Seltsame Vorfälle - Elisa Scheer - E-Book

Seltsame Vorfälle E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Eigentlich führt Stella Mutén, Projektmanagerin im Städtischen Museum, ein friedliches Leben. Dass etwas weiter oben in der gleichen Straße eine Galerie überfallen wird, bekommt sie zunächst überhaupt nicht mit – und dann lernt sie einen recht sympathischen jungen Mann kennen. Nicht gerade der Mann fürs Leben, denkt sie, aber man kann mit ihm nett essen gehen (vor allem in den Kaiserpalast) und sich auch einigermaßen gut mit ihm unterhalten. Die anschließenden Spaziergänge in der nebligen Altstadt sind zunächst auch vergnüglich – aber warum beginnt dieser Schilling, ihr Wahrnehmungsstörungen einreden zu wollen? Stella fängt an sich zu ärgern, möchte aber herausbekommen, was der Kerl damit wohl bezweckt, also bricht sie den Kontakt vorerst nicht ab. Währenddessen fragt sich die Kripo, was der Überfall bezweckte – die Bilder waren so unüberzeugend, dass sie bestimmt unverkäuflich sind, was im Übrigen auch die Umgebung des jungen Malers, mit Ausnahme seiner vernarrten Mutter, vergnügt bestätigt. Der Galerist liegt verletzt im Krankenhaus. Und dann gibt es weitere Anschläge auf den Galeristen und ein junger Mann wird bei einem vorgetäuschten Unfall getötet. Hatte er Kontakt zu den Räubern? War er vielleicht einer von ihnen? Was war die eigentliche Absicht hinter dem rätselhaften Überfall? Und was haben die albernen Streiche, die Stella Mutén gespielt werden, damit zu tun? Dieser Aspekt interessiert besonders Ben Hollerbach; er und das übrige Team um Max Korka und Katrin Kramer stehen also nicht nur vor einem Rätsel…

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Seitenzahl: 335

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Imprint

Seltsame Vorfälle. Kriminalroman

Elisa Scheer

Published by: epubli GmbH, Berlin.

www.epubli.deCopyright: © 2021 R. John 85540 Haar

Cover: privat

1

Der Flyer für die Eröffnung der nächsten Ausstellung („Malerei plus“ – Gemälde, die in Installationen integriert werden sollten) war fertig, sie hatte ihn fünfmal Korrektur gelesen, ihre Kollegin zweimal, es konnte absolut kein Fehler mehr drin sein!

„Hunger!“, seufzte sie, sobald das Ding an die Druckabteilung gemailt war, „Ich mach jetzt Mittag, okay, Biggi?“

„Klar doch. Hau schon ab, Stella, es ist eh schon fast zwei Uhr. Kein Mensch mehr auf der Straße – und die Mittagskarte gilt wahrscheinlich auch nicht mehr.“

„Ich geh ins Art Café, die sehen das nicht so eng. Da krieg ich schon noch was.“

Das tat Stella auch; sie schlenderte die Avenariusgasse entlang, die Galerien auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit flüchtigen Blicken streifend – später mal, vielleicht… Schräg vor einer der Galerien stand ein eher schmuddeliger Sprinter. Warum waren die eigentlich immer so hässlich und gar so ungewaschen? Gerade wenn einer Kunst anlieferte oder abholte, sollte er doch etwas angemessener daherkommen. Ein Maler – gut, der durfte schon zerzaust auftreten – aber die Lieferanten doch nicht?

Ach, egal – ihr Magen knurrte!

Das Art Café war wenigstens halb leer, soweit hatte Biggi – die wie immer um halb eins zu Tisch gegangen war – recht gehabt. So konnte Stella sich einen netten Fenstertisch sichern und sich grünen Tee und die Fischtasche bestellen, die der absolute Bestseller des Art Café war.

Sie warf einen Blick nach draußen, wo, wie nicht anders zu erwarten, rein gar nichts los war. Offenbar war das hier das tote Ende der Avenariusgasse. Die spannenden Läden waren woanders – und die Leisenberger schienen sich auch nicht übermäßig für Kunst zu interessieren.

Der Tee kam; sie tauchte den Teebeutel noch ein paarmal unter und fischte ihn dann aus dem Becher, bevor sie einen vorsichtigen Schluck nahm.

Heiß.

So eine Überraschung!

Im Café sah sie niemanden, den sie kannte, draußen war nichts los – nur gut, dass sie das tun konnte, was fast alle hier beim Essen taten, nämlich durch ihr Handy scrollen – Whatsapp, Nachrichten, SMS, verpasste Anrufe? Sie fand nichts Interessantes und sah auf, als sich die Bedienung mit der Fischtasche näherte. Hmm! Knuspriger Blätterteig, darin Lachs und etwas Goldbarsch in kleinen Stückchen, umhüllt von einer Creme aus Kräuterfrischkäse und etwas anderem, das sie noch nie hatte identifizieren können.

