Leichhof - Thomas Fuhlbrügge - E-Book

Leichhof E-Book

Thomas Fuhlbrügge

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Beschreibung

Der neue Roman im Coortext-Verlag: Altheim 1922. Auf einem abgelegenen Hof werden sechs Leichen entdeckt. Eine ganze Familie wurde erschlagen, samt Kindern und der Magd. Für die Polizei in Darmstadt steht schnell fest, dass Kriegsheimkehrer die Mörder waren. Doch Polizeidiener Adam Jost hat Zweifel an der Theorie. Denn es fehlt kein Geld. Außerdem haben die Täter noch tagelang das Vieh auf dem Hof versorgt. Und warum hat der Wachhund nicht angeschlagen? Jost geht diesen Fragen nach und merkt schnell, dass der Fall weit über die hessischen Grenzen hinausreicht. Doch seine Neugierde bringt ihn selbst in Lebensgefahr

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Seitenzahl: 442

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Thomas Fuhlbrügge

Leichhof

Ein historischer Altheim-Krimi

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1 – Prolog

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34 - Epilog

Nachwort

Impressum neobooks

Kapitel 1 – Prolog

Für Jessica und Jannik.

Ich liebe euch –

zu jeder Zeit, an jedem Ort!

»Then the winged hussars arrived –

coming down they turned the tide …«

(Sabaton: Winged Hussars)

Thomas Fuhlbrügge

Leichhof

Ein historischer Altheim-Krimi

Bibliografische Information der Deutschen National-Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2022 -Verlag, Altheim

Buchcover: Germencreative

Lektor: Marc Mandel

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Donnerstag, 22.4 1915 – am Nachmittag

Ein sanfter Wind erhob sich aus dem Osten. Er wehte an den deutschen Linien vorbei. Über das Niemandsland. Kühlte die Gesichter der alliierten Soldaten, die in der Nähe von Ypern in Stellung lagen. Unerfahrene französische Reservisten, einige Briten, Kanadier und Algerier aus der nordafrikanischen Kolonie. Sie empfanden die Brise als angenehm und sahen sie als gutes Omen. Verstummten doch mit dem Wind wie auf einen Wink die deutschen Gewehre. Den ganzen Tag waren sie aufs Korn genommen worden. Die Soldaten atmeten durch. Ein vorsichtiger Blick zu den feindlichen Stellungen. Umgepflügte belgische, schwarze Erde umgab sie. Granattrichter und Stacheldrahtverhaue bis zum Horizont.

Der 18-jährige Frederic Maret sah eine große Karriere als Pianist vor sich. Erst gestern Abend unterhielt er seine Kameraden auf dem verstimmten Klavier mit Chopin. Maret wischte sich den Schweiß unter der Filzkappe mit dem Ärmel seiner blauen Uniformjacke weg. Eigentlich sollten sie Stahlhelme erhalten. Doch die waren mit dem Nachschub irgendwo stecken geblieben.

***

»Ist es so weit?« Flüsternd erkundigte sich Gefreiter Johannes Weidner bei Hauptfeldwebel von Bock. Dieser hockte direkt neben ihm und spähte zwischen zwei Sandsäcken hindurch. Vier Divisionen der 23. und 26. Deutschen Heeresgruppe kauerten in ihren Schützengräben. Bemüht, sich nicht zu rühren. Aus Angst, damit ihre Anwesenheit zu verraten. Fast schien der Tag verloren. Das Wetter musste passen. Ostwind mit 15 Stundenkilometern. Sonst konnten sie den heutigen Angriff nicht durchführen. Sollte er doch den Stellungskrieg mobil machen. Den Sieg beschleunigen. Jetzt war alles gegeben. Die Stofffetzen an einer Stange flatterten gleichmäßig. Windrichtung und -stärke stimmten.

Von Bock kurbelte am Feldtelefon. Lauschte der Stimme von Fritz Haber, dem Leiter der Desinfektionskompanie. Der Professor aus Berlin vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Elektro-Chemie war aus dem Stand zum Hauptmann befördert worden. Ohne je eine Offiziersschule besucht zu haben. Die Wissenschaft gehört im Frieden der ganzen Welt – im Krieg jedoch dem Vaterland. Das hatte er erst gestern der versammelten Mannschaft erklärt. Die Feldversuche in der Döberitzer Heide bei Berlin waren erfolgversprechend. Heute würden sie die Kriegstauglichkeit unter Beweis stellen. Der Vorgesetzte nickte dem Gefreiten zu.

17.00 Uhr. Drei rote Raketen zischten in den Himmel. Sie signalisierten den Beginn eines ohrenbetäubenden Artilleriefeuers. Granaten schlugen in das verlassene Ypern und die umliegenden Schützengräben ein. Sie trafen auch den Gasthof Le Coq mit dem Klavier. Ließen es für immer verstummen.

***

Jetzt hieß es, die Köpfe einzuziehen. Auf den Schutz der Unterstände hoffen. Aufgewühlte Erde spritzte. Schreie von links. Ein Volltreffer. Die armen Frontschweine. Würde der nächste Sturmangriff folgen? Mit lautem deutschem Hurra den knatternden französischen Maschinengewehren entgegen? Wie jeden Tag. Sollten sie kommen! Das Trommelfeuer der Krupp-Kanonen ließ nach.

Rekrut Maret fingerte einen neuen Munitionsstreifen in sein Lebel-Gewehr und lud durch. Ein rascher Blick durch das Armeefernglas. Von den verhassten Boches sah er zwei grünlichgelbe Wolken aufsteigen. Der Wind ergriff sie. Trieb sie in Schwaden dicht über dem Boden voran. Bis sie in einer einzigen Nebelbank verschmolzen.

***

Hastig drehte der Gefreite Weidner an den Ventilen. Ebenso die Kameraden, die um ihn kauerten. Außerhalb der Sichtweite der Franzosen. Durch Sandsäcke und betonierte Stellungen geschützt. Deutsche Pioniere hatten an einem sechs Kilometer langen Frontabschnitt in den letzten beiden Wochen 6000 zylinderförmige Druckbehälter mit Bleirohren verbunden und über die Brustwehr ausgerichtet. Alles streng geheim. Jetzt wurden diese geöffnet. Sie enthielten flüssiges Chlor. Sofort verdampfte es und bildete eine dichte Wolke. Ein Chloranteil von 0,003 Prozent in der Luft ruft einen brennenden Hustenreiz hervor. Ab 0,1 Prozent kann es tödlich sein. Ein weiterer Windstoß. 160 Tonnen davon, eineinhalb Meter hoch, bewegten sich auf die Schützengräben der Alliierten zu.

Innerhalb einer Minute erreichten die Schwaden die erste Frontlinie der Franzosen. Zehntausend Soldaten wurden von der Wolke eingeschlossen. So dick, dass man den Nebenmann nicht mehr deutlich sah. Die Ersten umklammerten ihre Kehle. Weidner griff nach seiner Gasmaske.

Er wusste, Chlor führte nicht zum Ersticken. Es reagierte mit den Innenwänden der Bronchien und verätzte sie. Sogleich verstopfte eine beträchtliche Flüssigkeitsmenge die Luftröhre. Schäumte aus Mündern und Nasen. Die Vergifteten ertranken innerlich.

***

Japsen, keuchen, erstickte Schreie. Rekrut Maret blickte sich panisch um. Einige der Kameraden steckten die Visage in die Erde. Andere rannten kopflos davon. Aber jeder Versuch, die Wolke hinter sich zu lassen, führte zu erschwerter Atmung und fortschreitendem Elend. Einige husteten dermaßen stark, dass ihre Lungen platzten.

Der 18-Jährige hielt die Luft an. Das beherrschte er schon als Kind. Er kam aus der Nähe von Lourdes. Die Heilige Jungfrau war dort erschienen. Täglich betete er, dass sie ihn beschütze. Auch in diesem Moment fiel ihm nichts anderes ein. Er hätte sein Leben lieber einer Gasmaske anvertraut. Doch die gab es nicht. Er dachte an die Apokalypse des Johannes: Der sechste Engel blies seine Posaune. Ein Drittel der Menschen wurde getötet, durch Feuer, Rauch und Schwefel, die aus ihren Mäulern hervorkamen. So sah es also aus, das Ende der Welt.

Was hatten sie in der Grundausbildung für solche Fälle gelernt? Sein Hirn raste. Jemand sprach einmal über Gas. Capitaine Strauss hatte den gewaltigsten Schnauzbart, den Maret je gesehen hatte. Walross nannten ihn alle in der Kompanie. »Wenn nichts anders zur Verfügung steht, stopft euch das Taschentuch in den Mund. Macht es vorher nass. Notfalls draufpinkeln.« Damals lachten alle. Keiner konnte sich so etwas Widerliches vorstellen.

