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Als der Ganove Nicolaus Veith an Neujahr 1816 aus dem Zuchthaus in Aschaffenburg entlassen wird, weiß er natürlich nicht, dass diese Monate einmal als das Jahr ohne Sommer in die Geschichte eingehen werden. Die letzte Hungersnot in Deutschland. Nach dem glücklichen Fund einer Offiziersuniform kommt er über die Landesgrenze bis nach Altheim. Dort hält man ihn für einen wichtigen Mann. Veith sieht seine Chance und bleibt, während das Unheil seinen Lauf nimmt. Kann er mit List und Tücke das Dorf durch die drohende Hungerkatastrophe führen? Droht gar ein bewaffneter Aufstand gegen den Großherzog?
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Seitenzahl: 433
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für Jessica und Jannik.
»Month that should be summer´s prime
Sleet and snow and frost and rime
Air so cold you see your breath
Eighteen hundred an froze to death.”
(Lee-Lee Schlegel: The Year without a summer. Maine 1816)
Thomas Fuhlbrügge
Achtzehnhundertunderfroren
Ein historischer Altheim-Roman
Bibliografische Information der Deutschen National-Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar.
© 2024 -Verlag, Altheim
Buchcover: Germancreative
Lektor: Marc Mandel
Illustration: Klaus Pfeifer
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Prolog
Darmstadt 2.Dezember 1815
T
rommelwirbel. Er übertönte das Gemurmel. Hunderte waren gekommen. Drängten sich zusammen. Trotz der Kälte. Warteten hinter der Postenreihe der Soldaten. Volksfeststimmung. Seit der letzten Exekution waren 16 Jahre vergangen. Marketenderinnen schritten durch die Menge. Verkauften Zuckerstangen. Oder lieber ein Püppchen aus Lumpen? Für die quengelnde Göre auf Vaters Schultern? Die Figur, aufgehängt an einen lustigen, kleinen Galgen. Nur sieben Kreuzer. Fast geschenkt. Einverstanden, vier. Und Handarbeit. Das Haar aus echtem Kaninchenfell. Nicht etwa von einer Ratte. Nein, gewiss nicht. Ehrenwort.
Die ganze Nacht Schneefall. Flocken. Wie kleine Wolken. Sträflinge hatten vorhin den Marktplatz gefegt. Heute diente er als Ort für das Blutgericht. Ein Todesurteil wurde vollstreckt. Erhängen am Halse. Bis der Tod eintrat. Hänfene Hochzeit nannte es der Volksmund.
Im linksrheinischen Teil des Landes war längst die Guillotine in Gebrauch. Ein weiterer kultureller Beitrag Frankreichs für die Welt. Landgraf, nein, Großherzog Ludwig hatte rechtzeitig eine für Darmstadt geordert. War der Transport im Schnee stecken geblieben? Selbst der Ersatz aus Mainz kam nicht durch. Daher der Rückgriff auf die Kunst des Scharfrichters.
Zwei Gelehrte waren jedenfalls eingetroffen. Mitglieder der Frankfurter Medizinischen Privatgesellschaft. Beide standen an der Seite des Gerüsts. An der hölzernen Treppe lehnte der junge Friedrich Ruprecht. Aus dem Dorf Altheim. Ihm schwebte ein geruhsames Leben vor. Eine Stelle als Landarzt. Neben ihm sein väterlicher Freund, Professor von Geldern. Eine Koryphäe der Universität. Sie experimentierten mit ihrer elektrischen Apparatur. Der Volta´schen Säule.
»Wann können wir loslegen?« Ruprecht wischte sich Schneeflocken von seinem Filzhut. Für einen echten Dreispitz war er zu arm.
»Kurz nach der Hinrichtung. Schönbein und seine Gesellen schneiden den Delinquenten gleich wieder ab.« Er deutete zum Gerüst. Dort stand der Henker mit Gehilfen. Sein Mantel war auffällig mit roten Streifen verziert. Damit ehrliche Leute ihn weithin erkannten. »Wir haben Glück. Der Großherzog beabsichtigt, ihn nicht zur Mahnung auf seinem Marktplatz hängen zu lassen, bis die morschen Knochen von selbst herabfallen. Sonst könnten wir unsere Untersuchungen vergessen. Das haben wir der Hochzeit seiner jüngsten Tochter Louise zu verdanken. Die möchte sich vom Balkon aus den Darmstädtern zeigen. Da stört sie der Anblick einer vermoderten Leiche am Galgen.«
»Ein Segen.« Doktor Ruprecht erlernte das Medizinieren in Frankfurt. Ohne reiche Eltern oder Gönner. Arbeitete dafür unentgeltlich im Bürgerhospital. Verschaffte sich Respekt bei den Armen der Stadt. Er absolvierte erst vor drei Wochen sein Examen. Seither wartete er auf die Approbation. »Wer im Leben seinen Mitbürgern Schandtaten zufügt, soll wenigstens im Tode der Wissenschaft und somit der Menschheit nützlich sein.«
»Weiß jemand, aus was die Henkersmahlzeit bestand?« Ein Mann mit Kochmütze. »Wir stellen das ab morgen auf die Karte. He, Seppel. Du hast ihn doch bewacht.« Er wandte sich an einen Uniformierten.
Dieser trat aus der Postenreihe und flüsterte. »Die Stadt Darmstadt hat sich nicht lumpen lassen. Brei mit Stockfisch. Dazu mürbe Küchlein. Später Wacholderschnaps und Kautabak ... wenn er nur einen Teil davon früher gehabt hätte, müsste er nicht wildern.«
Der Küchenmeister eilte durch die Menge von dannen. »Danke. Komm nachher vorbei und ich gebe einen aus.«
Professor von Geldern verfolgte dieses Schauspiel. Jetzt klopfte er mit seinem Gehstock auf das Straßenpflaster. »Ist der Raum im Rathaus vorbereitet?«
»Ich habe alles ausgepackt, verdrahtet und inspiziert. Die Fuhrknechte gingen sorgsam beim Transport mit unserer Apparatur um. Trotz der schlecht passierbaren Straßen. Kabel, Chemikalien und das Besteck stehen bereit.«
Sein Lehrmeister nickte zufrieden. Der letzte Verschiedene, den er derart untersuchte, lag Jahre zurück. Offiziell. Er erinnerte sich an die unbekannte Wasserleiche vorigen Herbst. Und ihre schweißtreibende Arbeit in der Nacht mit der Schaufel am Hauptfriedhof.
Dem jungen Kollegen war anzusehen, dass seine erste Hinrichtung bevorstand. Immer wieder tupfte er sich Schweiß von der Stirn. Trotz des eisigen Windes. Er erhielt die Ehre, später die Herztöne zu kontrollieren. Bedeutungsvoll sein Haupt zu schütteln. Den Tod des Delinquenten zu bestätigen. »Welche Untersuchungen haben sie nachher vor?«
Der Frankfurter Gelehrte zog seinen Schal enger. Sein Frack wirkte würdevoll. Gleichwohl nicht für solch Temperaturen geeignet. »Wir werden bei dem Leichnam Zink- und Kupferpole am Rückenmark befestigen. Sowie am Kopf. Dann setzen wir die Körperfasern unter Spannung.«
»Welche Reaktionen erwarten Sie?«
Ein Schmunzeln zog über die Mundwinkel des Weißhaarigen. »Er wird schon nicht wieder lebendig. Aber die Gesichtsmuskeln ziehen sich zusammen. Die Zähne knirschen. Wenn wir Glück haben. Dann öffnen wir die Brust- und Bauchhöhle. Den Darm und die Eingeweide traktieren wir anschließend mit Strom. Ich bin auf das Ergebnis gespannt. Du protokollierst.«
»Gewiss. Hilft uns dieser Schönbein mit der Leiche? Ich sehe nirgends einen Karren.«
»Das wird er. Immerhin ist die Arbeit des Scharfrichters mit dem Abschneiden vom Strang nicht beendet. Es gehört zu seinen Privilegien, die Reste des Leichnams zu verwerten. Oft klopfen von Malaise geplagte Bürger bei ihm. Bitten um Wundermittelchen. Frisches Totenblut gilt als heilkräftig. Auch wenn ich persönlich daran zweifle. Begehrt ist ebenso Pinguedo huminis, das Menschenfett. Im Volksmund Armsünderschmalz genannt. Empfohlen bei Gicht, Arthrose und Anämie. Auch Teile des Galgenstricks finden reißenden Absatz. Als Glücksbringer. Ebenso abgehackte Finger. Bei Seefahrern beliebt.«
Der junge Kollege aus der Provinz runzelte die Stirn. »Das ist finsterster Aberglaube. Ich hörte von Hinrichtungen, bei denen sich die Versammelten beeilten, das Blut aufzufangen. Man trank es. Oder hielt es seinen Kindern hin, die es ohne Ekel schlürften. Mancher schabte den Lebenssaft von den Brettern des Blutgerüstes ab.« Er kiebitzte zur Seite. »Einen Sarg braucht unser Toter wahrscheinlich nicht.«
»Da hast Du Recht. Es gab Fälle, bei denen ein Leichnam wenige Stunden nach dem Exitus vollständig zerlegt war. Einzelne Stücke fanden ihren Weg in die Apotheken sowie das Angebot der Wundärzte und Quacksalber.«
Jetzt verstummte der Trommelschlag. Die Gelehrten unterbrachen ihr Gespräch. Eine Glocke schlug in der Regelmäßigkeit des Herzschlages. Das Tor des Stadtschlosses öffnete sich. Die Prozession schritt ein. Gardisten. Richter Weißbäcker mit einem Stock in der Hand. Dazu die Schöffen in Reih und Glied. Der Delinquent erschien. In ein sackartiges Hemd gehüllt. Ketten an Armen und Beinen. Der Kopf frisch zur Glatze barbiert. Ein Bart war dem schmächtigen Siebzehnjährigen bisher nicht gewachsen. Lorenz Willmann. Der Wildschütz von Dieburg. Gefasst. Zusammen mit seinem älteren Bruder Hinrich. Eingekerkert und geständig. Wider die weltliche Ordnung wilddiebte er in den Wäldern seiner Exzellenz. Sie jagten Rehböcke. Legten Drahtschlingen vor Kaninchenbauten aus. Versteckten sich im Dickicht. Zwei Jahre führten die Brüder alle Förster an der Nase herum.
