Altlasten - Elisa Scheer - E-Book

Altlasten E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Die korrekte Mona hat kein gutes Verhältnis zu ihren Eltern, die geistig immer noch in den Siebzigern zu leben scheinen. Als ihre Mutter also von einem Fluch zu faseln beginnt, der auf ihrem Münchener Haus liege, tut Mona das als die übliche Spinnerei ab. Mit ihren vier Kolleginnen, der chaotischen "Viererbande", und dem neuen Kollegen, den sie insgeheim als "Lackaffen" betitelt, hat sie auch schon genug zu tun. Dann aber wird ihr Vater tatsächlich ermordet und kurz danach beginnen rätselhafte Anschläge auf sie selbst in Leisenberg. Liegt das Motiv in der Vergangenheit oder hasst ein Kollege - vielleicht sogar der Neue, Dr. Pechstein - sie so sehr? Mona wird immer verstörter und Dr. Pechstein immer menschlicher. Aber kann sie ihm trauen? LESEPROBE: Die Schmalhans wogte herein [...] "Schlechte Stimmung?", fragte sie und sah von Pechstein zu mir. "Ich spüre wieder eine Wolke..." Ich schnaufte bloß und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Pechstein grinste. Grr! "Er hat einen Jaguar!", tuschelte Sandra ihr zu. "Und? Wenn es auf dieser Erde weniger Autos gäbe, würden die zwischenmenschlichen Schwingungen weniger behindert", entgegnete die Schmalhans halblaut und schaltete ihren Rechner ein. Ich wunderte mich im Stillen. Notgedrungen hatte ich ja auch einiges esoterische Zeug gelesen, solange meine Eltern meine Lektüre noch ausgewählt hatten – und irgendwie schien mir die Schmalhans doch recht ekklektisch vorzugehen [...] Die Jonas hatte schon wieder dieses violette sackartige Ding an und schaute sich beim Eintreten kampflustig um. "Er hat einen Jaguar!", teilte Sandra ihr sofort mit. "Typisch Mann", entgegnete die Jonas. "Autos als Phallussymbol. Vielleicht eine Ersatzhandlung... Wie groß ist so ein Jaguar?" "Ziemlich", schätzte Sandra. "Lässt ja tief blicken", kommentierte die Jonas und blätterte lustlos ihre Post durch. Ich tauchte prustend unter meinen Tisch und warf einen hastigen Blick in die gegenüberliegende Ecke. Na, dem war das Grinsen vergangen!

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Seitenzahl: 631

Veröffentlichungsjahr: 2015

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Alles frei erfunden!

Imprint Altlasten. Kriminalroman

Elisa Scheer published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de Copyright: © 2015 Elisa Scheer

1

Als ich mit Astrid beim Mittagessen saß, wusste ich noch nicht, dass das mein letzter friedlicher Tag sein würde. Einträchtig aßen wir Salate und Baguette mit Yoghurtcreme und tranken – wegen Astrids Zustand – Apfelsaftschorle, die ich eigentlich nicht leiden konnte. Spezi war mir lieber, aber dann guckte Astrid bloß wieder so leidend auf mein Glas, sie war fast im neunten Monat und durfte natürlich kein Koffein...

„Schade, dass du hinterher nicht wiederkommen willst“, meinte ich kauend, „wir haben so super zusammengearbeitet. Wer weiß, was nachkommt!“

„Ich würde ja gerne“, gestand Astrid, „aber Wolfi spielt nicht mehr mit. Und mit drei Kindern? Weißt du, mit zweien war das schon ein derartiger Eiertanz, Sara rechtzeitig in den Kindergarten, Lara rechtzeitig in die Krabbelgruppe, natürlich mit unterschiedlichen Öffnungszeiten, nie durfte jemand krank sein, und um fünf musste ich zu Hause sein, geputzte Wohnung, gewaschene Kinder, fertiges Abendessen, entspanntes Lächeln...“

„Warum lässt du dir so was gefallen?“, fragte ich empört, obwohl ich die Antwort doch längst kannte. „Um Wolfi zu beweisen, dass ich beides schaffe, weißt du doch. Hätte ich gesagt, das wird mir alles zuviel, kannst du nicht wenigstens mal den Müll runterbringen, hätte er doch bloß gemeint, niemand zwingt dich zu arbeiten, lass es, dann hast du auch weniger Stress.“

„Der Platz einer Frau ist zu Hause“, stellte ich bitter fest.

Astrid seufzte. „Ja, so ungefähr. Aber weißt du was? Eigentlich freue ich mich fast darauf, mich mal nur auf die Kinder konzentrieren zu können. Sie sind gerade so niedlich, und wenn man den ganzen Tag arbeitet, verpasst man ja doch die schönsten Momente. Laras erstes Lächeln, Saras Geplapper... wieso sollen das alles nur die Mädels in der Krabbelgruppe erleben? Ich kann nach dem Mutterschutz ein bisschen online mitarbeiten, das hab ich mit dem Chef schon ausgemacht, und nach ein paar Jahren steige ich sicher wieder ein, notfalls an anderer Stelle im Verlag. Also, bedauere mich nicht zu sehr!“

„Ich bedauere nicht dich, sondern mich“, stellte ich richtig und klaute ihr eine schwarze Olive. „Die darfst du ja sowieso nicht, oder? Ich muss mich mit deinem Nachfolger oder deiner Nachfolgerin herumärgern. Keine Ahnung, wer das sein wird.“

„Wart´s ab, ich muss ihn nachher rumführen. Um drei wird der Chef ihn bringen.“

„Ein Kerl also. Der wird sich freuen, mit lauter Frauen zusammen zu arbeiten!“

Astrid zuckte die Schultern. „Da muss er eben durch. Ich hab ihn mal kurz gesehen, er sah ganz okay aus.“

„Jung? Alt? Grimmig? Milchbubi?“

Sie überlegte. „Jung und grimmig, denke ich.“

„Na, prost. Mensch, Astrid, bleib doch bei uns!“ Sie sah auf ihren eindrucksvollen Bauch herunter. „Ein bisschen spät, sich anders zu entscheiden. Jetzt komme ich aus der Sache nicht mehr raus. Außerdem reden Sara und Lara schon dauernd vom Brüderchen. Wie findest du Jakob?“

„Als Namen? Naja, recht biblisch. Wie wär´s mit Esau?“

„Ich nenne doch meinen Sohn nicht nach einem geschäftlichen Versager, der auch noch freiwillig Linsen futtert!“

„Linsen sind aber doch gesund“, wandte ich ein. „Und der Erstgeborene ist er sowieso nicht.“

„Aber es ist ein blöder Name. Nein, Jakob Salzgeber klingt ziemlich gut, finde ich. Mona, jetzt finde dich endlich damit ab, dass du mit dem Kerl zusammenarbeiten musst. Man könnte meinen, du bist die Mutter Oberin und freche Marodeure wollen in dein Kloster eindringen.“

Ich kicherte. „Und die Tugend der Viererbande bedrohen?“

Sie lachte auch und massierte sich dann stöhnend den Bauch. „Da versagt selbst meine Phantasie... Mensch, hab ich das satt. Es gibt ja Leute, die sind gerne schwanger... Ich bin erst zufrieden, wenn der Kleine da ist, ich möchte mal wieder meine Füße sehen und mich im Bett hinlegen, wie es mir passt.“

„Andererseits – so lange er da drin ist, kannst du nachts durchschlafen“, hielt ich dagegen. „Ach ja? Wenn Sara schlecht träumt oder immerzu Muss Pipi! ruft oder Du-ast!? Und Lara weint? Ich werde erst wieder durchschlafen, wenn Jakob zum Studieren nach Kiel zieht.“

„Wieso Kiel?“

„Egal, Hauptsache, weit weg. Erst haben sie nachts Blähungen, dann wollen sie nicht ins Bett, dann stehen sie dauernd wieder auf und dann kommen sie ewig nicht aus der Disco heim. Wart´s ab!“

„Ich?“, verwahrte ich mich sofort, „Ich denke ja gar nicht daran. Ich bin an meinem Schreibtisch sehr zufrieden. Und wenn mir das mal nicht mehr reicht, kann ich mir immer noch eine Katze zulegen.“

„Die kommt nachts auch nicht heim“, prophezeite Astrid düster.

„Bei mir schon. Im fünften Stock bleibt ihr doch bloß der Balkon. Du, wir müssen langsam zurück!“

Wir kamen knapp rechtzeitig zurück in die Tretmühle und Astrid kehrte sofort zu ihrer letzten Pflicht zurück und schichtete ihren persönlichen Kram in eine große Tragetasche von Babyland, aber die Viererbande war mitnichten vollständig. Nur die Schmalhans saß bräsig auf ihrem Schreibtischstuhl, schwang rhythmisch hin und her und las ein Buch. Ich linste im Vorbeigehen auf den Titel: Die Heilung der verletzten Aura. Ah ja... Typisch!

„Wo sind denn die anderen?“, fragte ich. Seufzend klappte sie ihre inspirierende Lektüre zu, nachdem sie sorgfältig ein wohl selbst mit mystischen Symbolen bemaltes Lesezeichen eingelegt hatte. „Ich weiß es nicht. Die kommen bestimmt gleich wieder. Liegt denn etwas Dringendes an?“

„Nein, aber die Mittagspause ist vorbei“, stellte ich mit ungnädigem Blick auf die Uhr fest. „Wie sieht es mit unseren neuen Angeboten aus? Sind die schon im Netz?“ Jetzt legte sie das Buch endgültig weg. „Soweit möglich, schon. Für diese Chemieheftchen fehlen noch die Bestellnummern.“

„Dann kümmern Sie sich drum!“, entgegnete ich leicht gereizt. Sie erhob sich mühsam, das weite, goldbestickte rote Gewand wogte um ihre üppigen Formen. Warum trug sie immer rot, wenn es sich doch so abscheulich mit ihren hennagefärbten Locken biss? Und das purpurfarbene Tuch, mit dem sie diese Mähne aus dem Mondgesicht hielt, sah dazu auch verboten aus. Wie eine Kartenlegerin, die man über eine 0190-Nummer anrufen musste... Dass sie unseren Internetauftritt auf dem Laufenden hielt, sah man ihr wirklich nicht an!