Er tastete nach seinem Tuch. Doch er fand es nicht im Uniformrock. Gestern gab er es einem angeschossenen Kameraden. Neben ihm gurgelte ein Unbekannter und starb. Rekrut Maret musste rasch handeln. Er zog ihm den linken Stiefel aus und streifte den Socken vom Fuß. Dann öffnete er das Koppel, griff in die Hose und urinierte darauf. Ab damit zwischen die Zähne. Nur noch durch den Mund atmen. Auch wenn es sich unbeschreiblich eklig anfühlte. Vielleicht würde es sein Leben retten. Er stand auf und lief.

Überall um ihn Leichen. Mit Verfärbungen im Gesicht, am Hals und den Händen. Alle Gegenstände, die mit dem Chlor in Berührung gekommen waren, hatten ihren Glanz verloren und einen stumpfen grünen Farbton angenommen. Die Gewehre verrosteten in Sekunden und sahen aus, als lägen sie monatelang im Schlamm.

Bloß weg von hier. Über den nächsten Schützengraben. Darin menschliche Kadaver. Drei oder vier übereinander. Alle vergast. Wie Ratten. Er stolperte und landete mitten unter ihnen. Seine Lungen brannten und füllten sich mit Flüssigkeit. Die Augen tränten. Sie schienen aus dem Kopf quellen zu wollen.

Ein Blick nach hinten. Flüchtig erkannte er durch die Wolken deutsche Soldaten, die wie Taucher gekleidet waren. Eine Haube, die zwei verglaste Öffnungen für die Augen freiließ. Vor dem Mund baumelte ein Gummirüssel. Durch die dichten Schwaden stapften sie mit Gewehren und Flammenwerfern. Ein albtraumhafter Anblick. Sie hatten nichts Menschliches mehr. Eine Armee der Finsternis. Mit dem Pesthauch der Hölle umgeben.

***

Gefreiter Weidner ging mit seinen Kameraden zum Angriff über. Die Montur saß vorschriftsmäßig. Der Flanell in der Kartusche war in die Sodalösung getaucht. Das gab den entscheidenden Schutz. Verschwommen blickte er durch trübe Scheiben und dichtes grünes Licht hindurch. Ihm fiel das Atmen schwer. Schweiß rann am Gummi innen in der Maske herunter. Auf dem Kopf der Stahlhelm.

Das Gas hatte eine kilometerlange Bresche in die Frontlinie West-Flanderns gerissen. Der Hesse erklomm Verteidigungsanlagen, die monatelang umkämpft und uneinnehmbar schienen. Tote, soweit er blickte. Ein riesiger, aufgewühlter Friedhof. Es sah aus, als ob Leichen aus ihren Gräbern stiegen. Krumm und steif lagen sie da, die Hände klauenartig gen Himmel gestreckt. Dabei starben sie erst vor wenigen Minuten. Das Gas vernichtete Menschen, Pferde und die letzte Vegetation. Verendete Vögel, Raupen und Käfer lagen bei den vergifteten Soldaten.

Der Kamerad neben ihm trug einen Flammenwerfer. Feuer züngelte in die Unterstände, in denen noch ein Husten zu hören war. Jetzt herrschte dort Stille. Vorrücken an breiter Front. Der nächste Graben. Hier gab es Maschinengewehrnester, die ihnen bei den vorigen Sturmangriffen das Leben zur Hölle machten. Scharenweise mähten die Franzosen die Kameraden nieder. Jetzt schwiegen sie. Alles war verendet.

Da griff jemand aus dem Graben nach seinem Stiefel. Ein junger Franzose sah ihn flehentlich und sterbend an. Gelber Schmodder lief aus der Nase. Etwas steckte in seinem Mund. Weidner hob das Bajonett und rammte es dem feindlichen Soldaten in den Leib. Jeder Schuss, ein Russ – jeder Tritt, ein Britt – jeder Stoß, ein Franzos, dachte er dabei. Wie sie es im Feldlager gesungen hatten. Wahrscheinlich tat er ihm einen Gefallen. Erlöste ihn von seinen Qualen. Er zog die blutige Klinge heraus.

Weiter nach vorne. Ypern lag zu seiner Linken. Wenn sie hier die Front durchbrachen, konnten sie die französischen Stellungen umgehen und in ihrem Rücken bis nach Paris vorrücken. Dazu den britischen Nachschub vom Kanal abschneiden. Dieser 22. April 1915 konnte die Wende im Krieg einläuten und in die Geschichte eingehen. Die Generäle versprachen, dass sie bis Weihnachten den Feind niederringen. Die Offensive durch das neutrale Belgien versandete allerdings nach wenigen Wochen. Darauf der Stellungskrieg. Alle gruben sich ein. Es folgten monatelange Stahlgewitter.

Nun schien der Sieg in greifbare Nähe zu rücken. Fritz Haber sei Dank. Und den Gaspionieren, denen Weidner angehörte. Sie waren die Speerspitze einer neuen Armee. Nicht mehr die Masse an Soldaten würde den Triumph bringen, sondern die moderne Wissenschaft.

Weidner blickte durch die angelaufenen Gucklöcher zum zerschossenen Kirchturm. Für diese Tat würde er endlich das Eiserne Kreuz erhalten. Nur noch wenige deutsche Kameraden waren an seiner Seite. Er rannte weiter. Schließlich war er ganz vorne und würde die deutsche Fahne schwenken. Unter den Uniformrock hatte er sie gestopft. Er zog sie empor und fing an, damit zu winken. Schwarz-weiß-rot. Für Kaiser und Vaterland. Hoffentlich sah es jemand.

Dann traf ihn ein Geschoss. Das Glas der Maske splitterte. Der Scharfschütze vom Kirchturm lud nach und feuerte eine zweite Kugel auf den Gefreiten Weidner. Traf ihn in den Rücken. Er stürzte nach vorne und lag mitten auf der Straße nach Ypern. Die Fahne deckte ihn zu. Der weiße, mittlere Streifen färbte sich rot.

Kapitel 2

Sonntag, 26.2.1922 – Nachmittag

Ein Tusch der Feuerwehrkapelle. Leicht dissonant, aber mit Inbrunst. Bierkrüge reckten sich zur Saaldecke. Der Qualm von Zigarren und anderem Rauchwerk vernebelte die Luft. Die Bühne am Ende des Saales war kaum zu erkennen.

Der dickliche Redner mit der Narrenkappe hatte sich über das halbierte, buntbemalte Fass gebeugt, das als Bütte diente. »Einer fragt seinen Freund: Was machst du nach dem Weltkrieg? Eine Reise durch Deutschland. Der andere fragt: Und nachmittags?«

Tusch, artiges Gelächter. Liselotte Schmitz, die dralle Aushilfsschankmaid, stellte neue Biergläser vor durstige Feiernde. Eine freche Hand auf ihrem Po. Mit einem Lächeln wandte sie sich heraus.

Gut hundertachtzig Personen hatten sich im Hessischen Hof an langen Reihen zusammengefunden. Trotz der allgemeinen Versorgungslage: Fastnacht war Fastnacht und Lachen die beste Medizin für die geschundene Volksseele.

Vorne die Ehrengäste. Bürgermeister Funck und Pfarrer Scheid amüsierten sich prächtig. Beigeordneter Mahr und Lehrer Hoffmann stießen mit Kellerbier an. Ihre Frauen saßen dazwischen und schienen bestrebt, dass ihre Gatten nicht zu sehr aus der Rolle fielen.

»Ja, das mit dem Weltkrieg. Was ham`se uns nicht alles versprochen, die da oben. Ein Platz an der Sonne. Bis Weihnachten stehen wir vor Paris. Vier Jahre später, kurz vor Kriegsende besichtigt der Kaiser Einheiten der deutschen Kriegsmarine in Kiel. Plötzlich rutscht er aus und fällt ins Wasser. Ein Halbwüchsiger am Kai springt nach und zieht Wilhelm an Land. Nun, mein Junge, sagt der Kaiser, jetzt darfst du dir etwas wünschen. Majestät, ich möchte ein Staatsbegräbnis! sagt der Stöpsel. Ein Staatsbegräbnis?, fragt Wilhelm zwo erstaunt. Warum denn das? Wissen Sie, sagt der Junge, wenn mein Oller hört, dass ich ausgerechnet Sie gerettet habe, schlägt er mich tot!« – Wieherndes Gelächter, Tusch.

Gleich würde der Männergesangverein auftreten. In den hinteren Reihen rumorte es. Die Teilnehmer erhoben sich schwerfällig von den Stühlen und sammelten sich an der Seite. Westenknöpfe wurden mühsam über prallen Bäuchen geschlossen. Schnurrbärte gezwirbelt. Notenblätter aus Jackeninnentaschen gezogen.

Die Feuerwehrkapelle stimmte die ersten Takte des neuesten Schlagers aus Berlin an: Wir versaufen unser Oma ihr klein Häuschen. Noch war der Dicke nicht mit seinem Vortrag fertig. Er nutzte die kurze Pause und kippte den Rest seines Umstädter Weins herunter. «Fragt mich doch mein Arzt, wie es mir geht. Ach, mir geht es wie dem Deutschen Reich. Meine Verfassung könnte besser sein.« Gejohle von unten.