Heute schritt Lorenz seinen letzten Weg allein. Sein blutsverwandter Komplize verstarb vor einem Monat am Gezieferfraß. Als man ihn wegschaffte, war sein ganzer Körper mit Läusen überzogen. Diese hatten das linke Auge gänzlich ausgefressen. Die Höhle darum lag leer.
Hinter dem Todgeweihten trat Vikar Philipp Peter Crößmann. Er stolzierte würdevoll. Da seinen Vorgesetzter ein Katarrh plagte, übernahm der junge Geistliche das Amt des Gefängniskaplans. Unablässig murmelte er Gebete. Sein Beffchen flatterte im Wind. Das Barett saß schief. Fast wäre es ihm vom Kopf geflogen.
Die Prozession erreichte das hölzerne Podest. Von zwei Seiten führten Stufen hinauf. Oben stand Schönbein. Der Henker. Spross einer Scharfrichterdynastie. Er besaß gleichsam einen geneigten Ruf als Abdecker und Heilpraktiker.
Dort baumelte der Strick. Ein Gnadengesuch wurde vom Großherzog abgelehnt. Erst gestern Abend versuchte Vikar Crößmann den Regenten mildtätig zu stimmen. Bat, den Delinquenten zu köpfen und nicht zu strangulieren. Aber dieses Spektakel sollte ein Akt der Abschreckung darstellen. Selbst der härteste Winter rechtfertige keine Verfehlung gegen die Obrigkeit.
Der jugendliche Sünder stolperte. Die Menge quittierte es mit einem kollektiven Lachen. Dann stand er unter dem Querbalken. Eine Leiter lehnte daran. Der Scharfrichter und seine Gehilfen hielten den zitternden Jüngling fest. Derweil verlas Richter Weißbäcker das Geständnis. Manche Beschuldigten verhielten sich halsstarrig. Verweigerten das Eingeständnis der Schuld. Nicht so der Missetäter. Es folgte eine lange Aufzählung der Verbrechen. Der Jurist endete mit den Worten: »Daher ist durch die Vorsitzenden und Schöffen als Recht erkannt, dass besagter Lorenz Willmann trotz seines jungen Alters der Übeltaten halber mit dem Strang vom Leben zum Tod geschafft werden soll.« Weißbäcker brach den Stab.
Vikar Crößmann trat an den Rand der Bühne. Einige Sekunden lang starrte er in sein Gebetsbüchlein. Dann schallte seine Stimme:
»Drum leidet er nun billig das,
was seiner Bosheit volles Maas
verdienet hat, denn Strick und Rad
sind Straf für solche Übeltat.
Ein jeder spiegle sich hier an
und weiche von der Laster Bahn,
die er bisher betreten hat
und macht sich auf der Tugend Pfad.
Gott ist gerecht, das bleibet wahr
und macht was Bös ist offenbar.
Wer aber recht gelebet hat
wird ewig wohl belohnt aus Gnad. Amen.«
Die Menge echote. Postwendend erhob sich ein Jubel. Der Höhepunkt war gekommen. Das schmächtige Bürschchen stieg unter dem Geschubse der Henkersknechte die Sprossen empor. Die Handgelenke fest verschnürt. Der Scharfrichter legte ihm die Schlinge um den Hals. Selbst ein Sack über dem Kopf wurde ihm verwehrt. Oder eine Augenbinde. Erneuter Trommelklang. Schönbein zog die Leiter weg. Der Körper sackte nach unten.
Gejohle aus der Menge. Klatschen. Rufe. Gelächter. Ein Händler pries seinen Glühwein an. Oder doch lieber heiße Maronen?
Auf dem Podest riss der Strick das Fleisch von Lorenz Willmanns Hals. Der Kopf schien halb vom Körper gezerrt. Die Augen quollen durch den Druck aus dem Gesicht. Geplatzte Adern daran. Die Zunge hing unförmig aus dem Mund. Die Beine zuckten in alle Richtungen.
Die Masse schunkelte gegen die Kälte an. Jünglinge warfen Schneebälle nach dem Hängenden.
Das Gezappel ebbte ab. Doktor Ruprecht stieg zum Galgen. Er trat zu dem Exekutierten. Zupfte das Sackleinen beiseite. Lauschte mit einem Hörrohr an der Brust. Dann schritt er vor bis zum Rand der Bühne und schüttelte den Kopf. Richter und Schöffen gaben sich feierlich die Hand. Vikar Crößmann fuchtelte ein Kreuzzeichen. Angeekelt rümpfte er dabei die Nase. Der Gestank von Urin und Exkrementen breitete sich auf dem Gerüst aus. Alldieweil die hohen Herren die Treppe hinabstiegen.
Kapitel 1
Z
ögerlich verließ er den menschenleeren Weg und schritt in den Wald. Auf dem Pfad durfte er nicht bleiben. Schwer drückte der Schnee die Äste der Tannen. Dornengestrüpp unter seinen Füßen. Es knackte. Die Schatten wurden länger. Möglichst rasch musste er einen warmen Platz für die Nacht finden.
Da krachte vor ihm ein Schuss. Nicolaus Veith ließ sich in den Schnee fallen und kroch hinter die eisverkrusteten Wurzeln eines vom Herbststurm zerschmetterten Baumes. Er zog die Knie an und stützte sich auf die Ellenbogen.
Jemand brüllte Befehle. Zu weit weg, um etwas zu verstehen. Der Schnee unterdrückte jedes Geräusch. Er hielt den Atem an. Galten der Schuss und die Kommandos ihm? Unerfindliche Laute von links. Oder spielten seine Sinne verrückt? Ein Schwarm von Amseln flüchtete in den grauen Himmel. Quietschte da ein Schlüssel? Nein. Das war nur die Erinnerung an heute Morgen.
***
Der Burgvogt trat gegen die Zellentür. Die rostigen Beschläge klirrten. Die winterliche Kälte hatte das Eichenholz verzogen. Es klemmte. Schon bei dem Gedanken stieg Veith der modrige Geruch in die Nase. Fäkalien und fauliges Stroh. Das Angelusläuten. Gedämpft drang es von der Muttergotteskirche durch die dicken Mauern. Es war kurz vor sechs. Er lag in seinen Lumpen. Die Beinketten rieben aneinander. Sofort steckte er die blaugefrorenen Finger zwischen die Beine.
»Hoch mit Dir! Du wirst heute entlassen.« Die Stimme Emmerichs. Und der machte keine Scherze.
Nicolaus Veith hielt augenblicklich inne. Er hatte noch ein Jahr vor sich. »Was ist Herr Burgvogt?«
Emmerich trat in das Zellenloch. Öffnete die Wandbefestigungen der Ketten. »Heute ist Neujahr. Der Fürstbischof erlässt Dir in seiner unendlichen Gnade den Rest deiner Strafe. Du bist aus seinem Land ausgewiesen. Musst es noch heute verlassen haben. Sonst bist Du vogelfrei.«
»Welches Jahr haben wir denn?«
»Anno domini 1816 hat begonnen.«
»Hat sich Pfarrer Degen für mich beim hochwürdigsten Herrn eingesetzt?«
»Ich glaube eher, es gab über Weihnachten Verhaftungen. Aufrührerische Reden. Wenn Du verstehst. Da braucht er alle Zellen. Durch Dein lahmes Bein bist Du ohnehin keine große Hilfe mehr.«
Hinaus in den Gang. Eine tranige Kerze spendete rußiges Licht. »Du schippst draußen den Schnee, der in der Nacht gefallen ist. Dann lassen wir Dich laufen.«
»Gibt es heute Morgen nichts mehr zu essen?«
»Für Dich?« Ein höhnisches Lachen. »Du wirst doch entlassen.«
»Was ist mit meinen Stiefeln, die ich bei meiner Verurteilung anhatte? Die waren ganz neu. Sie sagten mir damals, dass ich sie wiederbekomme.«
Der Burgvogt hob seinen Klopstock. »Überspanne unsere Güte nicht. Ich könnte Dich auch Dein eigenes Grab hacken lassen. Los an die Arbeit, fauler Geselle.«
Veith zog das linke Bein hinter sich her. In der Silvesternacht waren Unmengen der weißen Pracht gefallen. Der Gefangene schaufelte den ganzen Vormittag. Fegte die Wehrgänge. Mit knurrendem Magen und eiskalten Händen. Auch jetzt, kurz vor seiner Entlassung, blieben die Ketten am Bein.
