht, kann Euer Körper heilen. Morgen Vormittag komme ich wieder und versorge die Wunde erneut. Und dann wieder am nächsten Tag, und so weiter, in der Hoffnung, dass sie sich sauber schließt. Ich kann Euch nichts versprechen. Aber ich habe noch Hoffnung.«

Thibaut deutete ein schwaches Nicken an. »Daran werde ich mich festklammern.«

Arved bereitete den Trank zu und half dem Schmied, ihn in kleinen Schlucken zu sich zu nehmen. Als der Mann eingeschlafen und die Wunde für heute ordentlich versorgt war, ließ er sich von der Schmiedin entlohnen und trat hinaus in die deutlich kühlere Abendluft. Wenn er Glück hatte, würde Thibaut morgen noch leben und er konnte ihn weiterbehandeln. Wenn er Pech hatte und der Schmied starb, würde ihm nicht nur weiterer Lohn durch die Lappen gehen, sondern es drohten ihm Beschuldigungen der schlimmsten Art. Er hatte es bereits einmal erlebt, als er einen Mann nicht hatte retten können, der in seine Pflugschar gelaufen war. Dessen Bruder hatte Arved am Ende noch beschuldigt, den Tod beschleunigt anstatt verhindert zu haben. Die Frau des verstorbenen Mannes hatte das glücklicherweise anders gesehen und ihren Schwager beruhigen können, bevor er vor einem dieser unsäglichen Tempelgerichte Klage gegen ihn erhoben hatte.

Arved hatte sich das Leben als Heiler in der Hauptstadt Tumbrias anders vorgestellt. War überzeugt gewesen, dass die Menschen seine Dienste in Dankbarkeit anstatt Misstrauen annehmen würden. Als er damals nach einem langen, beschwerlichen Marsch hier angekommen war, hatte er beinahe drei Wochen gebraucht, um irgendwo eine Anstellung zu finden. Am Ende hatte sich ein yishkarischer Bader dazu erbarmt, ihn in seine Dienste zu nehmen, aber einem Yishkarer aus den fernen Ostlanden misstrauten die Leute kaum weniger als einem Alvaeon aus den Tiefen des Waldes. So hatte der Mann namens Dov Arved nicht viel bezahlen können, aber ihm freie Kost und Unterkunft geboten, und am Ende hatte Arved noch viel von ihm gelernt. Denn wenn man sich doch dazu durchgerungen hatte, den Yishkarer zu rufen, waren es stets besonders komplizierte Fälle, an denen die normalen Ärzte und Bader gescheitert waren. So erging es nun auch Arved, seit er vor einem Jahr genug Geld zusammengespart hatte, um selbständig als Heiler zu arbeiten und eine kleine Apotheke zu betreiben, in der die Menschen um Rat und Medizin für alltägliche und nicht ganz so alltägliche Krankheiten bitten konnten. Es warf nicht so viel ab, wie Arved es sich erhofft hatte, aber es reichte für ein einfaches Leben. Dennoch spielte er hin und wieder mit dem Gedanken, Frethingam zu verlassen und woanders sein Glück zu versuchen. Vielleicht im Fürstentum Tharog oder in Eharland, wo die meisten Menschen noch zu ihren alten Göttern beteten und Heiler nicht als mit dunklen Mächten im Bunde galten.

♔ ♔

Arved hatte Glück, denn die Wunde des Schmiedes begann zu heilen und die Entzündung abzuklingen. Das Fieber sank und nach einigen Tagen wagte er die vorsichtige Prognose, dass der Arm wahrscheinlich gerettet war.

Er ertappte sich dabei, wie er sich auf die Besuche bei Thibaut freute, denn der war ein attraktiver Mann mit einem saloppen Mundwerk, der seine Sympathie zu erwidern schien. Oft plauderten sie noch eine halbe Stunde, ehe sich Arved wieder auf den Rückweg machte. Nach etwa einem Monat hatte sich das Narbengewebe vollkommen über der Brandwunde geschlossen, sodass die Salbenverbände unnötig wurden. Seine Arbeit war damit vollendet.

»Ich weiß nicht, wie ich Euch danken soll«, erklärte Thibaut, als Arved ihm einen letzten Besuch abstattete, um sich die verheilte Wunde noch einmal anzuschauen und ihm Anweisungen für den zukünftigen Umgang mit der Narbe zu geben.

»Euer Lohn und Vertrauen sind mir Dank genug«, erwiderte er. Er spürte den Blick des Schmieds auf sich und das Begehren, das darin lag. Er konnte nicht abstreiten, dass er es durchaus erwiderte. Thibaut gefiel ihm und es war gute drei Jahre her, dass er sich zuletzt mit jemandem vergnügt hatte. Er war keiner, der vor Sehnsucht verging, wenn ihm nicht laufend jemand das Bett wärmte, aber ab und an sehnte er sich nach etwas Nähe, denn die meiste Zeit war er allein.

Thibaut beugte sich zu ihm nach vorn und senkte seine Stimme. Seine große, breite Gestalt verdeckte beinahe den kompletten Fensterrahmen. »Ich würde dich gern einmal in deiner Apotheke besuchen«, flüsterte er.

Arved schluckte. Er wusste nicht, ob das wirklich so eine gute Idee war, denn schließlich war der Mann verheiratet und er selbst ein Alvaeon, dem man misstraute. Dennoch ertappte er sich dabei, wie er zustimmend nickte, noch während er darüber nachdachte. »Besser erst nach dem Abendläuten«, gab er leise zurück. »Vorher kommen zu viele Leute zu mir.«

Thibaut nickte und sie verabschiedeten sich voneinander. Noch am gleichen Abend stand er vor Arveds Tür.