Niemand bemerkte den Polizeidiener Adam Jost, der sich durch die Schwingtür in den Saal gedrückt hatte. Seine stahlblauen Augen sahen sich um. Er kratzte sich am Stoppelkinn. In der Hand hielt er die Uniformmütze. Schneereste klebten an den Stiefeln. Das nervöse Zucken, das ihn seit seiner Malariaerkrankung in Deutsch-Ostafrika plagte, machte sich im linken Bein bemerkbar und verlieh seinem Gang etwas Krabbenartiges.

»Was ist der Unterschied zwischen Friedrich Ebert und Ernst Thälmann? Ebert ist leberleidend, Thälmann ist leider lebend.« Zustimmendes Gegröle. »Und, als sich bei der Unterzeichnung des Schandvertrags in Versailles Ebert beim amerikanischen Präsidenten Wilson über das schlechte Wetter in Deutschland beklagt hatte: Sie haben es gut, Herr Präsident, über Amerika lacht immer die Sonne. Sagte Wilson: Was beklagen Sie sich denn, Herr Reichspräsident. Über Amerika lacht nur die Sonne – über Deutschland lacht die ganze Welt – in diesem Sinne: Altheim – Helau!«

Stehende Ovationen. Grüßend wankte der Dicke von der Bühne. Gleichzeitig drängten sich die dreißig Sänger nach vorne. Unmöglich für den Polizeidiener da durchzukommen. Doch er bemühte sich. Ein Rempeln und Johann Wiesmann am Tisch verschüttete Bier. Ärgerlich wandte er sich um. Doch als er den Schutzmann und dessen ernstes Gesicht sah, setzte er sich hin.

Der Büttenredner nahm neben dem Pfarrer Platz und beide drückten sich vergnügt die Hände. Dirigent Pauly schob derweil das Pianoforte zurecht. Die Anstrengung ließ sein Gesicht glühen. Der Chor nahm Aufstellung.

Endlich hatte der Polizist den vorderen Teil des Saals erreicht und tippte Bürgermeister Funck auf die Schulter. Der drehte sich nicht sofort um. Erst nach dem dritten Mal wandte er sich. Mit Lachtränen in den Augen sah er Jost an.

Ein Flüstern: »Herr Bürgermeister, sie müssen schnell…«

»Ich verstehe kein Wort.« Funck wandte sich zum Lehrer zurück. »Prächtig. Wenn der Volksstaat Hessen den Umzug in Dieburg verbietet, feiern wir in Altheim halt drinnen…Prost, mein Lieber!«

Erneut das Klopfen auf den Rücken. »Herr Bürgermeister ...«

Der Chorleiter gab den verschiedenen Stimmen ihre Töne. Das Gemurmel im Saal verstummte. Der Dirigent zählte an.

»Leise Jost! Setzen Sie sich. Da müsste irgendwo ein Bier…«

»Herr Bürgermeister. Im Reuling-Hof hat man soeben eine Leiche entdeckt.«

Der ganze Saal hielt kollektiv den Atem an. Alle starrten auf Jost. Nur ein Tenor begann aus vollem Hals in die Stille zu singen: »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins!«

Kapitel 3

Sonntag, 26.2.1922 – später Nachmittag

Schneematsch in den Spurrillen. Schlaglöcher mit einer dünnen Eisschicht bildeten glitzernde Spiegel im Mondlicht. Die dunkle Schotterpiste zuckte verschwommen, verbogen, verzerrt. Schräge Risse wie Narben. Die Tannen am Feldrand bogen sich hin und her – kein Lufthauch auf der Straße. Ein Käuzchen rief.

Ganz vorneweg Bürgermeister Funck. Im Sturmschritt. Neben ihm humpelte Polizeidiener Jost mit einer Laterne. Er war gut zu Fuß, trotz chronischer Schmerzen. Heute konnte er kaum Schritt halten.

Der Bürgermeister hielt Jost an der Schulter fest, als wollte er ihn beschwören. »Wer hat den Toten entdeckt?« Das war doch alles nicht real!

»Georg Lautz von der Stadthäuser Mühle. Der alte Reuling schuldet ihm zweihundert Mark von der letzten Holzlieferung. Die wollte er eintreiben. Er war es gewohnt, dass dieser ihm nicht die Tür öffnet, wenn er freundlich klopfte. Darum stieg er durch die Scheuer. Da fand er die Leiche. Ganz aufgelöst war er, als er vorhin zu mir in die Amtsstube kam. Bleich. Außer Atem. Den ganzen Weg ins Dorf muss er gerannt sein, als wäre der Teufel hinter ihm her.«

»Wer die Leiche ist, hat er nicht gesagt?«

»Das erkannte er nicht. Dazu hätte er sie anfassen müssen.«

»Wo ist er?« Funck nahm seinem Polizeidiener die Laterne aus der Hand und beschleunigte den Schritt.

»Was weiß ich? Wahrscheinlich im Stern und besäuft sich mit koscherem Wein.«

»Hat er den Jungen gesehen? Meinen Buben. Was ist, wenn sich seit Tagen niemand um ihn kümmert? Er allein in seiner Wiege liegt? Ich muss sofort nach ihm schauen.«

»Nein, davon hat er nichts gesagt. Alles sei wie ausgestorben. Er sprach nur von dem Toten in der Scheune. Und von Blut.«

Der Bürgermeister rannte beinahe. Jost verstand dessen Sorgen. Seit Jahren gab es Tratsch in Altheim darüber. Wer war der Vater des kleinen Joseph? Der Ortsvorsteher, wie es in den Akten stand? Oder doch der Alte selbst? Inzest mit der eigenen Tochter. Deren Mann war im Krieg gefallen und schied somit aus. Es gab eine anonyme Anzeige deswegen. Verhaftung, Prozess und als Wiederholungstäter Zuchthaus für Reuling. Schließlich unterschrieb Funck eine eidesstattliche Erklärung und erkannte den Knaben als sein Kind an. Aber warum? Damit kam der Familientyrann frei.

Der Polizist sah sich um. In einigem Abstand liefen weitere Feiergäste. Spontan hatten sie die Tanzveranstaltung verlassen, um Bürgermeister Funck zu folgen. Der war mittlerweile ein gutes Stück vorausgeeilt. Auch Leute von der Straße schlossen sich an, als man ihnen zurief, dass eine Leiche gefunden wurde.

Manche steckten noch in ihren Fastnachtskostümen. Sie sahen darin lächerlich aus. Lehrer Hoffmann hatte immerhin die Narrenkappe vom Kopf gezogen und sie gegen eine Bommelmütze getauscht. Selbstgestrickt. Seine Frau hatte allerdings kein Talent für Handarbeit. Vorhin in der ersten Reihe wirkte er würdevoller. »Marie war am Donnerstag und Freitag nicht in der Schule. Keines der Kinder wusste von einer Erkrankung. Ihr wird doch hoffentlich nichts passiert sein.« Im Unterricht galt er als streng, fast cholerisch. Die Striemen auf den Fingern mancher Schüler zeugten davon. Dass er eine fürsorgliche Ader besaß, überraschte den Polizisten.

»Ich sah die Reulings seit Tagen nicht mehr.« Bauer Appel schnaufte. Er war das stramme Tempo nicht gewohnt.

Auch Schreinermeister Gerd Schelling wischte sich mit einem Taschentuch über seine kahle Stirn. Sein Bauch hüpfte bei jedem Schritt. Nur mühsam ließ er sich unter einer Jacke bändigen. »Das ist doch nicht verwunderlich. Manchmal sah man sie ´ne Woche nicht. Später sind se´ mürrisch wie eh und je durch Altheim gefahren. Zum Wochenmarkt nach Dieburg. Machten gute Geschäfte mit den Juden. Sollen ohnehin reich sein, wie man hört.«

»Kriegsanleihen und Silbergeld. Das hat mir mein Schwager erzählt.« Heinrich Appel flüsterte am Wegesrand. Dort lag der Schnee dicht. Seine Schuhe quietschten.

»Ansehen tut das den Reulings niemand. Nicht einmal Elektrizität haben sie sich legen lassen. Wenn sie welche brauchen, lassen sie die alte Dieselmaschine an.« Meister Schelling stolperte über eine Bodenwelle. Er hielt sich gerade noch aufrecht. In anderen Nächten hätten alle schallend gelacht. Heute war niemandem danach zumute.

