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Eine geheimnisvolle Begegnung auf dem Markt. Ein Drachentöter, der nicht einmal ein Schwert halten kann. Prinz Nin-Gâl, der schmächtige, jüngste Sohn des Fürsten von Iru, steckt seine Nase am liebsten in alte Bücher. Deshalb ist er zutiefst erschüttert, als er zum Berg Baladan ausgesandt wird, um den letzten Drachen von Iru zu töten. Oder zu sterben. Zu seiner Überraschung trifft er dort auf Ardnâ, einen attraktiven, geheimnisvollen Mann, für den er heimlich schwärmt, seit dieser ihm einst auf dem Markt ein wertvolles Buch geschenkt hat. Ardnâ offenbart sich als der schwarze Drache vom Baladan, und er sieht, was Nin selbst nicht weiß: Auch in seinen Adern fließt Drachenblut. Plötzlich gehört Nin zu denen, die von den Menschen gehasst und gejagt werden. Und obwohl er sich selbst immer mehr mit seiner neuen Identität anfreundet und ein leidenschaftliches, verbotenes Feuer zwischen ihm und Ardnâ entbrennt, scheint die einstige Freundschaft zwischen Menschen und Drachen nicht mehr zu retten zu sein ... Das Lied der letzten Drachen ist eine Mischung aus High Fantasy mit Dragon Shifter (Drachenwandler) und Romantasy. Es ist ein Einzelband und nicht Teil einer Reihe.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Gay Fantasy
© Urheberrecht 2025 Jona Dreyer
Impressum:
Tschök & Tschök GbR
Alexander-Lincke-Straße 2c
08412 Werdau
Text: Jona Dreyer
Coverdesign: Casandra Krammer – www.casandrakrammer.de
Covermotiv: © stopkin – Shutterstock.com, xadartstudio, kjpargeter, Vector_corp, craftlab a.prozo – freepik.com
Lektorat/Korrektorat: Kelly Krause & Shannon O’Neall
Kurzbeschreibung:
Eine geheimnisvolle Begegnung auf dem Markt.
Ein Drachentöter, der nicht einmal ein Schwert halten kann.
Prinz Nin-Gâl, der schmächtige, jüngste Sohn des Fürsten von Iru, steckt seine Nase am liebsten in alte Bücher. Deshalb ist er zutiefst erschüttert, als er zum Berg Baladan ausgesandt wird, um den letzten Drachen von Iru zu töten. Oder zu sterben. Zu seiner Überraschung trifft er dort auf Ardnâ, einen attraktiven, geheimnisvollen Mann, für den er heimlich schwärmt, seit dieser ihm einst auf dem Markt ein wertvolles Buch geschenkt hat.
Ardnâ offenbart sich als der schwarze Drache vom Baladan, und er sieht, was Nin selbst nicht weiß: Auch in seinen Adern fließt Drachenblut. Plötzlich gehört Nin zu denen, die von den Menschen gehasst und gejagt werden. Und obwohl er sich selbst immer mehr mit seiner neuen Identität anfreundet und ein leidenschaftliches, verbotenes Feuer zwischen ihm und Ardnâ entbrennt, scheint die einstige Freundschaft zwischen Menschen und Drachen nicht mehr zu retten zu sein ...
Über die Autorin
»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«
Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.
Diesen Roman widme ich meinem Kater Zetti, den wir wegen seiner drachenhaften Augen gern »Smaug« genannt haben.
Ich: Ich werde wohl nie einen Drachen-Fantasyroman schreiben.
Auch ich: Hier ist mein Drachen-Fantasyroman!
Wenn ich nach zehn Jahren als Autorin inzwischen eines weiß, dann: Sag niemals nie.
Der Plot zu dieser Geschichte fiel mir auf der Heimfahrt von der vergangenen Buch Berlin ein – eine Messe, deren Besucher süchtig nach Drachenbüchern zu sein schienen! Da habe ich mich gefragt: Was könnte so ein Drache in seinem Berg mit seinen Schätzen wohl so machen? Und plötzlich landete einer in meinem Kopf und verriet mir alles.
In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß beim Lesen!
Nin-Gâl »Nin« [ninn’gall]: Prinz, Sohn des Fürsten von Iru
Dakhos [da’koss]: Fürst von Iru, Nins Vater
Zirat-Banû [zi’rat ba’nuh]: Fürstin von Iru, Nins Mutter, Schwester des Fürsten von Gan
Sin-Inun [sinn’inuhn]: Thronfolger von Iru, Nins älterer Bruder
Eruju [ä’ru-ju]: Tochter des Fürstenpaars, Nins ältere Schwester
Haban [ha’bahn]: Erujus Ehemann, Nins Schwager, neuer Thronfolger
Nebo [nee’boh]: Bauernsohn auf einem Hof nahe der Hauptstadt
Lik-Bâ [lick-bah]: Knecht, Freund von Nebo
Zadug [zah’dugg]: Bauer, Nebos Vater
Buval [bu’wahl]: Stadtbewohner
Ilgi [ill’gi]: Stadtbewohner
Mot [mott]: Bäckerin, fürstliche Pastetenlieferantin
Gilgati [gill’gahti]: Ehemaliger Offizier, Mots Ehemann
Arakhu III. [arra’ku]: Fürst von Gan, Nins Onkel mütterlicherseits
Nabu-Dim [nahbu’dimm]: Fürst von Daga
Izdubardnâ »Ardnâ« [issdub’ahrdna]: Der letzte Drache vom Berg Baladan in Iru
Mutter Vethri [weetri]: Eine der ältesten der Drachen-Ahnen
Marudarâk [maruh’darack]: Legendärer Drachenkönig aus vergangener Zeit
Belsunath [bell’sunatt]: Die letzte Drachin von Gan
Kuduriuzûr »Uzûr« [kuduri-usuhr]: Belsunaths verschollener Gemahl
Rubathi [ru’bahti]: Ardnâs Mutter
»PRINZ, WARTET!«, RIEF einer der Wachmänner mit zunehmender Verzweiflung in der Stimme. »Prinz!«
Nin gab vor, ihn nicht zu hören, und schlängelte sich flink durch die Menschenansammlungen auf dem Markt. Er hasste es, dass er die Stadt nur mit Begleitung besuchen durfte. Als ob sich jemand für ihn, den farblosen Drittgeborenen, interessierte – ja, ihn überhaupt erkannte! Das war lächerlich. Nin entkam den Wachen, so oft er konnte.
Kurz hielt er inne und stellte sich auf die Fußspitzen, reckte den Hals, um nach dem Marktstand Ausschau zu halten, den er suchte. Dort! Verschlissene Ledereinbände, vergilbtes Papier. Der antiquarische Buchhändler. Dort wollte er hin.
Aufgeregt drängte er sich zwischen verschwitzten Leibern und polternden Karren hindurch, immer verfolgt von seinen verzweifelten Wächtern, die sich einfach nicht abschütteln ließen. So gern würde er allein und unerkannt über diesen Markt streifen, aber sobald die Leute die großen, dunkel gekleideten, bewaffneten Männer sahen, stoben sie auseinander und behandelten Nin anders. Nicht mehr wie einen gewöhnlichen Marktbesucher, sondern wie jemanden, vor dem man sich fürchten musste.
»Seid gegrüßt!«, rief er und trat an den Stand heran.
»Seid ebenso gegrüßt, Prinz Nin«, erwiderte der Händler, ein bärtiger, weißhaariger Kauz.
Nin zog eine Grimasse. »Was hat mich verraten?«
»Nun – die Tatsache, dass Ihr erst letzten Monat meinen Stand besucht habt?« Der Alte lachte knarzend. »Ich sehe zwar nicht mehr so gut wie früher, aber Euer Gesicht erkenne ich. Womit kann ich Euch heute dienlich sein?«
»Ich suche mal wieder eine ganz bestimmte Art von Buch«, gab Nin zur Auskunft. »Alte Chroniken über unser Land. So alt wie möglich. Am besten aus der Zeit vor König Ammenon.«
»Eure Wünsche sind immer sehr speziell, Prinz«, bemerkte der Händler und blickte nervös auf, als Nins Wachen hinter ihn traten. Oh, wie er es hasste. »Aber ich will sehen, was ich für Euch finden kann. Moment ...« Er wühlte sich durch die Einbände und lose gebundene, spröde Seiten. »Vielleicht ... das hier.« Er reichte ihm ein abgegriffenes Buch aus rötlichem Leder.
Nin nahm es in die Hand, schlug es auf und überflog rasch den Inhalt der ersten Seiten. »Das scheint aus der Regierungszeit von König Mil-Sihû zu sein. Das ist zu spät, aus der Zeit habe ich schon etliches.«
»Das ist über hundert Jahre her«, gab der Händler zu bedenken. »Aus der Zeit vorher sind kaum noch Werke erhalten. Vor allem keine, die noch jemand lesen kann.«
»Ich kann die marudische Schrift lesen, falls Ihr das meint.«
Erstaunt hob der Alte die buschigen Brauen. »Ist das so?«
»Ja. Ich besitze ein altes Märchenbuch aus der Zeit. Damit hab ich es mir beigebracht.«
»Beeindruckend. Wirklich beeindruckend, Prinz, aber ich fürchte, mit Büchern in marudischer Schrift kann ich Euch heute nicht dienen. Wenn ich die in meinem Sortiment hätte, wüsste ich das.«
Nin stieß ein enttäuschtes Schnauben aus. »Es muss nicht auf Marudisch sein. Hauptsache, aus der Zeit vor König Mil-Sihû, am liebsten vor Ammenon. Egal, was es ist.«
»Ich fürchte, dass ich das nicht–«
»Ich denke, Ihr sucht das hier«, unterbrach ihn eine Stimme, die vor Tiefe vibrierte.