Zehn Minuten zu spät tauchten kichernd die beiden Küken auf, Weiß und Hilz. Ich betrachtete sie, innerlich den Kopf schüttelnd. Warum war ich mit solchem Volk geschlagen? Dann sah ich beziehungsreich auf die Uhr, was die beiden aber nicht sehr beeindruckte.

Sandra Weiß war wahrscheinlich zu beschränkt, um die Uhr zu lesen. Und wie sie sich schon wieder aufgetakelt hatte! Ich kannte sonst wirklich niemanden, der eine so unglückselige Mischung aus Leder und Satin ernsthaft in der Öffentlichkeit spazierenführte. Der knallrote Ledermini war so kurz, dass sie sich nie bücken durfte, und die schwarze Satinbluse sah aus wie das Oberteil eines meiner Pyjamas – nur waren die aus Seide und nicht aus diesem Plastikzeugs. Dazu schwarze Strümpfe mit derartigem Schimmer, dass sie den Betrachter fast blendeten, und rote, hochhackige Pumps. Ich überlegte, ob ich ihr mal diskret sagen sollte, sie sähe wie eine billige Nutte aus, aber dann würde sie wahrscheinlich geschmeichelt kichern. In ihrem Miniaturhirn verband sich Nutte wahrscheinlich mit sexy, und das wollte sie ja vor allem sein!

Kati Hilz sah dagegen nach gar nichts aus. Graue Jeans, ein hellgraues T-Shirt und darüber eine etwas ausgeleierte dunkelgraue Strickjacke. Das Haar kurz geschnitten wie ein Schuljunge, und das freche Gesicht passte auch dazu.

Eigenartig, sinnierte ich, und sah zu, wie sich die beiden tuschelnd und kichernd wieder an ihren Schreibtischen einrichteten. Man sollte doch meinen, dass die Hilz ein ordentliches, etwas langweiliges Leben führte und die Weiß von einem leicht schmierigen Lover zum nächsten taumelte.

In Wahrheit aber hatte die Hilz einen Freund mit viel Phantasie und Ausdauer, wie sie allen, die es so genau auch wieder nicht wissen wollten, mit allen Einzelheiten zu beschreiben pflegte, und Sandra Weiß lebte bei ihrer verwitweten Mutter und hatte nicht annähernd das Privatleben, nach dem sie aussah.

Gar kein Privatleben hatte dagegen die Jonas, unsere Seniorin. Ebenfalls kurz geschorene Haare, Jeans, selbst gestrickte Pullover. Ich sah es förmlich vor mir, wie sie sich abends das Programm von arte oder 3sat reinzog und dabei die Nadeln klappern ließ – zwei rechts, zwei links, eine fallen lassen...

Heute hatte sie einen Pullover an, den ich noch nicht kannte.

„Ist der neu?“, fragte ich, ganz die gute Chefin.

„Nein, mit Perwoll gewaschen“, kicherte die Hilz sofort los, von der Weiß assistiert. „Haben Sie die Terminliste bis Jahresende schon fertig?“, fragte ich, und das Kichern erstarb. „Ja, der ist neu“, antwortete die Jonas und strich sich stolz über den flauschigen violetten Ärmel.

„Hübsch“, log ich und verzog mich an meinen eigenen Schreibtisch, der im Gegensatz zu denen der Viererbande tadellos aufgeräumt war. Ich hielt auch nichts davon, privaten Schnickschnack darauf zu arrangieren; Flatscreen, Tastatur, Maus, zwei Körbe, Telefon und Schreibzeug füllten die Platte wirklich genug. Wozu dann noch Fotos in kitschigen Rähmchen (Hilz), Überraschungseierfiguren (Hilz, sie war erst zweiundzwanzig), Stofftierchen (Weiß), herzförmige Post-it-Blöckchen (Wer wohl?), esoterische Lektüre (Schmalhans), orientalische Schnitzereien, die die Erdströmungen oder was auch immer lenken sollten (dito), Strickhefte (Jonas) und Ratgeber der Marke Selbst ist die Frau (ebenfalls)?

Im Eingangskorb lag ein Schreiben der Geschäftsleitung, das um Vorschläge für die Einführung einer neuen Lernhilfen-Reihe bat. Programmiertes Lernen... hatte es das nicht in den Siebzigern schon mal gegeben?

Mein Blick irrte wieder zu diesem violetten Flauschmonster. Das Ding war doch zu weit... und der große Kragen sollte sich weich auf die Schultern legen, aber sie hatte wohl die Geduld verloren und zu früh abgekettelt, so dass er jetzt irgendwie seltsam hochstand und man die schlampig vernähten Fäden auf der Rückseite sah. Sie hatte sich schon mindestens zwanzig Pullover gestrickt und konnte es immer noch nicht!

Die Schmalhans telefonierte herum, um die fehlenden Bestellnummern zu ergattern, und ich las das Schreiben fertig. Zwei Hefte Latein, drei Mathematik, eins Physik, bis jetzt. Wenn schon programmiertes Lernen, warum dann nicht gleich Software? Unsere ANDERSlernen-CDs gingen doch glänzend!

Ich zog mir die Tastatur näher und begann zu tippen – Vorschläge für diese Reihe, Titelideen, Gestaltung, Kombination mit passender Software, vielleicht reduzierte Programme als Freeware auf der Homepage, die Möglichkeit, solche Programme auf den ewigen Messen und Fortbildungen vorzuführen, die wir immer abzuklappern hatten... O Gott – mit wem würde ich denn in Zukunft durch die Lande gondeln müssen? Mit Astrid hatte ich mich immer köstlich amüsiert, viel verkauft, neue Autoren an Land gezogen, Ideen gesammelt – und geklaut – und jede Menge Kleinstadtkneipen kennen gelernt.

Und jetzt? Jung und grimmig, hatte Astrid gesagt. In einer halben Stunde müsste der Zauberprinz auftauchen. Wahrscheinlich kam er frisch von der Uni und hatte null Ahnung von der Praxis, voller unverkäuflicher Ideen!

Wenigstens hatte Kati Hilz jetzt die Terminübersicht fertig und brachte mir einen Ausdruck. Ich las ihn durch, besserte zwei Fehler aus und gab ihn ihr zurück. „Frau Schmalhans soll die Termine ins interne Netz setzen. Haben die schwäbischen Mathematiker nicht im November immer diese Fortbildung in Sindelfingen?“

„Was? Oh – ich schaue gleich nach, tut mir Leid. Aber wissen Sie, mein Freund – er hat mich heute Nacht derartig um den Verstand gebracht, ich kann noch gar nicht wieder klar denken...“

„Frau Hilz, Ihr Privatleben geht uns nichts an, Ihre Arbeitsleistung schon. Also vergessen Sie jetzt bitte mal die Freuden der Nacht und suchen Sie den fehlenden Termin raus, ja? Notfalls über das entsprechende Kultusministerium.“

Die Jonas warf der Hilz einen angeekelten Blick zu. Ob die eigentlich lesbisch war? Sie guckte so, aber eigentlich wusste ich nicht, wie man lesbisch guckte, und ehrlich gesagt war mir das auch egal.

„Dieser Raum ist unglücklich“, verkündete die Schmalhans da mit dunkel vibrierender Stimme. War das mal wieder eine Botschaft aus dem Geisterreich?

„Warum das denn?“, fragte ich. „Stimmen die Farben nicht, steht der Papierkorb falsch oder hätte der Raum lieber andere Insassen? Könnte ich ja eigentlich verstehen...“

„Nein – es ist schwer fassbar. Unzufriedenheit – eine graue Aura liegt über allem, verborgene Probleme...“

„Vielen Dank. Hoffentlich bleiben die Probleme auch im Verborgenen, sonst kommt hier gar keiner mehr zum Arbeiten. Frau Jonas, Sie kriegen nachher ein Schreiben an alle Biologen in unserer Kartei, suchen Sie die einschlägigen Adressen schon mal raus?“

Zustimmendes Seufzen. Ich schrieb einen schmalzigen Brief, in dem ich auf neue Lernhilfen für Biologie in der Kollegstufe hinwies und betonte, wie unentbehrlich unser Material doch für den erfolgswilligen Schüler und den gestressten Lehrer war; die Neuerscheinungen konnten mit 25 % Lehrerrabatt via Internet oder beiliegende Bestellkarte sofort geordert werden. Wahrscheinlich schmissen die meisten das ohnehin ungelesen ins Altpapier, aber manche bestellten eben doch. Und wenn sie es dann ihren Schülern zeigten, die doch immer hofften, irgendein Zauberbuch könnte ihnen die Arbeit sparen... Von diesen Mechanismen lebten wir schließlich.

Die Jonas ließ den Drucker rattern, der mehrere Bögen Adressaufkleber ausspuckte, und ich unterschrieb mein Anschreiben und kopierte es hundertmal. Dann wuchteten wir Anschreiben, Bestellkarten, Prospekte, Umschläge und Aufkleber der Weiß auf den Tisch und stellten einen leeren Klappkorb daneben. „Zügig bitte, das Zeug muss heute noch raus!“

Sie guckte verstört. „Alles?“

„Alles. Pro Umschlag ein Brief, einmal gefaltet, ein Prospekt, eine Karte – klar? Adresse drauf und ordentlich in den Korb schichten. Danach bringen Sie den Korb zum Frankieren, Sie wissen ja, und dann zum Postausgang.“

Ich leitete meine Überlegungen zu dieser neuen Reihe an die Geschäftsleitung weiter und brütete gerade über den Messeterminen, als es an der Tür klopfte. „Herein!“, rief ich, ohne den Kopf von der Terminliste zu heben. Erst, als ich das Räuspern hörte, sah ich auf. Ach, Dr. Benrath, unser ferne über uns schwebender Chef – und das reinste Unterwäschemodel daneben.