♔ ♔

Von da an kam der Schmied regelmäßig, um mit Arved zu schlafen, und obwohl der langsam, aber sicher die Lust daran verlor, wies er ihn nicht ab. Denn das, was sie nach dem eigentlichen Akt miteinander hatten, würde ihm vermutlich fehlen.

Thibaut war nicht so grob, wie seine Schmiedehände es vermuten ließen, aber er war auch kein zärtlicher, geduldiger Liebhaber. Danach jedoch blieb er stets noch eine gute Stunde bei Arved liegen, hielt ihn in seinen riesenhaften Armen und sprach mit ihm. Oder besser gesagt: Hörte die meiste Zeit zu, wenn Arved ihm über die Dinge berichtete, die ihn bewegten. Es tat gut, auch wenn Thibaut selten einen guten Rat für ihn hatte. Darum ging es Arved nicht. Dass er ein paar seiner Sorgen und Gedanken bei einem lebenden, atmenden Wesen abladen konnte, reichte ihm völlig aus.

»Du bist doch ein Alvaeon, oder?«, fragte ihn Thibaut eines Abends. Ihre Körper waren schweißüberströmt, denn in Arveds Kammer war es stickig und sie hatten Hochsommer. Ihre vorangegangenen Aktivitäten hatten nicht unbedingt zur allgemeinen Abkühlung beigetragen.

Arved stöhnte und rollte sich auf den Rücken. »Jetzt fang du bitte nicht auch noch an.«

»Womit denn?«, erwiderte Thibaut verwundert.

»Mir Vorwürfe wegen meiner Herkunft zu machen, weil du ein Problem mit dem Großkönig oder dessen Vorgänger hast.«

Thibaut runzelte die Stirn und schien ernsthaft irritiert. »Das hatte ich keineswegs vor. Aber in einer Sache hast du recht, denn über König Halvor wollte ich wirklich reden. Es gibt Gerüchte, dass er Truppen nach Tumbria entsenden will, um unseren braven König Tancred das Fürchten zu lehren. Dabei ist der doch lammfromm und man sagt, dass er sich kaum traut, seinen eigenen Dienern zu widersprechen.«

»Dann werden wohl keine Truppen nötig sein.« Arved wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn.

»Kennst du ihn denn persönlich? Den König Halvor?«

Er blinzelte Thibaut belustigt an, denn er war nicht der Erste, der ihm diese Frage stellte. »Nein. Nicht jeder Alvaeon kennt alle Alvaei persönlich. Du kennst ja auch nicht jeden Tumbrier.«

Offenbar war Thibaut das Thema nicht wichtig genug, um es weiter zu verfolgen, denn er beugte unvermittelt seinen Kopf herab und leckte eine schweißfeuchte Spur von Arveds Bauch. »Du bist so verdammt schön«, murmelte er, »aber ich habe gehört, das seid ihr alle. So ein Dorf voller alvaeischer Männer und Frauen muss das reinste Paradies sein. Ich würde sie alle um den Verstand vögeln.«

»Ich glaube, dein Verstand ginge als erster flöten«, bemerkte Arved grinsend und schob Thibaut mit leichtem Nachdruck von sich weg. »Schönheit liegt im Auge des Betrachters.«

»Ich kann mir keinen Betrachter vorstellen, dem bei deinem Anblick nicht eng in der Hose würde«, versetzte Thibaut, »oder feucht, wenn’s ein Weib ist.« Seine Hand glitt in Arveds Schritt, aber er hielt ihn am Gelenk fest.

»Nicht. Es reicht für heute.«

Thibaut gab ein ungehaltenes Brummen von sich. »Du bist im Moment ziemlich lustlos. Am Anfang warst du schier unersättlich und ich dachte schon, ich muss mir deine Brandsalbe noch auf den Schwanz schmieren. Aber jetzt führst du dich schon langsam auf wie mein Weib.«

»Vielleicht solltest du auch einmal wieder in ihr Bett gehen«, bemerkte Arved und setzte sich auf.

»Bin ich dir denn schon fad geworden?«

»Es hat nichts mit dir zu tun.« Er wusste selbst nicht, was ihn in letzter Zeit innerlich umtrieb. »Ich bin nur gerade wieder unsicher, ob ich mir vorstellen kann, ewig so weiterzumachen. Also, mit allem hier. Ob meine Zukunft wirklich in Frethingam liegt.«

»Zieht es dich woanders hin?« Thibauts Finger tänzelten gedankenverloren über seinen Oberschenkel,

»Irgendwie schon«, gab Arved zu. »Aber ich weiß nicht, wohin. Und wer sagt, dass es anderswo besser ist als hier? Alles kommt so anders als man es sich vorstellt.«

»Kommt Zeit, kommt Rat«, erwiderte Thibaut unverbindlich und beugte sich über Arveds Schoß. »Oder manchmal auch die gierige Zunge eines Schmieds.«

♔ ♔

Als die Natur die ersten Ausläufer des Herbstes zeigte, betrat ein außergewöhnlicher Gast Arveds Apotheke. Er war fein gekleidet und die Färbung seines Dialekts verriet, dass er nicht aus Frethingam oder der Umgebung stammte, sondern aus südöstlicheren Gefilden des Landes.