Eine gepflegte, mit kostbaren Ringen geschmückte Hand erschien in Nins Blickfeld und hielt ihm einen schwarzen Einband mit goldenen, marudischen Schriftzeichen entgegen.
»Was ...« Nin nahm das Buch in die Hand, ehe er aufblickte.
Der Mann, der vor ihm stand, musste ein Edler sein, das verriet seine Kleidung – ein Umhang aus schwarzem Brokat, bestickt mit goldenen Fäden, darunter Tunika und Hose aus einem dunklen, irisierenden Stoff sowie ein Wams aus feinem Leder. Sein langes, schwarzes Haar schimmerte in der Mittagssonne rötlich. Er mochte um die dreißig Jahre alt sein. Vielleicht ein Prinz. Aber Nin kannte ihn nicht.
»Was ist das?«, fragte Nin und meinte damit das Buch und den Mann zur gleichen Zeit.
»Überlieferungen aus Iru, aus der Zeit vor König Hardas.«
Nin klappte der Kiefer herunter. »Ist das wahr? Dann muss das ja mindestens dreihundert Jahre alt sein! Noch weit vor Ammenon.«
»So ist es.«
Interessiert nahm Nin den Fremden, dem er kaum bis zur Schulter reichte, in Augenschein. Er wirkte fast schon wie ein König. Aber Nin sah nirgends Wachen oder ein Gefolge. »Wo habt Ihr das her?«
»Ich habe es erst vor wenigen Augenblicken erstanden.«
»Hier?«, hakte Nin nach und wies auf den Stand des Antiquitätenhändlers.
»Nein. Es lag am Stand eines Krämers, der alten Tand verkaufte, zwischen einem rostigen Kerzenleuchter und einem angelaufenen Spiegel.«
»Oh.« Auf die Idee, bei solchen Händlern nach alten Büchern zu schauen, war Nin noch nie gekommen. »Na schön.« Er hielt dem Fremden das Buch hin. »Ich wünsche Euch damit viel Freude. Und gebe zu, dass ich ein wenig neidisch bin.«
»Behaltet es.«
»Wie bitte?«, erwiderte Nin verdutzt.
»Ihr habt mich schon verstanden. Behaltet das Buch, ich schenke es Euch. Ihr scheint ja ganz begierig darauf zu sein, etwas über die frühere Geschichte Irus zu erfahren.«
»Das bin ich«, bestätigte Nin mit einem etwas verschämten Lachen. »Ihr nicht? Ihr habt das Buch doch sicher nicht nur wegen seines hübschen Einbandes erstanden.«
»Ich weiß die eine oder andere Sache aus dieser Zeit«, gab der Fremde zurück. »Für mich wäre es eher Nostalgie denn neues Wissen. Ich wünsche Euch viel Freude damit, und interessante Erkenntnisse.«
»Das ist ... ich weiß gar nicht, wie ich Euch dafür danken soll. Das bedeutet mir sehr viel.«
Der andere nickte einfach nur.
»Darf ich fragen, wer Ihr seid?«, setzte Nin nach. »Ihr scheint mir von edler Herkunft zu sein, aber ich kenne Euch nicht.«
Ein winziges Lächeln zog am Mundwinkel des Mannes, ließ seine kantigen, scharf geschnittenen Züge etwas weicher erscheinen. »Nur ein Mann, der gern in die Stadt reist, an der der Ozean das Land küsst.«
Wie zur Untermalung seiner Worte sandte das Meer eine salzige Brise zu ihnen heran.
»Aber Ihr müsst doch einen Namen haben.«
»Wenn Ihr unbedingt einen Namen für mich wollt, dann nennt mich Herr Ardnâ.«
»Herr Ardnâ.« Nin drückte das kostbare Buch an seine Brust. »Ich bin Nin.«
»Prinz Nin-Gâl von Iru«, erklärte einer seiner Wachen, die hinter ihm in Lauerstellung standen, vermutlich mit den Händen an den Waffen. Nin schnaubte entnervt.
»Ah«, machte Herr Ardnâ und schien nicht sonderlich beeindruckt. »Nun denn. Viel Freude mit dem Buch, Prinz Nin-Gâl. Lebt wohl.« In einer fließenden Bewegung, die seinen Umhang um ihn bauschen ließ, drehte er sich um und ging. Die Menge teilte sich wie von selbst vor seinem Weg und schloss sich wieder hinter ihm.
Nin wollte ihn aufhalten. Ihn noch fragen, wo er herkam und wo er hingehen wollte; stattdessen blieb er wie angewurzelt stehen und blickte dem mysteriösen Herrn hinterher, bis dieser in der Menge verschwand.
Aber er hatte das Buch. Das alte Buch mit der marudischen Schrift. Einen echten Schatz.
DAS DUNKLE DRÖHNEN der Glocken signalisierte Nin, dass er sich endgültig von seiner Lektüre losreißen musste. Mit einem unwilligen Schnauben legte er das Buch beiseite und erhob sich aus seinem Sessel.
Eigentlich hätte er schon vor einer halben Stunde im Bankettsaal sein sollen; mehrmals hatte jemand an seine Tür geklopft und ihn daran erinnert. Er hatte sie stets mit einem »Ja, ich komme gleich« beschieden und sich wieder in seine Lektüre vertieft.
Nun musste er sich aber überwinden, sonst würde sein Vater wahrscheinlich Wachen schicken und ihn aus seinen Gemächern zerren lassen. Denn am heutigen Abend stand eine ganz besondere Feier an, nach der Nin allerdings kein bisschen der Sinn stand.
Als er sich sein festlichstes Wams überzog, streifte sein Blick einen schwarzen Einband mit goldenen Lettern: Die Chronik der Drachenkönige.
Das Buch, das er von dem geheimnisvollen Herrn Ardnâ geschenkt bekommen hatte, hatte sich nach seiner etwas schwierigen Entzifferung eher als Märchenbuch denn als echte Chronik erwiesen. Es erzählte von Drachen, die einst über Iru und die angrenzenden Länder geherrscht hatten.
Nicht die Drachen selbst waren das Märchen. Es gab sie, sie waren eine Realität, mit der sich die Menschheit seit Anbeginn der Zeit herumschlagen musste, von der verkohlte Ruinen und zerstörte Siedlungen zeugten. Aber dass diese feuerspuckenden, zerstörungswütigen Wesen einst die Welt beherrscht haben sollten, entbehrte natürlich jeder Grundlage. Der unbekannte Autor dieser Chroniken hatte Mythen und Legenden ersonnen, wie die frühen Dichter. Ein ähnliches Buch, den Drachenzyklus, besaß er bereits. Deshalb war Nin am Ende trotzdem nicht von dem Buch enttäuscht gewesen – es war interessant und unterhaltsam, ein Zeuge früher Erzählkunst.
Und es erinnert mich an Herrn Ardnâ.
Er hatte hier und da ein paar diskrete Nachfragen gestellt, ob jemand diesen Mann kannte, aber keiner wusste etwas mit dem Namen anzufangen. Er war wie ein Phantom auf dem Marktplatz aufgetaucht und einfach wieder verschwunden. Das war schon fast ein halbes Jahr her, aber Nin dachte trotzdem jeden Tag an ihre Begegnung. Und hegte den heimlichen Wunsch, Herrn Ardnâ wiederzusehen. Doch der war nie wieder irgendwo aufgetaucht.
Nin verließ seine Gemächer in einem der Türme des fürstlichen Palastes und ging hinunter in den Bankettsaal, wo bereits Musik gespielt wurde und ein festliches Treiben die Menschen in dem großen Raum mit den hohen Decken wimmeln ließ. Nin erntete ein paar missbilligende Blicke, als er sich seinen Weg zur hohen Tafel bahnte.
Am Gesichtsausdruck seines Vaters, des Fürsten von Iru, und dessen zitternden Nasenflügeln, erkannte er, dass der ziemlich wütend war.
»Dass du heute so spät kommst, ist ein Affront, Nin-Gâl!«
»Ihr habt doch gerade erst angefangen, oder?« Missmutig nahm Nin auf dem Stuhl neben seinem Schwager Platz. Er mochte den grobschlächtigen Kerl nicht, aber er war der Sohn eines Heerführers von edler Geburt, den seine Schwester im vergangenen Jahr geheiratet hatte, also musste er sich mit ihm abfinden. »Wenn es nach mir ginge, wäre ich am liebsten gar nicht gekommen.«
»Und warum nicht?« Sin-Inun, sein älterer Bruder und Kronprinz von Iru, hob in arroganter Manier eine Braue. Er war vollkommen anders als Nin – hochgewachsen, breitschultrig, athletisch und sehr von sich selbst überzeugt. Nur ihr rötlich-braunes Haar hatten sie gemeinsam.
»Lass mich kurz nachdenken.« In einer übertriebenen Geste legte Nin eine Hand an sein Kinn. »Mir ist wohl einfach nicht nach Feiern zumute, wenn mein älterer Bruder in den Tod geschickt wird.«
Sin lachte abfällig. »Ich werde nicht sterben.«
»Das dachten alle vor dir auch.«
»Sie waren schwach und dumm.«
Dann passt du ja hervorragend in ihre Reihen, dachte Nin bei sich. Schwach war Sin zwar nicht – jedenfalls nicht körperlich –, aber durch überragende Schläue zeichnete er sich auch nicht eben aus.
»Dein Bruder wird die Prophezeiung erfüllen«, belehrte ihn sein Vater im Brustton der Überzeugung.
Nin warf einen Blick auf seine Mutter, die die ganze Zeit schwieg. Sie wirkte unglücklich. Hegte vermutlich die gleichen Gedanken wie er selbst auch.
