Wenn die Wälder rauschen - Jona Dreyer - E-Book

Wenn die Wälder rauschen E-Book

Jona Dreyer

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Beschreibung

»Ich glaube, die Elchkuh wollte uns verkuppeln.« Als Juhán nach einem Beinahe-Unfall dem mysteriösen Peter begegnet, ist er sofort fasziniert. Peter ist anders - und verlässt das Haus nur, wenn es dunkel wird. Juhán will ihn wiedersehen, doch während der Frühling im Norden einzieht, bleibt Peter verschwunden und niemand scheint ihn zu kennen. Als Juhán bereits beginnt, an seinem Verstand zu zweifeln, findet er den Mann seiner Tagträume doch noch. Aber leider ist alles nicht so einfach, wie von ihm erhofft. Denn Peter ist tief traumatisiert und fürchtet sich vor den Blicken anderer Menschen. Während die Natur um sie erwacht und die Tage länger werden, wünscht sich Juhán nur eins: Peter aus seinem Schneckenhaus zu locken - und sein verletztes Herz zu erobern ... "Wenn die Wälder rauschen" ist der 2. Roman der "Bergets Sånger"-Reihe. Jede Geschichte ist in sich abgeschlossen und hat jeweils einen anderen Bewohner des Ortes als Hauptfigur.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Wenn die Wälder rauschen

Gay Romance

© Urheberrecht 2024 Jona Dreyer

 

Impressum:

Tschök & Tschök GbR

Alexander-Lincke-Straße 2c

08412 Werdau

 

Text: Jona Dreyer

Coverdesign: Jona Dreyer

Coverbilder: depositphotos.com

Lektorat/Korrektorat: Kelly Krause & Shannon O’Neall

 

Kurzbeschreibung:

 

"Ich glaube, die Elchkuh wollte uns verkuppeln."

Als Juhan nach einem Beinahe-Unfall dem mysteriösen Peter begegnet, ist er sofort fasziniert. Peter ist anders - und verlässt das Haus nur, wenn es dunkel wird.Juhan will ihn wiedersehen, doch während der Frühling im Norden einzieht, bleibt Peter verschwunden und niemand scheint ihn zu kennen. Als Juhan bereits beginnt, an seinem Verstand zu zweifeln, findet er den Mann seiner Tagträume doch noch.

Leider ist alles nicht so einfach, wie von ihm erhofft. Denn Peter ist tief traumatisiert und fürchtet sich vor den Blicken anderer Menschen.

Während die Natur um sie erwacht und die Tage länger werden, wünscht sich Juhan nur eins: Peter aus seinem Schneckenhaus zu locken - und sein verletztes Herz zu erobern ...

Über die Autorin

»Fantasie ist wie ein Buffet. Man muss sich nicht entscheiden – man kann von allem nehmen, was einem schmeckt.«

Getreu diesem Motto ist Jona Dreyer in vielen Bereichen von Drama über Fantasy bis Humor zu Hause. Alle ihre Geschichten haben jedoch eine Gemeinsamkeit: Die Hauptfiguren sind schwul, bi, pan oder trans. Das macht sie zu einer der vielseitigsten Autorinnen des queeren Genres.

Vorwort

Es ist Zeit für einen neuen Abstecher nach Schwedisch Lappland! Und, Überraschung: Auch dort herrscht nicht immer nur Winter.

In Bergetssånger hält nun der Frühling Einzug und der ist mindestens so spannend wie der Winter, denn die Tage werden immer länger, die Nächte kürzer, die Wälder blühen und summen – und Rentierkälber werden geboren!

In diesem zweiten Band der »Bergets Sånger«-Reihe erleben zwei ganz besondere Protagonisten zusammen mit der Natur sozusagen ihr eigenes Frühlingserwachen. Die Kälte weicht der Wärme und das Licht kehrt ins Leben zurück.

Ich wünsche viel Freude beim Lesen.

Prolog

Die Nacht war sein Freund. Sterne spotteten und lachten nicht. Die Dunkelheit hüllte ihn ein wie ein Mantel, der ihn unsichtbar machte.