»Wenn sie funktioniert.« Maschinist Oskar Eisenschuh war bisher schweigend mitgelaufen. »Das Mistding geht alle Nase lang kaputt, weil sie nicht in neue Ersatzteile investieren. Ich habe es erst die Tage gerichtet. Der Alte stand sonst immer dabei und mäkelte an allem, was ich tat. Nach der letzten Reparatur schnauzte er mich an, da ich meine Stunden bezahlt haben wollte. Ich war froh, am Freitag in Ruhe meine Arbeit zu verrichten, ohne dass mich jemand störte.«

Während Funck voran stürmte, blieben die anderen dicht beisammen. Als wüssten sie den Weg nicht. Das war natürlich albern. Alle wussten, wo das Ziel lag. Nach gut zehn Minuten zweigte links ein holpriger Pfad ab. Etwa an der Stelle, an der vor Jahrhunderten der Gutshof eines Adligen stand. Niedergebrannt und als Steinbruch für das Dorf genutzt.

Soeben wurde eine Reihe von Gebäuden sichtbar. Finster zeichneten sie sich vor der untergehenden Sonne ab: ein Wohngebäude mit angrenzender Scheune und Stall. Eine Motorenhalle. Das Backhaus. Dazwischen der gepflasterte Hof. Am Rand ein Misthaufen. Nirgendwo brannte Licht. Im Haus bellte ein Hund.

Funck durchquerte den Hof. Er fasste den linken Flügel des Scheunentors, rüttelte unbeholfen daran und zog es schließlich auf.

Nun erreichte die Schar das Grundstück. »Was ist, wenn der Mörder noch drinnen ist?« Appel sprach aus, was die anderen dachten. »Die Kühe sind zu ruhig, als dass sie heute nicht gefüttert worden wären. Und gemolken hat sie wohl auch jemand. Ihre Schreie hätte man sonst bis zum Dorf gehört.«

Die Turmuhr unter dem spitzen Altheimer Kirchendach schlug. Abendessenszeit.

Der Bürgermeister zögerte einen Augenblick. »Mein Kind«, sagte er schließlich. Als wischte er damit jeden Zweifel beiseite.

Im Stall war es finster. Stroh lag auf dem Boden verteilt. Stützbalken. Viele landwirtschaftliche Geräte. Jost erkannte eine Sense direkt am Eingang. Ein altertümlicher Güllewagen dahinter. Alles wirkte auf ihn unübersichtlich. Mehrere aufgehängte Rechen. Ihre Stiele klapperten aneinander, als sie vom Windzug der geöffneten Scheunentür erfasst wurden. Die Neuankömmlinge zuckten zusammen. Der warme Geruch der Kühe. Vom angrenzenden Stall. Aber da war noch ein weiteres Aroma in der Luft. Irgendwie metallisch und unangenehm. Etwas, das den Polizeidiener sofort an Afrika erinnerte. Dieses Eingeborenendorf mit den vielen Toten in den Hütten. Warum mussten die Widerstand leisten? Nur weil Lettow-Vorbeck alle Lebensmittel für die Truppe requirieren ließ. Für Raubtiere war dieser Geruch anziehend. Er erschoss damals eine Hyäne, bevor sie sich an einer Frau satt fraß.

Bürgermeister Funk betrat den Raum. Er kniff die Augen zusammen und leuchtete mit der Lampe hinein. Die anderen folgten zögerlich. Drängten von hinten näher. Bildeten einen vielköpfigen, ängstlichen Haufen. Aus dem Haus bellte der Köter. Gedämpft, aggressiv. Ein kollektives Luftanhalten der Gruppe.

»Wo soll denn jemand liegen?« Funck wendete die Laterne. Lange Schatten huschten an den Wänden entlang. Unheimliche Umrisse von monströsen Gebilden. Klauen, Zähne, Bewegung. Nun hielt er die Lampe still.

Aus den Scheußlichkeiten wurden die verzerrten Abbilder alltäglicher Gerätschaften. »Hallo ist da wer?« Irres Hundegekläffe als Antwort. Fliegen saßen überall. Wo Tiere untergebracht waren, gab es immer diese Plagegeister. Auch im Winter. Hier schienen es besonders viele zu sein.

»Glaubst du, ein Mörder würde dir antworten?« Lehrer Hoffmann sprach von ganz hinten. Hier konnte er mutig sein.

»Er braucht nicht zu antworten. Mir reicht es, wenn er sich aus dem Staub macht.« Erneut ließ der Ortsvorsteher die Lampe kreisen. Wieder tanzten die Schemen. Hässliche Fratzen bildeten sich. Astlöcher wurden zu dämonischen Augen. Die Borsten eines Besens zu wirrem Haar. Ein Schmatzen, Rumpeln, Plätschern. Vielleicht der Mörder. Oder eine Kuh im angrenzenden Stall, die sich erleichterte.

»Dort!« Bauer Appel deutete in den hinteren Bereich der Scheune. Aus dem Stroh ragte ein Bein. Oder war es ein weiteres Trugbild? Hervorgerufen durch Angst, Schatten und eine schreckliche Vorahnung. Nein, sie sahen eine wollene Hose mit einem braunen Arbeitsschuh. Seltsam verkrümmt, als wäre der Fuß darin verdreht. Daneben eine weiße Schürze. Bedeckt von schwarzem Blut und unzähligen Fliegen.

Das Oberhaupt von Altheim trat näher. Er kniete sich und stellte die Lampe auf den Boden. Wind ließ die Flamme tanzen. Die Gliedmaßen wurden dadurch riesengroß auf die dahinterliegende Fläche projiziert.

Es sah aus, als wenn sie sich bewegten.

Nur die Ausmaße passten nicht. Der schiefe Knochen wirkte monströs. Die Latsche daran, wie die eines Riesen, der an der Wand entlanglief.

Zögerlich fasste er zu und drehte die Leiche auf den Rücken. Pechschwarze Haare hatte sie. Ganz steif und kalt lag sie da. Tote Augen starrten an ihm vorbei. Fette Maden krümmten sich darin. Der Schädel eingeschlagen. Zertrümmerte Gesichts- und Kieferknochen. Blut. In der Stirn darunter ein deutliches Loch. »Der alte Reuling«, flüsterte er und blickte erneut in den Haufen vor ihm. »Unter ihm liegt sein Weib. Und da sind noch weitere. JOSEPH!« Ein Schrei.

Jetzt sah Jost den toten Körper des Altbauern.

Instinktiv bekreuzigte er sich. »Halt! Wollen wir nicht auf die Kriminalpolizei aus Darmstadt warten?« Der Polizeidiener kniete sich neben den Bürgermeister.

»Was heißt warten? Was ist mit meinem Buben?« Funck sprang auf, griff nach der Lampe und zog sie mit sich. Eilig schritt er zum Wohnhaus.

Sogleich war es finster im Stall. Aus den vertrauten Schatten der Gerätschaften wurden sogleich albtraumhafte Gestalten. Die Dorfbewohner im Eingangsbereich blickten sich ängstlich um. Schreckensbleich standen sie in der Scheune und reckten ihre Hälse. Aufkommende Böen zerrten an ihren Kleidern. Keiner bewegte sich.

Josts Knie schmerzten, als er sich erhob. Wie jedes Mal. Besonders, wenn es kalt war, wie in dieser Nacht. Zögerlich folgte er dem Bürgermeister tiefer ins Gebäude. Er konnte ihn doch nicht allein lassen. Was wäre, wenn der Mörder sich im Haus aufhielt? Auf sein nächstes Opfer wartete?

In den Lichtfetzen der sich entfernenden Laterne erkannte er einen kleinen Verbindungsgang. Schlichte Türen an beiden Enden. Die Schritte knarrten auf den Holzdielen. Schmucklose, unverputzte Wände. Mörtel quoll zwischen den Backsteinen. Die Deckenhöhe dermaßen niedrig, dass er sich bücken musste. Vor ihm fiel die Pforte zu. Jetzt war es stockduster. Kein Schimmer der Laterne drang mehr hierher. Sollte er sich weitertasten, umkehren oder ein Streichholz entzünden? Polizeidiener Jost fühlte in seine Hosentasche. Das Schnupftuch und eine alte Kastanie. Vielleicht in der Uniformjacke? Nichts. Inzwischen gewöhnten sich die Augen ein wenig. Ein Geräusch. Stand jemand hinter ihm? Mit einem Ruck wirbelte er herum und fasste – nichts. Da war niemand. Lediglich Konturen der Tür. Er streckte den Arm aus und berührte die Wand. Feucht und klebrig. Ein Spinnennetz. Nicht angenehm, aber ungefährlich. Erneut bellte der Hund. Diesmal klang es näher.

Jost tippelte weiter. Rissiges Holz. Die Klinke. Dahinter ein Flur neben der Wohnstube. Von dort führte eine steile Treppe nach oben. Ein wenig Mondlicht sickerte durch die matten Fenster hinein. Irgendwo vor ihm huschte Bürgermeister Funck mit seiner Laterne.

»Da liegt noch jemand. Überall Blut. Jesus Christus!«

»Passen Sie auf. Hier lauert vielleicht irgendwo der Mörder.« Hätte Jost doch wenigstens seinen Knüppel mitgenommen. Seine Mauser-Pistole, ein Mitbringsel aus Afrika, befand sich in der Schublade der Amtsstube. Vorne erahnte er Schränke. In denen konnte sich leicht jemand verstecken – und dem Polizeidiener in den Rücken fallen. Die Finsternis war die Freundin des Verbrechers.