Und da sind wir wieder bei den Drachen.
Auch das Fürstentum Iru hatte seinen Drachen – nur noch diesen einen. Alle anderen waren in den vergangenen Jahrhunderten ausgerottet worden. Diesem letzten Drachen jedoch, der im Berg Baladan hauste, schien nicht so einfach beizukommen zu sein. In den letzten Jahrzehnten hatten sich etliche junge Männer daran versucht, das Monstrum zu töten. Der Grund war die Prophezeiung, von der sein Vater sprach: Wer es schaffte, den letzten Drachen von Iru zu töten, sollte das alte Königreich von Irudagan wieder errichten, zu dem nicht nur das Fürstentum Iru gehörte, sondern auch die angrenzenden Fürstentümer Gan und Daga. Der Drachentöter würde ihr König.
Deshalb schickten immer wieder Fürsten, Grafen und andere Edle einen ihrer Söhne auf die Mission, in der Hoffnung, Vater des zukünftigen Königs zu sein. Aber keiner war bisher wiedergekehrt. Das Biest hatte sie alle verschlungen. Und bedauerlicherweise sah Nin keinen Grund, warum sein Bruder eine Ausnahme bilden sollte.
Trotzdem wurde Sin heute schon wie ein zukünftiger König gefeiert. Alle schienen daran zu glauben, dass er derjenige sein würde, der dem großen, schwarzen Drachen vom Baladan den Garaus machen würde. Alle, bis auf Nin. Und vermutlich seine Mutter.
»Vielleicht hast du ja Glück und der Drache lebt gar nicht mehr«, bemerkte Nin irgendwann in Richtung seines Bruders, während er lustlos das Fleisch von einer Hähnchenkeule zupfte.
»Und warum sollte das so sein?«
»Wann hat man ihn denn zuletzt gesehen? Vor drei Jahren flog er zuletzt vom Berg über die Stadt, oder hab ich da etwas verpasst?«
»Vielleicht hat Nin recht.« In den Augen seiner Mutter glomm etwas wie Hoffnung auf. »Womöglich ist das Monster schon längst tot.«
»So ein Unsinn!«, versetzte der Fürst unwirsch, offenbar nicht glücklich mit dem Gedanken, dass seinem Erstgeborenen die Chance auf die Erfüllung der Prophezeiung genommen werden könnte. »Vielleicht ist das Vieh geschwächt, aber ich bin sicher, dass es noch lebt.«
»Und wenn er geschwächt ist, ist es vielleicht einfacher, ihn zu töten«, ergänzte Mutter.
Sin schien darüber eher beleidigt. »Ich werde den Drachen auch dann mit Leichtigkeit erledigen, wenn er noch im vollen Saft seines Lebens steht. Schließlich habe ich mich mein ganzes Leben lang auf diesen Moment vorbereitet!«
Das stimmte. Im Gegensatz zu Nin war Sin von seiner Kindheit an in Waffenkunde und zum Herrschen ausgebildet worden. Wie ein Thronfolger – und noch ein bisschen mehr. Nin, als dem dritten Kind seiner Eltern, war eine solche Ausbildung nicht zuteilgeworden, was ihn allerdings nicht im Geringsten störte. Er war sowieso eher klein und schmächtig und hatte sich nie fürs Kämpfen interessiert. Ein bisschen Bogenschießen war alles, woran er sich versucht hatte – mit mäßigem Erfolg.
Stattdessen hatte er sich in Büchern vergraben, in alten Schriften, und weil sich bis auf seine Mutter sowieso kaum jemand für das interessierte, was er tat, hatte ihn nie jemand daran gehindert. Der bedeutungslose Drittgeborene zu sein, brachte für ihn jedenfalls deutlich mehr Vor- als Nachteile mit sich. An ihn wurden einfach kaum Erwartungen gestellt. In der Haut seines Bruders wollte er jedenfalls nicht stecken, vor allem nicht jetzt.
Die Musikanten spielten auf und es floss reichlich Wein, um den Prinzen und die Mission zu feiern, die er morgen antreten sollte. Verzweifelt wartete Nin auf den Moment, in dem es nicht mehr unhöflich wäre, oder zumindest nicht mehr auffallen würde, wenn er sich zurückzog. Doch ständig verwickelte ihn jemand in ein Gespräch oder neckten ihn die dümmlichen Kumpane seines Bruders.
Das würde ein erbärmlicher Königshof werden, sollte sein Bruder es tatsächlich schaffen. Voller Trunkenbolde, Raufereien und Verschwendungssucht, denn das war es, was Sin liebte. Nin wollte einen solchen Hof nicht. Aber dass sein Bruder starb, wünschte er sich ebenso wenig, auch wenn sie kein besonders inniges Verhältnis hatten.
Als sich sein Vater erhob und von der feierlichen Gesellschaft verabschiedete, atmete Nin auf. Denn das bedeutete, dass auch er endlich gehen durfte. Doch gerade, als er sich erhob, erregte ein Poltern am anderen Ende des Saals die Aufmerksamkeit aller.
»Er ist gestolpert!«, rief jemand verzweifelt. »Das war keine Absicht!«
Menschen drängten sich um den Ort des Geschehens und auch Nin reckte den Hals, um zu sehen, was sich dort abspielte.
»Es ist der Prinz!«, rief jemand. »Bei den Göttern, es ist der Prinz!«
»Aus dem Weg!« Kreidebleich drängte sich der Fürst durch die Menge, gefolgt von der Fürstin, Nins Schwester und Schwager.
Nin wagte es nicht, ihnen zu folgen. Sein Bauchgefühl verriet ihm bereits, dass etwas ganz Furchtbares geschehen sein musste.
»Sin-Inun!«, rief sein Vater, die Stimme so schrill, dass sie Nin in den Ohren klingelte. »Nein!«
Er fühlte eine Angst, die den Boden unter seinen Füßen wächsern machte, die ihm die Kehle abschnürte, während er versuchte, sich aufrecht zu halten.
Etwas ganz Furchtbares.
»Wo ist der Medikus?«, schrie seine Mutter. »Schnell!«
Nin konnte sehen, wie sich der Gerufene bereits durch die Schaulustigen drängte. Aber mehr nicht. Was genau passiert war, ließ sich nicht ausmachen. Die Leute tuschelten, trauten sich nicht, laut zu reden, und konnten doch den Mund nicht halten.
Am Ende kam das Getuschel bei ihm an: »Prinz Sin-Inun ist gestürzt – oder wurde gestoßen – und hat sich derb den Kopf am Tisch angeschlagen.«
»Jetzt tut doch etwas!«, rief der Fürst. »Helft ihm!«
Der Medikus murmelte etwas, was Nin nicht verstand, aber die Tatsache, dass sein Vater verzweifelt aufschrie, dass seine Mutter plötzlich taumelte und von einer ihrer Hofdamen aufgefangen werden musste, sagte ihm alles, was er wissen musste.
Sin war tot.
Er musste es sich innerlich immer und immer wieder sagen: Sin war tot. Sein Bruder lebte nicht mehr. Er hatte damit gerechnet, den Tod seines Bruders betrauen zu müssen, aber nicht heute. Nicht so. Im Streit, den Sin gern mit anderen Männern suchte, gestoßen, oder betrunken gestolpert. Es war so ... würdelos.
Ein aufgeregtes Raunen ging durch die Menge, im Saal entstand eine Hektik, die Nin ausnutzte, um in seine Gemächer zu entkommen. Er wollte sich dieses Elend nicht mit ansehen. Nicht seinen toten Bruder betrachten. Nicht seinen Schock inmitten von betroffen gaffenden Gesichtern durchmachen müssen. Stattdessen wollte er sich in seinen Gemächern verbarrikadieren und in fremde Welten entkommen, am besten in den Drachenchroniken, die Herr Ardnâ ihm geschenkt hatte. Wenigstens bis morgen.
NOCH IN DER Nacht wurde Nin zu seinem Vater gerufen. Es spielte letztendlich keine Rolle, denn geschlafen hatte er ohnehin nicht, nur gezittert und verzweifelt versucht, seinen in Schockstarre erkalteten Körper zu wärmen.
Nicht einmal zum Lesen war er in der Lage gewesen, seine Gedanken schweiften immer wieder zu dem Geschehenen des vergangenen Abends ab. Sein Bruder war tot. Er hatte mit seinem Tod gerechnet, sich innerlich schon seit Monaten darauf vorbereitet, aber nun war alles so anders gekommen. Zu früh. Trotz allem so unvorbereitet. Was wurde jetzt aus der Thronfolge von Iru? Würde sie auf ihn übergehen? Nin wollte das nicht. Er wollte das auf gar keinen Fall. Aber alle anderen Optionen erschienen ihm noch düsterer.
»Nin-Gâl.« Sein Vater saß in seinem Thronsessel, die Arme schlaff über den Lehnen hängend. Er schien um Jahre gealtert, tiefe Falten gruben sich entlang seiner Stirn und seiner Mundwinkel, und das lange, graue Haar wirkte strähnig. »Ich nehme an, dir ist bekannt, was geschehen ist, auch wenn du seltsamerweise nirgendwo im Saal aufzufinden warst.«
»Ich bin gegangen«, gestand Nin und senkte den Blick. »Ich wollte allein sein in meiner Trauer. Sin ist tot, oder?«
»Dein Bruder hat sich das Genick gebrochen. Der Kerl, der ihn gestoßen hat, wird im Morgengrauen hingerichtet.«
Nin schluckte. Seine Kehle war staubtrocken. »Sagte derjenige nicht, es sei keine Absicht gewesen?«
»Welche Rolle spielt das?«, fuhr sein Vater ihn an. »Es ist völlig bedeutungslos, ob es Absicht war oder nicht! Er ist für den Tod des Kronprinzen verantwortlich und wird dafür büßen.«
Es fühlte sich nicht richtig an. Vielleicht hatte der arme Kerl Sin nur versehentlich angerempelt. Manchmal war man einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber Nin wusste, dass es an diesem Punkt keinen Sinn ergab, mit seinem Vater zu diskutieren. Der brauchte seine Rache, um den Schmerz zu verarbeiten. Auch wenn am Ende vielleicht ein Unschuldiger starb.