Sandra Weiß seufzte verzückt, Kati plinkerte mit den Lidern, die Jonas schaute noch giftiger und die Schmalhans schien seine Aura abzuschätzen. Wie üblich eben. Ich stand höflich auf. „Dr. Benrath... Und Sie sind wohl Frau Salzgebers Nachfolger?“

Er reichte mir die Hand. „Pechstein.“

„Schröder“, antwortete ich ebenso knapp. „Willkommen bei ANDERS. Ich bringe Sie zu Frau Salzgeber, Sie wird Ihnen alles zeigen.“

„Danke.“

Der verschwendete auch kein Wort. Aber wenn jemand so schön war, konnte es natürlich gut sein, dass es mit den sprachlichen – und geistigen – Fähigkeiten haperte... Ach, Blödsinn, der musste doch irgendwas können, sonst hätten sie ihn als Büroboten eingestellt und nicht als Redakteur für die Öffentlichkeitsarbeit.

Dr. Benrath und er folgten mir in Astrids Ecke hinter den beiden Yuccapalmen, und ich kehrte wieder an meinen Schreibtisch zurück und linste streng über die halbhohe Trennwand. „Ist der nicht süß?“, flüsterte die Weiß der Hilz zu, in einem durchdringenden Ton, denn man bestimmt bis zu Astrids Bereich hören konnte. Dabei war dieser Mensch garantiert schon eingebildet genug!

Er war geradezu unnatürlich schön, wie ein Werbeposter. Groß, aber nicht zu groß, schätzungsweise einen halben Kopf größer als ich, schlank. Braune Haare, offensichtlich ließ er bei einem erstklassigen Friseur arbeiten. Und ebenso offensichtlich gab er sein ganzes Gehalt für Klamotten aus. Der dunkelblaue Anzug war aus feinstem Tuch, das sah ich sogar auf diese Entfernung, und die auf Hochglanz polierten Schuhe waren garantiert aus dem teuersten Laden der Stadt. Mehr konnte ich nicht sehen, solange er mir den Rücken zukehrte und mit Astrid und Dr. Benrath irgendwelche Unterlagen durchging, aber ich hätte auf ein professionell gebügeltes Hemd aus Baumwollpopeline und eine schwere seidene Krawatte gewettet, vielleicht sogar auf Manschettenknöpfe.

Lackaffe.

So brauchte er sich für unsere doch nicht wirklich zentrale Abteilung auch nicht auszustaffieren! Wahrscheinlich war ich ungerecht, beschloss ich und widmete mich wieder den Messeterminen, schließlich war heute sein erster Tag. Morgen tauchte er vielleicht etwas bescheidener auf, wenn er aus dem Sammelsurium hier so etwas wie einen Dresscode herauslesen konnte.

Meiner Ansicht nach war ich ohnehin die einzige, die sich angemessen kleidete – heute in Jeans (sauber und nicht allzu ausgewaschen), gestreifter Bluse mit weißem Kragen, dunkelblauem Blazer, Collegeslippern (ich war auch ohne hohe Absätze groß genug) und Perlenkette. Dazu ein ordentlicher Pferdeschwanz mit Samtschleife. Für alle Tage reichte das völlig, und wenn ein Event anstand, hatte ich auch Kostüme, halbhohe Pumps und einen soliden Knoten zu bieten.

Kurz gestattete ich mir die Vorstellung, dieser Schnuckelputz orientierte sich stylingmäßig an der Schmalhans und käme morgen in purpurnen Pluderhosen, besticktem Indienhemd und jeder Menge Holzketten um den Hals. Das Friseurkunstwerk müsste er natürlich abrasieren... Ich grinste vor mich hin, während ich die Termine, die mich betrafen, in meinen Palm übertrug und begann, die Events der ersten Messe zu planen. Schon am 14. und 15. Oktober begann der Zirkus wieder – Oberpfalz, Regionale Lehrerfortbildung für Geographen. Was hatten wir in puncto Erdkunde zu bieten? Ich ging die Listen durch, immer noch über die Vorstellung von Pechstein als Hare Krishna lächelnd – obwohl ich solche Leute aus gutem Grund hasste wie die Pest – trug alle Titel zusammen, vergewisserte mich, dass ein entsprechender Musterkoffer zusammengestellt wurde und für die Präsentation der Software Notebook und Beamer verfügbar waren, und leitete dann alles auf Kati Hilz´ Rechner um, die erschrocken hochfuhr, als es bei ihr piepste und ich ihr zuwinkte.

Nicht nur sie, auch die anderen drei Heldinnen täuschten nicht einmal vor, zu arbeiten, sondern glotzten ungeniert in Astrids Ecke.

Jetzt drehte er sich um. Gutes Gesicht, wenn man ihn in Ruhe betrachten konnte.. Besser, als es ihm charakterlich bekommen konnte! Schmal, leicht gebräunt, lange Nase, voller Mund, zusammengepresst, als gefalle ihm nicht, was Astrid ihm vorlegte, dichte Augenbrauen, undefinierbare Augenfarbe.

Und tatsächlich eine schöne Krawatte in hellen Blau- und Grüntönen, matte Seide. Er sah kurz auf und mir direkt in die Augen. Ich starrte ihn einen Moment an, dann senkte ich den Blick und suchte in meinem Terminkalender, bis ich das Meeting heute um fünf gefunden hatte. Die Meldung gab ich sofort an seinen – nein, noch Astrids – Rechner weiter, so dass es dort auch piepste. Astrid sah auf den Bildschirm und signalisierte mir ihren Dank. Als dieser Pechstein sich wieder zu mir umdrehte, war ich sofort intensivst beschäftigt.

Schließlich verabschiedete sich Dr. Benrath, und Astrid und Pechstein setzten sich gemeinsam an ihren Rechner. Wahrscheinlich wegen der Passwort- und Profiländerung. Und er musste ja auch alle laufenden Vorgänge kennen – Astrid kümmerte sich vor allem um die Werbung, was Printmedien, besonders Fachzeitschriften, betraf, während ich die Brief- und die Vor-Ort-Aktionen organisierte, die wir dann gemeinsam durchführen mussten.

„Könnten Sie sich mal wieder Ihrer Arbeit widmen?“, fauchte ich die Viererbande mit unterdrückter Stimme an. „Herr Pechstein wird uns noch länger erhalten bleiben, so dass Sie alle sich sicher noch an ihm sattsehen können.“

„Aber er ist doch wirklich toll, oder?“, wisperte Sandra Weiß.

„Finden Sie?“, antwortete ich und hoffte, echte Verblüffung in meine Stimme gelegt zu haben. Offenbar war mir das zwar gelungen, aber nicht die gebotene Dämpfung der Lautstärke, jedenfalls drehte sich Pechstein abrupt um und starrte mich unter zusammengezogenen Augenbrauen an, bevor er sich wieder abwandte.

Scheiße, tolle Einführung. Andererseits sollte er sich bloß nicht so haben. Vielleicht war er es ja gewohnt, dass ihm alle Frauen sabbernd hinterherkrochen, aber ich wollte erst mal sehen, was er konnte. Schnösel alleine brachte noch gar nichts! Und jetzt würde ich da auch nicht mehr hingucken, ich brauchte noch allerlei Unterlagen für das Meeting, um dem da mal zu zeigen, wie man hier arbeitete. „Sandra, ist die Werbepost fertig?“ Sie zuckte wieder zusammen und schien aus einem Tagtraum zu erwachen (in leidenschaftlicher Umarmung mit Pechstein? Schwanger von einem Popstar und der Liebling der Medien? Teilnahme an einer neuen Retortenband?).

„Fast. Ich hab´s gleich.“

„Die Post geht um halb fünf raus, also legen Sie mal einen Zahn zu“, mahnte ich. Nur die Schmalhans arbeitete einigermaßen selbständig, wenn man ihr ein bisschen auf die Finger sah – die Website stimmte jetzt, und einige benutzerunfreundliche Macken hatte sie auch rausgenommen. Ich lobte sie, stellte fest, dass die Hilz wenigstens so tat, als ließe sie das Material für die erste Tagung verpacken, und sortierte meine eigenen Unterlagen für das Meeting – die neue Reihe, meine eigene Idee pädagogischer Ratgeber, etwa zum Thema Kinder & Internet, Medienerziehung, Lesefreude, Legasthenie, Hyperaktivität... ich hatte schon eine Menge Entwürfe dazu gebastelt und eine Liste von potentiellen Autoren zusammengestellt.

Vielleicht ein Magazin für pädagogische Debatten – PISA, Bildungsoffensiven... das Thema lag doch in der Luft... ANDERS erkennt die Zeichen der Zeit... ANDERS gestaltet die pädagogische Zukunft mit... ANDERS nutzt den Rohstoff Geist... Man konnte so viel machen! Oder ein Forum auf der Website – mit Pädagogik-Chats. Nein, das war vielleicht zu flüchtig, gute Gedanken sollte man dauerhafter festhalten. Aber zum Runterladen... Hm... ich begann fieberhaft herumzukritzeln.

Außerdem fehlten von unseren Erdkunde-Jahrgangsstufenbüchern noch zwei, und ich sollte mir notieren, wen ich auf der Tagung womit dafür ködern sollte.

Und ein neues Übungsbuch zur Rechtschreibung – um verzweifelte Eltern zu beruhigen, die seit der Reform selbst nicht mehr so recht Bescheid wussten. Sogar Deutschlehrer hatten mir schon gesagt, dass sie seitdem jeden Mist im Duden nachschlagen mussten, wie sollte es da erst den armen Eltern gehen? Mit vielen Übungssätzen, Diktaten, Einsetzübungen... hm, aufschreiben...

„Frau Schröder?“

Ein Schatten fiel über meinen Schreibtisch. Oh, dieser Pechstein!

„Ja? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

„Wissen Sie, wo dieses Meeting nachher stattfindet?“

„Natürlich, ich werde Sie mitnehmen. Aber Frau Salzgeber geht doch auch mit, oder?“ Er lächelte kühl. „Ich wollte Ihnen nicht lästig fallen.“

„Das tun Sie nicht“, entgegnete ich gelassen – alberne Empfindlichkeiten musste man nicht auch noch hätscheln -, „wir haben doch alle den gleichen Weg. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

„Nein, danke.“ Er wandte sich ab, offenbar beleidigt. Schnösel.

Ich erledigte meine restliche Arbeit, denn nach dem Meeting wollte ich nach Hause, ohne vorher noch an meinen Schreibtisch zurückzukehren. Kurz vor fünf packte ich zusammen und räumte den Schreibtisch auf; die Viererbande brach ebenfalls gerade auf.