»Ich grüße Euch«, sagte Arved. »Wie kann ich Euch behilflich sein?«

»Gott zum Gruße. Seid Ihr der Heiler Arved Sainedact?«

»Der bin ich.« Sainedact, was in der tumbrischen Sprache so viel wie heilende Finger bedeutete, war ein Beiname, den ihm die Leute im Laufe der Jahre gegeben hatten.

»Man sagt, Ihr hättet die schwärende Brandwunde eines Schmieds geheilt, wo andere ihm schon die letzte Ölung erteilen wollten.«

»Ganz so war es nicht«, gestand Arved, »aber der Arm stand kurz vor der Amputation und ... ja, natürlich hätte auch die Gefahr bestanden, dass er es nicht überlebt. Wir konnten das Ruder jedoch noch einmal herumreißen.«

»Beeindruckend.« Der Mann strich sich über den gezwirbelten, rotblonden Schnurrbart. »Wisst Ihr, ich bin hier, weil ich mich erkundigen wollte, ob Ihr es in Betracht ziehen würdet, Eure Dienste auch außerhalb Frethingams anzubieten. Selbstverständlich gegen eine angemessene Entlohnung.«

Arved verschränkte die Finger vor seinem Bauch und musterte seinen Besucher prüfend. »Wie weit außerhalb Frethingams?«

»Nun ... schon etwas weiter weg«, gab der Besucher zu. »Verzeiht, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt: Mein Name ist Sieur Dardot Fricon. Ich bin im Auftrag des Grafen Gilbert de Aryet in der Stadt.«

Arved deutete ein Nicken an. »Sieur Dardot. Die Grafschaft Aryet ist ziemlich weit im Süden, wenn ich mich recht erinnere.«

»Das stimmt. Es ist eine Markgrafschaft an der Grenze zu Eharland.«

»Und der Graf wünscht meine Dienste?«

»Sozusagen.«

Arved stieß einen zischenden Atemzug zwischen den Zähnen hervor. »Ist es eine größere Sache? Ich frage, weil ich ungern mehrere Wochen unterwegs sein möchte, um am Ende einen eingewachsenen Zehennagel zu behandeln.«

Dardot entkam ein kleines Lachen, aber er wurde sofort wieder ernst. »Ich bin kein Arzt oder Bader, aber ich denke, es ist eine Sache, die einer längeren Behandlung bedarf. Ihr würdet selbstverständlich Kost und Unterkunft sowie eine großzügige Bezahlung erhalten.«

Arved stierte nachdenklich vor sich hin. Aryet. Bis dorthin dürfte man zu Pferde eine knappe Woche unterwegs sein. Aber drängte es ihn nicht schon seit einer ganzen Weile, Frethingam zu verlassen und zu sehen, ob die Dinge anderswo vielleicht besser waren? Das wäre eine Gelegenheit, ohne dass er sofort seine ganze Apotheke aufgeben musste. »Könnt Ihr mir sagen, um welches Leiden es geht?«

»Alte Narben und Brandwunden.«

»Wie lange seid Ihr noch in der Stadt?«

»Übermorgen reisen wir wieder ab. Es sind noch einige Besorgungen für die bevorstehende Vermählung des Grafen zu erledigen. Es wäre erfreulich, wenn Ihr Euch unserem Gefolge gleich anschließen würdet.«

»Gewährt mir eine Nacht Bedenkzeit«, bat Arved. »Kommt morgen um die gleiche Zeit wieder und ich werde Euch meine Entscheidung mitteilen.«

Sieur Dardot wirkte nicht eben glücklich über die Antwort, aber er nickte zustimmend und verabschiedete sich mit dem Versprechen, morgen zurückzukehren.

♔ ♔

Aryet. Der Gedanke ließ Arved den Rest des Tages nicht los, und als am Abend Thibaut die Apotheke betrat, erzählte er ihm prompt von dem außergewöhnlichen Gast mit der noch außergewöhnlicheren Bitte.

»Ich weiß das«, verkündete Thibaut zu seiner Überraschung. »Ich habe ihn zu dir geschickt.«

»Wie das?«, fragte Arved verwundert und schloss die Tür zu seiner Apothekenkammer ab.

»Nun ja, er wurde wiederum zu mir geschickt. Er macht Besorgungen für die Hochzeit seines Grafen und hatte eben auch den Auftrag, einen kundigen Heiler in der Stadt zu finden, der ihn möglichst noch vor der Vermählung von seinen wie auch immer gearteten Leiden kurieren kann. Er hat sich umgehört. Die alte Berthe hat ihn zu mir geschickt, damit er sich meine fachmännisch verarztete Brandwunde ansehen kann, und ich schickte ihn zu dir.«

»Hast du gewusst, dass er will, dass ich mit nach Aryet komme?«

»Natürlich, gerade deswegen habe ich ihn ja zu dir geschickt.« Thibaut zuckte mit den breiten Schultern und lächelte fast entschuldigend. »Es juckt dich doch schon lange, mal aus der Stadt herauszukommen.«

»Und es stört dich gar nicht, wenn ich einfach mal für ein paar Wochen oder vielleicht sogar Monate verschwinde?«

Thibaut lachte und klang regelrecht amüsiert, was Arved ein wenig kränkte. »Unsere Bettakrobatik wird mir schon fehlen, aber stell dir vor, ich bin ein großer Junge.« Er zwinkerte ihm schelmisch zu. »Du bist nicht der Einzige, mit dem ich es habe, schöner Arved. Wenn auch der Hübscheste und der, mit dem ich das Bett zur Zeit am liebsten teile.«