Die Nacht bedeutete Freiheit und frische Luft. Sich angstlos bewegen. Und nicht alleine sein. Denn die Sterne waren ja bei ihm, die Nordlichter, die Tiere, die zwischen den Bäumen umherschlichen und Zweige knacken ließen. Vor ihnen fürchtete er sich nicht. Peter fürchtete sich nur vor Menschen. Und deshalb liebte er den Winter so: Die Dunkelheit währte lange. Es war seine Zeit, sein Moment der Freiheit, in dem er sein konnte, wer er war. Und wie er war.

Doch bald war es vorbei, denn der Frühling nahte. Noch knirschte der Schnee unter seinen Stiefeln, noch bog schwerer Reif die Äste der Tannen und Fichten. Aber selbst der längste Winter nahm irgendwann ein Ende, und wo andere sich freuten und das Licht genossen, zog Peter sich in sein Haus zurück und wartete, bis die Dunkelheit zurückkehrte. Jahrein jahraus. Das war der Zyklus seines Lebens.

Er war bereits auf dem Weg nach Hause, als er ein sich näherndes Fahrzeug vernahm. Dem Motorgeräusch nach ein Schneemobil. Hin und wieder kam es vor, dass jemand vorbeifuhr, wenn Peter spazieren ging. Das war nicht schlimm, nur hatte er manchmal die Befürchtung, dass ein allzu freundlicher Fahrer anhalten und ihn fragen könnte, wohin er wollte und ob er ihn mitnehmen konnte.

Aber spätestens, wenn er mich im Licht sieht, würde er dieses Angebot zurückziehen. Oder zumindest bereuen, es je gemacht zu haben.

Er kannte diese Blicke nur zu gut. Manche sagten einfach nur so viel wie Oh oder Ups, aber die meisten sagten: Was zur Hölle.

Peter wollte sie nicht ertragen. Und darum bewegte er sich nur in der Dunkelheit.

Das Schneemobil kam schnell näher. Er setzte seinen Weg am Straßenrand fort, unauffällig wie immer. Mit etwas Glück nahm ihn der Fahrer gar nicht wahr. Das Licht blendete in Peters Rücken auf; unwillkürlich zog er die Schultern hoch und verbarg die Hände in den Manteltaschen. Etwas raschelte neben ihm im Gebüsch, etwas Großes, Schweres trat zwischen den Zweigen hervor. Ein wenig erschrocken wich Peter zurück, um der mächtigen Elchkuh den Weg freizugeben. Er stolperte, verlor die Balance und fiel. Das Schneemobil kam auf ihn zu. Peter hörte, wie es verzweifelt bremste. Aber es war zu spät. Es gab nur noch gleißendes Licht. Und einen lauten Knall.

 

1

Chockens ögonblick

»Ja, ja, ja.« Juhán lachte, als immer mehr Rentiere ihn neugierig umzingelten, während er Futterpellets in die Krippen streute.

Wenn das so weiterging, würden diese halbwilden Tiere noch zu echten Haustieren werden – was allerdings eine bedenkliche Entwicklung war. Allein schon die Entscheidung, ob man zufüttern sollte oder nicht, war nicht ganz einfach zu treffen.

Doch den ganzen Winter über allein Futter zu finden, wurde für die Rentiere immer schwieriger. Zu stark schwankten durch den Klimawandel die Temperaturen, sodass die Böden immer wieder tauten und anschließend vereisten, was es den Tieren schwermachte, unter dem Schnee nach Flechten zu graben. Auch die Nutzflächen wurden immer kleiner und boten nicht ausreichend Nahrung. Wenn die Rentierhirten nicht zufütterten, starben über den Winter zu viele Tiere. Also mussten sie den Kompromiss eingehen.