Schritte des Bürgermeisters auf der Stiege. Jost sah sich um. Nirgendwo entdeckte er Kerzen. Oder einen Lichtschalter. Seit einem Jahr war Altheim ans Stromnetz angeschlossen. Es gab sogar elektrische Lampen an der Hauptstraße. Bis zum Reuling-Hof hatte sich der Fortschritt jedoch nicht verbreitet. Der Polizist vermutete, dass es am Geiz der Bewohner lag, sich an den Kosten für die Überlandleitungen zu beteiligen. Vorsichtig trat er einen Schritt vor den anderen. Er kannte sich hier nicht aus. Kaum hatte er den Hof je betreten. Einmal, um diesen Brief vom Gericht zu überbringen. Das Urteil wegen Blutschande war somit rechtskräftig. Ins Gebäude kam er nie. Er wollte es damals auch ums Verrecken nicht betreten.

Ein vorsichtiger Schritt nach vorne. Die Hemdtasche! Dahin hatte er vorhin seine Hölzer gesteckt. War das nicht eine Ewigkeit her?

Er am Schreibtisch. Ohne Jacke und Stiefel. Mit Zigarette. Ein schönes Glas Bier. Vom Gasthaus gegenüber drangen Gelächter und Fetzen von Musik. Vor ihm Schinkenstullen in Butterbrotpapier. Die erste war gerade aufgegessen. Laut flog die Tür auf und dieser Schrecken nahm seinen Lauf. Endlich hatten seine Finger das Schächtelchen herausgefummelt. Das erste Streichholz brach ab. Ruhe bewahren! Jetzt flammte eins auf. Er musste die Augen zusammenkneifen. Die Wohnstube. Der Tisch gedeckt. Teller mit Blumenkohl darauf. Und Becher. Als wenn eben jemand hier saß. Neben einer Schüssel eine Kerze. Der Polizist trat rasch näher und entzündete sie im letzten Moment, bevor er sich die Finger verbrannte.

Nun erkannte er mehr. Eine Eckbank mit massivem Tisch. An der Wand dahinter ein Kruzifix. Als Fußstütze diente dem Gekreuzigten ein Totenkopf. Der Schädel Adams, wie er von einer ähnlichen Figur in der Kirche wusste. Pfarrer Scheid predigte einmal darüber. Durch seinen Opfertod hatte der Heiland die Ursünde des ersten Menschen gesühnt. Daneben ein Bild von einem Ritter mit Flügeln. Vielleicht der Heilige Georg. Immerhin hieß der alte Reuling so. Gut katholisch also. Weiterhin ein Abrisskalender mit frommen Sprüchen. Das letzte Blatt wurde Mittwoch entfernt. Heute war Sonntag. Aber wer hatte die Tiere versorgt, wenn die Morde vier Tage zurücklagen?

Geräusche von oben. Eine Tür wurde geöffnet und schabte auf dem Holzboden. Jost widerstand dem Drang, sofort zu folgen. Erst einmal umsehen! Unten gab es weitere Räume. Hinter einer Luke zur linken, vermutlich zum Keller, bellte der Hund. Wild, wütend, gefährlich. Irgendwer hatte ihn eingesperrt. Der Schlüssel steckte von außen. Seltsam. Aber das war gut. Jeder kannte das bissige Vieh. Ein Rottweiler, der an seiner Kette den ganzen Hof erreichte. Manchmal nahm ihn Reuling mit nach Altheim. An einer viel zu langen Leine. Die Kinder rannten, wenn er im Dorf auftauchte. Einmal biss der schwarze Köter die kleine Rachel Salomon, als die aus dem Bethaus kam. Es gab großen Ärger. Der Alte zeigte keinerlei Mitgefühl, noch wollte er eine Schuld anerkennen. Jost musste ermitteln und schlug einen Maulkorb vor. Davon wollte das Sippenoberhaupt vom Aussiedlerhof jedoch nichts wissen.

Jetzt stieß das Vieh von innen an die Tür. Ein lauter Schlag. Es schepperte und der Schlüssel fiel aus dem Schloss. Was würde er tun, wenn das Untier zu ihm durchdrang? Sollte er zur Sicherheit eine Stuhllehne unter die Klinke drücken? Er griff zu und näherte sich dem Kellerloch. Sachte zwängte er das Sitzmöbel zurecht. Wieder ein Krachen. Das Tier warf sich gegen das Holz. Die Pfoten kratzten. Durch einen Spalt nahm er Bewegungen wahr, konnte das Schnauben des Tieres hören, seinen üblen Atem riechen. Erneut sprang der Rottweiler. Panisch, jaulend, knurrend. Die Bösartigkeit in Person. Vielleicht hatte der Hund seit Tagen nichts zu fressen und saufen bekommen und war deshalb von Sinnen. Dazu roch er totes Fleisch …

Ein lauter Schrei. Voller Angst, Schmerz und Entsetzen. »O mein Gott!« Von oben.

Jost stolperte zur Treppe. Die Kerzenflamme erlosch. Nur der glimmende Docht durchbrach die Finsternis. Unter ihm klebte der Fußboden. War er soeben in eine Blutlache getreten? Erneut dieser charakteristische Geruch. Er blieb nicht stehen. Hinauf. Drei Stufen auf einmal. Seine Stiefel polterten. Dazu der Klang seines eigenen Blutes, das er deutlich im Kopf rauschen hörte.

Was war mit dem Kind? Sechzehn Monate alt. Die Hebamme sprach einmal von einer schweren Geburt. Steißlage. Acht Stunden Presswehen. Die Zange. Das ganze Gesicht blau – kein Schrei. Erst nach dem vierten Klaps kam der Kleine ins Leben. Als kaum Hoffnung bestand.

Von links drang Licht in den Flur. Es dauerte eine Weile, bis der Polizist die Szenerie erfasste. Dazu stank es pestilenzartig.

Zunächst sah er ein Trümmerfeld. Offensichtlich ein Schlafzimmer. Bett, Schrank und die Reste eines Stubenwagens. Davor kniete Bürgermeister Funck. Er hielt etwas im Arm. Die Laterne kullerte auf die Seite gekippt durch den Raum. Wie weggeschleudert. Erneut diese flackernden Schatten. Wild tanzend. Eine Petroleumlampe über ihnen quietschte vor und zurück. Als sei jemand vor Kurzem mit dem Kopf dagegen gestoßen. Ihre Umrisse spiegelten sich auf der weiß getünchten Decke. Vor und zurück.

Der Polizist trat einen Schritt näher. Ein Gewirr von Stücken eines Weidenkorbes, Decken, ein kleines Nadelkissen in Form eines Elefanten. Überall dunkle Spritzer. Dazu Teile eines Schädels, Gehirnmasse. Entsetzt blickte der Polizist auf den Vater, der schluchzend sein Kind im Arm hielt. Schlaff hingen die Ärmchen herunter. Immer fester drückte er es an sich. Vom Gesicht war kaum etwas übriggeblieben. Eine breiige dunkle Masse über dem Hals. Welcher Wahnsinnige drosch mit einer solchen Gewalt auf ein unschuldiges Geschöpf ein?

Josts Magen verkrampfte sich. Er ließ die erloschene Kerze fallen und hielt sich die Hand vor den Mund. Wandte sich ab. Doch es half nichts. Durch seine Fingerritzen erbrach der Polizist Bier und Schinkenbrotstücke auf den Teppich vor dem Bett.

Kapitel 4

Sonntag, 26.2.1922 – Abend

Außer Atem schloss er die Eingangstür auf. Elisabethenstraße. Fünfter Stock. Es duftete nach Pellkartoffeln mit gebackenem Fisch. Dazu hatte seine Frau Anna bestimmt ihre köstliche Sahnesoße gemacht. Mit frischen Schalotten und jeder Menge klein gehacktem Schnittlauch. Neben der Eingangstür hängte er den Hut an den Haken, ebenso den Mantel. Die warmen Pantoffeln lagen bereit.

»Leni – Balthasar. Kommt essen! Papa ist da!« Seine Frau lächelte ihn an und gab ihrem Mann einen innigen Kuss. Die Haare zu einem Dutt geflochten. Eine blaue Schürze über dem Kleid. »Du siehst müde aus. Eine Schande ist das, sonntags ins Präsidium zu müssen.«

»Dieser Hopf. Auch bei seiner dritten Frau fand man Arsen bei der Exhumierung. Er erzählt uns was von einer Schönheitskur. Natürlich arsenhaltig ... Aber nicht vor den Kleinen!«

Türen wurden aufgerissen und zwei Kinder im Alter von vier und acht rannten auf ihren Vater zu. »Papa, wir haben im Herrngarten Eichhörnchen gesehen. Eins war ganz zahm und ich hielt ihm eine Walnuss hin.« Sein Sohn klammerte sich an ihn.