Sie schnitt sorgfältig ein Eckchen ab und genoss den wunderbaren Geschmack. Ja, und die Hitze. Schließlich hatte sie den ersten Bissen schluckfähig gemacht und ihn verspeist; sie seufzte glücklich auf, öffnete die Teighülle ganz und machte sich an das nächste Häppchen, dermaßen von Fischdampf umwabert, dass sogar die Fensterscheibe neben ihr beschlug.

Sie liebte Fisch! Obendrein war er auch noch gesund… vielleicht war das ein Erbe ihres Vaters, die Liebe zur skandinavischen Kost?

Nachher sollte sie endlich mal die ganzen erledigten Projekte richtig zusammenheften und in die entsprechenden Ordner packen, dann wäre der Schreibtisch auch wieder leer, schließlich hatte sie ja schon mindestens drei neue Veranstaltungen in der Pipeline…

Die Hülle war wirklich herrlich knusprig und allmählich verzog sich der Dampf so weit, dass die Fensterscheibe einigermaßen klar war. Nur war leider draußen immer noch gar nichts zu sehen… der langweilige Abschnitt der Avenariusgasse eben, Richtung Schule und Markt, aber kam ja erst nach einer leichten Kurve.

Und heute Abend würde sie mindestens eine Maschine voll waschen, endlich mal Sabine anrufen - ja, und Mama am besten auch! Und vielleicht diesen komischen Film um zehn…

So etwas sollte sie sich eigentlich aufschreiben, dann vergaß sie es vielleicht weniger schnell. Aber ihren Kalender hatte sie gar nicht mitgenommen – egal, sie hatte doch ihr Handy, samt einer To do-App! Endlich mal ausprobieren…

Faszinierend! Da gab es verschiedene Farben für Prioritäten A, B und C – und ein Feld für die Deadline! Sie trug alles ein, was ihr gerade so einfallen wollte, und betrachtete dann verzaubert ihre neue Taskliste.

Draußen sprang ein Wagen an und röhrte dann davon. „Neuer Auspuff“, empfahl Stella, ohne aufzusehen, und probierte aus, was geschah, wenn man das Häkchen für „erledigt“ setzte: Klasse, die Aufgabe wurde blassgrau, blieb aber sichtbar. Da konnte man sich daran aufgeilen, wieviel man geschafft hatte! Hastig aß sie die Fischtasche auf und winkte der Bedienung.

Draußen war die Straße genauso leer wie zuvor; nur bei einer Galerie stand die Ladentür offen. Wohl stickig drinnen…

Zurück ins Museum!

Dort kam sie ganz gut voran und konnte tatsächlich zwei ihrer Teilprojekte ins Hellgraue drehen. Zwischendurch rannten mal wieder etliche Kolleg*innen durch die Gänge wie nicht gescheit. Entweder gab es irgendein tolles neues Gerücht oder jemand hatte Kuchen ausgepackt.

Oder es war unten in den Ausstellungssälen etwas vorgefallen? Eher unwahrscheinlich.

Sie arbeitete friedlich weiter, bis ihr doch mulmig wurde und sie auf die Suche nach den anderen ging. Sie fand alle vor den Fenstern, die nach Norden zeigten.

„Gibt´s da was zu sehen?“

Anja drehte sich um. „Hast du vorhin die Sirenen nicht gehört?“

„Nö, Tür war zu. Und: Ist ein Krankenwagen vorbeigefahren?“

„Du bist ja wieder voll cool unterwegs! Ne, Polizei, in Massen.“

„Aha. Und was war los? Kann man das von hier aus überhaupt sehen?“

Stella fand diese Frage durchaus berechtigt, denn die Nordfenster ließen zwar den Blick auf die Avenariusgasse zu, aber nur bis zu der Stelle, wo ganz früher mal ein Tor gestanden hatte. Deshalb machte die Gasse da wieder einen Schlenker – und was dahinter lag, konnte man nicht mehr sehen. Das Art Café eben – und das langweilige Ende der Gasse, bevor sie zur Carolinenstraße wurde.

„Was war denn nun los?“, insistierte Stella nicht ganz ohne Gemeinheit.