»Lasst es euch schmecken. Bald kommt ihr ja wieder alleine zurecht.«

Er winkte den Tieren zu, die ihn in ihrer Fressgier natürlich vollkommen ignorierten, und setzte sich auf sein Schneemobil. Es war Mitte März und bereits dunkel, aber die Tage wurden mittlerweile wirklich merklich länger und in einigen Wochen begann der Frühling. Es wurde Zeit, nach Hause zu fahren, etwas zu essen und anschließend etwas zu lesen oder fernzusehen. Mehr hielt das Leben nicht für ihn bereit. Aber das war vollkommen in Ordnung, denn es war doch so viel mehr, als die meisten je haben würden. Er war hier, an diesem herrlichen Fleckchen Erde, verbunden mit der Natur und seinen Ahnen. Natürlich mit ein paar Annehmlichkeiten, die diese noch nicht gehabt hatten. Das Schneemobil zum Beispiel.

Die Luft war eisig und belebend, als er über die schneebedeckten Weiden preschte. Er würde den Winter vermissen, auch wenn er den Sommer ebenfalls mochte. Im Sommer gab es weniger für ihn und seine Familie zu tun und sie konnten Licht und Wärme auftanken, ehe alles wieder von vorn begann. Es hatte am Ende doch jede Jahreszeit etwas für sich.

Bald kam die Straße in Sicht, die zu seinem Heimatort Bergetssånger führte. Es war nicht mehr allzu weit, noch etwa sieben Kilometer.

Plötzlich trat ein großer Schatten aus dem Dickicht am Straßenrand hervor.

Scheiße, eine Elchkuh.

Juhán bremste und wich aus, aber zu seinem Entsetzen löste sich aus der großen Silhouette noch eine kleinere und fiel auf die Straße. Juhán riss das Steuer herum und landete mit einem Rumms in einer Schneewehe am Straßenrand.

»Oh, verdammt«, murmelte er schwer atmend vor sich hin und brauchte einen Moment, um wieder richtig zur Besinnung zu kommen.

Er drehte sich um. Die Elchkuh spazierte völlig desinteressiert an der Karambolage davon. Der kleine Schatten, eindeutig ein Mensch – ein Mann –, rappelte sich auf.

»Bist du okay?«, rief Juhán ihm zu.

»Ja, alles in Ordnung. Und du?«

Was für eine schöne Stimme, durchfuhr es Juhán unvermittelt. So warm und tief.

»Mir geht’s auch gut. Ich mache mir da eher Sorgen um meinen Motorschlitten.«

Er wollte den Mann sehen, zu dem diese Stimme gehörte, und außerdem sichergehen, dass er wirklich unversehrt war, also stand er schwankend von seinem Motorschlitten auf und holte die Taschenlampe, die er im Winter immer bei sich trug, aus seiner Jackentasche. Er schaltete sie ein und leuchtete in Richtung des Mannes, der abwehrend die Hände hob.

»Lass das bitte.«

»Sorry.« Juhán trat etwas näher. »Aber ... warum zur Hölle läufst du denn um die Uhrzeit hier so allein herum? Und dann auch noch dunkel angezogen? Dass das gefährlich werden kann, muss ich dir ja nun nicht noch sagen.«

Der andere seufzte und hielt seinen Blick auf die Straße gerichtet, halb von Juhán abgewandt. »Ich gehe immer nur nachts raus. Ich will nicht gesehen werden.«

»Warum denn das?«, fragte Juhán verdutzt.

»Weil ich die Leute nicht erschrecken möchte.«

»Was?« Juhán lachte auf. »Was redest du denn für einen Quatsch?«

Endlich wandte sich der Kerl ihm zu, wenn auch zaghaft. Er hatte ein Gesicht, wie Menschen es hatten: Augen, Nase, Mund. Und trotzdem war irgendetwas anders. Die Proportionen. Seine äußeren Augenwinkel machten einen Schwenk nach unten, was ihm einen traurigen Blick verlieh. Seine Wangenknochen wirkten ein wenig eingefallen; den Rest verbargen eine Mütze und ein kurzer, dunkelblonder Vollbart.

Juhán war fasziniert von diesem so besonderen Gesicht. Sein Herzschlag beschleunigte sich ein wenig und er merkte zu spät, dass er starrte.