»Was für eine Katastrophe dies für das Fürstentum Iru darstellt, muss ich dir vermutlich nicht sagen«, fuhr sein Vater mit brüchiger Stimme fort. »Nicht nur, weil es seinen von allen geliebten und verehrten Kronprinzen Sin-Inun verloren hat. Sondern auch, weil du nun der Kronprinz bist.«
Nin entkam ein bitteres Lachen. Ob Sin nun wirklich so beliebt beim Volk gewesen war, darüber ließ sich streiten, aber der Seitenhieb seines Vaters tat weh. Auch, wenn es bei Weitem nicht der erste dieser Art gewesen war.
»Er meint das nicht so«, sprang Mutter hastig ein, die bislang nur wie ein Schatten neben ihm gesessen hatte. »Er meint damit, dass du nie für die Thronfolge ausgebildet wurdest.«
»Ich weiß sehr genau, was er meint«, gab Nin in bewusster Zweideutigkeit zurück. »Ich weiß es sehr genau.«
»Auch das spielt letztendlich keine Rolle.« Der Fürst richtete sich in seinem Thron auf, der Ausdruck so grimmig und missmutig, dass tiefe Schatten über sein Gesicht huschten. »Wir haben dem Volk Irus versprochen, dass der Kronprinz morgen zum Berg Baladan zieht, um das Reich von dem letzten Drachen zu befreien, der es noch terrorisiert. Wir müssen unser Versprechen einhalten.«
Nins Muskeln versteiften sich augenblicklich so sehr, dass sie regelrecht schmerzten. Auch seine Mutter richtete sich plötzlich kerzengerade in ihrem Sessel auf und warf Vater einen entsetzten Blick zu.
»Mein Gemahl, was soll das bedeuten?«
»Es bedeutet, dass Nin-Gâl jetzt der Kronprinz ist und die Aufgabe seines Bruders übernehmen wird.«
»Aber er ist doch gar nicht dazu–«
»Schweig!«, fuhr der Fürst sie an.
»Mutter hat recht«, erklärte Nin mit einer Stimme, die so dünn und kläglich klang, dass er sich vor sich selbst schämte. Aber er hatte Angst. Eine Angst, die den Boden nicht nur in weiches Wachs verwandelte, sondern in saugenden Morast. »Ich bin nie an den Waffen ausgebildet worden. Ich weiß nicht, wie man einen Drachen tötet. Ich werde bei dem Versuch sterben.«
»Dann sei es so.«
»Dakhos!«, rief Mutter schrill. »Wir haben gerade einen Sohn verloren und du willst schon den nächsten opfern? Bist du von allen guten Geistern verlassen? Wir werden Nin nicht in diesen Berg schicken!«
»Du sollst schweigen!«, bellte er sie an. »Er wird tun, was ich ihm sage. Soll er doch seine Schläue einsetzen, von der er angeblich so viel hat! Wenn er der Auserwählte ist, wird er die Prophezeiung erfüllen, egal wie. Wenn nicht, dann, nun ja ...«
Dann verdient er es nicht, zu leben.
Der Fürst sprach es nicht aus, aber Nin wusste genau, dass es das war, was er sagen wollte. Ihm war immer klar gewesen, dass sein Vater ihn nicht sonderlich mochte, aber dieser Hass war neu. Als nähme er es ihm übel, dass Sin tot war und er noch lebte.
»Du verurteilst mich also zum Tode, weil ich noch lebe und mein Bruder nicht«, war der bittere Schluss, den Nin zog.
»Ich gebe dir die Chance, zu beweisen, dass du eines Kronprinzen von Iru würdig bist. Du hast viel zu lange nur als nutzloses Anhängsel an meinem Hof gelebt.«
Jedes Wort war wie ein Schlag, aber Nin fühlte sich wie betäubt, spürte nur die Erschütterung, jedoch nicht den Schmerz. »Und wenn ich sterbe? Dann hat Iru keinen Thronfolger mehr.«
»Doch«, widersprach sein Vater. »Haban, der Gemahl deiner Schwester, ist von hoher Geburt und erfahren in Kampf und Politik. Als Ehemann der Prinzessin hat er ein Anrecht auf die Thronfolge des Fürstentums, wenn ich in die Ewigkeit übergehe.« Er beugte sich ein Stück nach vorn. »Was ich noch nicht so bald zu tun gedenke.«
Darum geht es also, durchfuhr es Nin. Du willst mich aus dem Weg räumen, damit dein Schwiegersohn, den du mir immer vorgezogen hast, den Thron bekommt, wenn schon dein doch nicht von den Göttern auserwählter Lieblingssohn nicht mehr da ist.
»Warum gehst du nicht selbst den Drachen töten?«, platzte er heraus.
Das Gesicht des Fürsten verhärtete sich zu einer steinernen Grimasse. »Allein für diese Frage sollte ich dir die Zunge herausschneiden lassen.«
Natürlich kannte Nin die Antwort. Sein Vater saß nur deshalb auf diesem Thron, weil sein älterer Bruder beim Versuch, dem Monster den Garaus zu machen, ums Leben gekommen war. Sein eigener Vater war allerdings nicht so verrückt gewesen, auch noch seinen zweiten Sohn ins Verderben zu schicken.
»Dakhos, es ist vollkommener Irrsinn«, wandte seine Mutter erneut mit zitternder Stimme ein. »Sin hat sich jahrelang darauf vorbereitet und wäre vermutlich trotzdem gescheitert. Nin hingegen weiß nicht einmal, wie man ein Schwert hält!«
»Dann such die Schuld dafür bei dir«, knurrte Vater. »Du warst es, die ihn sein Leben lang verhätschelt, verweichlicht und von allem Bösen ferngehalten hat.« Er ballte die Hände zu Fäusten und drosch auf die Armlehnen seines Thronsessels. »Meine Entscheidung ist gefallen. Bei Anbruch des Morgens, nach der Hinrichtung des Prinzenmörders, wirst du zum Berg Baladan ziehen und dich der Bestie stellen.«
»Dakhos ...«
»Halt endlich den Mund, oder ich lasse dir die Lippen zusammennähen!«, schrie er. »Widerspenstiges Weib. Deinetwegen ist unser zweiter Sohn so geraten, wie er ist. Es wäre besser gewesen, wir hätten an seiner Stelle noch eine Tochter bekommen, denn diese hätte ich wenigstens strategisch sinnvoll verheiraten können.« Er gab ein fast unmenschliches Knurren von sich. »Geht mir aus den Augen, alle beide. Ich erwarte euch in ein paar Stunden zum Sonnenaufgang. Und kommt ja nicht auf die Idee, einen Aufstand üben zu wollen, denn das würde euch bitter zu stehen bekommen.«
Wie von Sinnen blätterte Nin durch seine Bücher, überflog hastig die Zeilen, um am Ende doch nicht mehr zu wissen, was er gelesen hatte.
Letztendlich war es auch egal. Es würde ihm nichts nützen, ein Drache ließ sich nicht von Belesenheit beeindrucken, nur von starken Waffen zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Drachenblut tötet Drachenblut, hieß es in der Chronik. Das bedeutete wohl: Nur jemand mit Mut, Stärke und einer gewissen Brutalität würde in der Lage sein, einen Drachen zu töten.
Nin besaß nichts von alldem. Und deshalb würde er sterben.
Gerade noch hatte er den Tod seines Bruders betrauert, schon war sein eigenes Leben verwirkt. Nur wenige Stunden blieben ihm noch, dann würde sein Vater dafür sorgen, dass er zu diesem Berg ging. Fluchtversuche waren zwecklos; vor seiner Tür waren Wachen postiert und seine Gemächer lagen zu hoch, als dass er einfach aus dem Fenster klettern könnte.
Ein Klopfen ließ ihn hochschrecken. War es schon so weit? Der Morgen graute noch nicht, auch wenn Nin beim Blick aus dem Fenster das Gefühl hatte, dass das Tiefschwarz der Nacht sich langsam aufzulösen begann.
Die Tür wurde ein Stück geöffnet und zu seiner Überraschung schlüpfte seine Mutter ins Zimmer.
»Nin!«
»Mamâi ...«
Sie riss ihn in ihre Arme. »Dein Vater hat vollkommen den Verstand verloren. Es muss der Schmerz um den Tod deines Bruders sein, der ihn so denken lässt ...«
»Er mochte mich noch nie«, erwiderte Nin und hielt sich an seiner Mutter fest, atmete ihren tröstenden Geruch.
»Das stimmt nicht«, widersprach sie halbherzig. »Nin, du musst hier weg. Sofort. Ich werde versuchen, die Wachen zu bestechen und–«
»Nein.«
»Nein?«
»Mamâi ...« Er löste sich von ihr. »Wir wissen beide, dass er dich sofort verdächtigen würde und auch, welche Konsequenzen das hätte. Es hat ja schon gereicht, was er dir vorhin im Audienzsaal angedroht hat.«
»Es spielt keine Rolle, was aus mir wird. Wichtig ist nur, dass du entkommst.«
»Ich will nicht, dass er dir meinetwegen etwas antut. Damit könnte ich nicht leben.«
»Wenn du in diesen Berg gehst, wirst du wahrscheinlich gar nicht leben!«, widersprach sie drängend.