„Weiß ich nicht“, grummelte Biggi. „Blöde Straße, kann die nicht geradeaus laufen?“

Anja und Nico hatten auch keine Ahnung, also kehrte Stella achselzuckend wieder in ihr Büro zurück, räumte ihre Unterlagen ordentlich auf und packte ein abgeschlossenes Projekt in den Schrank, wo sie diese verschnürten Mappen, sauber labelliert, aufzubewahren pflegte. Ein Blick auf die Uhr – zehn nach fünf. Um halb sechs schloss das Museum. Sie erledigte noch einigen Kleinkram, entwarf einen weiteren Flyer und surfte kurz durch die Seiten der Konkurrenz. Aha, Ludwigskron plante etwas zu Großstadtdarstellungen? Stella dachte sofort an Edward Hopper, Camille Pissarro und Maurice Utrillo. Da sollte sie hingehen, wenn es so weit war!

Sie dachte an das Museum der Stadt Wien… sollte das Städtische Museum sich nicht auch einmal eine – kleine? – Ausstellung zur Stadtgeschichte leisten? Mit Herzog Roderich, Herzog Leopold, der Prinzessin Eleonore, dem Verlauf der Stadtmauer, Stadterweiterungen… bis hin zum Konzept von Birkenried?

Sie machte sich einige flüchtige Notizen in ihr „Schatzbuch“, notierte auch, dass sie sich die Stadt-Ausstellung in Ludwigskron ansehen wollte, wenn es so weit war (das war schließlich nahezu berufliche Pflicht, nicht wahr?) und sah wieder auf die Uhr: halb sechs, sie konnte gehen. Ab ins gemütliche Mönchberg, ab aufs Sofa. Oder doch ein bisschen laufen? Zum Drogeriemarkt musste sie auch noch: Fuggerplatz oder Assisiplatz? Der in der Altstadt war größer – aber nein, da war´s immer so voll – und der Bus nach Mönchberg hielt gleich hier vor dem Museum. Wahrscheinlich eher wegen des Marien-Gymnasiums gleich nebenan, aber das Museum profitierte eben auch davon.

Sie verließ das Museum und trat durch den Torbogen nach draußen; der Wächter schloss das Gittertor hin ihr und sie stolperte fast gegen einen jungen Mann, der sie kurz festhielt und dann einen Schritt zurücktrat.

„Alles in Ordnung?“

„Ja, klar. Es war nur so plötzlich…“

„Ich wollte ins Museum, aber…?“

„Richtig.“ Sie deutete auf die Messingtafel. „Wir schließen um halb sechs. Sie sind leider zu spät dran. Versuchen Sie es doch morgen noch einmal! Schönen Abend noch!“

Sie eilte an ihm vorbei, denn da kam schon der Bus um die Ecke.

2

Im Bus spielte sie weiter mit ihrem Handy. Bisschen Nachrichten gucken. In Stockdorf – wo war das denn, hier in der Gegend doch wohl nicht? – hatte sich jemand an dieser komischen neuen chinesischen Krankheit angesteckt, bei wem, wusste man noch nicht. Total exotisch…

Sie sah misstrauisch aus dem Fenster – nein, nur noch zwei Stationen, dann würde sie Stockdorf eben später googeln…

Komische Krankheit – war das so etwas wie eine Grippe? Aber dass man da gleich ins Krankenhaus musste? Sollte sie sich vielleicht doch mal gegen Grippe impfen lassen? Bei Gelegenheit würde sie mal Dr. Höchle fragen, die konnte ihr da sicher einen guten Rat geben.

Sie sauste einmal durch den Drogeriemarkt, schleifte ihre Beute nach Hause, schlüpfte in bequemere Hosen und ihre Laufschuhe und machte sich auf zum See, da waren die Wege wenigstens fein gekiest, das war besser für die Gelenke. Noch spürte sie die zwar nicht, aber mit bald fünfunddreißig sollte man das nahende Alter wohl doch langsam einkalkulieren…

Das hatte sie Biggi mal erzählt und die hatte gestaunt: „Gehst du nächstes Jahr in Rente? Stella, du bist dreiunddreißig! Und ausschauen tust du wie Mitte zwanzig!“

Das mochte ja stimmen, aber wenn sie noch einige Jahre wie Mitte zwanzig aussehen wollte, musste sie eben aufpassen! Auch wenn Biggi glaubte, sie habe sich von diesen Werbespots der Kosmetikindustrie einwickeln lassen, von wegen Ab fünfundzwanzig altert die Haut. Ja, vielleicht. Jetzt war es halt so.

Jedenfalls machte es den Kopf wunderbar frei, wenn man so gemütlich am See entlang vor sich hin joggte. Und wenn man dabei ein paar Stunden jünger wurde – warum nicht?

Schwimmen gehen sollte sie auch mal wieder… und wenn das Frühjahr kam, wieder Fahrradtouren unternehmen, durch die Dörfer außerhalb von Leisenberg, da gab es nämlich wirklich reizvolle Winkel.