»Genau das meine ich«, erklärte der andere missmutig. »Ich bin hässlich und die Leute starren. Ich ertrage das nicht. Deshalb gehe ich nur im Dunkeln spazieren.«

»Hässlich?«, erwiderte Juhán regelrecht bestürzt. »Aber das stimmt doch gar nicht.«

»Oh, bitte, jetzt lüg mich doch nicht noch an. Das macht es noch schlimmer.«

»Ich lüge nicht.« Der Vorwurf machte Juhán betroffen und er runzelte die Stirn. »Klar hast du kein Allerweltsgesicht, aber das hat doch mit Hässlichkeit nichts zu tun. Und vor allem solltest du deswegen nicht in der Dunkelheit herumlaufen und schlimmstenfalls dein Leben riskieren.«

Seufzend steckte er die Taschenlampe wieder ein, weil das Licht dem anderen offenbar unangenehm war, auch wenn er selbst ihn gern noch ein wenig näher betrachtet hätte. Aber natürlich wollte er nicht, dass sich der Kerl wie im Zoo fühlte.

»Wie heißt du?«

»Peter«, kam nach kurzem Zögern zurück.

»Hej, Peter. Ich bin Juhán. Hör mal, ich – oh, schau!« Für den Augenblick vergaß er, was er hatte sagen wollen, und wies in Richtung Himmel, wo sich plötzlich grünlich schimmernd Polarlichter zeigten. »Vielleicht die letzten für diese Saison.«

»Ich bin immer traurig, wenn es bis zum Herbst keine mehr gibt«, erwiderte Peter und Juhán hörte ihn lächeln.

»Nicht wahr? Ich mag auch den Sommer mit seinen endlosen Tagen, aber das hier ... das ist ...«

»Magisch.«

»Ja, genau.« Lächelnd sah Juhán Peter von der Seite an. Stellte sich vor, wie die Himmelslichter in diesen außergewöhnlichen Augen reflektierten und verspürte eine kribbelnde, innere Wärme. »Ich könnte es stundenlang anschauen.«

»O ja.«

So schauten sie eine Weile in den Himmel, sahen dem Farbenspiel aus Grün und Magenta zu, den verzauberten Bändern aus einer anderen Sphäre. Zwischen ihnen herrschte eine stille Harmonie, obwohl sie sich nicht kannten, sich gerade erst begegnet waren. Juhán fühlte sich selten wohl in der Gesellschaft Fremder, aber jetzt und hier war es irgendwie anders. Warum, konnte er nicht sagen.

»Es gibt so viele Dinge, die man sich im ursprünglichen Glauben meines Volkes über die Polarlichter erzählt, und manche davon glaube ich«, erklärte er irgendwann. »Oder habe sie geglaubt.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Als Kind habe ich geglaubt, dass das Nordlicht, oder Guovssahasat, wie wir es nennen, mich holen kommt, wenn ich unartig bin. Das haben mir meine Eltern und Großeltern immer angedroht.«

»Dann warst du wohl ein braves Kind«, schlussfolgerte Peter. »Denn du bist noch da.«

»So brav war ich gar nicht immer, aber vielleicht haben sie Gnade walten lassen, weil ich ihnen immer Lieder gesungen habe. Heja hejo, oah-heja hojoja ...« Er sang einfach los. Ohne Text, ohne feste Melodie, einfach das, was das Herz und der Himmel ihm gerade eingaben. So, wie er es immer machte.

»Das klingt schön.« Erstaunt sah ihn Peter an, vergaß zu Juháns Freude einen Moment, sich beschämt abzuwenden. »Wie heißt das Lied?«

»Oh, das hat keinen Namen. Das hab ich mir gerade ausgedacht.«

»Also ein Joik?«

»Ganz genau.« Lächelnd sang Juhán weiter, ließ seine Stimme in den Nachthimmel schallen.

Heja joja, heja-ja ...

»Du bist ein Sámi«, stellte Peter fest.