Arved schluckte an dem zähen Kloß, der sich plötzlich in seinem Hals gebildet hatte. Es beleidigte ihn ein wenig, dass er nicht der Einzige war, mit dem Thibaut seinen Spaß hatte, aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, hatte er genauso wenige Gefühle für den Schmied wie der für ihn. Arved war kein unbeschriebenes Blatt. Auch damals in Varle hatte er bereits körperliche Freuden mit anderen Männern genossen – ein wenig zu häufig und abwechslungsreich für den Geschmack der Ältesten. Dem waren jedoch auch längere Phasen der Enthaltsamkeit gefolgt, die ihm ebenso wenig ausmachten. Die ganze Sache war ihm dafür nicht wichtig genug.

»Dann lass uns vorerst ein letztes Mal unseren Spaß haben«, verkündete Arved schließlich. »Morgen Abend werde ich meine Reisetruhe packen, damit ich mich übermorgen mit der Delegation des Grafen auf den Weg nach Aryet machen kann.«

Kapitel 2

Grauer Stein und rote Rosen

Den Süden Tumbrias hatte sich Arved anders vorgestellt. Er hatte sonnige Hänge erwartet, frisches Grün und pralle Trauben, denn Tumbria war für seinen dunklen, wohlschmeckenden Wein berühmt.

»Wenn Ihr das wollt, müsst Ihr weiter nach Westen«, erklärte Sieur Dardot mit einem nachsichtigen Lächeln, nachdem Arved ihm seine Verwirrung mitgeteilt hatte. »Hier im Grenzgebiet zu Eharland fließt ein kalter Strom durch das große Meer und macht das Klima deutlich rauer als weiter westwärts. In Eharland wachsen stellenweise nicht einmal richtige Bäume, sondern nur Moose und Zwergsträucher. Ganz so ist es hier aber nicht, und im Sommer kann es an den Stränden auch wirklich schön werden.«

Das klang so arg bemüht, dass Arved den leisen Verdacht hatte, dass der Sommer sich hier auf kaum mehr als zwei, drei Tage beschränkte.

Das Anwesen des Markgrafen von Aryet war aus Stein so dunkelgrau wie die Wolken über ihren Köpfen, aber an einer Seite des herrschaftlichen Hauses rankten sich rote Kletterrosen, die der düsteren Fassade einen überraschenden Anstrich von Lieblichkeit verliehen.

»Willkommen in Aryet«, verkündete Mâster Dardot und schwenkte seinen Arm in einer Geste des Willkommens.

Er war ein angenehmer Reisegefährte gewesen – gesprächig, aber nicht entnervend, und äußerst gern zum Scherzen aufgelegt. Arved hatte deshalb Hoffnung, dass das triste Wetter und die graue Fassade des Anwesens täuschten und man sich hier allgemein einer fröhlichen Lebensart bediente.

Die hohe, doppelflüglige Tür des Eingangs wurde geöffnet und eine Frau in einem dunkelvioletten Kleid trat heraus. Sie war groß und schlank, das Haar schwarz wie die Nacht, und wäre ihr Gesicht etwas weniger streng und kantig gewesen, hätte man sie nach klassischen Maßstäben eine Schönheit nennen können. So jedoch wirkte sie eher herb.

»Ezilda, meine Blume!«, rief Dardot und stürmte mit offenen Armen auf die Dame zu, wirbelte sie einmal im Kreis und setzte sie wieder ab. »Was hast du mir gefehlt.«

Seine Gemahlin, schoss es Arved durch den Kopf. Er hatte Dardot eher eine rotwangige Matrone zugetraut, aber die beiden schienen ziemlich angetan voneinander. Während Diener die Reisekarren abluden und die Pferde versorgten, kam die herbe Dame am Arm ihres Gatten auf Arved zu.

»Wen hast du da mitgebracht, Liebster?«, fragte sie ihren Mann, hielt den Blick aber die ganze Zeit auf Arved gerichtet.

»Einen in Frethingam vielgerühmten Heiler für den Cont«, verkündete Dardot mit einer bedeutungsschwangeren Geste. »Arved Sainedact. Er kennt sich hervorragend mit Brandwunden aus. Der Cont wird begeistert sein.« Er klang wie ein Marktschreier, der seine Ware anpries, was Arved ein wenig peinlich war.

Ezilda wirkte denn auch eher skeptisch. »Vermutlich wieder einer von diesen vielen Quacksalbern, die meinem Bruder das Geld aus der Tasche ziehen.«

Arved versuchte, seine Beleidigung zu verbergen, und deutete eine Verbeugung an. »Ich verlange meinen Lohn stets erst nach getaner Arbeit, Medâme.« Sie war also die Schwester des Grafen. Dann musste Dardot in diesem Haushalt höhergestellt sein, als Arved ursprünglich vermutet hatte, denn schließlich war er somit der Schwager des Grafen.

»Und wie oft ist es schon vorgekommen, dass man Euch nicht bezahlt hat?«, wollte sie wissen.