»Vielleicht ist das die beste Lösung.« Er seufzte und ließ die Schultern hängen. »Wer weiß, am Ende habe ich noch recht und der Drache ist doch schon tot. Dann bringe ich Vater seinen Kopf und behaupte, ich hätte ihn getötet.«
»Und wenn nicht?«
»Dann muss ich wohl wirklich meine Schläue einsetzen. Ich habe viel über Drachen gelesen, leider vor allem Sagen und Legenden, aber vielleicht nützt mir das ein bisschen was.«
Mutter sah ihn an. So zierlich und zerbrechlich mit ihrem lockigen Haar, das genau wie seines die Farbe von Mahagoniholz besaß, und den großen, von vielen Fältchen umkränzten, wasserblauen Augen. »Er ahnt gar nicht, wie stark du bist, mein Herz«, flüsterte sie kehlig.
»Ich kann nur stark sein, weil ich eine starke Mutter habe.« Er ergriff ihre schmalen Hände und drückte sie. »Mach ihm das Leben zur Hölle, falls ich nicht zurückkehre. Falls ich doch siegreich zurückkehre, übernehme ich das selbst.«
Sie umarmten sich; kurz darauf wurde die Tür geöffnet.
»Hoheit, der Fürst sucht Euch«, erklärte ein Diener mit besorgter Stimme.
Mutter schnaubte. »Ich werde mich ja wohl noch persönlich von meinem Sohn verabschieden dürfen. Sagt ihm, dass ich gleich komme.«
Der Diener nickte und schloss die Tür, seine Mutter wandte sich wieder an Nin. »Du willst wirklich nicht, dass ich dir helfe?«
»Nein. Aber vielleicht ... vielleicht kannst du ein bisschen an mich glauben. Womöglich hilft das.«
»Ich habe immer an dich geglaubt, Nin-Gâl. Immer gewusst, dass du etwas ganz Besonderes bist. Dein Vater ist ein dummer, grausamer Mann. Er ist nicht immer ganz so schlimm gewesen, wie jetzt, aber der Thron und die Macht haben ihn verändert. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, dass er tatsächlich sein Knie vor deinem Bruder gebeugt hätte, wenn dieser die Prophezeiung erfüllt hätte.«
»Doch«, widersprach Nin, »denn Sin konnte er immer kontrollieren. Aber sollte ich aus der Gnade der Götter heraus mit dem Kopf des Drachen nach Bil Tauth zurückkehren und Anspruch auf den Thron erheben, sähe die Sache sicher anders aus.«
»Aber das Volk würde hinter dir stehen, denn du wärst der Auserwählte.« Sie strich ihm durchs Haar und in ihrem Blick standen nichts als Liebe und Verzweiflung. »Vergiss nie, dass deine Vorfahren große Herrscher waren. Ihr mächtiges Blut fließt in dir.«
Er nickte und schluckte gegen den Kloß in seiner Kehle an. »Wir werden uns wiedersehen, Mamâi. Hier oder im Jenseits.«
IM MORGENGRAUEN MACHTE sich die festliche Delegation auf den Weg, um Nin zum Berg Baladan zu bringen.
Es hatte sich unter den Bewohnern der Stadt bereits rasend schnell herumgesprochen, dass die Götter entschieden hatten, dem Kronprinzen Sin-Inun vorzeitig das Leben zu nehmen und stattdessen Prinz Nin-Gâl auf die Mission zu schicken. Nin hatte erhebliche Zweifel, dass die Götter hier ihre Finger im Spiel hatten, und er sah an den Blicken der Umstehenden, dass es ihnen offenbar ähnlich erging.
Niemand glaubte daran, dass er zurückkehren würde. Schon gar nicht mit dem Kopf des getöteten Drachen. Nin selbst am allerwenigsten.
Sie begleiteten ihn bis zu dem steilen, engen, von Felswänden gesäumten Gebirgspfad, der bis zum Eingang der Berghöhle führte und den er nur alleine begehen konnte, ohne die Möglichkeit, irgendwohin auszuweichen. Menschen hatten in vor Jahrhunderten in den Rücken des Berges gehauen. Sein Schicksal war besiegelt. Nin fühlte sich, als liefe er hinter seiner eigenen Totenbahre her.
Es war ein grauer, stürmischer Tag und der Wind nahm eine schneidende Kälte an, als sie sich weiter von der Stadt entfernten. Das Wetter passte zur Stimmung des Festzugs, der mit Festlichkeit wahrhaft nichts gemein hatte. Es war ein Trauerzug. Nur seine Schwester Eruju und sein Schwager Haban schienen halbwegs gut gelaunt – wohl durch das Wissen, dass die Thronfolge sehr bald an sie übergehen würde.
Dort, am Fuß des Berges, wo sich die Felswände zu einem schmalen Pfad verengten, hielt die Delegation. Nin zog seinen Fellumhang enger um sich, weil er entsetzlich fror. Er hatte seinen Bogen mitgenommen und man hatte ihm ein Schwert gegeben. Letzteres würde ihm nur hinderlich sein, weil es schwer war und er es gar nicht zu führen wusste.
Der Hohepriester, ein hochgewachsener, dürrer Mann in einer schwarzen Robe und einer bestickten Mitra, die ihn noch länger erscheinen ließ, ergriff das Wort.
»Die Götter haben eine Entscheidung getroffen, die uns wohl alle überrascht«, begann er und ein zustimmendes Raunen ging durch die Anwesenden. »Aber die Götter sind weiser als wir Menschen und es steht uns nicht zu, ihre Wege infrage zu stellen. Aus diesem Grund wird heute Prinz Nin-Gâl von Iru den Berg Baladan betreten und sich dem Biest stellen. Auf dass er zeigen möge, dass er derjenige ist, der die alte Prophezeiung erfüllt und das Königreich Irudagan wieder errichtet, oder nicht.«
Nin wagte einen kurzen Blick in die Gesichter der Menschen, die sich hier versammelt hatten, und wusste, dass »oder nicht« in ihren Köpfen die eindeutige Antwort auf diese Frage war.
Das restliche Salbadern des Priesters ignorierte er, weil es sowieso nur Floskeln waren, die er nicht als erbaulich empfand.
Letztendlich trat sein Vater zu ihm heran, legte ihm fast schon widerwillig die Hände auf die Schultern und sah ihn ernst an. »Mach mir keine Schande.«
Nin wusste, was er damit meinte: Stirb als Held. Denn auch er wusste, dass Nin den Drachen nicht töten würde. Und er selbst war seinem Vater tot lieber als lebendig.
»Wo ist Mutter?«, fragte er leise.
»Du solltest angesichts der Ehre, die dir gerade zuteilwird, nicht wie ein kleines Kind nach deiner Mutter fragen.« Angewidert verzog der Fürst das Gesicht. »Sie ist im Palast. Ihr Geheule hätte nur die festliche Stimmung gestört.«
Festliche Stimmung? Nin lachte innerlich bitter auf. Wohl eher Begräbnisstimmung.
Sobald sie ihn verabschiedet hatten, würden die Leute zurück in die Stadt ziehen, um Sin-Inun zu Grabe zu tragen. Nur ein paar Wachen würden für einige Zeit vor dem Eingang zum Bergpfad postiert, um sicherzustellen, dass Nin nicht einfach umkehrte.
Er wüsste ohnehin nicht, wohin er gehen sollte.
»Mögen die Götter mit Euch sein, Prinz Nin-Gâl«, sprach der Hohepriester und wedelte Weihrauch in seine Richtung. »Auf dass Ihr Iru endgültig von der Bestie befreit.«
Das war das Zeichen, dass er gehen musste. Seinen Weg in den Tod antreten, wo der Drache ihn verbrennen oder zerfetzen würde, ohne dass er auch nur den Hauch einer Chance hatte, ihm zu entkommen.
Nin drehte sich nicht noch einmal um. Da seine Mutter nicht unter den Anwesenden war, gab es niemanden, den er noch einmal sehen wollte.
Nur Herrn Ardnâ. Den hätte ich gern noch einmal gesehen. Aber er ist ebenso wenig hier.
Er setzte die ersten Schritte auf den steinigen Pfad, der so schmal war, dass seine Schultern an manchen Stellen schon fast die Felswände streiften. Steil führte er bergauf und es gab keine Möglichkeit, irgendwohin auszuweichen. Er zwang jeden Wanderer ins Verderben.
Irgendwann, als es zu anstrengend wurde, blieb Nin stehen und lehnte sich gegen die steinerne Wand. Nichts außer dem heulenden Wind war zu hören. Vor ihm ragte dunkel und bedrohlich der Berg auf.
Nin hatte Angst. Er hatte furchtbare Angst, die von innen an ihm fraß, die ihn zittern und schwer atmen ließ. Noch vor einem Tag hatte er nichts ahnend in seinen Gemächern gesessen und sich in seine Bücher vertieft. Heute sollte er sterben. Er war nicht bereit dazu. Er war neunzehn Jahre alt, wie sollte er auch bereit dazu sein? Sein Leben hatte gerade erst richtig begonnen. Und weil niemand hier war, vor dem er sich schämen könnte, begann er zu weinen. Weinte lange und bitterlich um sein Leben, um all die Dinge, die er zurücklassen musste oder niemals tun konnte.
Er drehte sich um, in Richtung Tal, aber er wusste, dass es zwecklos wäre, wieder hinunterzulaufen. Man würde ihn ja doch nicht zurück in die Stadt lassen.