Ach, es gab so viel, was man unternehmen konnte! Im Juni vielleicht mal wieder nach Wien? Oder Berlin? Nein, Berlin mochte sie eigentlich nicht, obwohl es da auch interessante Ecken gab. Wien war einfach souveräner und selbstironischer.

Arm, aber sexy fand sie blöd, denn Berlin mochte zwar arm sein, aber die allgemeine Unfähigkeit, die sie den Nachrichten entnehmen zu können glaubte, war doch nicht sexy? Peinlich traf es dann wohl eher. Berlin. Arm, aber peinlich. Nicht übel… Sie grinste vor sich hin und näherte sich wieder dem Benediktsweg.

Wieso denn aber? Wo war da der Gegensatz? Berlin. Arm und peinlich – das war´s! Sollte sie denen mal schicken. Mit Hinweisen auf den BER, das LaGeSo und so weiter. Mehr fiel ihr gerade auch nicht ein. Aber arm war noch keine Sünde, peinlich vielleicht schon. Ach, egal.

Leise vor sich hin glucksend trabte sie vor sich hin.

„So gut gelaunt?“

Ach, Wolfi. Der wohnte im Nachbarhaus und wollte sich offensichtlich auch gerade zum Laufen schleppen. Sah aber nicht so aus, als mache ihm das Spaß.

„Klar. Arbeit geschafft, gelaufen, frische Luft getankt – Sonne nicht so direkt“, sie blinzelte schräg nach oben. „Und mir ist ein neuer Slogan für Berlin eingefallen.“

„Machst du jetzt Werbung? Ich dachte, du bist in einem Museum?“

„Bin ich auch. Und Werbung ist es auch nicht direkt. Wie findest du Berlin. Arm und peinlich?“

Wolfi grinste. „Du denkst an diesen Endlosflughafen? Stimmt schon. Aber ich frage mich ja auch, ob danicht ein gewisser Bundesminister schuld ist. Du weißt schon, der, der alles verbockt, was er anpackt.“

„Der mit der anderen Rechtsauffassung? Hübsche Idee. Dann lauf mal schön, ich werde jetzt meine Bude auf Hochglanz bringen.“

„Und danach?“ Das klang regelrecht betrübt.

„Ach, ich hab da noch einen ziemlich spannenden Krimi. Und zwei Freundinnen muss ich auch noch anrufen…“ Sie winkte Abschied nehmend und trabte davon, immer langsamer werdend.

Vor der Haustür dehnte sie sich noch ein wenig und trabte dann die Treppen hinauf. Kaum schnaufend schloss sie im zweiten Stock ihre Türe auf und verharrte einen Moment voller Selbstzufriedenheit: Fit war sie, ohne Zweifel.

Fit und gesund und gescheit und gut in ihrem Job – was sollte sie sich mehr wünschen? Mama würde sicher sagen: Einen Mann!

Aber wozu? Das bisschen Sex war es doch nicht wert, sich sein Leben durcheinanderbringen zu lassen – und Männer brachten einem das Leben durcheinander, das hatte sie bei allen ihren Freundinnen gesehen. Die hatten es auch alle zugegeben und verträumt gekichert: „Aber er ist so süß dabei!“ – „Aber mein Leben ist jetzt auch viel aufregender!“ – „Da merkt man erst, wie sehr man vorher in Routine erstarrt war!“

Herzlichen Dank, sie mochte ihre Routine – und wenn das eines Tages nicht mehr so war, konnte sie sie ja wohl selbst ändern! Dann stimmte wenigstens die Richtung.

Ihre Wohnung gefiel ihr immer wieder – und das nicht nur, weil sie schon abbezahlt war. Ein großes Zimmer, ein kleines Zimmer, ein Bad, ein Kämmerchen. Sechsundfünfzig perfekt genutzte Quadratmeter. Weiße Wände, weiß lasierter Holzboden, blassblaue Küchenzeile im großen Zimmer, dazu eine Chillout-Ecke und eine Arbeitsecke, die bei Besuch auch als Essplatz nutzbar war. Alles in Weiß, Gelb und Blau. Ihre Freundinnen fanden, es sehe aus wie im IKEA-Katalog, obwohl sie merkwürdigerweise gar nichts von IKEA hatte. Das Kämmerchen gefiel ihr fast am allerbesten, denn dort hatte sie einen ebenfalls blassbauen Schrank einbauen lassen (von der Küchenfirma), in dem neben all ihren Klamotten, die sie sorgfältig ausgewählt hatte, auch Putzmittel, Haushaltsvorräte und alles andere verräumt war, was Stella nicht offen herumstehen lassen wollte. Praktisch alles also.

Klare Linien… schön!