»Zweimal«, gab er zu. »Beide Male habe ich die Patienten trotz aller Bemühungen nicht retten können.«

Sie hob eine ihrer fein gezupften Brauen und deutete ein Lächeln an, das ihr strenges Gesicht ein wenig milder wirken ließ. »Ihr seid ehrlich. Das bringt Euch zumindest schon einmal einen Pluspunkt bei mir ein. Ich finde übrigens, dass mangelnder Erfolg trotz aller Bemühungen kein Grund ist, jemanden nicht zu bezahlen. Es sei denn, derjenige hat den Kranken noch schneller ins Jenseits befördert.«

»Das habe ich gewiss nicht.«

Sie nickte. »Lasst uns ins Haus gehen und nicht länger in diesem scheußlichen Wind herumstehen. Mein Bruder will Euch sicher gleich kennenlernen.«

Eine seltsame Aufregung erfasste Arved, als er Dardot und Ezilda ins Haus folgte. Eine, die ihm bis in die Zehen kribbelte. Er hatte keine Ahnung, worauf er sich hier eingelassen hatte, denn so gesprächig, wie sein Begleiter auf der Reise gewesen war, so ausweichend und unbestimmt war er geblieben, wenn die Sprache auf den Grafen kam. Mit Absicht?

»Sorgt dafür, dass für unseren Gast eine Kammer gerichtet wird«, befahl die Dame einer Dienerin, die sogleich davoneilte. Dann wandte sie sich an Arved. »Möchtet Ihr zunächst eine Erfrischung, oder soll ich Euch gleich zu meinem Bruder führen?«

Arved überlegte kurz, aber dann entschied er sich, dass er diese Begegnung, auf die er schon die ganze Woche gespannt gewesen war, endlich hinter sich bringen wollte. »Ihr könnt mich gleich zu ihm führen, wenn Ihr wollt.«

Ezilda nickte und gab ihm mit einer Geste zu verstehen, ihr zu folgen. Sie durchquerten die hohe Eingangshalle in Richtung des Westflügels und erklommen eine mit weinrotem Teppich ausgelegte Steintreppe. Trotz der Butzenfenster war es düster hier, denn durch das trübe Wetter fiel nur wenig Licht in das Gebäude.

Nach der Treppe folgte ein weiterer, langer Gang. Auch dieser war mit dem gleichen, weinroten Teppich ausgelegt, der auch auf den Stufen lag und ihre Schritte dämpfte. Offenbar mochte man auf Aryet Manoir keinen Lärm. Zumindest keinen von trampelnden Füßen. Am Ende des Ganges befand sich eine Tür aus massivem, blau gestrichenem Holz, verziert mit kunstvoll geschmiedeten Ornamenten. Ohne Frage musste dieser Graf wohlhabend sein.

Ezilda klopfte an, öffnete die Tür einen Spalt und streckte den Kopf hinein. »Dardot ist zurückgekehrt. Er hat einen Heiler mitgebracht, der dich gerne kennenlernen würde. Dürfen wir eintreten?«

Offenbar nickte der Graf nur stumm, denn Arved hörte keine Antwort, aber Ezilda öffnete die Tür ein Stück weiter und warf ihm einen auffordernden Blick zu. Arveds Aufregung wuchs ins Unendliche. Das Einzige, was er über den Grafen wusste, war, dass dieser um die vierzig Jahre alt war und in wenigen Wochen die junge Tochter eines lokalen Fürsten aus Eharland heiraten wollte, um die Bündnisse an den Grenzen zu stärken. Er hatte keine Ahnung, wie er ihn sich vorstellen sollte, aber aus irgendwelchen Gründen hatte sich ihm das Bild eines feisten, kahlköpfigen Kerls in den Kopf gesetzt, dem das Wams spannte und der seine Tage vorzugsweise in einem weich gepolsterten Sessel sitzend verbrachte. Was er indes zu sehen bekam, als er die Räumlichkeit betrat, war das vollkommene Gegenteil.

Der Mann war groß und schlank, fast schon hager. Kein Schmerbauch spannte das schwarzviolette Wams, sondern hohe, gerade, fast eckig wirkende Schultern. Dunkles Haar fiel ihm in schwungvollen Wellen bis auf die Schultern, und die rechte Hälfte seines kantigen, seiner Schwester sehr ähnlichen Gesichts war von einer ledernen Maske bedeckt.

»Bruder, das ist der Heiler namens Arved Sainedact. Dardot sagt, er kenne sich sehr gut mit Brandwunden jeder Art aus. Arved, das ist mein Bruder, Graf Gilbert de Aryet.«

Mit Schrecken fiel Arved auf, dass er nicht den Hauch einer Ahnung besaß, wie er sich gegenüber einem Grafen zu verhalten hatte. Vorsichtshalber verbeugte er sich, um niemanden zu brüskieren.

»Lass uns allein«, forderte de Aryet seine Schwester auf. Seine Stimme klang rau, leise, und doch durchdringend.

Wortlos entfernte sich Ezilda und schloss die Tür hinter sich. Arved sah sich kurz in dem von Talglichtern erleuchteten Raum um und stellte fest, dass er tatsächlich mit dem Grafen alleine war. De Aryet musterte ihn abschätzig und Arved war regelrecht überrascht, dass er nicht den winzigsten Anflug von Begehren in seinem Blick erkannte, sondern nichts als kühle Distanz. Das Auge, das nicht unter der Ledermaske verborgen lag, besaß eine außergewöhnliche Farbe, die Arved bisher weder an einem Menschen, noch an einem Alvaeon gesehen hatte: Es war violettblau wie die Veilchen, die er vor Jahren auf seiner Reise nach Frethingam auf einer Gebirgswiese entdeckt hatte.