Erneut wandte er den Blick zum Berg, und mit einem Mal beschlich ihn das widersprüchliche Gefühl, dass das, was dort vor ihm lag, nicht so schlimm sein mochte, wie eine Rückkehr nach Bil Tauth, zu seinem Vater, der ihn nur verachtete. Wenn der Drache ihn tötete, war es vorbei. Und zwar schnell. Vielleicht waren die Götter aus irgendeinem Grund, genau wie sein Vater, der Meinung, dass er es nicht verdient hatte, zu leben.
Er zwang sich, weiterzugehen. Den Abschied nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Der Aufstieg wurde immer steiler und mühsamer. Wenn Nin endlich oben in der Höhle ankam, würde er wohl so erschöpft sein, dass er sich einfach niederlegen und von dem Drachen töten lassen würde. Dann starb er zwar auch keinen Heldentod, aber das wusste sein Vater ja nicht. Dem wahr ohnehin nur wichtig, dass Nin fort war und nicht wiederkehrte.
Als er nach etlichen Stunden endlich den erstaunlich kleinen Eingang zur Höhle erreichte, begann es zu regnen und der Sturm pfiff bedrohlich zwischen den Felswänden. Die Nacht zog heran. Nin gab sich einen Ruck und betrat den Berg, schon allein, um dem unwirtlichen Wetter zu entkommen.
Sofort umfingen ihn Dunkelheit und Stille. Das fahle Tageslicht, der heulende Wind – alles war mit einem Mal fort. Blind tastete er nach den Schwefelhölzern in seiner Tasche und entzündete mithilfe von Zunderschwamm und Feuerstahl seine mitgebrachte Fackel, ehe er sich weiter in die Höhle hineinwagte.
Und wenn er wirklich tot ist?, durchfuhr es ihn. Wenn ich nur noch seine sterblichen Überreste finde? Auch Drachen leben nicht ewig.
Darüber, wie hoch die Lebenserwartung eines Drachen war, war man sich nicht einig. Märchen und Legenden erzählten natürlich von einer gewissen Unsterblichkeit; ernsthaftere Überlieferungen sprachen von einer Lebensspanne von mehreren Jahrhunderten, jedenfalls deutlich länger als die der Menschen. Aber wie lange dieser Drache hier schon im Berg hauste, konnte keiner genau sagen. Früher hatte es mehrere gegeben, und offenbar waren sie schwer zu unterscheiden gewesen.
Nins Schritte hallten von den hohen Felswänden wider, als er durch eine Art Tunnel eine weitläufige Kammer betrat. Die Decke war so hoch, dass er sie nicht einmal genau erkennen konnte, weil das Licht seiner Fackel sie nicht erreichte. Diese Höhle hier war auf jeden Fall groß genug, um einen Drachen zu beherbergen. Doch die einzigen Geräusche waren das leise Tropfen von Wasser und sein zitternder Atem.
»Wo bist du?«, fragte er leise und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn. Das Herz klopfte ihm bis in die Kehle. »Bist du noch am Leben?«
»Drachentöter sind offenbar auch nicht mehr das, was sie mal waren.«
Nin erschrak bis ins Mark und ließ seine Fackel fallen, die nicht erlosch, aber ein gutes Stück von ihm wegrollte. »Wer ist da?«, rief er und presste sich die Hand an die Brust. Die Stimme kam ihm irgendwie bekannt vor.
»Na, na. Wir wollen doch nicht gleich in Panik geraten.«
Jemand hob die Fackel auf ... und reichte sie ihm. Zögerlich nahm Nin sie entgegen. Er brauchte einen Moment, um die Silhouette im Licht zu erkennen. Strenge Gesichtszüge schälten sich aus der Dunkelheit. Und ließen Nin atemlos zurück.
»Herr Ardnâ?« Er taumelte einen Schritt zurück und rang um Fassung. »Was tut Ihr hier?«
Herrn Ardnâs Brauen zogen sich zusammen, seine Augen verengten sich. Plötzlich blitzte Erkenntnis in seinen Zügen auf. »Der Junge vom Markt.« Er klang erstaunt. »Der Prinz mit der Liebe zu alten Büchern in marudischer Schrift.«
»Genau der bin ich«, erwiderte Nin, vor Erleichterung fast schon lachend. »Genau der. Ich kann nicht fassen, dass Ihr hier seid! Ich ... ich bilde mir das doch gerade nicht ein, oder?«
»Nein, ich stehe tatsächlich vor Euch. Mit einer gewissen Überraschung, wie ich zugeben muss.«
Nin schluckte aufgeregt. »Seid Ihr auch hier, um den Drachen zu töten?«
Herr Ardnâ hob eine Braue, wirkte fast schon pikiert. »Seid Ihr deswegen hier?«
»Ja«, gab Nin zu, »wenn auch nicht freiwillig.«
»Wer oder was zwingt Euch?«
»Mein Vater.«
Herr Ardnâ nickte und senkte den Blick, ließ Nin aber nicht aus den Augen. »Fürst Dakhos von Iru.«
»Kennt Ihr ihn?«
»Nur, was man sich so über ihn erzählt«, gab er zu, »ich bin ihm nie begegnet. Nur seinem Bruder, vor vielen Jahren.«
»Der Drache hat seinen Bruder vor über vierzig Jahren getötet. Ihr seht nicht so alt aus, als könntet Ihr das schon miterlebt haben.«
»Was Ihr nicht sagt.« Herr Ardnâ lachte leise, verschränkte die Arme hinter dem Rücken und begann, in der Höhle umherzulaufen. »Und Ihr denkt, Ihr seid derjenige, der den Drachen töten wird? Hat man Euch etwas von einer Prophezeiung eingeredet?«
»Was heißt eingeredet«, gab Nin zur Antwort, »die Prophezeiung wird seit Generationen überliefert. Aber nein, ich glaube nicht, dass ich derjenige bin. Der Drache wird mich töten, nicht ich ihn.«
»Kluges Köpfchen.« Herr Ardnâ drehte sich zu ihm um und nickte.
»Vielleicht schafft Ihr es ja.«
»Den Drachen zu töten?« Er schnaubte und zeigte ein winziges Lächeln. Schatten tanzten auf seinem schönen und doch so düsteren Gesicht und etwas in seinen Augen schien aufzuflackern. »Das ist nicht meine Intention. Es erscheint mir so ... zerstörerisch. So primitiv.«
»Interessant.«
»Ach ja?«
»Ja. Alle anderen wollen die Bestie einfach nur loswerden.«
»Die Bestie«, Herr Ardnâ betonte das Wort sehr seltsam, »die Bestie hat einen Namen.«
»Wirklich?«, versetzte Nin überrascht. »Versteht mich nicht falsch – ich bin gerade einfach nur heilfroh, nicht allein hier zu sein. Ich habe mir schon auf dem Weg hierher vor Angst fast in die Hose gemacht. Aber was ist Eure Mission, wenn Ihr den Drachen nicht töten wollt? Wollt Ihr ihn erforschen? Oder ... an seine Schätze gelangen?«
Herr Ardnâ streckte eine Hand vor sich aus und betrachtete die im Fackelschein funkelnden Ringe. »Ich will nicht an seine Schätze gelangen. Ihr?«
»Sie sind mir egal. Außer, er hätte eine ganze Sammlung an alten Büchern in marudischer Schrift.« Nin versuchte, zu lachen, aber es klang mehr wie ein schrilles Kichern.
So froh er war, Herrn Ardnâ in dieser Höhle begegnet zu sein – etwas an dessen Gegenwart war auch beunruhigend. Bestand vielleicht die Möglichkeit, dass der andere ihn bei seiner wie auch immer gearteten Mission als Hindernis ansah, das ausgeschaltet werden musste?
»Wisst Ihr, ob der Drache überhaupt noch lebt?«, fragte er vorsichtig.
»O ja, er ist sehr lebendig.«
»Sicher? Er wurde lange nicht mehr gesehen.«
»Ganz sicher. Drachen zeigen sich nur dann, wenn sie auch gesehen werden wollen. Wenn nicht, können sie ganz wunderbar verschwinden.«
»Ihr scheint viel über sie zu wissen.«
»Viel mehr, als Ihr für möglich haltet, Prinz Nin-Gâl von Iru.« Herr Ardnâ lächelte, aber es hatte etwas Sinistres an sich. Seine Iriden schimmerten bernsteinfarben. »Welche Waffen habt Ihr dabei, um ... das Biest zu töten?«
»Einen Bogen, mit dem ich nur mittelmäßig schießen kann. Dazu braucht man Kraft, und Ihr seht ja, ich habe kaum welche.«
»Und was ist mit dem Schwert?« Herr Ardnâ wies auf die Scheide, in der es steckte. Er selbst schien unbewaffnet, aber wahrscheinlich hatte er sie nur gut verborgen.
»Das dient nur der Dekoration. Ich kann nicht damit umgehen.«
»Ihr seid sehr freimütig darin, Eure Schwächen zu bekennen«, bemerkte Herr Ardnâ und musterte ihn mit verengten Augen. »Vor allem vor einem Fremden.«
»Ihr seid mir nicht so fremd, da wir uns schon einmal begegnet sind.« Und ich seither jeden Tag an Euch denken musste. »Außerdem wäre Leugnen zwecklos. Es würde nichts ändern. Entweder tötet mich der Drache oder Ihr.«
Herr Ardnâ wandte sich ab und entfernte sich einige Schritte von ihm. »Was, wenn es kein oder gibt?«
»Was – was meint ihr damit?« Für einen Moment vergaß Nin, zu atmen. Was Herr Ardnâ sagte, ergab keinen Sinn.