»Wenn es zutraulich war, hatte es vielleicht die Tollwut. Kommt, lasst uns essen. Ich habe einen Bärenhunger.« Wie zur Demonstration griff er sich seine Tochter Leni, hob sie hoch und tat, als wolle er sie fressen. Die Vierjährige quietschte vor Lachen.

»Nein, es war ganz lieb. Bitte Papa, darf ich ein Eichhörnchen haben?«

»An den Dingern ist nichts dran. Du brauchst zwanzig, um satt zu werden, und hundert für einen guten Mantel.«

Sein Sohn lachte. »Ach Papa, man isst doch keine Eichhörnchen!« Gemeinsam traten sie ins Esszimmer. Auf dem Tisch dampften Kartoffeln in einer weißen Porzellanschüssel. Auf einer Platte daneben lag der Fisch.

»Du weißt gar nicht, was man alles essen kann, wenn man im Schützengraben hockt und drei Tage keine Futterage vorbeikommt.«

»Aber keine Eichhörnchen! Die sind viel zu niedlich.«

Er ließ seinem Sohn die Illusion, streichelte seine Frau sanft am Arm und hielt ihr den Teller hin. Kartoffeln, Fisch und Sahnesoße. Dazu ein frisches Kronenbier. In Friedensstärke mit 13 Prozent. Danach die Sonntagszeitung und eine Zigarre. So wollte er den Abend ausklingen lassen.

Ein Klingeln aus dem Flur. Schrill, blechern, laut. »Lass es einfach läuten. Ich bin nicht da!«

Doch seine Frau war aufgestanden und griff nach dem Hörer an dem dunklen Gerät aus Nussbaumholz. »Von Heldmann!« Sie hörte einige Sekunden. »Schatz, das Fräulein vom Amt sagt, deine Dienststelle möchte dich sprechen.« Sie legte den Hörer auf den kleinen Tisch mit dem dicken Adressbuch der Landeshauptstadt Darmstadt und ging zurück zum Abendessenstisch. Die Kinder fingen an, sich um den Fisch zu zanken. Da musste sie eingreifen.

Missmutig stand ihr Gatte auf. Die gestärkte Serviette auf seinem Schoß faltete er ordentlich zusammen. Er schritt in den Flur. Vor einer halben Stunde erst hatte er das Präsidium verlassen. Er griff nach dem Holzgriff am Messinghörer und hielt ihn sich ans Ohr. »Hier von Heldmann.«

»Ich verbinde.« Eine zarte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Herr Oberkommissar?« Eindeutig Erich Rupf. Keiner sonst brachte es fertig, in zwei Wörtern schmierig zu klingen. Ein Karrierist. Schon beim Militär. Schreibstube statt Front.

»Rupf, wenn es nicht wichtig ist, ziehe ich Ihnen die Ohren lang. Ich hatte einen Zehnstundentag und bin beim Abendessen. Hat dieser Hopf endlich gestanden?«

»Nein, der ist in der Zelle. Es geht um ein kleines Dorf. Altheim. Bei Münster. Da hat es ein Unglück gegeben.«

»Ist jemand vom Scheunendach gefallen? Mensch Rupf. Die Kollegen in Dieburg können doch…«

»Ein Mehrfachmord. Alle scheinbar erschlagen. Der Chef meint, Sie sollen hin. Der Kraftwagen mit dem Fotografen und Ihrem Assistenten ist auf dem Weg zu Ihnen.«

Es läutete an der Tür. »Mist verdammt. Er ist schon da.«

***

Der Hansa-Lloyd Typ D ruckelte über die Landstraße in Richtung Dieburg. Er hatte im Weltkrieg als Wagen der Armee-Fernsprech-Abteilung 5 gedient, was die Abkürzung A.F.A. 5 bezeugte, die immer noch auf der Motorhaube prangte. Anschließend war das Fahrzeug in den Polizeidienst übergegangen. Die Bedingungen des Versailler-Vertrages sahen vor, auch die Kraftwagen abzurüsten. Jetzt ratterte der Motor unter dem Schnabelkühler und beschleunigte auf 40 Stundenkilometer. Am Steuer saß Polizist Wilhelm Betmann, der Assistent des Inspektors. Schon im Krieg war er als Fahrer durch halb Europa unterwegs gewesen und hatte seine meist adelige menschliche Fracht stets sicher von Belgien bis zum Ural kutschiert. Hinten hatten es sich Oberkommissar von Heldmann und der junge Polizeifotograf Friedrich Gelfort bequem gemacht. Bei 3,10 Meter Radstand war dies trotz der ganzen Ausrüstung durchaus möglich.

Draußen war es stockfinster. Die Scheinwerfer suchten die gepflasterte Piste ab. Selten erschien ein Einsiedlerhof im Lichtkegel. Für den spätheimkehrenden Zecher am Wegesrand wirkte der gewaltige Kühler des Wagens wie das aufgerissene Maul eines aus der Urzeit übrig gebliebenen Tiefseebewohners. Schnell trat er an den Rand des Weges und blickte dem Kraftwagen hinterher.

»Haben Sie Blitzlichtpulver dabei?« Von Heldmann brannte der Gaumen. Schnell hatte er sich drei heiße Kartoffeln in den Mund gesteckt, nachdem es an der Tür läutete. Das war ein schmerzhafter Fehler.

»Hinten im Wagen sind elektrische Scheinwerfer. Die leuchten die Szenerie besser aus als das alte Magnesium.«

»Allerdings nur, wenn Strom vorhanden ist.«

»Wir leben 1922 und nicht mehr im Mittelalter. In einem Kaff wie Altheim wird es doch Elektrizität geben.«

»Da bin ich mir nicht sicher.« Von Heldmann blickte aus dem Fenster. Die Fahrt ging bergab, die Moret hinunter. Weiter hinten sah man bereits die vereinzelten Lichter von Dieburg. Jetzt gab es keine Verdunklung mehr. Sogar der Kirchturm wurde angestrahlt. Bald war die Stadt erreicht und der Wagen bog hinter dem Kapuzinerkloster rechts ab. Links ging es Richtung Bahnhof.

Hunderte standen damals an den Gleisen, um den durchfahrenden Wagen zuzuwinken. Männer schwenkten Taschentücher und ihre Hüte. Frauen warfen ihren Helden Kusshände zu. Kinder verteilten Blumen, Verpflegung – und Zigaretten, wenn die Soldaten Glück hatten.

Die Pfarrer wedelten mit Weihwasser. Von Heldmann wurde gleich am Montag, dem 3. August 1914, zu den Waffen gerufen, dem zweiten Mobilmachungstag. Er erhielt als Reservist die feldgraue Uniform statt den Garderock, dazu Tornister, Feldflaschen, Kochgeschirre, Säbel und Karabiner.

Seine Frau hochschwanger.

Einmal kam er durch Dieburg. Fronturlaub 1916. Da wusste er, dass es bis nach Darmstadt nicht mehr weit war. Sein Sohn würde bestimmt auf ihn warten. Um ihn im Abteil Kameraden, die nicht so viel Glück hatten wie er. Kriegskrüppel ohne Arme oder Beine. Auf Stümpfen oder Krücken schleppten sie sich vorwärts. Oder sie waren gar bewegungsunfähig auf die Hilfe anderer angewiesen. Damals sah man sie vereinzelt. Heute beherrschte ein Heer von Blinden und Amputierten die Szenerie aller Städte; an Leib und Seele zerschundene Veteranen. In Darmstadt angekommen wurden sie mit einer Elektrischen zum Elisenhospital gefahren.

Von Heldmann blickte versonnen aus dem Fenster. Ohne die Lider zu schließen, erschien ihm das Bild eines jungen Mannes. Ein hübscher Kerl, bevor ihm das halbe Gesicht weggeschossen wurde und beide Arme. Ob er wenigstens eine Braut hatte, die ihn für den Rest seines Lebens füttern würde? Ihn pflegen musste. Den Haushalt für ihn führte und daneben für das Einkommen der Familie sorgte. Was nutzte dem Kameraden das Eiserne Kreuz I. Klasse, das an seinem Rock steckte? Vielleicht bekam er einen künstlichen Sauerbruch-Arm. Von Heldmann hatte in einem Lazarett wahre mechanische Wunderwerke gesehen.

Wenige Minuten später knatterte das Auto über eine steinerne Brücke und erreichte die ersten Häuser von Altheim. Verlassen lag die Dorfstraße. Schneereste säumten die schmale Fahrbahn. Zum Glück kam ihnen kein Fahrzeug entgegen. Am Rathaus bogen sie ab. Hinter der Kirche wurde die Passage noch enger. Darauf endete der Ort und eine Chaussee schlängelte sich durch abgeerntete Felder.

»Hier muss es irgendwo sein.« Polizist Betmann kniff die Augen zusammen, um die Abzweigung nicht zu verpassen. Doch die Sorge war unbegründet. Am Straßenrand stand ein dick eingemummter Mann mit einer Laterne und wies den Weg. Sekunden später hielt der Wagen auf einem gepflasterten Hof. Überall standen Leute herum.