»Ihr seid zu jung für einen erfahrenen Heiler«, schloss der Graf nach einem endlosen Augenblick und wandte sich ab.

»Der Schein trügt manchmal«, gab Arved zurück. Für einen Alvaeon war er zwar recht jung, aber an Menschenjahren zählte er genug, um ausreichend Erfahrung gesammelt zu haben, auch wenn man es ihm nicht ansah.

»Und bei Euch trügt er?«

»Was meine äußere Erscheinung angeht, vermutlich. Ich bin seit vielen Jahren als Heiler tätig und habe mehrere Schulen durchlaufen.«

»Welche Schulen?«

»Menschliche und ... und alvaeische.« Er wartete eine Reaktion ab, aber es kam keine, also sprach er weiter. »Mein Volk ist für seine Heilkunst bekannt und ich wurde vom besten Heilkundigen meines Dorfes unterwiesen. Später ging ich in die Stadt und lernte noch eine andere, praktischere Art der Medizin bei einem yishkarischen Arzt.«

Der Graf verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wandte sich ab, schritt hinüber zu dem dick verglasten Fenster und blickte hinaus. »Einen Yishkarer hatte ich auch schon hier. Wie alle anderen konnte er nichts tun.«

»Nun, ich kann Euch auch nicht versprechen, dass ich etwas gegen Euer Leiden tun kann«, erwiderte Arved, »aber ich will es versuchen. Zuerst einmal müsste ich dafür allerdings erfahren, worum genau es geht.«

Wortlos fasste de Aryet in sein Haar am Hinterkopf und begann die darunter versteckten Schnüre zu lösen, die seine lederne Maske an ihrem Platz hielten. Er nahm sie ab und legte sie vorsichtig auf die Fensterbank. Dann drehte er sich um.

Arved sah, worunter der Graf litt, und er sah auch, dass er nicht viel dagegen würde tun können. Die gesamte rechte Gesichtshälfte war nichts als eine wüste Narbenlandschaft. Was vom Auge übrig war, erschien milchig weiß und der Mundwinkel hing ein wenig herab, was das ohnehin schon harte Gesicht noch strenger erscheinen ließ.

»Könnt Ihr irgendetwas gegen meine Entstellung tun?«

Der leise, verzweifelte Anklang in seiner Stimme berührte etwas in Arveds Herzen, sodass er nicht direkt und ohne Umschweife mit einem Nein antworten konnte.

»Ich muss es mir genauer ansehen«, erwiderte er stattdessen. »Würdet Ihr Euch bitte setzen?«

Widerspruchslos gehorchte der Graf seiner Aufforderung. »Ihr seid der Erste, der keinen Laut des Entsetzens von sich gegeben hat, als ich die Maske abgenommen habe«, bemerkte er beiläufig.

»Was sollte so ein Laut auch bringen?«, versetzte Arved. »Ich glaube nicht, dass Ihr Euch dadurch besser fühlen würdet.«

»Wohl wahr.«

Arved trat näher und nahm die entstellte Gesichtshälfte genauer in Augenschein. Bildete er es sich ein, oder roch der Mann sogar nach Veilchen? Es war kein passender Duft für einen Mann, schon gar nicht für einen, der so hart und streng erschien wie de Aryet.

»Wo habt Ihr Euch diese Verletzungen zugezogen?«

»Krieg«, erwiderte der Graf kurz angebunden. »Ein Feuer.«

»Verstehe.« Es war kaum ein Stück gesunde Haut übrig, nur wulstiges, festes Narbenfleisch. »Darf ich Euer Gesicht berühren?«, fragte Arved zaghaft.

De Aryets Miene blieb ausdruckslos, aber Arved erkannte ein winziges Flattern seiner Lider. »Tut, was nötig ist.«

Er begann die Narben zu betasten. Sie waren sehr fest und uneben, vermutlich nur mühsam verheilt.

»Sie spannen fürchterlich«, begann der Graf unvermittelt zu berichten. »Manchmal habe ich das Gefühl, meine rechte Gesichtshälfte sei aus Stein. Ich fühle dort kaum etwas und alles ist so schrecklich starr.«

»Ja.« Arved widerstand dem Impuls, über die vernarbte Wange zu streicheln. »Lasst mich ehrlich zu Euch sein. Das, was das Feuer verbrannt hat, kann ich nicht wiederherstellen. Dazu müsste ich zaubern, und im Gegensatz zu allen Gerüchten sind wir Alvaei keine Zauberer. Was ich tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass die Narben glatter und elastischer werden. Dadurch könnt Ihr das Gesicht dann auch wieder besser bewegen und es wird gefälliger wirken.«

»Ihr versprecht mir nicht das Blaue vom Himmel?« De Aryet klang verwundert.

»Warum sollte ich?« Arved schüttelte den Kopf. »Ich könnte es nicht halten. Ich sage Euch das, was ich tun kann. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.«

»Ich weiß Eure Ehrlichkeit zu schätzen«, erwiderte der Graf.

»Das hat Eure Schwester auch schon zu mir gesagt«, entfuhr es Arved, aber de Aryet ging bis auf ein kurzes Heben seiner dichten, geschwungenen Braue nicht darauf ein.