Eine Mappe mit Material unter den Arm geklemmt, ging ich zu Pechstein hinüber, der schon hinter seinem Schreibtisch saß und einige Papiere durchsah. Er hatte sich tatsächlich ein Namensschild gebastelt und es auf die Tischplatte gestellt – Dr. D. Pechstein. Was für ein Angeber! Astrid lümmelte in einem Sessel und grinste mir zu. Ich schnitt ihr eine hastige Grimasse.

„Herr Doktor Pechstein? Wir können dann aufbrechen, wenn es Ihnen passt.“

Er sah auf und nickte kühl, sammelte einiges ein, sperrte den Rest in die Schubladen und fuhr den Rechner herunter. „Ich bin fertig, gehen wir.“

„Astrid, kommst du nicht mit?“

„Doch, natürlich.“ Sie arbeitete sich mühsam aus ihrem Sessel heraus und rieb sich stöhnend den Bauch. Pechstein ließ einen irritierten Blick von ihr zu mir und wieder zurück wandern, sagte aber nichts, sondern hielt uns nur ungeduldig die Tür zum Flur auf. Er hatte ja echt Manschettenknöpfe an, schwarz mit goldenem Monogramm DP! Wieder ein Punkt mehr auf der schwarzen Liste.

Das Meeting verlief eher langweilig; ich kämpfte für die Ratgeberreihe, Dr. Benrath mauerte – wie immer – Astrid fasste zusammen, was in Bezug auf Printwerbung geplant war, damit dieser Pechstein zeigen konnte, dass er schon mitreden konnte, wir hakten Termine ab, verglichen unsere Pläne mit denen der Redaktion – natürlich konnte wieder kein einziger Erscheinungstermin gehalten werden -, und zankten ein bisschen um Details.

„Ist das Ihre Aufgabe?“, fragte Pechstein, als wir zusammenpackten.

„Was, bitte?“ Wo hatte ich denn meinen Kugelschreiber – ach, hier!

„Sich Gedanken über neue Reihen zu machen?“

„Warum nicht, wenn es uns populärer macht? Erziehungsratgeber, richtig vermarktet, können als Serviceleistung verstanden werden, wie Büchertische bei Tagungen, Diskussionsrunden und Material zum Runterladen. Das ist doch alles Öffentlichkeitsarbeit!“

„Gut, wenn man es so sieht...“ Überzeugt schien er nicht zu sein, aber das war mir ziemlich egal. „Und Sie klappern dann auch die Tagungen ab?“

„Ja, aber nicht alleine. Bisher ist Frau Salzgeber mitgefahren, und ich denke, dass Dr. Benrath Sie auch abkommandieren wird. Lassen Sie sich also besser schnell eine gute Ausrede einfallen.“

„Warum? Glauben Sie, ich fürchte mich vor Provinzhotels?“

„Wer weiß? Schönen Abend noch.“

Ich winkte Astrid zu und machte die übliche Telefoniergeste, dann enteilte ich in die Tiefgarage. Feierabend, herrlich! Und morgen war frei, noch besser!

Mein dunkelblauer Audi blinkte mir freundlich entgegen, und ich genoss es, durch die Garage Richtung Ausfahrt zu rauschen, vorbei an diesem Pechstein, der sich etwas ratlos umsah – fand er seine Karre nicht?

Draußen waren natürlich wieder mal nur Idioten unterwegs, die keine Verkehrsschilder lesen konnten, Rechtsabbiegerampeln übersahen und überhaupt pennten. Ich hupte und drängelte, bis ich alle aus dem Weg gescheucht hatte, und rauschte dann zügig nach Mönchberg. Der Anblick des grellweißen Mehrfamilienhauses freute mich immer wieder, es war noch ziemlich neu und sauber und sah richtig gut aus, kühl und glatt.

Und die Lage war gut – der Klosterweg mündete in die Franziskanerstraße, und dort gab es alle notwendigen Läden. Allerdings pflegte ich freitags einzukaufen und musste mich heute nicht mit den Leuten herumschlagen, die vor einem Feiertag ihre Wagen vollluden, als sei eine Versorgungskrise zu erwarten. Ich hielt die Fernbedienung aus dem Fenster, das Garagentor schwang auf, ich rollte hinunter und parkte auf Anhieb zwischen den beiden Betonsäulen. Tasche, Dokumentenmappe, Zentralverriegelung, Ausgang zum Lift.

So ließ sich´s leben! Kein Vergleich mit meiner Kindheit – wackliger Altbau, halb verrostete Fahrräder, zugeparkte Straßen, wild beklebte Fassaden, Geruch nach Selbstgedrehten (und Ärgerem), angegammeltem makrobiotischem Essen und Räucherstäbchen, eselsohrige Plakate an den Wänden und Matratzen mit indischen Tagesdecken auf dem Boden. Nie wieder!

Der Aufzug beförderte mich in den fünften Stock und direkt vor meine Wohnungstür. Ich schloss auf und atmete tief durch. Perfekt! Schlüssel und Tasche landeten auf dem Tischchen im Flur, und während ich über den makellosen Ahornboden ins Schlafzimmer ging, sah ich mich beifällig um. Glatter Boden, weiße Wände, wenige, funktionelle Möbel – Ahorn, Metall, Glas, dunkles Leder, kein Stoff, wenn man von den hauchdünnen Vorhängen absah. Alles sehr kühl und übersichtlich, genau, wie ich es mochte. Wie ein schönes Büro,  aber ohne die Viererbande, die alles mit albernem Schnickschnack füllen würde.

Und im Schlafzimmer hatte ich ein richtiges Bett – nie mehr Schaumstoffmatratzen auf dem Boden! Nein, für mich ein schönes Ahorngestell mit japanisch inspiriertem Kopfteil, elegante, unauffällige Bettwäsche und richtig gute Daunen. Ich packte meine Sportklamotten ein und schulterte die Tasche; das Funfit war gleich um die Ecke, und nach so vielen Stunden am Schreibtisch brauchte ich ein anständiges Workout, wenigstens zweimal die Woche.

Bloß die Duschen im Funfit waren eine Zumutung, aber die paar Meter nach Hause unter meine eigene Profidusche mit den drei tausendfach verstellbaren Köpfen und der richtig dichten Abtrennung waren ja kein Problem.

Stepper, Laufband, ein paar Gewichte – das machte mir Spaß, aber für die Typen, die mit wahrscheinlich nutzlosen Energy-, Isotonik- oder Aloe Vera-Drinks an der Bar herumlungerten, brachte ich kein Interesse auf. Sport diente der Erhaltung der Gesundheit und der Steigerung der guten Laune, aber er war doch kein Selbstzweck! Um halb acht stand ich also zufrieden unter der Dusche, ließ mir das heiße Wasser auf die Haut prasseln und verteilte Duschschaum auf mir. Wie viel Schaum aus so einer kleinen glibberigen Portion auf der Haut wurde, amüsierte mich jedes Mal wieder.

Herrlich, ich hätte stundenlang duschen können. Diese Wohnung war einfach perfekt, aber ich hatte auch lange genug nach ihr gesucht und vor allem lange genug eisern gespart, um sie mir leisten zu können. Endlich hatte ich es geschafft, sagte ich mir immer wieder - und auch jetzt, als ich in einen frischen seidenen Schlafanzug und den bodenlangen schwarzen Kimono schlüpfte und mich im Wohnzimmer auf das dunkelgraue Ledersofa fallen ließ.

Geschafft! Ab dem ersten Semester hatte ich gejobbt und gespart, was das Zeug hielt, Mark auf Mark gestapelt, jeden Pfennig, mit dem mein Konto im Plus war, angelegt, vorsichtig, aber meistens glücklich.

Ich erinnerte mich noch mit Grausen an das schauerliche kleine Appartement, in dem ich mit Sunny gewohnt hatte, sobald ich sie von unseren Eltern wegholen konnte – kaum zwanzig Quadratmeter für zwei Personen, aber wir waren zurechtgekommen, und auch Sunny hatte bis zum Abitur Zeitungen ausgetragen, samstags im Supermarkt kassiert und bei Gelegenheit auf Kinder aufgepasst. Als sie Abitur hatte und ich mit dem Studium fertig war, hatte sie einen netten kleinen Grundstock, und ich hatte schon ein recht ansehnliches Depot vorzuweisen.

Sunny sollte ich später vielleicht noch anrufen, aber am Abend vor einem Feiertag zog sie sicher mit ihrem Gabriel um die Häuser, warum auch nicht.

Ich räkelte mich weiter auf dem Sofa, zufrieden mit meiner eigenen Tugendhaftigkeit – Sport getrieben, geduscht (und sogar eingecremt!) -, bis mein Magen laut zu knurren begann.

In der Küche – weiß, Edelstahl, schwarze Granitarbeitsplatte, so edel wie alles andere – fand ich noch eine Packung Tortillas, etwas fettarmen Kräuterquark und ein Glas eingelegtes Mischgemüse. Mit einem etwas verunglückten Wrap kam ich zurück, setzte mich wieder aufs Sofa, schaltete den Fernseher ein und zappte ein bisschen durch die Sender.

Der Wrap schmeckte ganz gut, man musste nur nach jedem Bissen einiges Gemüse von der Serviette aufsammeln. Unpraktisches Essen, aber gesund und schnell gemacht. Hinterher trug ich den Teller wieder zurück, streichelte zärtlich über die spiegelblanke Arbeitsplatte, stellte den Teller in die Spülmaschine, füllte die Waschmaschine mit meinen Sportklamotten und einer Auswahl T-Shirts und Unterwäsche, startete sie und kehrte ins Wohnzimmer zurück.

Doch, mir ging´s prima. Ich hatte diese perfekte Wohnung – und gar nicht mehr so viel abzuzahlen -, ein kleines, aber solides Depot, ein schickes und ziemlich neues Auto, eine anständige Garderobe, eine interessante und ziemlich krisensichere Arbeit, eine liebe und glückliche kleine Schwester und eine ganze Menge netter Bekannter. Was wollte ich mehr? So konnte das Leben doch bleiben! Bloß das Fernsehprogramm war wie immer zum Weinen. Aber ein intelligenter Mensch war darauf ja ohnehin nicht angewiesen...