»So ist es. Und ob du es glaubst oder nicht, ich kam sogar gerade von der Rentierweide.«

»Rentiere.« Peters Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an und zeigte den Anflug eines schiefen Lächelns. »Ich liebe sie sehr, sie sind so zauberhaft. Und Elche ebenso, auch wenn diese Elchkuh uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt hat.«

Juhán lachte auf. »Das hat sie in der Tat. Und es hat sie überhaupt nicht interessiert. Aber Rentiere sind wirklich ganz besondere Tiere. Sie und mein Volk gehören zusammen. Meine Familie und ich, wir kennen jedes unserer fast fünfhundert Tiere.«

»Unvorstellbar und doch so schön.« Peter schniefte und blies in seine behandschuhten Hände. »Funktioniert dein Schneemobil noch?«

»Gute Frage. Sollte ich wohl mal ausprobieren.«

Juhán ging hinüber zu seinem Gefährt, setzte sich darauf und ließ den Motor an. Er startete ohne Probleme. Mit dem Rückwärtsgang und etwas Anstrengung schaffte er es, das Schneemobil aus der Wehe zu befreien.

»Sieht gut aus!«, rief er Peter zu und stellte den Motor wieder ab.

»Prima.« Peter zog die Schultern nach oben und verbarg die Hände in seinen Manteltaschen. »Ich muss dann jetzt los.«

»Soll ich dich nach Hause bringen? Du könntest dich hinter mich setzen.«

»Nein, danke.« Peter winkte ab. »Ich möchte noch ein bisschen spazieren. Ich bin schon auf dem Heimweg.«

»Na gut.« Juhán räusperte sich. Er hätte sich gern noch ein bisschen länger mit Peter unterhalten, aber dem wurde sicher kalt und er wollte nach Hause. »Wir treffen uns doch sicher mal wieder, oder?«

»Bestimmt.«

Peter hob eine Hand zum Gruß und wandte sich ab. Juhán sah ihm noch einen Moment hinterher und seufzte. Schließlich ließ er den Motor an und fuhr davon.

2

Drömvärlden

Juhán aß zu Abend. Er wusch sich. Zog sich in sein Zimmer zurück und schaltete den Fernseher an. Aber egal, was er tat, er konnte die Begegnung mit dem geheimnisvollen Peter nicht vergessen.

Wir haben gemeinsam die Nordlichter angeschaut.

Er hatte die Lichter schon unzählige Male gesehen und auch dabei gejoikt, also auf traditionelle Weise gesungen, jedoch nie in Gegenwart eines Fremden. Aber irgendetwas war heute anders gewesen. Sicher auch der gemeinsame Schrecken aufgrund des Unfalls, bei dem sie beide noch glimpflich davongekommen waren. Aber das allein war es nicht.

Er dachte ständig an Peters Stimme, die sein Herz schon zum heftigen Klopfen gebracht hatte, ehe er ihn überhaupt sah. Und dann diese schönen, traurigen Augen. Das außergewöhnliche Gesicht, für das er sich schämte und das Juhán am liebsten in die Hände genommen und liebkost hätte.

Bin ich verrückt, so über einen Wildfremden zu denken?

Vielleicht war er schon zu lange allein. Andererseits hatte ihn das bisher nie zu solchen Gedanken verleitet, obwohl es Gelegenheit dazu gegeben hätte. Mit seinem Nachbarn Ingmar zum Beispiel. Ingmar liebte, genau wie er selbst, Männer, und war alles andere als unattraktiv, aber Juhán hatte nie romantische Gefühle für ihn entwickelt. Inzwischen war Ingmar vergeben, und Juhán war nicht eifersüchtig, sondern freute sich für ihn.

»Für dich muss wohl erst Biejve einen Mann erschaffen«, hatte seine Mormor kürzlich erst wieder geschnarrt.

Biejve war die Schöpfergottheit im alten, samischen Glauben, und wahrscheinlich hatte die Mormor gar nicht so unrecht.

Aber was, wenn mir Biejve Peter geschickt hat? Wenn diese Begegnung kein Zufall war?

Juhán schüttelte den Kopf. Er steigerte sich da gerade ziemlich in etwas hinein, aber fest stand, dass er Peter wiedersehen wollte, und deshalb machte er sich im Stillen einen Plan.

Er wusste ja, dass Peter nur im Dunkeln spazieren ging, und hatte sich natürlich auch die Straße und die ungefähre Uhrzeit gemerkt, zu der sie sich begegnet waren. Er würde morgen Abend wieder dort vorbeifahren, rein zufällig natürlich, in der Hoffnung, dass sie wieder aufeinandertrafen. Diesmal allerdings bitte ohne einen Beinahe-Unfall.