***
Er war der siebzehnte Fall, den Richter Freisler zu entscheiden hatte. An jenem Tag vor sieben Jahren. Nicht einmal zehn Minuten ließ er sich dafür Zeit. Nicolaus Veith wurde in den Saal geführt. Auf die Anklagebank gedrückt. Darauf verlas ein Schreiber das Ermittlungsprotokoll. Die Beute dieses Überfalls waren ein paar Gulden. Dazu zwei Dutzend Latschenzwecken. Er hätte dem wandernden Schuhnagelhändler nichts angetan. Das Messer verlieh seinen Forderungen doch nur mehr Nachdruck. Da er an jenem Tag allein unterwegs war. Ohne die Kumpane seiner Bande. Eine Woche später wurde er verraten. Beim Versuch, seine spärliche Beute zu versilbern.
Der Richter blätterte derweil in anderen Unterlagen. Er sah ihn nie direkt an. Mitten im Satz unterbrach er den Sekretär. »Wir haben genug vernommen!«
Der Polizeidiener hieß Veith aufzustehen. Die Möglichkeit, selbst etwas zu sagen, bekam er nicht. Er hätte sich gerne verteidigt. Stundenlang legte er sich die Worte zurecht. Plante auf seine elende Situation hinzuweisen. An die Gnade eines Christenmenschen zu appellieren.
»Das Obergericht erkennt den Angeklagten aufgrund seiner schändlichen Vorstrafen und für den Versuch eines Raubmordes schuldig. Ich verurteile denselben zu einer achtjährigen Eisenstrafe zweiter Klasse.«
Nicolaus Veith hatte den Richter fassungslos angestarrt. Faselte von einem Unrecht. Die Gerichtsknechte schleiften ihn in die Johannisburg. Den ersten Teil des Urteils erfuhr er schon auf dem Weg am eigenen Leibe. Die Eisenstrafe zweiter Klasse war eine nicht zu unterschätzende Tortur. Sie bezeichnete die Form von Beineisen. Zweiter Klasse war das Gewicht, welches – je nach Grad der Straftat – unterschiedlich hoch war. Betrug es bei der ersten sechs Pfund, waren es bei seiner Strafe neun. Die Fußschellen waren ununterbrochen zu tragen. Bei der Zwangsarbeit. In der Zelle. Beim Schlafen. Sommer wie Winter scheuerten die Fesseln. Schon nach kurzer Zeit waren die Druckstellen vernarbt.
***
Im Laufe des heutigen Vormittags war neuer Schnee gefallen. Er färbte den geräumten Hof. Wenigstens wärmte sich Veith zwischendurch an einem Holzkohlefeuer im Wachraum die verfrorenen Glieder. Der junge Giesbert gab ihm sogar die Reste seines gestrigen Eintopfs. Dazu einige Schlucke Wasser. Der Häftling kratzte gierig den längst erkalteten Hirsebrei vom Holzteller. Das besänftigte den ausgelaugten Magen. Schmatzend bedankte er sich bei dem Mann in dem zu großen Kettenhemd. Er hatte in den Jahren gelernt, sich je nach Situation anzupassen. Gegenüber dem Burgvogt war er unterwürfig, seinen Schergen hingegen respektvoll. Die Mitgefangenen schätzten sein Talent, so manche kleine Annehmlichkeit zu organisieren.
»Wo bleibst du denn, Nichtsnutz?« Der Vogt rief. Schnell trank Veith den irdenen Krug mit dem Wasser leer. Es rann sein Kinn hinunter. Dann stürzte er zurück in den eisigen Burghof.
Dort polterte ein Käfigwagen durch das Tor. Zwei Bewaffnete saßen auf dem Kutschbock. Einige Gestalten hockten hinten. Veith erkannte aus den Augenwinkeln ordentliche Gewänder an den Gefangenen. Sichtbare Verletzungen im Gesicht. Zerknickte Nasen. Geschwollene Lippen. Ausgeschlagene Zähne. Alle in Ketten. Die Aufrührer von Weihnachten. Er empfand kein Mitleid. Ihr Elend bedeutete seine Freiheit.
»Los, Du Lump, heb Dein Bein!«, befahl Emmerich. Ein Schlüssel löste die Eisen. Nie fühlte sich Nicolaus Veith leichter. Versuchsweise hüpfte er auf der Stelle. »Verschwinde! Du bist frei. Denke daran, wenn wir Dich morgen in unserem Land auffinden, darf Dich jeder totschlagen.«
Ein letzter, verstohlener Blick auf die neuen Häftlinge. Mit Stöcken trieb man sie zum Kerker. Eilig flüchtete Nicolaus Veith. Zuerst schlurfend. Dann so schnell ihn seine Beine trugen. Als er das Tor der Johannisburg erreichte, floh er unter dem Gejohle der Burgwachen. Sie warfen Schneebälle nach ihm. Nur seine Abdrücke blieben zurück.
Vom nahen Turm der Pfarrkirche läutete es zur Mittagsstunde. Veith war bewusst, dass die Zeit drängte, die Landesgrenze des Königreichs Bayern zu passieren. Dabei benutzte er nicht zu lange den breiten, gepflasterten Weg. Das Großherzogtum Hessen würde ihn nicht aufnehmen, sondern zurückschicken. Er, ein gebrandmarkter Sträfling.
Hinter ihm lag die schlimmste Zeit seines Lebens. Das neue Jahr begann für Veith mit dem unverhofften Geschenk der Selbstbestimmung. Doch es spuckte ihn an diesem Wintertag in Lumpen in die Welt zurück. In eine ungewisse Zukunft.
Freiheit? Die anfängliche Freude darüber war einem Gefühl der Angst gewichen. Wer war er nach diesen Jahren? Gestern erschien ihm alles geordnet und sicher. Er arrangierte sich mit seinem Schicksal. Hatte gelernt, zu überleben. Doch heute? Derweil er durch tiefverschneite Straßen humpelte, sah er Amseln im Geäst. Nicolaus Veith sann über diese bunten Piepmätze nach, die sich reiche Damen in Käfigen hielten. So jemand war er gestern – ein Knastvogel. Drei karge, regelmäßige Mahlzeiten hinter Gittern. Kein Napoleon und kein Krieg konnten ihm etwas anhaben. Heute war er genauso vogelfrei, wie diese Gesellen auf dem Ast. Sie wussten nicht, ob sie am kommenden Tag gefressen wurden, verhungerten oder weiterleben würden.
Jetzt besann er sich, dass das Nachziehen des rechten Beins gar nicht mehr nötig war. Er veränderte seine Haltung. Zwei Jahre lang hatte er jedermann erfolgreich vorgemacht, dass der Unfall mit dem gefällten Baum am Wegesrand, der unglücklich in Veiths Richtung kippte, seine Beweglichkeit massiv einschränkte. Nun brauchte er diese Scharade nicht aufrechtzuerhalten. Aber es dauerte eine Weile, die Gewohnheit des Hinkens wieder abzulegen.
Sorgsam wog er Möglichkeiten ab. Die Rückkehr in seine Heimat Ysenburg war ausgeschlossen. Sogar bei den Hugenotten dort war er nach drei Raubzügen geächtet. Außerdem besaß er keine Familie. War ausgewiesen.
Doch schuldete ihm Johann Willmann, dieser alte Kumpan, nicht einen Gefallen? Veith hatte seinerzeit standhaft geschwiegen. Bei dieser Sache mit dem Pfaffen im Schrank. Wo wohnte jener gleich? Fieberhaft überlegte er. Bis ihm der Name Spitzaltheim in den Sinn kam. Zumindest ein Ziel. Kurz hinter der Landesgrenze. Und die war nach einer Stunde Fußmarsch nicht mehr fern.
Dann fiel der Schuss.
***
Er hatte eine Weile in der Eiseskälte gekauert. Zitterte am ganzen Leib. Wärme war jetzt das Wichtigste. Sonst erfror er jämmerlich gleich am Tag seiner Entlassung.