Ich schaltete den Fernseher wieder aus und ging ins Arbeitszimmer, wo ich einen Rechner hatte, der den im Büro um Längen schlug. Eine genussreiche Stunde lang bastelte ich eine Präsentation bezüglich meiner Ratgeber-Reihe, dann rief ich mein Depot auf, verkaufte zwei Posten, kaufte dafür etwas anderes und legte den Überschuss meines Girokontos in weiteren Anteilen eines stabilen Rentenfonds an. Schließlich druckte ich mir den aktuellen Stand aus – fast vierzigtausend Euro, nicht übel, wenn man bedachte, dass ich nur noch sechzigtausend abzuzahlen hatte, in zwei Jahren. Seit drei Jahren wohnte ich jetzt hier in Mönchberg, seitdem Sunny in eine eigene Wohnung und dann mit ihrem Gabriel zusammengezogen war.

In zwei Jahren hatte ich genug zusammen, um die Hypothek zu tilgen; die Jahre des verbissenen Sparens hatten sich gelohnt. Manchmal überfielen mich Ängste, nachts, wenn ich plötzlich aufwachte und mir vorstellte, meine Eltern, die sich zeitlebens nie um Altersvorsorge oder ähnlich spießige Dinge gekümmert hatten, würden plötzlich zum Sozialfall. Ich müsste die Wohnung verkaufen, das Auto, meine Rücklagen auflösen, das Sozialamt würde mich und Sunny bis aufs Existenzminimum pfänden, um die Kosten zurückzubekommen.

Gut, Horst hatte noch diesen obskuren Bauernhof, aber ob der etwas wert war? Und diese albernen Selbsterfahrungskurse, die er anbot – konnte man davon leben? Als wir noch Kinder waren, konnte man es kaum, das Geld war immer mehr als knapp gewesen, und ich hatte immer arbeiten müssen, wenn ich Taschengeld haben wollte. Statt mit den anderen ins Kino zu gehen, hatte ich mein sorgfältig verstecktes Sparbuch gestreichelt... Horst durfte es nicht finden, er lehnte es prinzipiell ab, dem Establishment noch Geld für seine Unterdrückungsmaßnahmen zu leihen... Er war wohl der letzte Mensch in München, der nicht einmal ein Girokonto besaß. Zu seiner Wahnvorstellung vom Kampf des Establishments gegen die kritischen Geister kam noch die Vorstellung vom gläsernen Bürger – er bildete sich ein, die Existenz eines Girokontos würde alle seine Pläne und Ideen an den Überwachungsstaat ausliefern. Für ihn würden sie sich gerade interessieren, hatte ich mir damals gedacht - aber Horst hatte einfach einen Dachschaden; zu viel gekifft in den glorreichen frühen Siebzigern... Und Irmi guckte ihn anbetend an und sagte immer nur: „Genau, Horst. Du blickst echt voll durch.“

Solche Eltern waren schon eine arge Belastung. Nichts gegen in die Jahre gekommene Hippies, dachte ich mir und starrte auf den Bildschirm, während ich die Angebote der Konkurrenz studierte, aber einigermaßen nett und vernünftig sollten sie schon sein, sonst waren sie als Eltern wirklich ein Totalausfall.

Horst mit seinem ewigen Schwadronieren, dem psychologisierenden Geschwätz (dabei hatte er nie ein Diplom gemacht, denn die Prüfungsvorschriften waren wieder irgendwelche Machtspielchen der Obrigkeit. Sie meckerten nur am Fehlen diverser Scheine herum, um sich vor dem revolutionären, kritischen Geist zu schützen, der ihnen da mit ihm heranwuchs.)

Alles Scheiße. Richtig zufrieden war ich erst, als ich mit Sunny nach Leisenberg gezogen war und sie wenigstens so alt war, dass kein Gericht der Welt sie gegen ihren Willen zu Horst und Irmi zurückgebracht hätte. Aber die wollten sie ja sowieso nicht, die Tatsache, dass sie regelmäßig in die Schule gehen und regelmäßig essen wollte, störte die spontane Lebensweise, die die beiden damals pflegten. Besser gesagt, Horst pflegte sie, und Irmi machte wie üblich sanft und etwas blöde lächelnd alles mit. Wenn ich die beiden nie wieder sah, war ich auch nicht gerade traurig.

Ich ging wieder aus dem Netz; so dringend musste ich am Abend vor einem freien Tag auch nicht arbeiten. Dieser doofe Pechstein würde mich doch bloß wieder fragen, ob das zu meinem Aufgabenbereich gehörte. Alter Besserwisser. Ich musste immer schön darauf achten, den Doktor nicht zu vergessen!

Das Telefon läutete. Ich legte mich wieder aufs Sofa und nahm ab.

Michael war dran. Ich lümmelte mich erfreut zurück. „Hey, schön, dass du wieder mal im Lande bist!“

Michael lachte. „Ja, drei Tage, für einen Kongress, Feiertag hin oder her. Hast du Lust, morgen mit mir essen zu gehen? Ins Médoc?“

„Ins Médoc doch immer! Um halb acht?“

„Sehr gut. Und danach...“

„Das sehen wir dann“, lachte ich ins Telefon und spürte eine leichte Erregung. Michael lebte in der Nähe von London und war etwas Wichtiges in einer britisch-amerikanischen Verlagsgruppe; ich hatte ihn bei einer Riesenveranstaltung in Frankfurt kennen gelernt, zu der Dr. Benrath ausgerechnet mich abkommandiert hatte, als müsste ich sonst nicht schon genug reisen. Immer, wenn er in der Gegend war – Verhandlungen über Auslandsrechte, Übernahmesondierungen und Ähnliches -, rief er an, wir gingen essen und meistens hinterher ein bisschen tanzen. Und seit einiger Zeit auch ins Bett.

Der ideale Lover, fand ich und räkelte mich in frivoler Stimmung auf dem Sofa. Selten da, keine Alltagsprobleme, aber völlig ausreichend für gelegentliche Bedürfnisse. Sehr zufrieden stellend und ein wirklich netter Kerl. Was sollte ich morgen anziehen? Vorher konnte ich einen schönen langen Spaziergang machen, ein paar Schaufenster inspizieren, etwas lesen, vielleicht mal in die Sauna gehen... Wie angenehm erstreckte sich dieser Feiertag vor mir, mal abgesehen von den albernen Politikerreden von wegen zwölf Jahre Einheit. Gegen die Mauern im Kopf konnten sie ohnehin nicht anreden!

Ich ging früh ins Bett, mit einem angenehm gruseligen Krimi und einem Katalog mit ausgesucht schöner Wäsche. Für zweihundert Euro durfte ich mir etwas gönnen. Dass mit dem Sozialamt war natürlich Blödsinn, so alt waren die beiden schließlich auch noch nicht, Horst sechsundfünfzig und Irmi vierundfünfzig. Sie sah allerdings mit den überschulterlangen grauen Zottelhaaren und dem natürlich (also mit biologisch hergestellter Kernseife) gepflegten Gesicht gut zehn Jahre älter aus... Bis die beiden reif für die Rente waren, hatte ich noch zehn Jahre, bis dahin konnte ich mir ein Polster zugelegt haben, das auch dafür ausreichte. Oder ich brauchte ein paar Tricks. Nicht heute! Lieber schrieb ich mir schon mal die Bestellnummern dieser entzückenden Garnituren auf und widmete mich dann der Suche nach dem abgetrennten Kopf…

Der Feiertag war, wie konnte es anders sein, nieselig und kalt. Ich ging trotzdem eine Stunde spazieren, verzog mich dann in die Sauna im Funfit, gönnte mir ein heißes Schaumbad und eine Haarkur, bügelte, surfte ein bisschen im Internet, sah einen eher öden Film über die Währungsreform, verbesserte meine Präsentation, brannte sie auf CD und machte mich am frühen Abend schließlich ausgehfein, dunkles Kleid, Perlen, feine Strümpfe (und aufregende Wäsche, so etwas gefiel Michael recht gut). In meiner Handtasche hatte ich für den Notfall Kondome, einen frischen Slip und eine Zahnbürste, in einem Seitenfach getarnt. Die souveräne Frau dachte eben an alles.

Michael holte mich pünktlich ab, in einem Leihwagen. Er küsste mich flüchtig auf die Wange, hielt mir galant die Beifahrertür auf, wartete, bis ich angeschnallt war, und erkundigte sich angelegentlich nach meinem Befinden.

„Ganz der Gentleman“, lachte ich. „das bereden wir nachher in Ruhe, ja? Beim Essen. Schön, dich mal wieder zu sehen.“

Er lächelte mir von der Seite her zu. „Ich freue mich auch. Und ich habe dir viel zu erzählen.“ Oh? Na, da war ich ja mal gespannt!

Im Médoc war es wie üblich feierlich still, als würden die Götter der guten Küche in ehrfürchtigem Schweigen angebetet. Bodenlange Tischdecken, komplizierte Arrangements, Kellner wie Priester, Kerzenlicht, Duft nach Blumen und nur ganz schwach nach Wein und Essen.

Wir wurden förmlich an einen Tisch geleitet – einen der guten, von denen aus man vom ersten Stock auf die Straße sehen konnte – mit Wein- und Speisekarten versorgt und unter Verbeugungen alleine gelassen. In gewisser Hinsicht war das Médoc direkt modern – hier hatten auch die Karten für die Damen Preise, aber die Weinkarte bekam natürlich nur der Herr.