Mit einem Lächeln der Vorfreude auf den Lippen ging Juhán ins Bett. Er konnte den morgigen Abend kaum erwarten.

»Wo willst du denn hin?«, fragte sein Vater, als sich Juhán am frühen Abend des nächsten Tages anzog, um hinauszugehen.

»Ach, ich fahr noch mal raus zu den Tieren«, erwiderte er kurz angebunden.

»Jetzt noch? Wozu denn? Du warst doch gestern erst dort.«

»Der Boden auf den Weiden ist ziemlich überfroren«, gab Juhán zur Erklärung, was nicht wirklich gelogen war. »Ich will sichergehen, dass sie genug zu fressen haben.«

»Ich kann auch selbst fahren«, schlug sein Vater vor, »dann musst du nicht–«

»Nein, ist schon gut«, wiegelte Juhán eilig ab. »Ich kann ein bisschen frische Luft auch gut gebrauchen.«

Sein Vater zuckte mit den Achseln. »Wie du meinst. Aber sei zum Abendessen wieder da. Es gibt Fischeintopf aus meinem gestrigen Fang. Lass dir das nicht entgehen!«

»Auf keinen Fall«, gab Juhán lachend zurück, obwohl er gedanklich eine Einschränkung machte: Sollte er Peter treffen und noch einmal etwas Zeit mit ihm verbringen können, würde er auch den Fischeintopf sausen lassen. Aber das musste sein Vater nicht wissen. Vorerst.

Mit vor Aufregung klopfendem Herzen fuhr er mit seinem Schneemobil los, in Richtung der Straße, an der sie sich gestern begegnet waren. Das Wetter war klar und kalt, aber nicht eisig; ideal also für einen Spaziergang.

Während der Fahrt überlegte er, was er Peter wohl sagen würde, wenn sie sich begegneten. Sollte er so tun, als sei ihre Wiederbegegnung reiner Zufall, oder sollte er zugeben, dass er absichtlich hergekommen war? Und wie verwickelte er ihn am besten in ein Gespräch, ohne aufdringlich zu wirken? Das war gar nicht so einfach und er hatte damit wenig Erfahrung.

Vielleicht hätte ich jemanden um Rat fragen sollen.

Aber dafür war es nun zu spät, und außerdem hatte er sein kleines Geheimnis nicht sofort ausplaudern wollen.

Bedächtig fuhr er die Straße entlang und überlegte, aus welcher Richtung Peter gestern gekommen war. Aus Süden. Bisher war er nirgendwo zu sehen, allerdings war Juhán, falls Peter immer zur gleichen Zeit seinen Spaziergang machte, eine halbe Stunde zu früh dran. Also machte er einen kurzen Abstecher zu den Rentieren, denen es hervorragend ging, und fuhr weiter die Straße hinauf und wieder hinunter, Mal um Mal. Die halbe Stunde verging, dann eine ganze, aber Peter tauchte nicht auf.

Vielleicht geht er doch nicht immer zur gleichen Uhrzeit.

Juhán fuhr weiter, noch etwas mehr Richtung Süden, und kam sich ein bisschen albern vor. Er kämpfte das Gefühl nieder, denn vor wem machte er sich denn lächerlich? Höchstens vor sich selbst, und damit konnte er leben. Mit bedächtigem Tempo fuhr er den Weg noch einmal entlang. Peter zog sich dunkel an und war leicht zu übersehen, das wollte Juhán nicht noch einmal riskieren. Irgendwann kam einer seiner Dorfnachbarn die Straße entlanggefahren, grüßte ihn und fuhr weiter.

Aber kein Peter.

Ich werde ihn doch wohl nicht in genau den zehn Minuten verpasst haben, in denen ich bei den Rentieren war?