Unterdessen war nichts mehr zu hören. Vorsichtig stand er auf. Niemand zu sehen. Er hatte ein Hagebuttengestrüpp umrundet. Stolperte über ein Hindernis im Neuschnee. Jetzt erkannte er eine blaue Uniform. Und Blut. Es war ein Mensch. Der ehemalige Gefangene drehte ihn auf den Rücken. Entsetzt fuhr er zusammen. Das Gesicht des Mannes war weggeschossen.
Panisch sah er sich um. Niemand schien in der Nähe. Fußspuren waren zugeschneit. Der Körper kalt.
Bloß weg von hier. Aber Moment. Er besah sich die Leiche. Ein lederner Raupenhelm. Dazu der knapp geschnittene, blaue Uniformrock. Hosen, Wollstrümpfe, Gamaschen und Halbschuhe. Sowie ein Mantel. Ein Gottesgeschenk. Welch ein Gegensatz zu seinen Lumpen. Großherzoglich-Badisches Leichtes Dragonerregiment. So stand es auf den Kasketbeschlägen am Helm. Militärische Abzeichen. Orden am Rock. Sterne am Kragen. Ein Offizier? Veith kannte sich mit Dienstgraden nicht aus. Ein Gewehr mit Bajonett lag daneben. Dazu ein Säbel. Weiter eine Tasche mit Papierpatronen und ein Tornister. Darin versiegelte Briefe. Schreibzeug, Feldflasche und der ersehnte Brotbeutel. Wenig Geld.
Gierig fingerte Veith an den Sachen. Trank dünnen, sauren Wein. Biss in ein hartes Stück Käse. Flugs zog er die Leiche aus. Mitten im winterlichen Dämmerlicht. Sie besaß etwa seine Größe.
Zwanzig Minuten später stand er zum Soldaten gekleidet im Wald. Nachdenklich setzte er den Weg fort. Nicolaus Veith würde seiner Freiheit mit einer neuen Lebensgeschichte entgegengehen.
Zwischenkapitel 1
Montag, 3. April 1815
D
ie Grotewart pflügte durch die Wellen. Feine Gischttropfen sprühten mir ins Gesicht. Ich wischte mit dem Ärmel meiner Kutte darüber. Über allem brannte die Sonne. Möwen kreischten. Das untrügliche Zeichen, dass bald Land in Sicht kam.
Kapitän van Bellen stand am Steuerrad. Seine Pfeife im Mundwinkel stank nach billigem Tabak. Immer wieder hielt er Blickkontakt mit seinem Maat Piet am Bug des Schiffes. Die Gewässer um Niederländisch-Indien waren tückisch. Untiefen, Sandbänke und Strudel. Die Seekarten dieser Gegend stammten aus der Zeit des Piraten Drake.
»Herr Pater Karl, sehen Sie!« Van Bellen deutete auf den Horizont.
Ich beschirmte meine Augen und blinzelte in die Richtung. Jetzt erkannte ich es. Ein vertikaler Kegel zeichnete sich vor dem Himmel ab. Mit jeder weiteren Minute bemerkte ich es deutlicher. Ein Berg schälte sich aus dem Ozean. Bereits aus dieser Entfernung wirkte er majestätisch. Sein Gipfel war nicht auszumachen und verlor sich in den Wolken. Er musste höher als die Zugspitze sein.
»Dies ist der Tambora.« Der Kapitän drehte sich und spuckte über die Reling. »Machen Sie sich bereit. In einer Stunde haben wir unser Ziel erreicht.«
Das war sie. Meine neue Wirkungsstätte.
Eine Insel mit Bergen und dem tiefen weiten Meer. Fern der hessischen Heimat. Freiwillig wurde ich nicht Missionar. Man hatte mich strafversetzt. Wegen der Sache mit der Magd. Und der Frau des Küsters. Schwester Margarete nicht zu vergessen.
***
Beim Näherkommen erblickte ich weitere Massive. In einer langen Reihe bildeten sie eine Kette. Aber der Tambora überragte sie alle. Die steilen Hänge waren dicht bewaldet. Tiefe Schluchten zogen sich dazwischen. Ein Dutzend Eilande schälte sich aus dem Meer. Manchmal waren es nur wenige mit Büschen besetzte Hektar. Einige schienen besiedelt. Ich erblickte sogar einen hölzernen Turm zwischen den Palmen. Dahinter stieg Urwald bis zu einer Hügelkuppe an.
»Dort befindet sich Ihre Kirche.« Der Skipper deutete mit seiner Pfeife. »Aber wir laufen zunächst die Hauptinsel an. Später wird man Sie mit einem Floß übersetzen.«
Die Grotewart umrundete ein Eiland. Jetzt kamen am Fuße des Berges viele Hütten in Sicht. Sie schmiegten sich an die Steilwände und umschlossen eine Lagune. Diese steuerte Kapitän van Bellen an. Nördlich davon sah ich ausgedehnte Zuckerrohrplantagen.
Während ich mich an der fremden Welt kaum sattsehen konnte, setzte sich der Maat zu mir. Er zog so plötzlich eine doppelschüssige Pistole unter seinem Wams hervor, dass ich erschrak. »Die habe ich immer dabei, Herr Pater.« Piet fuchtelte mit der Waffe vor meinen Augen herum. »Die Batak haben dem Kannibalismus nie abgeschworen.«
Ich lachte. »Das sind doch Schauergeschichten. Gut für Kinder. Mein Vorgänger schrieb ...«
»Dieser Mönch ist verschwunden, wie man hört. Deshalb sind Sie hier.« Er trank einen Schluck aus einem silbernen Flachmann. »Nach außen hin sind die Leute freundlich. Aber hinter dem Rücken wetzen sie die Messer.«
»Piet, Du sollst dem Pater keine Angst machen!« Der Kapitän lief an uns vorbei und wies einige Matrosen ein.
Der Maat hob beschwichtigend die Schultern. »Ich sag nur, was ich gesehen habe. Hinter den Häusern gibt es kleine Verschläge. Überprüft das selbst, wenn ihr wollt. Wie ein Hänsel-und-Gretel-Stall. Dort wurden die Gefangenen angefettet, bevor die Bewohner sie hingerichtet und verspeist haben. Auf dem Hof davor sind die Steinstühle zu sehen, auf denen die Stammesführer das Schicksal der armen Seelen entschieden. Über den Kannibalismus der Batak schrieben schon Reisende wie Marco Polo oder Sir Stamford Raffles. Ich jedenfalls habe immer mein Pusterohr dabei. Das würde ich Euch auch empfehlen. Ich könnte Ihnen ein einmaliges Angebot machen. In meiner Seemannskiste habe ich noch ...«
Lachend bedankte ich mich und lehnte ab. Solche Gruselmärchen hörte man auf jedem Schiff. Nur die Tatsache, dass mein Vorgänger Pater Romuald verschwunden war, stimmte. Ich lugte zum Tambora und der gleichlautenden Ortschaft vor uns.
Der Ort, der für die kommenden Jahre zu meiner Gemeinde gehören würde. Dahinter schloss sich undurchdringlicher Urwald an. An mehreren Stellen qualmte es. Brandrodung?
Befehle gellten über das Deck. Die Matrosen holten das Schratsegel herunter. Andere rollten Seile. Ich stand überall im Weg und begab mich neben das hölzerne Steuerrad.
Am Ufer erkannte ich Bewegungen. Dutzende schlanke Boote wurden ins Wasser gelassen. Die Eingeborenen kamen schreiend heran. Dabei tauchten ihre Ruder tief in die türkisblaue See und warfen Wolken von Schaum auf. Griffen sie uns an? Mit einer Gänsehaut schaute ich zum Maat. Er erwiderte den Blick und vollführte zu meinem Entsetzen eine Bewegung mit dem Daumen am Hals entlang.
Kapitän van Bellen hingegen war die Ruhe selbst. Er klopfte seine Pfeife am Steuerrad aus und kramte nach seinem Tabaksbeutel. »Die freuen sich, uns zu sehen. Das gilt bestimmt Ihnen. Sie haben Ihre Ankunft doch angekündigt?«
Während sich die Eingeborenen näherten, standen sie in ihren Kanus auf und ihr Geschrei vermehrte sich. Als sie an unsere Seite gekommen waren, kletterte der größte Teil von ihnen auf Deck. Ohne um Erlaubnis zu fragen. Wie wenn sie von einem geenterten Schiff Besitz ergriffen.
Diese vierzig schwarzen und nackten Wilden wirkten vor Freude und Erregung berauscht. Schrille Schreie und Brocken einer mir unbekannten Sprache drangen an meine Ohren. Eine weitere beachtliche Anzahl von Booten näherte sich. Sie waren größer als die schlanken Wasserfahrzeuge. In einem erkannte ich einen Weißen.
»Das ist Magnus Hoffert. Der Hafenmeister.« Unser Kapitän winkte.
Der ältere Europäer mit dem wettergegerbten Gesicht traf in Begleitung von geschmückten Kähnen ein. In jedem hockten Dutzende Ruderer. Dazu an der Spitze je ein bunt bemalter Mann.