Und jetzt hatte sie Hunger und zwar nicht auf etwas Gesundes, Nachhaltiges und Korrektes! Sie würde sich etwas Fertiges machen – und bis das warm war, konnte sie Staub wischen und den Roboter einmal durchsaugen lassen.

Andererseits hatte sie ja mittags schon die Fischtasche, aber Fisch und diese Sauce aus Kräuterkäse, das war doch auf jeden Fall proteinreich? Und wenn sie jetzt diese Gemüsemischung mit ein paar Nudeln in die Auflaufform… und etwas Käse darüber? Das war ja wieder Protein? Egal, sie hatte da jetzt Lust drauf. Und sie war ordentlich gelaufen! Ihr Tracker meldete vierzehntausend Schritte, da könnte sie sogar Buttercremetorte esse, wenn sie so etwas herunterbrächte. Igitt.

Also kippte sie alles, was sie sich überlegt hatte, in die Auflaufform, streute geriebenen Gouda darüber und schaltete den Ofen ein. Staubwedel, Roboter, Geschirr verräumen, den Müll wegbringen (viel war´s nicht, darauf achtete sie schon), zwei Bücher zurück ins Regal, eine DVD zuklappen…

Morgen konnte sie diese Ideen einmal ausarbeiten und wenigstens ein Projekt oben vorlegen…  Ach herrje, einkaufen sollte sie vielleicht auch noch. Nein, morgen genügte!

Und wo war jetzt Stockdorf? Sie surfte und schnupperte ab und zu, ob der Auflauf schon zu duften begann. Ach, in der Nähe von München… nicht so arg in der Nähe.

o

Der nächste Vormittag verlief auch ganz nach Plan – und die Museumsschefin, Pia von Feldenhain, zeigte sich von der Idee, eine Abteilung zur Stadtgeschichte einzurichten, durchaus angetan.

Also sammelte sie Ideen, angefangen von dem Raum, den man nutzen konnte, über mögliche Ereignisse, passende Gemälde, Pläne und Karten, mögliche Infotexte zu den Ereignissen. Ob man dafür jemanden von der Uni gewinnen konnte? Sie stöberte durch die Homepage der UL und stieß schließlich auf den Namen Josephine von Collnhausen, den sie auch sofort vermerkte. Für heute reichte das wohl… Sie gab das Exposé in Pias Vorzimmer ab und durchquerte auf dem Rückweg die Eingangshalle: wenig Betrieb, auch von dem enttäuschten Besucher von gestern war nichts zu sehen – na, vermutlich musste der um diese Zeit arbeiten. Oder er studierte noch und saß irgendwo auf dem verwinkelten Gelände der UL in einer Vorlesung oder einem Seminarraum… ach, das konnte ihr doch auch wirklich egal sein!

Immerhin gab es auf dem Tischchen neben dem Tresen nicht nur Postkarten und Flyer für die Ausstellungen, sondern auch einen hübschen kleinen Stapel MorgenExpress und HOT!. Also, auf HOT! sollte man allmählich verzichten, das Käseblatt war so peinlich wie die BILD-Zeitung.

Stella nahm sich einen MorgenExpress mit in ihr Büro; nachdem sie schon so fleißig gewesen war – es war kaum Viertel nach neun! – konnte sie jetzt ja wohl die erste Morgenbreze essen und dazu die Zeitung überfliegen, den Kulturteil auf jeden Fall. Na, Klatsch und Tratsch vielleicht auch noch.

Es ging so, was das Interessante betraf. In diesem Stockdorf waren noch zwei Leute an der chinesischen Grippe erkrankt und ins Schwabinger Krankenhaus eingeliefert worden. Wuchs sich das zu einer Seuche aus? In der art&book - Buchhandlung hatte jemand mehrere teure Bildbände geklaut, in der Avenariusgasse war eine Galerie überfallen worden, drei Ladendiebe hatten sich im Kaufhaus Damberger am Markt umgetan, die Galerie der Moderne wollte eine Banksy-Ausstellung machen. Ui, kam der vorbei und malte ihnen seine Werke an die Wand? Sie sollte sich den Termin auf jeden Fall notieren!

Die Breze war verspeist, sie legte die Tüte mit dem zweiten Exemplar in das Regal neben sich und überlegte. Irgendetwas hallte noch in ihr nach… Damberger? Quatsch, da war sie schon ewig nicht mehr gewesen. Avenariusgasse? Stimmt, da hatte sie ja gestern erst gegessen. Aber welche Galerie? Und wann? Stand mal wieder nicht da… bei HOT! stand es ganz bestimmt, aber für das dämliche reißerische Blatt gab sie doch keinen Cent aus. Und außerdem war ihr die Sache doch auch egal. Als sie ihre Fischtasche genossen hatte, war in der Avenariusgasse aber schon sowas von tote Hose gewesen…

Sie legte die Zeitung beiseite und konzentrierte sich auf ihre Mails, auf die Briefpost und alle Memos mit dem Betreff Kannst du bitte mal…, die auf ihren Tisch geflattert waren. Bis das alles erledigt war, war es wieder einmal Mittag durch - ok, essen gehen? Ach, die zweite Breze genügte ja wohl!