Mit Schwung stieg von Heldmann aus und warf die Tür zu. »Wer hat das Sagen?«

Aus der Menge löste sich eine Gestalt in Uniform. »Gut, dass Sie gekommen sind. Wir haben es anscheinend mit mindestens …«

»Wie heißen Sie?«, blaffte von Heldmann. Bevor der Angesprochene antwortete, rief er zu seinen Leuten. »Wir brauchen den Lichtbildautomaten und Betmann, bring den Koffer mit der Ausrüstung für die Daktyloskopie.«

»Mein Name ist Adam Jost und ich bin in Altheim der Polizeidiener. Bürgermeister Funck ist …«

»Was machen all diese Leute hier? Warum haben Sie nicht abgesperrt? Wie soll man denn verwertbare Spuren finden?«

»Die Leute kamen einfach und sind geblieben. In einem kleinen Dorf passiert nicht viel und …«

»Gelfort, suchen Sie mal nach den Steckdosen für Ihre Lampen. Bei dieser Dunkelheit sieht man seine Hand nicht vor Augen.«

»Der Hof ist noch nicht ans Elektrizitätsnetz angeschlossen. Wenn der hiesige Bauer Strom für seine Dreschanlage brauchte, schloss er eine Dieselmaschine …«

»Schicken Sie doch endlich diese Leute weg. He Sie, was verstecken Sie denn da?«

»Ich bin Bürgermeister Philipp Funck.« Er hielt das kleine, weiche Nadelkissen in Form eines Elefanten in den blutverkrusteten Händen.

»Chef, hier scheint es keinen Strom zu geben.« Polizeifotograf Gelfort kam mit einem Stativ in der Hand vom Stall zurück.

»Ich glaube nicht, dass wir bei all diesen Leuten verwertbare Fußabdrücke finden. Schade, der Schnee hätte einiges verraten können.« Polizist Betmann war einmal um das Wohnhaus gegangen. »Auch hinten sind Gaffer und versuchen, durch die Fenster zu schauen.«

»Mein kleiner Bub wurde ermordet, da nahm ich sein Kuscheltier …«

»Na fabelhaft. Keinen Strom und alle Hinweise zertrampelt.« Er wandte sich dem Bürgermeister zu. »Mit ihnen spreche ich als Erstes. Ich benötige ein Zimmer. Hat Ihr Dorf wenigstens ein Gasthaus mit entsprechenden Räumlichkeiten?«

»Sogar drei. Im Hessischen Hof wurde soeben Fastnacht gefeiert, deshalb schlage ich …«

»Betmann, Gelford. Los, packen Sie alles ein! Ohne Tageslicht brauchen wir gar nicht reinzugehen. Wir schauen uns die Sauerei morgen früh an. Die Leichen laufen uns nicht weg.«

»Ich war mit dem Bürgermeister als Erstes am Tatort. Neben Herrn Lautz, der den ersten Toten fand.«

»Haben Sie gedient?«

Polizeidiener Jost nahm Haltung an. »Jawohl, ursprünglich 12. Feldkompanie unter Hauptmann Falkenstein in Kitanda. Später wurden wir mit der 8. berittenen Schützenkompanie …«

»Ah, Urlaub unter Palmen … Verscheuchen Sie die Leute und richten einen Posten zur Bewachung des Gebäudes ein. Niemand darf mehr rein. Am besten ab dem Feldweg, der hierher abzweigt.«

»Also wir haben in Deutsch-Ost nicht nur … sondern waren die Letzten, die …«

»Gibt es in diesem Gasthaus einen Fernsprecher?«

Bürgermeister Funck steckte das Elefäntchen in die Hosentasche und half dem Polizeifotografen dabei, eine schwere Kiste zurück ins Automobil zu wuchten.

»Ja. Ich stelle Ihnen gerne mein Dienstzimmer im Rathaus zur Verfügung. Es befindet sich gleich gegenüber vom Löwen.«

»Die Gaststätte reicht, wenn ein separater Raum existiert. Hoffentlich haben die was zu essen. Sie fahren mit uns. Waschen Sie sich und kommen in einer Viertelstunde. Ich brauche eine Liste mit allen, die mit dem Toten Kontakt hatten.«

»Das ganze Dorf kannte die Reulings …«

»Dann wird es eine lange Liste. Betmann, wir haben doch eine Schreibmaschine im Auto?«

»Selbstverständlich. Nagelneu.«

»Hier war es das erst einmal.«

Der Fahrer ließ den Wagen an. Bleigrauer Qualm knatterte. Alle stiegen ein. Bürgermeister Funck setzte sich neben den Fotografen. Das Automobil ruckelte vom Hof.

»Ihr habt gehört, was der Herr Kommissar gesagt hat. Geht nach Hause. Auch du, Oskar Eisenschuh. Appel und Schelling. Ihr holt heißen Kaffee. Stellt euch an die Zufahrt und lasst keinen rein. Und du, Karl Weihert, du löst die beiden zusammen mit deinem Bruder, in vier Stunden ab. Bring deine Büchse mit. Du musst den Hund erschießen, bevor der aus dem Keller ausbricht. Darin hast du doch Übung.«

»Und was machst Du, Adam?«

»Ich melke und füttere die Kühe. Sie werden langsam unruhig.« Anschließend wollte Jost in Ruhe nachsehen, ob die Ermordeten tatsächlich so wohlhabend waren, wie allgemein gesagt wurde.

Kapitel 5

Sonntag, 26.2.1922 – später Abend

Sollen wir schon Protokolle schreiben, auch wenn wir den Tatort noch gar nicht besichtigt haben?« Wilhelm Betmann hatte die Reiseschreibmaschine auf dem Tisch ausgebreitet. Dazu Papier, Kohlepapier, das Federmäppchen, Tintenfass und Füllfederhalter. Für notwendige Unterschriften.

»Ach was.« Von Heldmann nahm einen kräftigen Schluck aus einem Bierglas. Eine ältere Bedienung hatte es soeben in den Nebenraum des Gasthauses Zum Löwen gebracht. An der getäfelten Wand Fahnen des Gesangsvereins Altheim. Daher das Klavier. Dazu eine etwa zwanzig Jahre alte Fotografie des Kriegervereins Altheim vor dem Rathaus. Teilnehmer von 1871. Alle in Uniformen. Orden blitzten. Die meisten saßen. Links und rechts zwei Reiter. Ein kurzer Blick darauf. Jetzt erregte die speckige Speisekarte die Aufmerksamkeit des Oberkommissars. Hausmannskost. Kaffee und Kuchen. Draußen nur Kännchen. Im Februar gab es kein draußen. Vorkriegspreise mit der Bemerkung, dass die aktuelle Inflation draufgerechnet würde. »Wir essen erst einmal. Anschließend reden wir mit diesem Bürgermeister. Wie hieß er?«

»Funck, glaube ich. Ist ihr Zimmer ebenfalls kalt?«

»Die waren eben nicht auf Gäste eingerichtet. Was solls. Morgen sind wir weg.«

Die Tür öffnete sich und Friedrich Gelfort trat ein. Der Polizeifotograf schmunzelte. »Mahlzeit! Der Gänsebraten sieht gut aus. Die haben noch Schlachtplatte. Steht auf diesem Schild.«

»Ich glaube, die nehme ich.« Der Oberkommissar klappte die Karte zusammen. »Was haltet ihr von der Sache?«

Betmann sah von seiner Schreibmaschine auf. »Wahrscheinlich Raubmord. Oder erweiterter Suizid. Erinnert ihr euch? In Pfungstadt vorletztes Jahr. Dieser Familienvater, der erst seine Frau erwürgte, darauf die Kinder und sich am Ende aufgeknüpft hat? Alles wegen der paar Tausend Mark Schulden. Bei der Geldentwertung kannste dir bald mit Tausendern den Arsch abwischen.«

Von Heldmann zog sich das Jackett aus und hing es über die Stuhllehne. »Es sollen alle erschlagen worden sein. Kein Selbstmörder haut sich selbst den Kopf ein.«

Die Bedienung erschien und brachte ein Tablett mit Biergläsern als Nachschub. Die Polizisten bestellten großzügig ein Nachtmahl, obwohl die Küche bereits geschlossen war. Rechnung zulasten der Gemeindekasse.