»Es sieht aus, als ob sie den Häuptling des betreffenden Distriktes an Bord haben. Sehen Sie, Hochwürden. Das ist eine große Ehre.«
»Und jedes Boot hat ein kleines Schwein mit. Als Gastgeschenk.« Der Maat deutete zu einem Anführer, der ein zappelndes Ferkel in den Händen hielt.
Im Bug sahen wir Krieger. Unter eintönigem Trommellärm führten sie Tänze auf. Sie schwangen lange Hiebsäbel. In den unmöglichsten Windungen des Körpers.
Die Männer kamen an Bord. Bei manch korpulentem Stammesanführer packte die Besatzung mit an. Sie zogen und drückten. Jetzt glich die Grotewart einem Narrenschiff. Überall Tanzende. Schweine wuselten zwischen unseren Beinen hindurch.
Der Hafenmeister erklomm die Strickleiter, die wir zu Wasser gelassen hatten. Er drückte dem Kapitän freundschaftlich die Hände. Dabei sah er sich um. Schließlich kam er zu mir.
»Seien Sie gegrüßt!« Er verbeugte sich. »Sind Sie der Nachfolger von Pater Romuald?«
Ich erwiderte die Verbeugung. »Karl Bihlmeyer von der Societas Jesu, sehr erfreut. Diese Begrüßung wäre doch nicht nötig gewesen.«
Herr Hoffert sah sich um. »Sind Sie allein gekommen?«
»In der Tat. Wen haben Sie erwartet?«
Der Mann wirkte verlegen. »Ich denke, wir haben uns vertan. Eine Verwechselung. Ihr Schiff gleicht dem des Regenten von Batavia. Dessen Ankunft wurde ebenfalls um diese Zeit vermutet.«
»Ich hoffe, jetzt sind die Menschen nicht enttäuscht.« Ein Mann hielt mir ein Schweinchen vor die Nase. Ich segnete es nebenbei.
»Sicherlich nicht. Aber sie werden ihre Viecher wiederhaben wollen. Schweine sind auf der Insel von großer Bedeutung.«
Kapitel 2
A
lles war besser als die Lumpen aus dem Kerker. Die Stiefel drückten zwar, doch die Zehen froren darin nicht mehr. Gegen die Gamaschen klirrte der Säbel. Das Gewehr wog schwer. Ob es geladen war?
Ein Wolf heulte. War er nicht gerade von dort gekommen? Ein Zweiter setzte ein. Rochen die Bestien das Blut an der Leiche? Er eilte zurück zur Chaussee. Hier fühlte er sich sicherer.
Eine Viertelstunde später stapfte er allein auf der Straße. Weißgezuckerte Büsche. Eine Schar Krähen über ihm. Knöcheltief sank er in den Schnee.
Ein Pferd wieherte. Flugs wirbelte er herum. Wo konnte er sich verbergen? Der Baum am Wegesrand. Mühselig fingerte er an der Flinte. Geladen war sie nicht. Aber sie würde mehr Eindruck schinden als der Säbel.
Von Aschaffenburg her näherte sich ein Pferdegespann. Ein offener Lastkarren mühte sich über die Fahrbahn. Vorne eine Gestalt. Veith sah einen dunklen Pelz und einen großen Hut. Obwohl eine Laterne an einem Gestell flackerte, erkannte er das Gesicht nicht. Hinten stapelte sich Ladung. Säcke und Kisten. Das sah zumindest nicht nach Verfolgern aus.
Unvermittelt trat Veith aus seinem Versteck. Das Gewehr geschultert. Er wollte den Mann nicht erschrecken. »Heda. Seid so freundlich und nehmt mich mit.«
Der Karren hielt an. Eine bärtige Visage zeigte sich unter dem Hut. Schläfenlocken lugten darunter hervor, ebenso die rot gefrorene Nase. Die rechte Hand an der Peitsche. »Wer seid Ihr? Was treibt Ihr in dieser gottverlassenen Gegend?«
»Mein Pferd ist verreckt. Jetzt bin ich zu Fuß unterwegs. Könnt Ihr mich mitnehmen?«
Der Mann erkannte die Uniform. »Was ein Schlamassel, Herr Obrist. Nu – steigt hinten auf. Vorn ist kaum Platz. Wer Gastfreundschaft übt, bewirtet Gott selbst. Aber sei vorsichtig mit meinen Waren.«
Veith lugte zu den Sternen auf den Schulterstücken seiner Montur. Dann stieg er auf. Einige Säcke enthielten Gemüse. Andere Getreide. Dort kauerte er sich hin. Er sah Krüge mit Öl und Weinflaschen. Dazu Schachteln und Dosen. »Seid Ihr auf dem Weg nach Altheim?«
»Da übernachte ich heute. Wenn an der Grenze alles klappt. Eigentlich wollte ich bis nach Dieburg. Aber Altheim liegt näher. Und im Stern gibt es koscheres Essen zu tauglichen Preisen. Morgen fahre ich nach Darmstadt.«
»Ihr seid Händler?«
»Besser einen Kramladen mit eigenem Geld führen, als ein großes Geschäft mit fremdem. Herschel Meyr. Ich handle Brillen, Devotionalien und Kerzen.« Der Mann deutete auf sein Sortiment. »Seife, Schuhe und Tücher. Bänder, Näh- und Schreibzeug. Blechgeschirr, Korbwaren und Mausefallen. Süßigkeiten, Lebens- und Genussmittel. Dazu Kurzwaren. Bei mir bekommt Ihr die besten Knöpfe, Zwirne und Schnallen. Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Was sollte er sagen? »Von Veith. Zweites Badisches Dragonerregiment. Mein Eskadron ist äh ... in Rastatt stationiert. Aber die Kompanie liegt im Spessart im Winterbiwak.«
Derweil ließ der Händler seine Peitsche zucken. Die beiden Pferde setzten sich in Bewegung. »Ich bin erfreut. Ein Sprichwort sagt: An drei Orten erweist man sich nicht die Ehre: beim Militär, auf dem Klosett und im Schwitzbad. Aber Gott ist groß und ein Dünner überlebt zehn Fette.«
Zwar war das Reisen auf dem Wagen erholsam. Dafür blies der eisige Wind. Veith schauderte. Da lagen leere Säcke. Rasch legte er diese über sich. Das half gegen die Kälte.
»Ist eine Pferdeschlittenfahrt nicht etwas Wundervolles?« Herschel beugte sich nach hinten.
Veith fröstelte. Ihm war nicht wenig an einer Konversation gelegen. »Was soll denn daran anmutig sein?«
»Natürlich die Aussicht.« Der Krämer schwang die Peitsche.
Der falsche Obrist schaute nach vorne. »Was ist daran schön, sich stundenlang den Arsch von einem Pferd anzusehen?« Er legte sich einen weiteren leeren Sack über die verfrorenen Beine.
Eine Viertelstunde später qualmte Feuer neben dem Wegesrand. Ein Schlagbaum versperrte die Weiterfahrt. Schnee bedeckte einen Unterstand. Vier Gardisten standen davor und wärmten sich die Hände. Zwei in blauer, die anderen in grüner Montur. Die Grenze zwischen dem Königreich Bayern und dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt. Eine Tradition, die so alt war wie die des Bajonetts, bestand darin, dass man die Waffen zu Gewehrpyramiden zusammenstellte. Selbst hier. Zumal die Musketen Soldaten aus verschiedenen Ländern gehörten.
Mürrisch setzte sich einer der Blauen in Bewegung. Offenbar behagte es ihm nicht, sich vom wärmenden Feuer zu entfernen. Freilich war sein Rang der niedrigste. Er hob die Hand zum Zeichen anzuhalten.
Herschel zog an der Leine und betätigte die Bremse des Gefährts. Sein Wagen kam zum Stehen.
Der Hesse sah zum Händler. »Gott bewahre! Der Lästerjud will wieder einreisen. Gib mal die Frachtpapiere.« Er spähte auf die Ladefläche. Dann kiebitzte er zu den Kameraden. »Der hat Wein geladen.«
Das weckte das Interesse der anderen. Sie wandten sich vom Feuer ab. Traten näher. Ein Offizier räkelte sich. Seinen Czako hielt er in der Hand. »Da ist einiges an Zoll fällig. Sagen wir fünfzig Gulden.«
»Aber Herr Feldwebel. Wollt Ihr mich ruinieren?« Herschel hob die Arme flehentlich in den Himmel. »Ich weiß, bloß die Sonne scheint für alle umsonst ...«
»Ich könnte die Spirituosen auch beschlagnahmen ... Was habt Ihr sonst geladen?«
»Da ist noch jemand.« Ein bayrischer Jäger hatte den Wagen umrundet. »Los aufstehen, elendes Lumpenpack. Oder soll ich dir Beine machen?« Er zog seinen Säbel.
Veith erhob sich unter den Säcken. Seine goldenen Knöpfe glänzten im Feuerschein.
Sofort nahmen die Soldaten Haltung an.