Sie blätterte ein wenig durch den Rest der Zeitung, bevor sie sie achselzuckend ins Altpapier warf und sich wieder einmal vornahm, Nachrichten lieber auf mex-online zu lesen, damit kein Baum für diesen Quatsch sterben musste.

Dann eben auf zum Meeting!

Dort ging es leider fast nur um Themen, die sie selbst gar nicht betrafen, was ihr Zeit ließ, über diesen so ungenau beschriebenen Überfall nachzudenken. Ja, und über die Frage, was sie nachher einkaufen musste und ob sie sich später mit Sabine und Paulie irgendwo treffen wollte. Als die Wogen wegen der neuen Klimaanlagen im großen Saal für die Wechselausstellungen besonders hoch gingen, schaffte sie es sogar, unbemerkt eine kurze Nachricht in der passenden Whatsapp-Gruppe unterzubringen.

Nicht ganz unbemerkt; Anja sah zu ihr herüber und grinste wissend, bevor sie die Augen rollte.

Schließlich sah Stella wieder fromm drein, ganz gespannte Aufmerksamkeit, fing dann aber doch Pias Blick ein und sah kurz auf die Uhr. Pia nickte leicht, räusperte sich und bat die drei Streiter*innen, doch bitte bis zum nächsten Mal alle Argumente für die eine und die andere Variante in einer Kosten-Nutzen-Rechnung zusammenzustellen, damit es eine Diskussionsgrundlage gebe. Biggi, die schon verzweifelt dreingesehen hatte, versprach, dies anstatt des recht giftigen Streits ins Protokoll aufzunehmen, und wirkte eindeutig erleichtert.

Noch einige Kleinigkeiten unter „Sonstiges“ und Gequengel von Anita und Roland, die sich – wie meistens – benachteiligt fühlten, dann war die Sitzung vorbei; Biggi tippte noch schnell die Uhrzeit, 17:14, und schickte ihr Protokoll an alle Teilnehmer*innen, dann erhoben sich alle erleichtert und verteilten sich auf ihre Büros, um noch so lange zusammenzupacken, bis die Ausstellungsräume geschlossen waren. Vorher zu gehen galt als unfein, es sei denn, man hatte Außentermine.

Stella grinste vor sich hin, während sie ihren Schreibtisch aufräumte, noch kurz in ihr Postfach schaute – nichts Neues, dem Himmel sei Dank – und den Rechner herunterfuhr.

An diesem Abend zumindest wollte niemand außerhalb der Öffnungszeiten ins Museum; sie besorgte alles, was sie sich während des langweiligen Meetings überlegt hatte (und noch einige weniger nötige Dinge, über die sie sich hinterher prompt ärgerte), und stellte fest, dass Paulie und Sabine ab sieben im Salads sitzen und ihr einen Platz freihalten würden. Perfekt!

3

Ben und Maggie hatten das Krankenzimmer zwar betreten dürfen, vorschriftsmäßig verhüllt, aber eigentlich hatte das nicht den geringsten Nutzen: Das Opfer lag still da, mit diversen Schläuchen und Zugängen versehen, die Augen geschlossen und lediglich die Geräusche erzeugend, die die Überwachungsapparate von sich gaben. Wenn sie das enervierende Piepen richtig deutete, dachte Maggie, war die Atmung gleichmäßig. Immerhin.

„Das bringt nichts“, meinte Ben schließlich, „versuchen wir es morgen nochmal, vielleicht ist er bis dahin wieder wach. Armer Kerl.“

Maggie gab ein zustimmendes Geräusch von sich und wandte sich zur Tür. Die Schwester auf dem Gang lächelte ihnen mitfühlend zu und nahm die Einmal-Schutzanzüge entgegen. „Ganz schön viel Müll, gell?“, bemerkte Maggie.

„Mei, perfekt keimfrei reinigen ist wohl mindestens genauso aufwendig…“ Die Schwester seufzte ob des ökologischen Dilemmas.