»Schafft Ihr es bis zu meiner Hochzeit?«

»Wann ist die?«

»In vier Wochen.«

Arved stieß einen langen Atemzug aus. »Die Behandlung wird sich über Monate erstrecken«, erklärte er. »In vier Wochen werdet Ihr sicher schon eine deutliche Verbesserung bemerken, aber am Ziel sind wir dann noch lange nicht.«

Zu seiner Überraschung nickte der Graf verständnisvoll. Er hatte eher einen Ausdruck des Unmuts erwartet. »Das ist besser als nichts. Ich hoffe, dass Eure Behandlung etwas nützt. Für mich und für Euch. Wann können wir beginnen?« Er erhob sich von seinem Sessel und legte seine Maske wieder an.

»Gleich morgen, wenn es Euch recht ist.«

»Ist es. Bis dahin fühlt Euch wie zu Hause auf Aryet Manoir. Ihr seid dazu eingeladen, mit meinem höheren Gefolge an der Tafel zu speisen.«

»Ich danke Euch, Cont.« Arved deutete aus Verlegenheit abermals eine Verbeugung an. »Eine Frage hätte ich allerdings noch.«

»Ja?«

»Wollt Ihr gar nicht wissen, ob die Behandlung schmerzhaft sein wird?«

Völlig unerwartet zeigte sich der winzige Anflug eines Lächelns auf den erstaunlich wohlgeformten, nicht zu vollen Lippen. »Nein. Das spielt keine Rolle für mich.«

♔ ♔

Am Abend wurde Arved in den Speisesaal geführt. Die Leute starrten ihn nicht auffällig an, als er den Raum betrat, aber dennoch spürte er verstohlene, neugierige Blicke auf sich. Er konnte es ihnen nicht verdenken. Schließlich war er ein Fremder und durch seine einfache, ein wenig abgetragene Kleidung stach er zusätzlich auf eine Art und Weise hervor, die ihm nicht unbedingt angenehm war. Aber er besaß einfach keine feine Garderobe. Er hatte nie eine gebraucht und hätte sie sich obendrein auch gar nicht leisten können.

Er wurde an einen Platz am unteren Ende der Tafel geführt, wo er zwischen einem zierlichen, freundlich schauenden Mädchen und einem molligen, ebenso freundlich schauenden jungen Mann platziert wurde. Weiter vorn entdeckte er Dardot und Ezilda. Etwas von der Anspannung fiel von Arved ab. Dafür, dass der Graf einen eher düsteren Eindruck machte, schienen viele Angehörige seines Haushalts eher gutgelaunt. Das weckte die Hoffnung, dass die Zeit hier nicht allzu trist werden würde.

»Willkommen in der Grafschaft Aryet«, raunte ihm der Mollige zu. »Mein Name ist Julot. Ich bin ein Neffe des Grafen. Und das da neben Euch ist meine Schwester Catlinne. Wir sind hier gerade auf Besuch, wegen der baldigen Hochzeit. Eigentlich sollte sie schon in zwei Wochen sein, aber sie wurde aufgeschoben.«

»Verzeiht, dass mein Bruder schon tratscht, bevor er Euch überhaupt zu Wort kommen lässt. Also, wer seid Ihr? Ein Heiler, habe ich gehört.«

Arved wandte sich ihr zu und nickte. »Arved Sainedact nennt man mich.«

Julot beugte sich zu ihm herüber. »Mein Onkel–«

Plötzlich verstummte er, wie auch alle anderen Gäste im Saal. Alle Blicke richteten sich auf die Tür, durch die eine dunkel gekleidete Gestalt trat, gefolgt von einer Dame und einem Mann, der wie ein Priester gewandet war. Arved war überrascht. Er hatte erwartet, dass der Graf den freien Platz an der Stirnseite der Tafel besetzen würde, aber stattdessen ließ sich dort nun eine ältere, herrisch dreinblickende Frau mit einem pompösen Kopfputz nieder.

»Wer ist das?«, flüsterte Arved irritiert.

»Die Gräfin«, erklärte Catlinne.

»Die Gräfin? Aber ich dachte, der Graf heiratet erst noch?«

Julot unterdrückte sichtlich ein Kichern. »Sie ist seine Mutter. Wir nennen sie immer–«

Er verstummte abermals, als der strenge Blick der Dame ihn traf. Sie unterzog jeden Gast an der Tafel einer Musterung mit ihren dunklen, beinahe schwarz erscheinenden Augen. Auch Arved. Sie kommentierte seine Anwesenheit nicht, obwohl ihr Ausdruck verriet, dass irgendetwas an ihm ihr nicht behagte.

»Das Tischgebet, Vater Balduin.« Ihre Stimme klang kalt wie Metall und der südliche Dialekt war stark ausgeprägt. Sie sprach ihn mit merklichem Stolz.

Der Priester faltete die Hände und alle anderen Anwesenden taten es ihm gleich. Notgedrungen schloss sich Arved ihnen an, obwohl er kein Anhänger dieses Glaubens war. Er wollte jedoch nicht gleich an seinem ersten Tag hier negativ auffallen.

»Gott, der Allvater segne dieses Mahl und alle, die daran teilhaben, die Felder, auf denen die Früchte gediehen sind und die Wiesen, auf denen das Vieh gegrast hat. Die Bauern für ihre Ernte, die Köche für ihre Kunst. Und besonders gesegnet seien der Graf und die Gräfin von Aryet, die uns an ihre Tafel geladen haben. Wir danken dir, Allvater. So sei es.«

»So sei es«, antworteten die Anwesenden und Arved bewegte zumindest seine Lippen dazu.