Michael diskutierte die Weinauswahl trotzdem mit mir, nachdem wir uns beim Essen entschieden hatten. Schließlich war alles notiert, der Kellner hatte sich wieder verzogen, Michael zündete sich eine Zigarette an und ich schnupperte gierig. „Möchtest du eine?“

„Nein, danke, ich bin froh, dass ich aufgehört habe. Führe mich nicht in Versuchung, aber es riecht doch hinreißend...“

Er lachte. „Also keine strenge Konvertitin?“

„Absolut nicht. Und ich glaube auch nicht an den ganzen Quatsch über das Passivrauchen. Was ich einatme, hat du doch schon durch deine Lungen gefiltert, was soll es da noch groß anrichten können?“

„Die meisten Wissenschaftler würden dir da wohl nicht zustimmen... Erzähl, wie geht es dir so?“ Ich erzählte, wenn auch nicht gerade viel anlag. Genau genommen so wenig, dass ich mich sogar über Astrids seltsamen Nachfolger empören musste: „Ich glaube nicht, dass der was kann. Er sieht so gut aus, richtig unecht. Wie eine Schaufensterpuppe!“

Michael kostete den Wein, der gerade gebracht worden war, und nickte billigend, dann grinste er: „Du findest Schaufensterpuppen schön?“

„Ach, du weißt schon, wie ich das meine!“

„Ja, aber der Mann ist doch erst einen Tag da, oder? Gib ihm doch eine Chance! Ich stelle mir das ohnehin hart vor, so alleine unter Frauen...“

„Schadet ihm gar nichts. Weißt du, was das Affigste ist? Er hat sich so ungefähr als erstes ein Namensschild auf den Tisch gestellt, dabei wissen wir doch sowieso alle, wie er heißt!“

„Nämlich?“

„Dr. D. Pechstein. Wahrscheinlich bloß, damit wir alle den Doktortitel sehen.“

„Muss er doch, wenn ihr ihn für schön und bescheuert haltet. Was soll der arme Hund denn machen? Wofür steht das D?“

„Keine Ahnung, ist doch egal. Ich sage jetzt immer schön Herr Doktor zu ihm. Wieso armer Hund? Mich solltest du bedauern, ich hab mit Astrid so gut zusammen gearbeitet!“

„Aber Mona, man muss doch immer mal die Mitarbeiter wechseln. Glaubst du, mir ist das noch nie passiert? Und eigentlich waren die Neuen im Allgemeinen sehr anregend – neue Methoden, frische Ideen... Sei offener!“

Ich ärgerte mich, dass er mich nicht trösten wollte, und wechselte das Thema.

Michael erzählte bereitwillig, was auf diesem Kongress alles stattfand – heute hatte er selbst einen Vortrag über die Vermarktung von Literaturrechten im Internet gehalten und außerdem vier weitere Vorträge und zwei Podiumsdiskussionen über sich ergehen lassen.

Während des Essens diskutieren wir eifrig über die Frage, ob Fortsetzungsromane im Internet eine Gattung der Zukunft oder der letzte Blödsinn waren und wie weit man solche Romane interaktiv gestalten konnte. Das Essen war ausgezeichnet, wie im Médoc nicht anders zu erwarten, sowohl Michaels Coq au vin als auch mein Pot au légumes mit Edelfischen.

Satt und zufrieden lehnten wir uns danach zurück, verzichteten einmütig auf ein Dessert und tranken uns zu. „Auf deinen Besuch!“

„Und auf etwas anderes“, antwortete Michael und lächelte eigenartig versonnen. „Jedenfalls hoffe ich, dass du mit mir darauf trinkst.“

„Natürlich, wenn du mir bald mal sagst, worauf?“

„Nun... ich werde heiraten. Im Dezember.“

Ich hätte fast mein Glas fallen lassen. Das kam ja plötzlich!

„Ach? Sagst du mir auch, wer die Glückliche ist?“

Er lächelte. „Ob sie die Glückliche ist... ich bin es jedenfalls. Sie heißt Megan, Megan Reilly, und sie arbeitet in einem Verlag in London. Ich habe sie bei einer Tagung kennen gelernt – so ähnlich wie dich. Und es ist ziemlich schnell sehr viel mehr geworden."

„Das klingt sehr schön“, lobte ich etwas mühsam. „Wann habt ihr euch denn kennen gelernt?“

„Mitte Juli. Am sechzehnten genau, nachmittags um vier... Sie wollte mir das letzte Handout streitig machen.“ Er lächelte schon wieder, und ich rechnete hastig nach. Mitte Juli... wir hatten uns Ende Juni zum letzten Mal gesehen – gut. Er war nicht zweigleisig gefahren, das hätte ich dann doch geschmacklos gefunden. Ich hob mein Glas. „Auf euch! Werdet glücklich!“ Dann trank ich einen für meine Verhältnisse ungewohnt großen Schluck. „Hast du ein Foto von ihr?“ Natürlich hatte er – und nicht nur eins. Megan war ungefähr in unserem Alter, um die Dreißig, dunkelblond, und blinzelte immerzu in die Sonne. Aber ein nettes, ziemlich rundes Gesicht. „Hübsch“, lobte ich etwas matt. „Sie sieht sehr sympathisch aus“, fügte ich dann noch lahmer hinzu, aber Michael schien nicht zu merken, dass ich an dieser Nachricht etwas zu kauen hatte.

Er sah mich halb glücklich, halb verlegen an. „Naja, ich denke, es wäre vielleicht nicht so passend...“

„Wenn unser Treffen ausufern würde? Natürlich nicht. Ich wünsche euch alles Glück der Welt! Und wenn du das nächste Mal hierher kommst, bringst du deine Megan einfach mit, ja?“

Er sah mich regelrecht erleichtert an – was hatte er erwartet? Dass ich ihm in aller Öffentlichkeit eine Szene machen würde? Meine Gefühle rauslassen, wie meine Eltern es so liebten? Ganz spontan und locker die eigene Betroffenheit und Verletztheit formulieren? Gott, wie ich alleine schon dieses Vokabular hasste! Meiner Ansicht nach sprach doch einiges für konventionelle Manieren, da belästigte man die Mitmenschen wenigstens nicht mit Gefühlen, mit denen sie gar nichts anfangen konnten.

„Du bist nicht böse?“ Ich lachte. Klang es nur in meinen Ohren etwas gezwungen? „Aber Michael, wir hatten doch nie etwas Ernsteres miteinander vor! Ich freue mich, dass du die Richtige gefunden hast – ehrlich.“

Der Nachsatz war verräterisch, aber das wusste nur jemand mit so ausgiebiger WG-Aussprache-Erfahrung wie ich. Ich hatte zwar immer nur zugehört und auch meistens nicht einmal die Hälfte verstanden, aber das wusste ich: Ein angehängtes ehrlich entwertete die ganze vorausgegangene Aussage.

Michael lachte erleichtert auf. Hatte er mich für einen Zankteufel gehalten? Oder gar für eifersüchtig? Gut, ich fand es schade, einen netten Gelegenheitslover zu verlieren, aber am Boden zerstört war ich auch wieder nicht.

„Du findest sicher auch bald den Richtigen“, versprach er mir unoriginell.

„Würde ich vielleicht, wenn ich suchen würde“, antwortete ich und schenkte mir nach. Er lächelte nachsichtig. „Weißt du, ich hab ja auch immer gedacht, dieses Gewäsch von Liebe und so, davon lebt eine ganze Industrie – wir Verlage nicht zuletzt auch – und in Wahrheit ist es nur Begierde und die Suche nach Bequemlichkeit im Alltag. Aber weißt du was? Es ist wirklich mehr. Das merkst du erst, wenn es dir auch passiert.“

Ich schauderte. Das würde ich zu verhindern wissen – solche Gefühle verwandelten einem nur das Gehirn in Brei, und das konnte ich wirklich nicht brauchen. Trotzdem lächelte ich zustimmend. „Vielleicht hast du Recht.“

Und dann wechselte ich entschlossen das Thema.

Am nächsten Morgen ärgerte ich mich immer noch ein bisschen, aber mehr über mich selbst: Wieso nahm ich das so tragisch? Ein guter Freund blieb er doch – man konnte ja meinen, es wäre irgendwelche Leidenschaft im Spiel gewesen. Nein, mein schönes, wohl geordnetes Leben brachte mir kein Mann durcheinander! Und ich kam durchaus auch längere Zeit ohne Sex aus, so triebgesteuert war ich wirklich nicht. Ehrlich! Äh... Nein, wirklich.

Mit zornigem Schwung rauschte ich in die Tiefgarage und musste feststellen, dass mein Stammplatz neben dem Aufzug besetzt war, von einem ziemlich affigen Schlitten. Nichts gegen einen Jaguar, im Prinzip ein hübsches Wägelchen (von Spritverbrauch, Reparaturanfälligkeit und Diebstahlsrisiko mal abgesehen) – aber doch nicht in Weiß! Ein Jaguar hatte schwarz, dunkelblau oder am besten dunkelgrün zu sein. Weiß... der reinste Nuttenschlitten! Ich parkte in einer Ecke, die normalerweise frei blieb, und fuhr übel gelaunt nach oben in unser Büro.

„Wem gehört denn das weiße Scheusal in der Tiefgarage?“, fragte ich, noch bevor ich die Tür hinter mir geschlossen hatte, und hängte meinen Trenchcoat auf. „Mir, warum?“, ertönte es hinter den Yuccas.

„Sie stehen auf meinem Parkplatz“, erklärte ich mürrisch.

„Die sind reserviert? Ich habe kein Schild gesehen“, war die patzige Antwort.

„Gewohnheitsrecht“, knurrte ich. „Man sollte nie zu sehr an Gewohnheiten hängen. Und was haben Sie gegen Jaguars?“

„Sie fahren einen Jaguar?“, hauchte Sandra. Wieso war die denn überhaupt schon da? So – pünktlich? „Ich hab nichts gegen Jaguars – aber doch nicht in Weiß!“, ereiferte ich mich und ärgerte mich gleich wieder. Musste ich mich mit diesem Schnösel auf eine Debatte einlassen?

„Geschmackssache. Dunkelblaue Autos sind langweilig, finden Sie nicht?“

Sandra kicherte ausgiebig. „Geschmackssache“, gab ich zurück und verzog mich an meinen Schreibtisch, mit dem deutlichen Gefühl, den ersten Satz verloren zu haben.

Blöder Hund.

Die Schmalhans wogte herein, in mindestens zehn verschiedenen Brauntönen und einer üppigen Halskette aus gehämmertem Messing. Siebziger Jahre, Portobello Road, mutmaßte ich. Das Ding schepperte bei jeder Bewegung zum Gotterbarmen. Fehlte bloß noch ein passendes Fußkettchen!