»Wer hat hier das Kommando?«
Der Feldwebel schwitzte. Schnell zog er seinen Raupenhelm auf. »Von Kummer. Großherzoglich Hessische Infanterie-Brigade Nummer 16. Zu Befehl, Herr Oberst.«
»Lassen Sie den Mann durch. Ich befinde mich in einer wichtigen Mission.«
»Sehr wohl, Herr Obrist. Natürlich. Los, den Schlagbaum hoch!« Der Offizier salutierte weiterhin. Mit der linken Hand versuchte er vergeblich, den obersten Knopf der Uniformjacke zu schließen.
Die anderen flitzten. Der bayrische Jäger stolperte über die kunstvoll gestapelten Vorderlader. Er fiel der Länge nach in den Schnee. Es dauerte, bis der Weg frei war. Der Krämer ließ die Gäule traben. Als sie an den Grenzsoldaten vorbeifuhren, schwenkte er seinen Hut. »Pferden guckt man auf die Zähne, Menschen auf den Verstand.«
***
»Gleich kommen wir nach Altheim. Dann ist erstmal Schluss. Seht Ihr den spitzen Kirchturm?« Herschel deutete auf den Ort und zwinkerte. »Wenn Gott einen Ungläubigen bestrafen will, gibt er ihm eine fromme Frau. Seid Ihr verheiratet, Herr Offizier?«
Veith streckte sich. »Nein. Bisher hatte ich nicht das Vergnügen. Und Ihr?«
»Ich bin Witwer. Schon zum vierten Mal.«
»Sammelt Ihr gerne Pilze?«
Herschel lächelte. Dann schwang er die Zügel. Sie kamen näher. Ein Dornenhaag umgab den Ort. Am Ortsrand stand ein verfallener Turm. Früher konnte ein Tor geschlossen werden. Heute fuhren sie ungehindert ein. Einige Fenster waren noch von Weihnachten mit Tannengrün geschmückt.
»Wollt Ihr mit in den Stern? Es gibt eine ordentliche Rinderbrühe und Wein. Das wird helfen, die verfrorenen Glieder lebendig zu bekommen.«
Der Verkleidete räkelte hinter dem Kutscher. »Ein Bekannter wohnt hier. Den möchte ich zunächst aufsuchen.«
»Der läuft Euch doch nicht weg. Ich lade Euch ein. Eine kleine Wiedergutmachung, da Ihr mir an der Grenze geholfen habt.«
Der Karren bog ab und hielt nach wenigen Dutzend Metern vor einem schmucken Lokal. Ein Davidsstern war über dem Eingang angebracht. Sechs Stufen führten zur Tür. Dahinter ein überschaubarer Schankraum. Gehobelte Tischplatten. Wagenräder mit Kerzen hingen an Ketten von der niedrigen Decke. In einem offenen Kamin prasselte ein behagliches Feuer.
Nicolaus Veith hatte die Waffen auf dem Karren gelassen. Er setzte sich an einen leeren Tisch. Mit dem Rücken zur Wand. Eine alte Angewohnheit.
Der Händler begrüßte erst einige andere Gäste, bevor er den Pelz lüftete und ebenfalls Platz nahm. Die Augen aller Anwesenden waren auf den Uniformierten gerichtet.
Veith war dies nicht entgangen. Er versuchte, sich seine Nervosität nicht anmerken zu lassen. »Herr Schankwirt! Einen Wein und eine würzige Suppe. Wenn ich bitten darf.«
Sogleich kam Bewegung in die Bedienung. Statt irdener Humpen wurde ein sauberes Glas vor den Neuankömmlingen drapiert. Bald dampften Teller mit heißer Brühe. Die erste warme Mahlzeit seit zwei Tagen. Nicht zu vergleichen mit dem Gefängnisfraß, der meist aus den Resten der Garnisonsküche bestand. Entweder bekamen es die Schweine oder die Gefangenen. Diese Suppe schmeckte vorzüglich. Das dazu gereichte Brot war hauchdünn und zerbröselte bei jedem Bissen.
»Wir haben noch Mazzen vom gestrigen Silvesterfest übrig«, sagte die Schankmaid. »Wenn Ihr mehr möchtet, äußert es nur.«
Der Neuankömmling nickte und verrührte die Brocken in seiner Mahlzeit. Inzwischen hatte er den Helm auf einen freien Stuhl abgelegt. Sich die Uniformjacke am Kragen geöffnet.
Der Wirt setzte sich dazu. Eine Flasche mit Schnaps und drei kleine Gläschen in den Händen. »Herr Obrist. Ich bin hocherfreut, Sie in meinem bescheidenen Heim begrüßen zu dürfen. Samuel Altheimer der dritte.« Er schenkte Branntwein aus.
»Altheimer? Wie der Ort Altheim?«
»In der Tat. Der Großherzog hat in seiner Weisheit beschlossen, dass alle seine Untertanen einen Nachnamen tragen müssen. So heißen viele hier Altheimer. Auch wenn sie nicht miteinander verwandt sind. Andere mit gleichem Namen sind hier Bäcker, Schuhmacher oder eben wir Gastleute.«
»Ich habe nur Gutes von Eurer Lokalität gehört.« Veith versuchte, in seiner Stimme den Klang des Burgvogts Emmerich nachzuahmen und somit Autorität auszustrahlen, die einem Offizier geziemte. Er prostete dem Händler zu und stürzte den Alkohol hinunter. Dann widmete er sich seinem Mahl.
Der Wirt schenkte nach. »Es ist mir eine Ehre. Gibt es Neuigkeiten aus der Welt? Sind womöglich weitere Einquartierungen geplant?«
Veith überlegte, was er dazu sagen sollte. Er durfte sich nicht verdächtig machen. »Davon weiß ich nichts.«
»Altheim beherbergt bereits fünfzig Mann. Erst waren es Franzosen. Nun ein Rittmeister mit seinen russischen Soldaten. Sind bei verschiedenen Bauern untergebracht. Er selbst residiert im Hessischen Hof.«
»Was ihr nicht sagt.« Er trank aus. Sogleich wurde das Glas erneut gefüllt.
»Für Euch haben wir hier selbstverständlich eine Kammer. Saubere Laken. Eine gestopfte Matratze.« Der Wirt deutete auf eine schmale Stiege, die ins Obergeschoss führte. »Ich sage nur rasch meiner Tochter, dass sie von dort ausziehen muss.«
»Klingt akzeptabel.« Veith wusste gar nicht mehr, wann er das letzte Mal in einem richtigen Bett geschlafen hatte.
Der Schenk wechselte einige Worte mit seiner Frau. Die brachte derweil ein Viertel Käserad. Großzügig schnitt er davon ab. »Werdet Ihr länger in Altheim bleiben? Dann könntet Ihr womöglich hier für Ordnung sorgen. Immerhin habt Ihr den weitaus höheren Rang als dieser Rittmeister.«
Der ehemalige Sträfling gefiel sich zusehends in seiner Rolle. Er griff nach dem Käsestück. »Das weiß ich noch nicht. Ich habe Briefe zu überstellen. Zuvor muss ich noch jemanden besuchen.«
»Aber vielleicht könntet Ihr zumindest diesen Russen ins Gewissen reden. Denn wir haben schwer unter ihnen zu leiden. Treten doch diese halbwilden Gesellen mit Anforderungen an die braven Leute heran, die unmöglich zu erfüllen sind. Ausschweifungen, Plünderungen und Diebstähle sind an der Tagesordnung. Schultheiß Dröll wollte sich in Darmstadt beim Großherzog darüber beschweren. Er ist noch vor Weihnachten los und nicht wieder zurückgekehrt. Ihm ist sicherlich etwas Grässliches zugestoßen.«
»Dies ist betrüblich. Aber ich weiß nicht, was ich da ausrichten kann.« Der Blick glitt zur Tochter der Wirtsleute. Eine Wohltat für sein Auge. Sie mochte dreizehn Lenze alt sein und half der Mutter mit dem Abwasch.
»Ihr seid Oberst. Darf ich nachschenken? Diese Hasardeure haben schon die Stadthäuser Mühle geplündert. Dabei haben sie Müllermeister Johann Adam Sachs derart misshandelt, dass er seither am Stock geht.«
»Vielleicht kann ich einmal danach sehen.« Veith merkte, wie müde er war. Ein langer Tag lag hinter ihm.
»Mir schulden die Kerle 452 Gulden für Ochsenfleisch, Butter, Brot, Bier, sieben Hühner und drei Maß Branntwein. Täglich wird es mehr.«
»Da wundert es, dass Ihr überhaupt noch etwas in Eurer Speisekammer habt.«
»Für liebe Gäste immer. Wenn nur nicht diese Kriegsknechte wären. Zerlumpte Gestalten. Voller Flöhe und Krankheiten. Zwölf sind bereits verreckt.«
Veith gähnte. »Wahrscheinlich sind sie deshalb so bemüht, sich das Lebensnotwendige zu verschaffen.«
»Sie bringen das Fleckfieber. Es sind Kinder daran verreckt. Nur weil deren Eltern die Kleidung der Verstorbenen nahmen und sie an den eigenen Nachwuchs verteilten. Bei dieser Kälte. Warum soll man da ein Hemd oder eine Hose ins gehackte Grab legen. Die Toten brauchen sowas nicht mehr.«
»Es könnte helfen, alles gründlich auszukochen.« Veith erinnerte sich daran, diese Arbeit oft im Aschaffenburger Magazin verrichtet zu haben. Danach roch er tagelang nach Lauge.