»Ich hatte Euch noch gar nicht den Namen des Drachen verraten«, fuhr er fort und drehte sich wieder um. »Er lautet Izdubardnâ.« Seine Stimme veränderte sich, als er den Namen sagte, klang wie tausend Stimmen mit einmal, tief und dröhnend und dämonisch.
Der Boden unter Nins Füßen bebte, er taumelte zurück und beobachtete voller Entsetzen, wie die Gestalt, die eben noch Herr Ardnâ gewesen war, sich unter ohrenbetäubenden Schreien ausdehnte, immer größer wurde, ihre Form entmenschlichte. Anstelle von Haut wuchsen schimmernde, schwarze Schuppen, ein mächtiger Schweif schoss aus dem Leib und Nin blickte einem riesigen, mit Stacheln und gewundenen Hörnern besetzten Haupt entgegen, in dessen Schlund es gleißend hell glühte. Goldene, mordlustige Augen bohrten sich in seine Seele, die Pupillen nur schmale Schlitze.
Die Stimme des Drachen schmetterte in seinem Kopf, brauchte keine Ohren, um gehört zu werden: »Ich ... bin ... Izdub-Ardnâ!«
GEISTESGEGENWÄRTIG ROLLTE SICH Nin zur Seite und entging damit nur knapp dem brennenden Atem, den die Bestie in seine Richtung spuckte. Die Hitze sengte seine Haare an, und während der Drache erneut Atem schöpfte, um ein weiteres Inferno auf ihn zu richten, rappelte er sich auf, warf die Fackel weg und rannte aus deren Lichtschein.
Er hatte vorgehabt, sich dem Monstrum einfach zu opfern, aber jetzt, wo es so weit war, siegten seine Überlebensinstinkte. Nin wollte nicht sterben, ehe er die Tatsache verarbeitet hatte, dass Herr Ardnâ, der geheimnisvolle Mann vom Markt, von dem er monatelang fast schon verliebt fantasiert hatte, der schwarze Drache vom Berg Baladan war. Wie war das überhaupt möglich?
Nin lief an den Felswänden entlang, zügig, aber intensiv tastend, in der Hoffnung, irgendwo einen Spalt zu finden, in dem er sich schützend verbergen konnte. Er wollte nicht mit dem Drachen kämpfen, das wäre zwecklos, aber er wollte mit Ardnâ sprechen. Der jedoch schien fest entschlossen, Nin zu töten, so wie alle anderen, die sich mit ihm angelegt hatten.
Zum Beispiel sein verblichener Onkel, der Bruder seines Vaters, des Fürsten.
Er fand eine Vertiefung in der Wand und kauerte sich hinein. Der Drache spuckte erneut Feuer, brüllend und dröhnend und vernichtend, aber es war die falsche Richtung. Offenbar war Nins Plan aufgegangen und er hatte ihn aus den Augen verloren.
Was mache ich jetzt? Ich kann nicht ewig hier hocken, früher oder später wird er mich finden.
Er wollte immer noch Ardnâ ansprechen, mit ihm reden, mit ihm verhandeln, aber er ahnte, dass er jetzt kein Gehör mehr finden würde. Er hatte ihm gesagt, dass er geschickt worden war, um ihn zu töten, und Ardnâ würde das zu verhindern wissen. Wer konnte es ihm verdenken?
Suchend sah sich der Drache um. Seine gelblichen Augen glommen wie Glut in der Dunkelheit und seine Nasenlöcher sogen laut schnaufend die Umgebungsluft an. Er witterte Nin. Er witterte ihn, ohne jede Frage.
»Ardnâ, lasst uns reden!«
Dass dieser Vorschlag dumm gewesen war, merkte Nin einen Augenblick später, denn er hatte sein Versteck preisgegeben. Die Drachenaugen richteten sich auf ihn, die Pupillen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Das Biest setzte freilich nicht zu einem Gespräch an, sondern zu einer erneuten Feuersbrunst. Nin musste heraus aus dem Felsspalt, und zwar schnell.
Er sprang hervor und rannte, verfolgt von lodernden Flammen. Der Ausgang aus der großen Höhle hinaus wurde von dem Drachen blockiert, aber zu seiner Überraschung fand Nin einen weiteren, schmalen Durchgang, der aus der großen Höhle hinaus und scheinbar tiefer in den Berg hineinführte. Er rannte hindurch und stolperte. Vor ihm lagen Stufen, Nin konnte sie tasten. Er wusste nicht, wohin sie führten, aber die Stiege war zu schmal, als dass der Drache ihn hierhin verfolgen könnte. Dumpf hörte er ihn nebenan wüten.
Nin erklomm die Stufen, vollkommen blind, bis er ein Plateau erreichte. Tastete sich an den Wänden entlang, bis er einen weiteren Durchgang entdeckte. Er machte einen Schritt nach vorn – und wäre ins Bodenlose gefallen, hätte er nicht im letzten Augenblick sein Gleichgewicht wiedererlangt.
Er war wieder in der großen Höhle, aber diesmal sah er von weiter oben in sie hinein. Die Bestie bewegte sich noch darin umher, schnaufend, mit zornglühenden Augen, hatte ihn jedoch noch nicht entdeckt.
Nin presste sich an die Wand und tastete nach seinem Bogen. In einem seiner alten Bücher, die vielleicht doch gar nicht so legendenhaft waren, wie er geglaubt hatte, stand, dass sich die verwundbarste Stelle des Drachen an seinem Hals befand, dort, wo es hell glühte, wenn er Atem schöpfte, um ihn in Feuer zu verwandeln.
Aber dazu musste Nin sich offenbaren, ihn zum Feuerspucken animieren. Er hatte nur diese eine Chance. Nicht, dass sein lächerlicher Pfeil das Biest töten würde, aber vielleicht würde er ihm wehtun.
Eigentlich wollte Nin Ardnâ auch gar nicht umbringen, den geheimnisvollen Mann mit dem scheinbaren Interesse an alten Büchern, der ihm damals auf dem Markt dieses kostbare Geschenk gemacht hatte. Andererseits schien Ardnâ wiederum fest entschlossen, ihn zu töten. Schon aus purer Enttäuschung darüber, dass sich sein heimlicher Schwarm als die Bestie offenbart hatte, die Iru in Angst und Schrecken versetzte, wollte Nin ihn verletzen.
Am Ende bin ich meinem Vater wohl doch ähnlicher, als ich dachte.
Kein schöner Gedanke. Aber er schien Nin genauso unabänderlich wie die Tatsache, dass er hier sterben würde.
Vorsichtig zog er einen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn an den Bogen und begann, diesen langsam zu spannen. Es war schwer, seine ungeübten Arme zitterten, aber der Zorn, den er verspürte, gab ihm mehr Kraft, als er normalerweise aufzubringen vermochte. Er drehte sich in Richtung des Drachen und zielte grob. Atmete ein und aus. Zweimal. Dreimal.
»Izdubardnâ!«, rief er.
Das Biest fuhr herum. Zorn glomm in den gelblichen Augen und er gab ein tiefes Knurren von sich, das die Felswände vibrieren ließ. Mit aller Macht versuchte Nin, seine zitternden Arme zu stabilisieren und den Pfeil dorthin zu richten, wo er anhand der Augen den Hals vermutete. Die noch immer brennende, am Höhlenboden liegende Fackel spendete nicht genug Licht. Wirklich sehen würde er sein Ziel erst, wenn das Glühen aufwallte, der Vorbote des brennenden Atems. Dann hatte er nur noch Augenblicke.
Doch es kam nicht. Warum griff der Drache nicht an? Konnte er ihn nicht richtig sehen?
»Izdubardnâ!«, rief Nin erneut. »Warum verbrennst du mich nicht zu Asche?«
Die Bestie kam näher. Es war erstaunlich, mit welch katzenhafter Leichtigkeit sich eine so große Kreatur zu bewegen vermochte.
»Na los. Bring den nächsten Drachentöter um.« Wenn der Drache nicht bald Luft holte, würden Nins Arme versagen. Lange konnte er den Bogen nicht mehr gespannt halten. »Tu, was du tun musst, du hässliche, alte Blindschleiche!«
Es funktionierte. Der Zorn in den Augen des Biests wurde brodelnd, seine mächtige Brust dehnte sich und sein Schlund begann durch die Schuppen zu glühen. Mit aller Kraft spannte Nin noch einmal den Bogen nach, richtete ihn auf das Glühen – und ließ los.
Sirrend flog der Pfeil durch die Luft – und verfehlte. Zumindest den Schlund. Jedoch nicht den Drachen selbst. An irgendeiner Stelle seines Körpers schien er die Schuppen durchschlagen zu haben, denn die Glut verglomm und er wich brüllend ein Stück zurück.
Etwas Seltsames geschah. Zunächst war sich Nin nicht sicher, ob ihn seine Sinne täuschten. Doch dann wurde es offensichtlich. Der Drache wurde kleiner. Taumelte, fiel unter schmerzhaften Klagelauten in sich zusammen. Und nahm wieder die Gestalt von Herrn Ardnâ an, der an die Höhlenwand gelehnt zu Boden rutschte.
»Wie ... wie ist das möglich?«, fragte er keuchend, und Nin durchfuhr der gleiche Gedanke.
Wie war das möglich? Was war überhaupt passiert? Er schob alle Vernunft beiseite, drehte um und stieg blind, mit den Händen tastend an den Wänden gestützt, die Treppe hinunter, zurück in die Höhle. Es mochte ein Trick von Ardnâ sein, um ihn hinunter zu locken, aber irgendetwas sagte ihm, dass die Wahrheit eine andere war.
Unten angekommen, ging er zuerst zur Fackel und hob sie auf. Ardnâ saß noch immer schwer atmend an die Wand gelehnt und presste eine Hand an seine Schulter. Zwischen seinen Fingern ragte der Schaft des Pfeils heraus.