„Schlechte Stimmung?“, fragte sie und sah von Pechstein zu mir. „Ich spüre wieder eine Wolke...“ Ich schnaufte bloß und bemerkte aus dem Augenwinkel, dass Pechstein grinste. Grr!

„Er hat einen Jaguar!“, tuschelte Sandra ihr zu.

„Und? Wenn es auf dieser Erde weniger Autos gäbe, würden die zwischenmenschlichen Schwingungen weniger behindert“, entgegnete die Schmalhans halblaut und schaltete ihren Rechner ein. Ich wunderte mich im Stillen. Notgedrungen hatte ich ja auch einiges esoterische Zeug gelesen, solange meine Eltern meine Lektüre noch ausgewählt hatten – und irgendwie schien mir die Schmalhans doch recht ekklektisch vorzugehen: I Ging, Tarot, Reikki, Auren... alles wild gemixt und mit eigenen Ideen garniert.

Die Jonas hatte schon wieder dieses violette sackartige Ding an und schaute sich beim Eintreten kampflustig um. „Er hat einen Jaguar!“, teilte Sandra ihr sofort mit. „Typisch Mann“, entgegnete die Jonas. „Autos als Phallussymbol. Vielleicht eine Ersatzhandlung... Wie groß ist so ein Jaguar?“

„Ziemlich“, schätzte Sandra. „Lässt ja tief blicken“, kommentierte die Jonas und blätterte lustlos ihre Post durch.

Ich tauchte prustend unter meinen Tisch und warf einen hastigen Blick in die gegenüberliegende Ecke. Na, dem war das Grinsen vergangen!

Kati Hilz kam zu spät, wie meistens: „Sorry, ich...“

„Kenn ich schon“, winkte ich ab, „kauft euch doch mal einen lauten Wecker.“ „Er hat einen Jaguar“, wurde sie ebenfalls in durchdringendem Flüsterton informiert.

„Mit Liegesitzen?“

Damit hatten sich die vier Damen eigentlich umfassend vorgestellt, fand ich und arbeitete weiter, nun eindeutig besserer Laune.

Dass Kati Hilz Sandra irgendwelche Details einer abstrusen Sexposition erzählte, bekam ich am Rande mit, wunderte mich aber schon gar nicht mehr. Pechstein schien aber das Blut ins Gesicht gestiegen zu sein. Kati war auch zu deutlich; also musste ich wohl doch auf eine Gelegenheit warten, sie zu bremsen. „Und dann macht er es von hinten und hält dich an den Ellbogen -“

„Frau Hilz, das ist nichts für zarte Herrenohren. Bremsen Sie sich mal und regeln Sie die Buchungen für den 14. in der Oberpfalz, bitte!“

Sie drehte sich nach Pechstein um, grinste unbeeindruckt und zog sich das Telefon heran. „Das übliche Hotel?“

„Klar, der Laden ist schon in Ordnung.“

Sie grinste schmutzig. „Doppelzimmer?“

„Überstunden gefällig?“, fragte ich zurück. „Zwei Einzel mit Bad und Frühstück, wie immer eben.“

„Aber er fährt doch mit, oder?“, flüsterte sie in meine Richtung.

„Natürlich. Bringen Sie´s ihm nachher schonend bei?“

Jetzt lachte sie offen. „Das dürfen Sie schon selbst machen!“

Er warf dauernd gehetzte Blicke in unsere Richtung, kein Wunder – wir tuschelten und schauten ihn dann boshaft an, was sollte er schon denken!

Ich grinste und machte die Ratgeberpräsentation fertig, dann stellte ich das Material für unsere erste Fahrt zusammen und brachte die Liste persönlich ins Lager. Eigentlich konnte einem der Schnösel nur leidtun, aber dass ich ihn heute Morgen nicht geschafft hatte, fuchste mich doch.

Als ich zurückkam, versuchte Kati Hilz ihn gerade auszufragen, offensichtlich von Sandra angestiftet, denn Kati konnte es doch gleichgültig sein, ob er verheiratet war. Eigentlich konnte es uns allen egal sein, aber Sandra sah sich wohl schon auf dem Beifahrersitz des weißen Jaguar. Irgendwie passte sie da auch hin – nein, doch nicht ganz, es hätte eben doch kein Jaguar sein dürfen. Besser ein weißer Manta, natürlich tiefer gelegt. Wieso war Sandra eigentlich nicht Friseuse geworden? Sie sah aus wie das wandelnde Klischee!

Seine Antwort bekam ich jedenfalls nicht mit, weil ich sofort wieder das Zimmer verließ. Nicht etwa, dass mich diese Frage interessiert – oder demonstrativ nicht interessiert – hätte, aber mir war gerade etwas Wichtiges eingefallen. Ehr- ganz bestimmt!

Nein, ich musste ganz dringend die Chefredakteurin aufsuchen, um mir bei ihr Verstärkung für die Ratgeber-Idee zu holen. Schließlich war sie für die Buchinhalte zuständig! Dr. Benrath hatte eigentlich nur mit den Finanzen zu tun, aber etwas wirr waren die Kompetenzen bei uns schon verteilt.

Erst kurz vor dem Mittagessen kam ich in unser Büro zurück, wo eifrig und schweigend gearbeitet wurde. Sehr verdächtig, aber ich beschloss nicht nachzubohren, sondern mich ebenfalls schweigend der Post zu widmen.

Nichts Wesentliches, aber wir brauchten ein Infoblatt über ein neues Heftchen mit chemischem Grundwissen, das als absolut unverzichtbar hingestellt werden sollte. Ein Exemplar und ein handschriftlicher Zettel voller verlogener Lobeshymnen in falschem Deutsch, von Gummiband umwickelt, lagen in meinem Eingangskorb.

Ich zog meine Tastatur näher und begann, die Lobeshymnen grammatikalisch zu überarbeiten, die gröbsten Übertreibungen herauszustreichen und dafür die Adressaten – Lehrer, dieses Mal – persönlich anzusprechen: Müssen Sie auch immer wieder feststellen, dass Ihre Schüler von Mal zu Mal alle Grundlagen vergessen haben? Reicht die Zeit nie, solches Grundwissen regelmäßig zu wiederholen? Dieses Heft kann Ihnen Arbeit abnehmen...

Lehrer reagierten durchaus positiv auf die Idee, etwas könnte sie entlasten, das hatte ich schon festgestellt. Derart schleimige Anschreiben trieben die Bestellzahlen auf sehr angenehme Weise in die Höhe.

Ich druckte das Schreiben aus, las es Korrektur, besserte die Tippfehler aus, druckte es hundertmal auf unser Verlagspapier, stellte einen Flyer zusammen, auf dem man das Heftlein von außen und innen bewundern konnte – nebst Bestellnummer und Lehrerrabatt - , druckte das ebenfalls aus, legte alles der Jonas auf den Tisch, mit einem Zettel Alle Chemiker und Biologen, plus Bestellkarte, und überlegte dann, wie ich es zukünftig mit der Mittagspause handhaben sollte. Ohne Astrid mochte ich auch nicht in die Salatbar gehen, eine Kantine hatten wir nicht, und Zeug vom Bäcker war nicht gesund und/oder machte nicht nachhaltig satt. In Zukunft sollte ich mir morgens ein Brot schmieren – Vollkorn, Salatblatt, Gurke, magerer Schinken, Quark oder so etwas. Nun, heute konnte ich ja ein bisschen einkaufen gehen, vielleicht entdeckte ich doch noch ein nettes Lokal, vorzugsweise eins, wo man etwas mitnehmen konnte. Ich räumte meinen Schreibtisch auf – die Mädels vergaßen gerne, das Zimmer abzusperren, wenn sie zu Tisch gingen – und wünschte der Allgemeinheit guten Appetit. Nur Sandra antwortete mit „Mahlzeit“, was mich jedes Mal zusammenzucken ließ. Saublödes Wort! Es klang auch so nach Erbseneintopf in der Kantine, dabei ernährten sich Sandra und Kati ohnehin bei McDonald’s, um Jungs zu begucken.

Regine Schmalhans suchte sicher das Erdmutter an der Ecke auf – vegetarisch, vollwertig, und alle Zutaten bei Vollmond gepflückt und unter Pendelkreisen gerührt – oder so ähnlich. Und die Jonas verzog sich wahrscheinlich in die Leseecke der Frauenbuchhandlung, wo es Haferkekse und teinfreien Tee gab. Ich war dort auch schon mal gewesen, aber es hatte mich nicht so recht überzeugt.

Die Schmalhans war der beste Beweis dafür, dass vegetarische Küche nicht zwangsläufig schlank machte. Man konnte ihre Fülle zwar unter den wogenden Schleiern nur ahnen, aber ich schätzte sie auf gut neunzig Kilo bei höchstens einsfünfundsechzig. Allerdings schien sie ihr Format recht zufrieden zu tragen, verbittert wirkte sie jedenfalls nicht, und die Hefte mit Fünf Kilo in drei Tagen, Die Zauberdiät, Diätsensation aus den USA, Neueste Diäterkenntnisse: So klappt´s endlich dauerhaft und ähnlichen Sensationsmeldungen lasen eher Sandra (die nicht dick war, nur etwas schwabbelig, sie trieb offenbar gar keinen Sport) und Kati Hilz, die doch genug Bettgymnastik hatte, wenn man den halblauten detailbesessenen Beschreibungen glauben konnte.

Die Jonas hielt natürlich nie Diät, wieso sollte sie sich den ästhetischen Anforderungen der Männer (sowieso alles Schweine!) unterwerfen? Ihre grundsätzlich freudlose Lebenseinstellung aber schien für eine magere Gestalt zu sorgen. Kein Spaß am Sex, kein Spaß daran, Männer ein bisschen zu ärgern, kein Spaß am Leben (nicht, solange es grundsätzlich so frauenfeindlich war: Das hatte das Leben jetzt davon, ätsch) – also auch kein Spaß am Essen. Ihr einziges Laster war das Rauchen. Von Selbstgedrehten natürlich, und so, wie sie guckte, wenn man sie gegen Ende der Mittagspause vor dem Eingang stehen und ziehen sah, hatte ich das Gefühl, es schmeckte ihr nicht einmal, es gehörte nur zur Rolle, wie die schauerlichen Selbstgestrickten und die Farbe Lila. Ihr Lieblingsbuch war sicher immer noch Der Tod des Märchenprinzen.