„Verdammt“, schimpfte Ben im Aufzug nach unten, „wer macht sowas? Haut einen armen alten Herrn um, nur für einige lumpige Bilder? Hast du den Flyer in der Galerie gesehen? Die waren doch scheußlich? Und diese Assistentin oder was immer sie war, hat ja auch gemeint, sie haben seit der Eröffnung-“

„Vernissage.“

„Besserwisserin. Seit der Vernissage also noch kein einziges dieser Machwerke verkauft. Elf solche Bilder…“

„Zwischen Elftausend und null. Dafür kriminell werden? Hast schon recht, Ben.“

Er brummte. „Hoffentlich wird der Inhaber wieder! So unnötig, das Ganze – oder glaubst du, er hat sich todesmutig vor dieses Geschmier geworfen?“

„Also, wir beide haben ja vielleicht nicht den tollsten Kunstverstand, aber das kann ich mir auch nicht vorstellen. Vielleicht aber geht es auch gar nicht um das Gepinsel?“

„Worum denn dann?“

„Vielleicht hat eins der Bilder etwas Besonderes. Einen Microchip unter der Farbe oder ein Erpresserfoto. Oder – ja, bei Agatha Christie war mal unter irgendwelchem Mist ein Rembrandt versteckt.“

„Der Wachsblumenstrauß“, ich weiß. Das ist aber schon ein bisschen – naja, wenigstens arg umständlich. Warum das Bild dann nicht kaufen? Den Schotter hätte man doch bestimmt noch runterhandeln können! Dann den Microchip an die Chinesen oder wen auch immer verscherbeln und man kann das Konto locker wieder ausgleichen. Und Konkurrenz beim Kaufen gab´s ja ganz offensichtlich gar keine.“

Maggie brummte – wieder nix mit ganz großem Kino…

Im Präsidium betrachteten sie das noch recht leere Whiteboard: Galerie Enkofer – Martin Schmidt-Enkofer (65) – Gemälde von Nick Asmannsperger (11 Stück), noch nichts verkauft. Keine Zeugen. Ärgerlich.

Zwei weitere Galerien flankierten Enkofer, aber bis jetzt wollte da niemand etwas gesehen haben.

Gegenüber gab es diverse Büros und in den Erdgeschossen Läden: eine Boutique (geschlossen), ein Café (um die Zeit schwach besucht), ein Steuerbüro (lange Mittagspause) und noch ein Café, das vor allem einen Wintergarten nach hinten raus benutzte: „Vorne ist der Blick so langweilig!“

Maggie hatte sich den Wintergarten angesehen - der war wirklich hübsch gemacht und schaute in einen bepflanzten Innenhof.

Und die Straße war wirklich langweilig. Sie war ja nicht einmal zugeparkt! Kein spannender Laden, die lagen nämlich alle am anderen Ende der Straße, näher beim Markt, den man von hier aus auch noch nicht sehen konnte.

Aber den Krawall hätte doch wohl jemand hören müssen? So etwas lief doch nicht ohne Geräusche ab?

Sie seufzte ungeduldig und schickte „Schalldämpfer?“ an die Tafel. Ben sah auf, als es piepste. „Nö. Niedergeschlagen. Schädel-Hirn-Trauma. Hast du vorhin nicht zugehört?““

„Irgendein Auto, das man dort noch nie gesehen hat, wäre schön“, murrte Max, der sich mit einer Brezentüte an seinem Tisch niedergelassen hatte. Maggie stand auf und nahm sich eine Breze. „Danke. Frustfutter. Hast du irgendwas rausgefunden??“

Max schüttelte den Kopf. „Die beiden Cafés hatten nicht mal Brezen. Das eine ist so auf nordländisch gepimpt, viel Fisch und so, das andere mit dem Wintergarten hat mehr Schokotorten für ältere Damen. Die konnten nichts hören und der Fischladen hat wohl eher gegen zwölf Hochbetrieb. Wann war der Überfall genau gleich wieder?“

„Kurz vor halb drei.“

„Und der Laden war echt ganz leer? Haben dann nicht mal die gelangweilten Bedienungen aus dem Fenster geschaut?“, wollte Maggie wissen.

„Paar Leute waren schon drin, aber keiner wusste die Namen, und die haben bloß gegessen und dabei mit ihren Smartphones gespielt.“

„Was sonst“, brummte Ben. „Früher haben die Leute sich auch mal umgeschaut.“

„Früher konnten sie aber die Polizei nicht informieren, weil in der nächsten Telefonzelle der Hörer abgerissen war. Filmen konnten sie auch nichts“, gab Maggie zu bedenken.

„Telefonzelle? Was ist das?“, piepste Max und warf Ben eine Breze zu.

„Schluss mit der Nostalgie“, verlangte Ben. „Ist ja wie Opa erzählt vom Krieg!“

Max trat ans Whiteboard. „Dann sollten wir mal überlegen, was wir als nächstes machen. Die Nachbargalerien haben wir noch nicht gründlich – wer möchte?“

Liz meldete sich.