Er sah auf die Uhr. Es war schon nach sieben; seine Familie würde ungeduldig mit dem Abendessen warten. Wahrscheinlich tauchte Peter genau dann auf, wenn Juhán nach Hause fuhr. Oder er hatte ihn doch verpasst. Schweren Herzens beschloss er, für heute aufzugeben. Morgen war auch noch ein Tag. Und vielleicht ging Peter doch nicht jeden Tag den gleichen Weg, sondern wechselte ab. Oder er musste erst den gestrigen Schreck noch richtig verdauen. Aber irgendwann, bald, würde er wieder hier sein.

Dennoch enttäuscht machte sich Juhán auf den Heimweg. Den ganzen Tag lang hatte er sich den Moment ausgemalt, in dem sie sich wiedertrafen, und nun trat dieser Moment nicht ein. Jedenfalls nicht heute. Magische Momente ließen sich eben nicht einfach beliebig oft reproduzieren. Man musste geduldig warten, bis sie einen fanden.

»Und, wie geht es den Tieren?«, fragte sein Vater, als Juhán schließlich nach Hause kam.

»Gut«, erwiderte er, »aber ich fahre morgen sicher noch mal raus.«

»Nicht nötig«, gab sein Vater zurück, »ich fahre morgen Vormittag selber raus. Ich wollte sowieso die Futterkrippen putzen und eine kleine Bestandsaufnahme machen.«

Ganz schlecht.

Er konnte Pappa nicht einmal anbieten, diese Aufgabe an seiner statt zu übernehmen, denn um diese Zeit musste er selbst arbeiten. Im Gegensatz zu seinen Eltern war er kein hauptberuflicher Rentierhirte, sondern verdiente den größten Teil seines Einkommens in einer Zimmerei im Nachbarort. Wenn er am Nachmittag nach Hause kam, würde sein fleißiger Vater schon alles erledigt haben.

Er musste sich also einen neuen Grund ausdenken, aus dem er am Abend noch einmal mit dem Schneemobil losmusste. Nicht, dass er als Mann Mitte dreißig nicht hingehen durfte, wo er wollte, aber hier war es nun einmal üblich, jemand anderem Bescheid zu sagen, wenn man sich bei Dunkelheit vom Dorf entfernte. Einfach, weil das Leben hier im Winter nicht ganz ungefährlich war und schnell etwas passieren konnte.

Aber das war eine Aufgabe für morgen. Oder für heute Nacht.

3

Gömman

Klar hast du kein Allerweltsgesicht, aber das hat doch mit Hässlichkeit nichts zu tun.

Nicht hässlich. Nicht hässlich.

Das Türklingeln riss Peter aus seinem Gedankenfluss. Erschrocken sprang er auf und ging zur Tür. Er wusste, wer es war. Die einzige Person, die je bei ihm klingelte: seine Nachbarin Anita. Bis vor eineinhalb Jahren hatte es noch eine zweite Person gegeben, nämlich Anitas Mann Ulf, aber der war leider verstorben. Eine Tatsache, an der auch Peter noch zu knabbern hatte.

»Deine Einkäufe!«, verkündete Anita, als er die Tür öffnete, und hielt die beiden vollen Tüten hoch.

Er nahm sie ihr ab. »Ich danke dir vielmals.«

»Schon gut.« Die rüstige Anita stemmte die Hände in ihre fleischigen Hüften. »Sag mal, gehst du gar nicht mehr spazieren?«

»In der letzten Woche nicht«, gab er zu. »Woher weißt du das schon wieder?«

»Na, weil ich dich gar nicht aus dem Haus hab kommen sehen zu deinen üblichen Zeiten.«

»Stehst du etwa den ganzen Tag am Fenster und beobachtest, ob ich das Haus verlasse?«

»Hör mal«, erwiderte sie ungeduldig, »ich bin eine alte Frau in Lappland und es ist noch Winter. Natürlich stehe ich den ganzen Tag am Fenster und beobachte dich. Denkst du etwa, ich hab gerade was Besseres zu tun?«

Wider Willen prustete er los. Anita war einfach unmöglich. »Na, dann.«

»Und warum gehst du nicht mehr an die frische Luft? Ist die Fauleritis bei dir eingezogen?«

»Nein. Es war nur ... als ich das letzte Mal unterwegs war, gab’s fast einen Unfall.«

»Ach?«

»Ja.« Fröstelnd rieb er sich die Oberarme. Es war ziemlich kalt heute.