»Herr Bürgermeister, setzen Sie sich!« Von Heldmann trank und winkte. Philipp Funck stand in der Tür. Er hatte sich gewaschen und umgezogen. »Wir haben schon angefangen. Warum sind sie denn so niedergeschlagen? Ach ja, ihr Sohn. Erzählen Sie doch. Betmann, schreib mit. Steno genügt, tippen kannst du später.«

Der Altheimer setzte sich dem Kommissar gegenüber. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfange ... Wir hatten einen lustigen Nachmittag. Drüben im Hessischen Hof. Fastnacht. Bei den Dieburgern ist das dieses Jahr verboten.«

»Ach deshalb war einer der Dorfbewohner wie ein Clown im Gesicht geschminkt.«

»Nein, der sieht immer so aus. Das ist unser Chorleiter, Herr Joseph Theodor Pauly aus Münster. Hat eine Gesichtserkrankung. Rosacea heißt sie, glaube ich.«

»Das erklärt einiges. Warum war ihr Kind nicht bei Ihnen in der Familie?«

»Der Kleine lebte bei seiner Mutter. Eva Weidner, geborene Reuling. Ihr Mann starb im Krieg. 1915. Meine Frau ging am 11. Oktober `17 von uns. Die Lunge. Ich habe zwei erwachsene Söhne. Da sind wir uns nähergekommen. Eva und ich. Sie hatte eine Tochter. Die braucht doch einen Vater. Dachte ich zumindest.«

»Hier kommen die Schlachtplatte und das Kraut. Die Gans dauert.« Die Wirtin stellte Platten auf den Tisch, ein junges Mädchen trug die Teller.

»Ist es wahr, dass die Marie erschlagen wurde?«, fragte es schüchtern.

»Das erfahrt ihr morgen. Raus! Und bringt mir Brot zu den Leberwürstchen.« Von Heldmann scheuchte die Wirtstochter. »Anscheinend hat die Beziehung nicht lange gehalten und das Kind kam unehelich zur Welt?«

»So ist es – leider.«

Von Heldmann schaufelte sich einen Berg Kraut auf den Teller und spießte Brat-, Leber- und Blutwürstchen mit der Gabel auf. »Hatten Sie regelmäßigen Kontakt zu dem Kind?« Er würdigte den Bürgermeister mit keinem Blick und konzentrierte sich voll auf seine Mahlzeit.

»Nein. Eigentlich nicht. Manchmal sah ich ihn. Im Kinderwagen. Selten ist Eva mit ihm spazieren gegangen. Bezahlt habe ich jeden Monat ...«

»Keine Besuche? Das ist doch seltsam. Immerhin sind Sie der Erzeuger.«

»Ihr Vater verbot es.«

»Ist der unter den Toten?« Der Oberkommissar sprach mit vollem Mund.

»Ich fand ihn vorhin in der Scheune. Im Stroh verborgen. Darunter lagen die anderen. Wie auf einem großen Haufen. Auch Eva. Ganz unten ...« Die Stimme versagte. Philipp Funck hielt sich die Hand vor die Augen.

»Und das ältere Kind, diese Marie? Wollen Sie wirklich nicht mitessen?«

»Nein, ich glaub, ich bekomme jetzt keinen Bissen herunter … Als ich den Georg Reuling zur Seite drehte, da war ein Kinderarm …«

»Wir schauen uns das morgen an. Bei Tageslicht. Warum verbot der Vater den Kontakt zu Ihnen? Er müsste sich doch freuen, dass seine verwitwete Tochter jemanden findet. Dazu den Bürgermeister von Altenheim.«

»Altheim … Der war ein ziemlicher Tyrann. Ein Eigenbrötler. Gewalttätig. Ein Säufer. Kam mit niemandem aus dem Dorf gut aus. Die Reulings blieben lieber unter sich. Die gingen auch nicht bei uns in die Kirche. Waren katholisch.«

Wilhelm Betmann kritzelte mit seinem Bleistift in einen Block. »Die schienen nicht viel zu besitzen. Wie der Hof aussah. Nicht einmal Strom.«

»Manchmal täuscht der erste Eindruck.« Bürgermeister Funck schnäuzte sich die Nase. »Wir haben in Altheim seit 1891 eine Spar- und Darlehensbank. Ich bin amtshalber im Vorstand. Daher versichere ich Ihnen, dass die Reulings recht vermögend waren. Nur zeigten sie das nicht.«

Der Polizist machte sich Notizen »Also Geiz. Wenn das mit der Inflation so weitergeht, wird das alles bald nicht mehr viel wert sein. Der Dollar steht bei eins zu dreihundert. Vor dem Krieg hat er 4,20 Mark gekostet.«

»Wem sagen Sie das? Kartoffeln kosten zweihundert Mark der Zentner, Butter fünfundsiebzig das Pfund. Wo soll das alles hinführen? Die Reulings investierten in Silbergeld und Anleihen. Das behält seinen Wert.«

»Ich sag ja, Raubmord.« Betmann legte den Stummel beiseite und widmete sich der Gänsekeule, die soeben von dem Mädchen gebracht wurde. Rotkohl und gebratene Klöße. Wahrscheinlich die Reste vom Abend. Der Polizist mochte sie so allerdings am liebsten.

Die Schlachtplatte entschädigte den Kommissar für das verpasste Abendessen. Beim Kraut salzte er nach. »Gab es in letzter Zeit irgendwelche Besonderheiten? Kommunistische Umtriebe? Vielleicht Plünderungen? Schlichen Fremde umher?«

»Altheim liegt verkehrsmäßig günstig. An der Straße von Aschaffenburg nach Darmstadt. Jeder muss hier durch. Die Bahn hält. Da kommen viele. Auch Heimkehrer. Entlassene Kriegsgefangene. Manche nur mit Fetzen auf dem Leib. Dafür haben wir eine Armenkasse. Die bekommen im Stern eine Suppe mit Brot. Manchmal von Pfarrer Scheid ein paar Groschen. Und dann gehen sie wieder.«

Der Kommissar drückte die Leberwurst mit der Gabel aus der Pelle. Vermengte sie mit dem Sauerkraut. »Da ist ein Aussiedlerhof ein lohnendes Ziel. Besonders, wenn es was zu holen gibt. Diese Reulings lebten abgelegen. Niemand hört dich schreien.«

»Sie denken, es war jemand von außerhalb?« Die Miene des Bürgermeisters erhellte sich ein wenig.

Der Kommissar hustete vom Schlingen. Er goss sich die Reste des Bieres hinterher und klopfte sich gegen die Brust. »Meiner Erfahrung nach schon. Da kommen ein paar arme Teufel durch den Ort und hören bei ihrer Suppe von den reichen Sonderlingen. Wohnen abseits. Gute Deckung durch den nahen Wald. Zack – bumm. Schnell alles greifen und weg.«

»So könnte es natürlich passiert sein ... Von unseren braven Bürgern würde ich niemandem eine solche Wahnsinnstat zutrauen.«

»Notieren Sie sich die Namen derjenigen, die durchreisen und von Ihnen etwas bekommen?«

»Sicher. Wir brauchen das für unsere Buchhaltung. Unser Gemeinderechner besteht darauf. Der Wirt vom Goldenen Stern macht das und gibt uns einmal im Monat eine Liste und die entsprechende Rechnung.«

»Mit dem möchte ich morgen sprechen. Organisieren Sie das bitte. Er soll alle Unterlagen mitbringen. Meine Herren«, von Heldmann knüllte die Serviette und legte sie auf den leer gefegten Teller, »Frühstück um halb acht und ab zum Tatort. Um zehn können wir mit den Befragungen im Lokal beginnen.« Er deutete auf den Bürgermeister. »Also sagen Sie diesem Wirt Bescheid. Weitere Personen nach Bedarf. Noch das Mittagessen und es geht zurück nach Darmstadt. Gelfort, ruf bei meiner Frau an und sag ihr, dass ich zum Nachmittagskaffee daheim bin. Sie soll einen Kuchen backen. Am liebsten was vom Blech.«

Der Polizeifotograf nickte und verließ den Saal.

»Und bestell dieser Wirtin, dass ich nach dem Essen einen Cognac möchte.« Von Heldmann rief seinem Kollegen hinterher.

»Ich nehme auch einen.« Betmann hob die Hand.

»Die soll am besten gleich die ganze Flasche bringen. Wir bedienen uns selbst.«

Kapitel 6

Montag, 27.2.1922 – am Morgen

Friedrich Gelfort schob im Wechselsack eine neue Glasnegativplatte in den Apparat. Er sah auf die Mattscheibe. Das Bild im Rahmensucher war seitenverkehrt und stand auf dem Kopf. Zufrieden blickte er auf den Belichtungsmesser. Blende 8 1/30 Sec. und betätigte den Drahtauslöser der Plattenkamera.

»Zwei Aufnahmen reichen. Drinnen liegen die tote Magd und oben das Kind. Bau schon einmal auf.« Von Heldmann kniete bei den vier Toten in der Scheune. Besonders nach einem reichhaltigen Frühstück bereitete ihm dies gewisse Probleme. In der Rechten ein Notizblock. In Leder gebunden. Das Monogramm HvH zierte die Vorderseite. Ein Geschenk seiner Frau. Links der Bleistift. Mit diesem fingerte er die Jacke des toten Georg Reuling auseinander, um die Innentasche inspizieren zu können. »Hier hat er ein Klappmesser. Ein prächtiger Hirschfänger will ich meinen. Er war also nicht wehrlos.«