»Aber Brennmaterial ist teuer. Das Baumfällen im fürstlichen Wald bei höchsten Leibesstrafen verboten. Reisig sammeln mühsam und unergiebig.«
Veith hatte sein Mahl beendet. Zum Abschluss ein Stück Käse und den letzten Schluck Branntwein, »Ihr spracht von einer sauberen Kammer.«
»Gewiss, Herr Obrist. Nach oben. Die Stube am Ende des Ganges. Meine Frau hat eine frische Kerze entzündet. Später bringt sie Euch einen heißen Ziegelstein fürs Bett.«
Veith stand auf. Er schwankte beim Gang zur Treppe. Fast wäre er bei der ersten Stufe ausgeglitten. Oben angekommen, fiel er in die Federn. Vor dem Fenster tanzten Schneeflocken. Was ein verrückter Tag. Am Morgen in Ketten. Jetzt in weichen Daunen.
***
»Herschel, sag an! Was ist das für ein sonderbarer Gast, den Du uns gebracht hast?« Der Wirt flüsterte. Als wenn seine eigenen Wände Ohren besäßen. Dabei wartete er eine Viertelstunde nach dem Zubettgehen des Soldaten mit seiner Neugierde.
»Was soll ich sagen? Er stand einfach im Wald. Hätte ich ihn stehenlassen sollen?«
»Das ist doch mysteriös. Der muss Dir doch was erzählt haben. Von welchem Regiment ist er denn?«
»Sein Pferd war ihm krepiert. Er sprach etwas von einer Botschaft. An der Grenze hat er die Soldaten ganz schön auf Trab gebracht.«
»Wenn ein Oberst als Postreiter benutzt wird, dann kann es sich nur um allerwichtigste Depeschen handeln. Hat er Dir nicht gesagt, wen er in Altheim aufsuchen möchte?«
»Nein, das hat er nicht. Bekomme ich auch noch ein Schnäpschen?«
»Für Dich sieben Kreuzer pro Glas. Wenn Du nicht noch mehr weißt.«
Der Händler grübelte angestrengt nach. »Von Veith hat er sich genannt. Von einem Badischen Dragonerregiment. Irgendwer sei in Rastatt stationiert.«
»Die Badener waren mit Napoleon verbündet. Dafür hat er ein Herzogtum daraus gemacht.«
»Und aus unserem Landgrafen Ludwig einen Großherzog.« Der Krämer hielt dem Wirt sein Glas vor die Nase. »Nun ja. Auch der Dummkopf auf dem Thron ist ein König.«
Widerwillig schenkte dieser ein. »Der Herr wird es sich verdient haben ... Dann haben die hohen Herren in Wien getagt und den Kaiser nach Elba verbannt. Von dort ist er zurückgekehrt und hat alle in Aufregung versetzt.«
»Er wurde doch geschlagen. Irgendein Kaff in Belgien. Ist er jetzt nicht auf dem Weg ans Ende der Welt?«
»So heißt es. Aber glaubst Du, dass sich ein Napoleon so einfach absetzen lässt. Ich wette, der plant was. Und da würde das Bulletin eines Obristen aus Baden gut dazu passen.«
»Und, da kommt so jemand hierher? Nach Altheim?«
»Wenn ich etwas Großes aushecken würde, dann dort, wo man am unauffälligsten ist. Und bedenke: Napoleon ist nach seiner Niederlage in Russland schon einmal hier durchgekommen. Hat in Seligenstadt übernachtet. Der kennt die Gegend. Du wirst sehen. Der Oberst bleibt und trifft sich mit weiteren hohen Herren.«
Der Händler strich sich übers Gesicht. »Hast Du die Spuren an seinen Händen gesehen?«
»Natürlich. Ketten. Ich vermute, preußische Kriegsgefangenschaft. Das würde alles passen. Hatte er noch was dabei?«
»Draußen im Wagen ist seine Flinte. Ein normales Vorderladergewehr mit Steinschlosszündung. Dazu ein Tornister. Und der Säbel.«
»Bringe die Sachen herein. Wir sehen sie uns einmal an.«
»Was tun wir anschließend?«
»Ich informiere die anderen.« Der Wirt stand auf, nahm sich seinen Mantel und verließ sein Gasthaus.
Herschel Meyr trank die letzten Tropfen Branntwein aus und erhob sich. Er wandte sich zur Wirtin. »Im Spiegel sieht jeder seinen besten Freund ... Dann will ich einmal die Sachen des Herrn Oberst reinholen. Macht Ihr einmal den heißen Stein fertig.«
***
Der Rücken schmerzte. Wie jeden Morgen. Aber etwas war ihm anders zumute. Was passierte mit den Ketten? Wo lag das Stroh? Es stank nicht wie gewohnt. Diese ekelige Mischung aus fauligem Streu und dem Dungeimer ohne Deckel.
Nicolaus Veith schlug die Augen auf. Kein Gefängnis. Eine kleine, saubere Kammer. Genauso bitterkalt wie im Loch. Aber mit weichen Decken ... und einem Stein am Fußende des Bettes. Eisblumen an den Fensterscheiben. Auf einem Tisch der Säbel, das Gewehr und der Tornister. Eine Uniformjacke und eine Hose hingen über der Stuhllehne. Die Stiefel waren frisch gewichst.
Er sah an sich hinab. Sein Kopf dröhnte. Hatte er gestern Abend gesoffen? Es fühlte sich so an. Jemand zog ihn aus. Sonst lägen die Sachen nicht so ordentlich parat.
Der falsche Oberst schwang seine Beine aus dem Bett und bereute es sofort. Wild hämmerte es in seinem Schädel. Er war nichts mehr gewöhnt. Dieses Gasthaus. Ein freundlicher Wirt. Irgendwas mit Russen.
In einer irdenen Schüssel befand sich eiskaltes Wasser. Er wusch sich hastig damit. Dann zog er die Sachen an. Sie wirkten auf ihn weiterhin fremd. Seine ohnehin geschundenen Füße schlüpften widerstrebend in die zu kleinen Stiefel. So trat Veith aus der Kammer und die Stiege hinunter.
Unten war es angenehm warm. Über dem Feuer dampfte ein Kessel. Die Wirtin schnitt Zwiebeln und ließ die Stücke unablässig in die Brühe gleiten.
»Habt Ihr wohl geruht?« Sie schenkte Veith ein freundliches Lächeln.
»Danke.«
»Hier stehen Brot, Butter und Honig für Euch. Dazu ein Glühwein.«
Veith setzte sich und griff hungrig zu. Wann hatte er das letzte Mal Honig gegessen? »Könnt Ihr mir sagen, wo ich Johann Willmann finde?«
Rachel Altheimer, die Wirtin, kam verdutzt näher. »Auf dem Leichhof hinter der Kirche, will ich meinen.«
Nicolaus Veith hörte mit dem Kauen auf. »Seit wann ist er tot?«
»Schon ein Jahr. Eine Kugel traf ihn in den Rücken.«
»War er im Krieg?«
»Nein. Eines Morgens fand man ihn so. Hatte sich bis vor das Haus von Doktor Ruprecht geschleppt. Dort war er zusammengebrochen. Der hat dem Willmann das Geschoss zwar aus dem Leib geschnitten. Aber es war kaum noch Leben in ihm. Zwei Tage später starb er, ohne zuvor wieder zu Bewusstsein gekommen zu sein.«
»Hat man den feigen Täter erwischt?«
»Von einem Mordbuben, würde ich nicht sprechen. Er hatte wohl im Wald gewildert und war von Forstaufseher Resch gestellt worden. Als er fortlief, traf dieser ihn nach mehreren Warnungen in den Rücken. Der Jäger konnte zwar nicht beschwören, dass es Willmann war. Denn der trug einen Hut und ein Tuch vor dem Mund. Aber die Wunde im Rücken sagte alles.«
»Wenn man sich da nicht täuscht.«
»Es war in Altheim bekannt, dass Willmann mit anderen auf Wilddieberei zog. Wohl auch Schmuggel und Hehlerei. Hätte man ihn verhaftet, wie seine Brüder, wäre er gehängt worden.«
»Für ein paar Hasen oder einen Rehbock kommt man heuer schon an den Strang?«
»Die letzte Ernte war eine Katastrophe. Viele hungern. Die meisten sind hörig, die Höfe hoch verschuldet.«
»Tot also ... Wann wollte Herschel weiterziehen?« Veith trank einen Schluck Wein. Zu gierig. Er verbrühte sich den Gaumen.