»Na, erzähl! Was ist passiert?«

»Ich wurde fast von einem Schneemobil angefahren und da war auch eine Elchkuh und ... na ja. Und anschließend haben wir uns aber irgendwie nett unterhalten.«

»Du und die Elchkuh?«

Schon wieder musste er lachen. Dieses Weib ... »Nein, ich und der Fahrer natürlich. Ein Rentierhirte.«

»Rentierhirte? War vielleicht einer von den Turis.«

»Von wem?«

»Familie Turi«, erklärte Anita. »Du weißt doch, wenn ich dir manchmal erzähle, dass ich Besuch von meiner Freundin Margret aus Bergetssånger bekomme. Sie und ihre Familie sind samische Rentierhirten.«

»Ach so. Ja, das kann sein. Er hieß Juhán.«

»Ja, genau! Das ist einer von Margrets Enkeln.«

»Sag ihr bitte nichts davon«, bat Peter mit einem Kloß im Magen.

»Wieso nicht?«

»Ich will diese Begegnung nicht unbedingt wiederholen.«

»Und weshalb nicht? Du sagtest doch gerade, ihr hättet euch nett unterhalten. Klingt nicht, als ob er gemein zu dir war.«

»War er nicht ... nicht direkt. Aber er hat mir so ins Gesicht gesehen.«

Anita verschränkte die Arme, was durch ihren ausladenden Busen und die dicke Jacke kaum gelang. »Puschel, jetzt hör mal zu.«

»Du sollst mich nicht immer Puschel nennen!«

»Ich bin zweiundsiebzig und gehe für dich Jungspund einkaufen. Ich nenne dich, wie es mir passt. Und natürlich hat dir Juhán ins Gesicht gesehen, so was machen Menschen, wenn sie sich mit anderen unterhalten. Du solltest dich daran gewöhnen. Ja, wahrscheinlich starren sie bei dir einen Moment länger, aber auch du bist irgendwann nicht mehr interessant genug und sie sehen woanders hin.«

»Ich weiß nicht, ob ich das jemals kann«, gestand Peter resigniert und ließ die Schultern hängen. »Mich daran gewöhnen.«

»Wie auch, wenn du dich die ganze Zeit hier versteckst?«

»Ich hatte auch ein Leben, bevor ich hierhergezogen bin«, erinnerte er.

»Und da warst du kaum weniger versteckt als jetzt. Ich werde nicht ewig da sein und für dich einkaufen, Puschel. Irgendwann musst du wieder raus in die Welt und dich ihr stellen.«

»Natürlich wirst du ewig da sein«, widersprach er brüsk. »Du bist unsterblich!«

»Ja, ja, gerade ich mit meinem ewigen Bluthochdruck. Keine Sorge, ich sag Margret nichts. Aber geh um Himmels Willen wieder spazieren, sonst erstickst du irgendwann in deinen eigenen vier Wänden.«

»Ist gut. Ich werde mich aufraffen.«

Er gab Anita das Geld für den Einkauf und verabschiedete sich von ihr. Beobachtete noch vom Fenster aus, wie sie zu ihrem Auto wackelte und die zweihundert Meter bis zu ihrem Haus fuhr.

Während er seine Einkäufe aus den Tüten räumte, ging das Gedankenkarussell wieder an. Da war so ein immenser Widerspruch in seinem Kopf, den er irgendwie nicht bereinigen konnte: Auf der einen Seite war die Begegnung angenehm gewesen, das gemeinsame Nordlichtbeobachten und das Gespräch über die Rentiere wirklich schön, andererseits wollte er keinesfalls, dass sie sich wiederholte. Weil er es nicht ertragen könnte, wenn dieser hübsche, freundliche Mann ihn anschaute und sich gezwungen sah, nette Worte zu finden, während er innerlich vermutlich gegen das Entsetzen kämpfte. Das tat oft mehr weh als echte, offene Verachtung, denn bei dieser wusste er wenigstens, woran er war.

Natürlich war ihm klar, dass Anita recht hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---