»Wer bist du?«, fuhr Ardnâ ihn an.
»Prinz Nin-Gâl von Iru«, gab Nin vorsichtig zurück. »Das wisst Ihr doch.«
»Und wer bist du wirklich?«
»Genau der. Ich lüge nicht.«
Mühevoll rutschte Ardnâ ein Stück weiter nach hinten, um sich etwas aufzurichten. »Wie konntest du mich verletzen?«
»Ich ... habe einen Pfeil auf Euch geschossen«, erklärte Nin das Offensichtliche und fügte fast schon entschuldigend an: »Ihr wolltet mich töten. Ich hatte keine Wahl.«
Ardnâ schnaubte und musterte ihn. Seine Augen schimmerten seltsam im Fackellicht. »Der Pfeil wäre einfach an mir abgeprallt, wenn ein gewöhnlicher Mensch ihn abgeschossen hätte. Menschen können mich nicht verletzen, egal mit welchen Waffen. Deshalb waren nicht einmal die erfahrensten Krieger in der Lage, mich zu töten.« Ardnâ stieß einen langen, angestrengten Atemzug aus. »Wolltest du deswegen die marudischen Bücher? Um herauszufinden, wer mich töten kann?«
»Was?«, versetzte Nin verwirrt. »Nein! Das steht da doch auch gar nicht drin. Ich wusste ja nicht einmal, dass Drachen Menschengestalt annehmen können! Der Auserwählte wird Euch töten, das ist alles, was mir bekannt ist.« Von der plötzlichen Erkenntnis überwältigt, trat er schwankend einen Schritt zurück. »Wenn ich Euch verletzen konnte ... bedeutet das, dass ich der Auserwählte bin?« Er konnte es nur flüstern, weil allein die Schwere dieser Vorstellung ihm auf die Stimme drückte.
»Es gibt keinen Auserwählten!«, herrschte Ardnâ ihn an. »Bei den Göttern, hast du die Drachenchroniken überhaupt gelesen, die ich dir damals geschenkt habe?«
»Natürlich habe ich das!«, protestierte Nin. »Mehrmals! Aber es sind doch nur Sagen und Legenden ... dachte ich.«
»Dachtest du.« Ardnâ lachte bitter. »Nichts davon gehört ins Reich der Legenden. Die Chroniken beschreiben die Welt, wie sie einst war ... und wenn du sie mehrmals gelesen hast, solltest du diesen Satz kennen: Drachenblut tötet Drachenblut.«
»Ja, den kenne ich. Ich habe es so interpretiert, dass man Mut, Stärke und auch ein bisschen Brutalität und Skrupellosigkeit braucht, um einen Drachen zu töten.« Vorsichtig näherte er sich Ardnâ ein wenig. »Ist das falsch?«
»Es ist falsch. Es bedarf keiner Interpretation. Nur ein Drache kann einen Drachen töten, das ist die Bedeutung.«
Nin entkam ein kleines Lachen. »Dass ich kein Drache bin, ist ja wohl offensichtlich.«
»Du musst einer sein!«, beharrte Ardnâ. »Sonst wäre das hier«, er schloss eine Hand um den Pfeilschaft, »nicht möglich.«
»Wäre ich ein Drache, würde ich wohl kaum mit diesem lächerlichen Bogen vor Euch stehen!«, widersprach Nin, aber etwas in ihm meldete Zweifel an. Absurde Zweifel. »Außerdem weiß ich, dass mein Urgroßvater im Fürstentum Gan auch einen Drachen getötet hat. Wie viele Menschen vor ihm.«
»Sie alle hatten Drachenblut in sich.« Ardnâ begann an dem Pfeil zu ziehen; sein Gesicht verwandelte sich in eine schmerzverzerrte Grimasse. »Hast du dich nie gewundert, warum das Drachentöten früher offenbar so viel einfacher war als heute?« Er stöhnte, während er Stück für Stück den Pfeil herauszog. »In ihrem Wahn, alles an Drachen und Drachenblut zu vernichten, haben die Menschen auch diejenigen vom Angesicht der Welt getilgt, die aufgrund ihrer Abstammung überhaupt in der Lage waren, Drachen zu töten ... sie haben den Ast abgesägt, auf dem sie saßen ... weniger Drachen ... weniger Nachkommen mit Drachenblut ...« Mit einem Ruck riss er das letzte Stück des Pfeils heraus, gefolgt von einem gellenden Schrei.
Aus einem Impuls heraus riss Nin ein Stück von seiner Tunika ab, ging vor Ardnâ auf die Knie und drückte den Stoff auf die blutende Wunde. »Es ... tut mir leid. Ich wollte Euch nicht töten. Nicht wirklich.«
»Keine Sorge, der Pfeil wird mich nicht umbringen. Er hinterlässt nur eine Wunde, die mir jetzt schon auf die Nerven geht.« Er schob Nins Hand beiseite und drückte den Stoff selbst auf seine Wunde.
»Und Ihr? Werdet Ihr mich jetzt töten?«
»Nein«, erwiderte Ardnâ zu seiner Überraschung.
»Sicher?« Nin schluckte trocken und rutschte ein Stück von ihm weg. »Vorhin wolltet Ihr das noch.«
»Vorhin wusste ich auch noch nicht, dass du Drachenblut in dir hast.«
»Das hat Euch bei den anderen Drachentötern doch bestimmt auch nicht interessiert.«
»Möchtegern-Drachentöter. Die hatten kein Drachenblut, sie konnten mich nicht verletzen.«
Nin schüttelte den Kopf. »Ich kann mir immer noch nicht vorstellen, dass das wahr sein soll. Woher sollte ich es haben? Ich bin der Sohn des Fürsten, meine Familie würde nie auf dem Thron Irus sitzen, wenn wir Drachenblut in uns hätten. Außerdem: Seht mich an. So, wie ich aussehe, habe ich allenfalls Hühnerblut in mir.«
Das entlockte Ardnâ ein Lachen, gefolgt von einem neuerlichen Schmerzenslaut. »Die menschliche Gestalt hat nichts damit zu tun. Du sagtest, dein Urgroßvater habe einst einen Drachen getötet? Dann hatte er Drachenblut in sich. Und hat es über Generationen an dich weitergegeben.«
Konnte das wirklich sein? Und wenn ja, hatte seine Familie davon gewusst? Jener Urgroßvater war der Großvater seiner Mutter gewesen. So sehr, wie die Menschen Drachen hassten und verabscheuten, war es möglich, dass so manche Familie das Geheimnis mit ins Grab genommen hatte, um ihre Nachkommen zu schützen. Aber Nin fühlte sich nicht wie ein Drache. Beherrschte keine Magie, konnte seine Gestalt nicht wandeln. Er war ein einfacher Mensch. Oder?
»Ich kann keinen anderen Drachen mehr töten«, fuhr Ardnâ schließlich fort. »Das heißt – ich könnte es natürlich schon, aber ich will es nicht. Es gibt nur noch so wenige von uns ... ich habe Angst, irgendwann der letzte zu sein.«
Dieses Geständnis war erstaunlich. Es fiel Nin schwer, die Dinge zu verarbeiten, geschweige denn, zu glauben, die Ardnâ ihm sagte. Vielleicht spielte er Spielchen mit ihm. Machte sich über ihn lustig.
»Soll ich Euch helfen, die Wunde zu versorgen?«, fragte er schließlich.
»Das ist nicht nötig, das kann ich selbst.« Unter Ächzen und Stöhnen erhob sich Ardnâ, gestützt an die Wand, bis er schwankend zum Stehen kam. »Der Pfeil ging nicht allzu tief.«
»Wenn ich Euch in die Kehle getroffen hätte–«
»Hast du aber nicht.«
Nin erhob sich ebenfalls und nestelte nervös am Saum seiner kaputten Tunika. »Aber wenn Ihr mich nicht tötet ... lasst Ihr mich dann gehen?«
Ardnâ schnaubte und wirkte eher amüsiert. »Damit du dann mit einer Armee zurückkehrst?«
»Was sollte die mir denn nützen, wenn nur ich mit meinem Drachenblut Euch töten könnte?«
»Sie könnten mich in Schach halten, damit du in Ruhe den finalen Stich ausführen kannst.«
Nin schüttelte den Kopf. »Das würde sich wie Verrat anfühlen. Außerdem ist es gar nicht möglich, diesen engen Gebirgspfad eine Armee hinaufzuführen. Ich werde ... ich werde einfach behaupten, dass ich Euch nicht gefunden habe. Nur ein paar Knochen. Dass Ihr wahrscheinlich tot seid.«
»Und das wird man dir glauben?«
»Ich weiß es nicht. Ich werde es erfahren. Man hat Euch lange nicht gesehen ... vielleicht ist es auch besser, wenn Ihr Euch nicht mehr in Eurer Drachengestalt zeigt. Oder zumindest noch für eine Weile nicht.«
Ardnâ senkte den Blick, schien nachzudenken. »Geh«, sagte er schließlich.
»Wirklich?«, fragte Nin überrascht.
»Geh, bevor ich es mir anders überlege. Lies deine Bücher. Vor allem die Drachenchroniken. Begreife, was das bedeutet. Dass wir keine hässlichen Blindschleichen sind. Und wer der wahre Feind ist.« Ardnâs Gesicht verhärtete sich. »Leb wohl, Darlu-Gâl.«
»Darlu-Gâl?«
»Du weißt genau, was das heißt.« Ein winziges Lächeln zeigte sich auf Ardnâs Lippen. »Es ist Marudisch. Es heißt Huhn.«
KOPFLOS RANNTE NIN