»Ihr beabsichtigt nicht zu bleiben, Herr Oberst?«
»Nein. Ich muss eine Botschaft überbringen. Da lag ein Besuch bei meinem alten Freund auf dem Weg.«
»Vielleicht mögt ihr mit Willmanns Witwe reden? Seit ihr Mann nicht mehr ist, lebt sie im Elend mit dem Kind.«
»Betrüblich. Allerdings sollte ich ...«
»Der Schultheiß quartierte drei Russen bei ihr ein. Dabei hat sie selbst nichts zu beißen.«
»Dies trifft sie sicherlich hart. Jedenfalls werde ich ...«
»Wir Frauen stecken ihr manchmal etwas zu. Damit sie mit der Göre nicht verhungert. Doch die Soldaten sind grausam zu ihr.« Rachel Altheimer schenkte Glühwein nach. »Sie wohnt nicht weit von hier. Gegenüber der Kirche.«
»Ich kann ja einmal vorbeisehen und mein Beileid bekunden.« Veith pustete in den Humpen, trank aus und stand auf.
Der Wirtin war die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. »Nehmen Sie lieber ihr Gewehr mit.«
»Der Säbel dürfte reichen. Doch zuerst brauche ich neue Stiefel. Der Schuster heißt auch Altheimer, sagte Ihr Mann?«
***
Der erste Weg führte Veith zum Schuhmacher. Schräg gegenüber dem Stern hatte er seine Werkstatt. Eine Glocke ertönte über dem Tor. Es roch nach Leim und Leder.
»Tür zu! Eine Hundskälte ist das!« Die Stimme stammte von einem bärtigen Mann. Der Schuster saß auf seinem Schemel. Mit dem Knieriemen klemmte ein Latschen auf dem Oberschenkel fest. Er hielt einen Pfriem in der Hand. In dieser dunklen Jahreszeit sorgte schon am Morgen eine Petroleumlampe für das nötige Licht. Durch wassergefüllte gläserne Kugeln konnte es nach dem optischen Prinzip einer Linse gebündelt werden.
Veith blickte sich um. Der Schuhmacher hatte einen Vogel, der munter in seinem Bauer herumhüpfte und tirilierte. Ein Geselle klopfte eine Sohle mit dem Hammer an. Der andere schnitt Leder zurecht und nähte Flicken auf einen Pantoffel. An den Wänden hingen Ertl, Nagelbohrer oder Raspel. In einem Regal lagen unzählige Leisten. Diese waren aus Holz gefertigt und dem menschlichen Fuß nachempfunden.
»Herr Obrist. Was kann ich für Sie tun?« Meister Altheimer hielt mit der Arbeit inne, blieb aber seelenruhig sitzen.
Woher kannte er seinen Rang? Jetzt erinnerte er sich. Der Handwerker war gestern Abend einer der Kartenspieler im Gasthaus. »Meine Soldatenstiefel drücken. Können Sie mir da helfen?«
»Dann werden sie zu klein sein.« Der Schuster stand auf, legte sein Werkstück beiseite und trat zu Veith. Dieser setzte sich auf einen dreibeinigen Stuhl und zog mühevoll seinen Stiefel vom Fuß.
»Sie hätten sich im Magazin einen anderen geben lassen sollen.« Er betrachtete kritisch das Leder. Dazu die durchgewetzte Sohle. »Da ist eher ein Flickschuster von Nöten. Ich betreibe Handwerkskunst.«
»Das mit den Stiefeln ergab sich so. Im Krieg nimmt jeder, was er bekommt. Wäre es möglich, ihn zu weiten. Oder haben Sie Ersatz für mich?«
»Lassen Sie mich Ihren Fuß vermessen. Dann will ich sehen.«
Draußen auf der Straße kamen Reiter vorbei. Soldaten in Uniformen, die Veith nicht kannte. Altheimer warf einen Blick durch das schmale Fenster. »Die Russen sind auf Futtersuche. Das kann jeden treffen.« In der Stimme lag Sorge.
Die Gruppe hielt vor dem Gasthaus Stern. Zwei stiegen ab, die anderen drei warteten hoch zu Ross. Trotz der Kälte hatten sie keine warmen Umhänge. Die beiden betraten die jüdische Schenke, kamen schon nach wenigen Augenblicken wieder heraus. Jeder hielt ein Brot in den Händen. Darauf schritten sie zur Werkstatt.
»Ihr habt Glück. Der alte Konrad Blickhahn hat letztes Jahr welche bestellt. Dann hat ihn die Blaue Keuche dahingerafft und er konnte sie nicht mehr abholen. Das macht einen Gulden und 15 Kreuzer.«
Die Schelle über der Tür. Sogleich wehte es erneut eiskalt in die Arbeitsstätte.
»Wollt Ihr, dass wir erfrieren?« Der Schuster drückte seinen Rücken gerade. »Schließt den Eingang!«
Die Soldaten erledigten keine diesbezüglichen Anstalten. »Der Herr Rittmeister meint, dass Ihr im Hessischen Hof vorbeischauen sollt.« Der Größere der beiden wandte sich an den Sitzenden. Der andere biss herzhaft in seine Stulle.
Veith atmete tief durch. Dann sprang er auf. »Was fällt Euch ein, so mit mir zu sprechen? Seht Ihr nicht meinen Rang? Ich erwarte einen angemessenen, militärischen Gruß. Und verschließt endlich die Tür. Herr Altheimer heizt sonst den Mond!«
Die beiden wechselten einen überraschten Blick. Dann nahm der größere Haltung an. Der andere folgte widerwillig. »Herr Oberst, Unterleutnant Musoway vom vierten russischen Kürassierregiment Novogordskij unter Rittmeister von Potemkyn. Dieser bittet Euch zu einer Unterredung in sein Quartier.« Gebrochenes Deutsch.
»Sagen Sie Ihrem Hauptmann, dass ich zu ihm komme, wenn meine Zeit es zulässt. Ich lasse mich nicht kommandieren. Und zuvor gehen Sie rüber ins Gasthaus und bezahlen das Brot!«
Dem kleineren Soldaten blieb der Bissen im Hals stecken. Er salutierte mit dem Laib in der Hand und schon waren die beiden aus der Werkstatt verschwunden. Tatsächlich betraten sie erneut den Stern, wie Veith mit einem Blick aus dem Fenster feststellte.
Meister Altheimer klatschte in die Hände. »Denen haben Sie es gegeben. Endlich gebietet den Russen jemand Einhalt. Jeder hat Angst. Ich dachte schon, die rauben mir meinen ganzen Laden aus.«
»Keine Ursache.« Der falsche Oberst setzte sich. »Wie war das mit dem neuen Schuhwerk?«
»Ich bringe sie Ihnen sofort.« Er eilte in einen Nebenraum. »Und wegen des Guldens machen Sie sich mal keine Gedanken. Ich nehme Ihre alten Stiefel als Gegenwert. Ordentliches Soldatenleder.« Altheimer hielt ein glänzendes Paar in den Händen. Sie sahen aus wie frisch poliert.
»Die passen ausgezeichnet. Habt Dank.« Veith erhob sich. »Dann mache ich einmal der Witwe Willmann meine Aufwartung. Dieser Rittmeister kann sicher ein Weilchen warten.«
***
Der Kirchturm von Altheim besaß einen hohen Turm. Ob der Ort deshalb manchmal Spitzaltheim genannt wurde? Soeben schlug die Uhr zehn. Das gesuchte Haus gegenüber war selbst für hiesige Verhältnisse ärmlich. Die Läden geschlossen. Einzelne Bretter fehlten. Das Gefach war an vielen Stellen aus den Wänden gebröselt. Der Schnee hatte tiefe Dellen in das vermutlich undichte Dach gedrückt. Die offene Scheune daneben war in keinem besseren Zustand. Es standen keinerlei Tiere darinnen. Die Pferche waren verwaist. An einem Balken hing einsam eine Ochsenpeitsche. Im Haus plärrte ein Kind.
Veith klopfte an die Tür. Es rührte sich nichts. Das Weinen kam deutlich aus dem Obergeschoss. Er drückte. Verschlossen. Von innen. Mit einem Riegel. »Frau Willmann?«
Oben öffnete sich eine Luke. Ein Mann mit nacktem Oberkörper beugte sich kurz heraus. »Verschwinde, Hurensohn!« Er warf eine leere Weinflasche nach unten. Sie verfehlte den falschen Oberst um wenige Zoll.
Woher kannte der Bärtige den Beruf von Veiths Mutter? »Ich möchte mich vergewissern, dass mit Frau Willmann alles in Ordnung ist.« Erneut klopfte er. Dieses Mal energischer.
Wieder erschien der Russe. »Wenn Du keine Ruhe gibst, schneiden wir Dir den Schwanz ab und hängen ihn an den Fahnenmast. Die Alte muss gerade meinen Kameraden befriedigen. Danach sind noch Pavel und ich an der Reihe.« Das Fensterchen schloss sich.
»Ich bin Oberst vom Zweites Badischen Dragonerregiment