Die Speisen wurden aufgetragen und allein der Geruch ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er hatte zuletzt am Morgen etwas gegessen und so gut wie hier hatte er schon seit Jahren nicht mehr gespeist. Es gab Schweinefleisch in brauner Soße, mit Schinken umwickeltes Gemüse, eine Suppe von Muscheln und Meeresfisch, verschiedene Salate und dunkles, kräftiges Brot mit goldgelber Butter. Arved fühlte sich, als säße er an der Tafel des Königs persönlich.

»Also, was ich vorhin sagen wollte«, erklärte Julot kauend, »wir nennen die Gräfin heimlich Medâme Corbel.«

»Frau Krähe?«, fragte Arved amüsiert.

Julot feixte in seine Hand und lief vor Belustigung rot an. »Genau. Schau sie dir doch an.«

Arved wagte einen Blick nach vorn zu der Gräfin, die mit verkniffener Miene in ihrem Essen stocherte. »Warum ist sie so schlecht gelaunt? Und wo ist der Graf?«

»Onkel Gilbert – ich meine, der Graf, isst nie hier mit uns«, erklärte Catlinne. »Er nimmt seine Mahlzeiten stets allein in seiner Kammer zu sich.«

»Warum denn das?«

»Er mag es nicht, wie die Leute starren.«

Arved schluckte. De Aryet litt augenscheinlich furchtbar unter seiner Entstellung. Er fand es traurig, dass Menschen sich selbst vom Leben um sie herum abschnitten, nur weil sie einen äußerlichen Makel besaßen, für den sie zumeist nicht einmal etwas konnten. Vielleicht sollte er einmal mit dem Grafen darüber reden. Andererseits ging es ihn nichts an. De Aryet war ein erwachsener Mann und traf seine eigenen Entscheidungen.

Nach dem Essen, bei dem er sich noch angeregt mit Julot und Catlinne unterhalten hatte, ging er zurück auf seine Kammer. Man hatte ihm ein herrliches, weiches Bett gerichtet, wie er es in seinem ganzen Leben nicht gehabt hatte. Die Matratze war zwar auch hier mit Stroh gefüllt, aber darüber war noch einmal ein weiches Laken gebreitet, und das Kissen und die Decke waren mit Gänsefedern gefüllt. Mit Federn! Das waren paradiesische Zustände.

Bevor er sich schlafen legte, suchte Arved die passenden Zutaten für die Kräutertinktur heraus, die er dem Grafen morgen mischen wollte. Es war eine scharfe Substanz, die auf der Haut brannte und sie ein wenig wund machte, aber nach der Heilung würde das Narbengewebe flacher und weicher. Man musste es in bestimmten Abständen wiederholen und die Haut in der Zeit dazwischen mit Kräutern und Salben behandeln, aber man konnte das Erscheinungsbild der Narben damit erheblich abmildern. Allerdings hatte Arved diese Methode noch nie in einem Gesicht angewandt. Deshalb beschloss er, die Mischung nicht ganz so konzentriert anzusetzen und erst einmal vorsichtig an die Sache heranzugehen.

Er hatte geglaubt, dass er sofort in seliger Erschöpfung einschlafen würde, sobald er sich ins Bett legte, aber stattdessen lag er wach und dachte über Gilbert de Aryet nach. Der Graf lebte hier also mit seiner Mutter, seiner Schwester, dem Schwager und anderen Angehörigen, schien selbst jedoch sehr zurückgezogen. Ihre erste Begegnung war nicht direkt von Antipathie geprägt gewesen, aber de Aryet besaß kein Wesen, von dem man sich herzlich empfangen oder sonst irgendwie angezogen fühlte. Seine Fassade schien so hart und kalt wie die Steinmauern seines Anwesens. Arved verspürte eine Welle von Mitleid für die zukünftige Braut des Grafen, wer auch immer diese war. Schließlich wurde er doch noch von der Müdigkeit übermannt und sank in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

♔ ♔

Am nächsten Vormittag begab er sich mitsamt der Tinktur und einer Kräutersalbe, die er angemischt hatte, zur Kammer des Grafen. Er wurde bereits erwartet und durfte direkt eintreten.

»Guten Morgen, Cont«, grüßte er.

Der Graf, der ihm mit dem Rücken zugewandt am Fenster stand, drehte sich um. »Euch auch einen guten Morgen. Wie war Eure erste Nacht auf Aryet Manoir? War alles zu Eurer Zufriedenheit?«

Es klang mehr floskelhaft denn wirklich interessiert, und so antwortete Arved: »Es war alles wunderbar. Vielen Dank.« Allerdings hätte er auch wirklich nichts auszusetzen gehabt.

»Beginnen wir jetzt mit der Behandlung?«, wollte de Aryet wissen.

»Ja. Ich habe eine Tinktur angemischt, die ich auf die narbige Haut auftragen werde. Es wird brennen«, warnte er. »Aber es sorgt dafür, dass die verhärteten Narben aufweichen. Danach tragen wir eine Salbe auf die Haut auf, um sie geschmeidig zu halten. Diese Behandlung müssen wir öfter wiederholen.«

»Dann lasst uns keine Zeit verlieren.« Unvermittelt begann er die Schnürung am Kragen seines Leinenhemdes zu lösen und sein Wams aufzuknöpfen. Als er Arveds irritierten Blick bemerkte, hielt er inne. »Ist etwas nicht in Ordnung?«

»Doch, aber es ist nicht nötig, dass Ihr Euch dafür auszieht.«