Diät hielt ich auch nicht, das hatte ich noch nie gemacht. Einerseits fand ich so etwas auch albern (da hatte die Jonas so Unrecht nicht), andererseits war es nie notwendig, solange ich mich gesund ernährte, nur aß, wenn ich hungrig war, und regelmäßig trainierte, um meine Kondition zu wahren. Am Wochenende sollte ich mal wieder ausgiebig laufen, vielleicht am Sonntag einmal rund um den Prinzenpark... Hinterher fühlte ich mich immer fantastisch.

Ich besaß nicht einmal eine Waage, wie ich ja überhaupt nur ungern Überflüssiges in der Wohnung duldete – keinen Schnickschnack, keinen Zierrat, keinen Sammelkram. Und wozu eine Waage, wenn mir mein Kostüm von der Abifeier heute noch passte? Tragbar war es auch noch, also warum sollte ich es entsorgen?

Ich bummelte in der Mittagspause durch die kleine Zollinger Fußgängerzone. In der Altstadt gab es bessere Geschäfte, aber ich war zu faul, mir dort für eine lumpige halbe Stunde einen Parkplatz zu suchen. Außerdem wollte ich nur gucken, nichts kaufen, und das konnte ich hier genauso. Zwei Computerläden, eine Buchhandlung, ein verdammt teurer italienischer Feinkostladen, ein Obststand, eine etwas spießige Boutique (braunkarierte Faltenröcke im Fenster, Filzhüte und Blazer mit Wappen darauf), ein Restposten-Schuhladen (die Restposten sahen nach Lederimitat aus), Erdmutter, ziemlich leer trotz der Mittagszeit, eine Schickimicki-Coffeebar, auch ziemlich leer (im Moment brachten die sparsamen Ex-Yuppies ihren Kaffee lieber in der Thermoskanne mit), eine Bäckerei, ein Schreibwarenladen mit Lotto-Annahmestelle, ein Weinhändler. Nein, hier gab ich bestimmt nicht viel Geld aus!

Ich kaufte mir beim Bäcker eine Zehnkornsemmel und aß sie langsam und lustlos, während ich zum Verlag zurückbummelte. Die Semmel war trocken und schmeckte, als sei sie von gestern. Dafür hatte sie nur neununddreißig Cent gekostet, aber eine Perspektive für die Zukunft war das nicht.

Und oben in unserem Büro saß nur dieser doofe Pechstein! Ich nickte ihm zu, sah auf die Uhr – nein, die Mädels waren noch nicht zu spät – und verzog mich hinter meinen Schreibtisch.

Er sah wirklich völlig unecht aus, als hätte er sich einer Schönheitsoperation unterzogen oder sei extra für einen Modeljob geklont worden. Und schon wieder im korrekten Anzug, heute in grauem Flanell mit passender Krawatte in Grau und Dunkelrot.

Also war er nicht farbenblind, aber wenn das sein einziger Pluspunkt war... ich erinnerte mich an den weißen Jaguar: unmöglich! Elegante, schmale Nase... die war garantiert kein Geschenk der Natur, und die hohen Backenknochen wohl auch nicht. Iih, eine Kerbe im Kinn, wie Cary Grant! Ekelhaft.

Die Mädels kamen pünktlich, erstaunlich pünktlich sogar, und winkten Pechstein vergnügt zu. Ich wurde ignoriert, aber Pechstein winkte zurück. Ach was, hatte er sich schon einen Fanclub geschaffen? Weil er so schöön war? Oder weil er nicht dauernd fragte, wie weit die Damen mit ihrer Arbeit waren? Das konnte ja noch heiter werden... Mein Rechner piepste – eine E-Mail. Ich rief sie auf, so viel hatte ich im Moment auch nicht zu tun.

Von Pechstein – Verzeihung, Doktor Pechstein. Keine Anrede, nur: Mit welcher Werbeagentur arbeitet ANDERS zusammen?

So unhöflich konnte ich auch sein!

Winkler & Partner, Floriansgasse , schrieb ich zurück – keine Anrede, keine Unterschrift. Wozu auch, die Absenderadresse war ja wohl zu erkennen.

Es piepste wieder. Ansprechpartner?

H. König oder F. Zierer . Und weg.

Er nickte mir quer durch den Raum kühl zu, ich nickte zurück. Die Schmalhans trug den Korb mit der Chemie-Werbepost zur Poststelle. Sandra schlug unter dem Schreibtisch eine Zeitschrift auf und glaubte, ich könnte das nicht sehen.

„Was sind Sie für ein Sternzeichen, Herr Doktor Pechstein?“, flötete sie dann in Richtung Yuccapalmen. „Was? Äh... Löwe, glaube ich. Warum?“

„Im Oktober bestrahlt Merkur Sie sehr günstig. Gute Geschäftsabschlüsse sind zu erwarten. Auch Venus lacht Ihnen, möglicherweise treffen Sie die große Liebe.“, las sie vor. Obwohl sie sich zu ihm umgedreht hatte, konnte ich förmlich sehen, wie sie mit den dick getuschten Wimpern klimperte.

„Unglaubwürdig“, kommentierte Pechstein gelassen und wandte sich wieder seinem Rechner zu.

„Frau Schröder, was sind Sie?“

Ihre Chefin, die genau merkt, dass Sie mal wieder nichts arbeiten , lag mir auf der Zunge. „Was?“ Schließlich war ich ja hoch beschäftigt und hatte das Gespräch nicht im Mindesten verfolgt!

„Welches Sternzeichen sind Sie?“

Ich sah sie stirnrunzelnd an. „Glauben Sie so einen Quatsch?“

Sandra kicherte. „Ist doch egal. Wenn es gut ist, glaube ich es, wenn nicht, dann nicht.“

„Meinetwegen, wenn es Ihnen Spaß macht... Löwe, denke ich.“

„Sie auch?“

„Wieso auch? Sandra, haben Sie eigentlich nichts zu tun? Hier stapelt sich die interne Post. Auf, auf!“

„Wollen Sie Ihr Horoskop denn nicht hören?“

„Nicht unbedingt.“ Ich warf ihr einen strengen Blick zu und wandte mich wieder meiner Arbeit zu. Sandra erhob sich seufzend, sammelte ein, was in den diversen Ausgangskörben lag, sah es flüchtig durch und verließ das Zimmer, ganz die beleidigte Leberwurst.

„Beide Löwe?“, fragte die Schmalhans. Himmel noch mal, war das denn so spannend? „Wieso beide? Ich weiß meinen Aszendenten nicht. Ich bräuchte übrigens eine Liste aller Kunden mit Geographie, sortiert nach Zweitfächern, Frau Jonas – schaffen Sie das?“

Die Jonas ging an die Arbeit, aber die Schmalhans ließ nicht locker. „Wenn Sie die Uhrzeit Ihrer Geburt wissen, kann ich Ihnen sagen, welchen Aszendenten Sie haben. Natürlich muss es MEZ sein, und Sommerzeit muss man einrechnen... Nein, aber ich meinte etwas anderes – Dr. Pechstein ist auch Löwe.“

„Wie fesselnd“, kommentierte ich matt. „Nein, ich weiß die Uhrzeit nicht, ich bin nicht in Mitteleuropa geboren und ich habe wirklich keine Lust, die Zeit umzurechnen.“

„Nicht in Mitteleuropa?“ Das schien nun die Hilz zu fesseln, nachdem die Schmalhans endlich mundtot war. „Wo denn dann?“

„San Francisco“, antwortete ich kurz. „Schick“, hauchte die Hilz (was hätte Sandra erst gesagt?). „Ich bin bloß hier geboren. Nicht so toll.“

„Das ist doch egal. San Francisco ist voller Leute, die dort geboren sind und das auch nicht so überraschend finden.“ Die waren wirklich billig zu amüsieren! „Herr Dr. Pechstein, wo sind Sie geboren?“

Er wirkte leicht entnervt. „In München. Mit Wladiwostok oder etwas ähnlich Schickem kann ich leider nicht dienen.“

Oh, er hatte zugehört? „Wo ist Wladiwostok?“, fragte die Hilz ratlos.

„Sibirische Pazifikküste“, antwortete ich, hoffend, dass das nicht unpräzise war. Dieses Ekel würde mich sonst bloß genüsslich verbessern!

Nein, er sagte nichts, er lächelte nur unfroh.

„Und das ist schick?“, fragte die Hilz zweifelnd weiter.

Ich haute auf den Tisch. „Können wir jetzt weiter arbeiten, ohne etwas so Irrelevantes wie Geburtsorte zu vergleichen? Frau Hilz, würden Sie die Terminliste um die üblichen Daten ergänzen? Frau Schmalhans, gibt es Online-Anfragen?“ Schweigen stellte sich ein – endlich. Geschwätzige Bande. Nichts gegen Geplauder, wenn es Niveau hatte... Oder wenigstens interessanter Tratsch war. Aber dieser Esoterikmist – nein, danke!

Die Hilz kritzelte auf der Terminliste herum und war offenkundig eingeschnappt, die Jonas war ohnehin beschäftigt, und die Schmalhans dachte sicher wieder über die schlechte Aura des Büros nach. Noch in diesem Monat würde sie mich wieder mal beiseite nehmen und mich ernst mahnen, dass ich auf mein Bauchgefühl und mein Ying und Yang – oder wie das hieß – hören müsste. Dazu sagte sie jedes Mal Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als eure Schulweisheit sich träumen lässt, aber Shakespeare wertete diesen Mist auch nicht auf, fand ich. Dass ich jedes Mal gelangweilt jaja sagte, war eigentlich höflich genug – oder?

Nein, die Schmalhans starrte herum. Wahrscheinlich überlegte sie, wie man das Büro so umbauen konnte, dass irgendwelche Schwingungen (war das dann Feng Shui? Was es in meiner Kindheit noch nicht gegeben hatte, kannte ich auch nicht) besser abfließen konnten – oder was auch immer. Ich sah sie streng an, aber die Schmalhans ließ sich davon wenig beeindrucken – weltlicher Ehrgeiz hätte sicher ihre Chakras