„Und dieses Fischcafé? Welche Kunden genau? Ob denen irgendetwas aufgefallen ist, vielleicht nur Autos in der Nähe, vorzugsweise mit Kennzeichen?“

Ben seufzte und hob die Hand.

Max nickte. „Dann schau ich mal ins Städtische Museum, vielleicht hat da irgendwer was gesehen… um vier wieder hier, gut?“

o

Heute war ihr kurzer Nachmittag, freute Stella sich schon um drei – um vier konnte sie gehen. War nett gewesen gestern mit Paulie und Sabine, auch wenn sich Paulie wieder mit ihren komischen Eltern herumärgern musste.

Sie arbeitete weiter an dem Projekt zur Stadtgeschichte und sah leicht belästigt auf, als ein freundlicher junger Mann durch die angelehnte Tür schaute und dazu vorsichtig klopfte.

„Ja, bitte? Die Ausstellungsräume sind im Erdgeschoss, hier ist nur die Verwaltung. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“

Der junge Mann zückte einen Ausweis. „Korka, Kripo Leisenberg. Haben Sie mitbekommen, dass vorgestern hier in der Straße eine Galerie überfallen wurde?“

„Mehr indirekt. Ich hab´s gestern in der Zeitung gelesen. Gesehen habe ich, fürchte ich, gar nichts. Welche Galerie war es denn?“

„Enkofer?“

„Huch. Der arme alte Herr, er ist recht nett, liegt aber geschmacklich meist weit daneben, vor allem in letzter Zeit. Hat man wirklich Gemälde geklaut? Verkaufbare Gemälde?“

Max grinste kurz. Nicht unzutreffend, was diese Frau sagte!

„Würden Sie mir zunächst Ihren Namen sagen?“

„Stella Mutén. Ich bin hier als Projektmanagerin tätig.“

„Aha. Schwedin?“

„Nicht schlecht geraten. Schwedischer Vater, ansonsten Leisenberger Urgewächs.“

 „Nun, ob der oder die Täter viel Freude an ihrer Beute haben werden, sei mal dahingestellt. Sie haben also gar nichts bemerkt? So gegen halb drei am Nachmittag?“

„Wo war ich da – ach, noch beim Mittagessen. Art Café. Das ist tatsächlich schräg gegenüber der Galerie Enkofer. Ist dem armen alten Herrn dabei etwas zugestoßen?“

Max nickte ernst. „Er liegt im Krankenhaus und ist noch nicht ansprechbar. Diese Täter waren recht brutal – und das für diese Gemälde!“

Frau Mutén blätterte rasch durch ein Häuflein Prospekte und zog etwas heraus. „Da ist es ja – nein! Asmannsperger? Du lieber Himmel, der arme Enkofer, hat er davon überhaupt irgendetwas verkauft?“

„Rote Punkte gab es keine, wenn Ihnen das weiterhilft. Sie haben im Café nicht zufällig aus Langeweile aus dem Fenster geschaut?“

„Nein, eigentlich nicht. Ich habe eine sehr leckere Blätterteigtasche mit Fischfüllung verspeist und daneben durch mein Smartphone gescrollt. Draußen stand ein schmutziger Sprinter, das weiß ich noch, aber das Kennzeichen konnte ich von der Seite nicht sehen, vermutlich aber Leisenberg. Der Wagen hat auf jeden Fall recht alt ausgesehen, aber vielleicht war er auch nur ungepflegt. Rostspuren, glaube ich.“

„Wissen Sie noch, in welche Richtung er gestanden ist?“

„Hui! Moment…“ Sie stellte sich seitlich vor ihr Fenster und schaute betont beiläufig aus dem Fenster, dann nickte sie und zeigte über ihre Schulter nach hinten. „In die Richtung. Ich hab Richtung Markt geschaut, dann muss er mit der Schnauze mehr zur Carolinenstraße gestanden haben.“

„Immerhin – das ist mehr, als andere Zeugen zusammengebracht haben. Die Farbe oder gar die Marke können Sie mir nicht nennen?“

„Auf jeden Fall dunkel, damit sehen die ja immer besonders schäbig aus, gell? Aber die Marke – nein. Wissen Sie, wenn ich aufgepasst hätte, aber ich hab ja nichts geahnt und den Ausblick aus dem Fenster eher langweilig gefunden. Außerdem war das Fenster auch beschlagen, weil meine Fischtasche so gedampft hat. Kann man den Enkofer wohl besuchen?“

„Im Moment noch nicht. Wir müssen ihn auch gut bewachen, denn vielleicht hat er etwas gesehen – und wenn den Tätern das klar wird, versuchen sie vielleicht: nun ja.“

„Ich verstehe schon. Vielleicht schreib ich ihm ein Kärtchen…“

„Da wird er sich freuen, wenn er wieder wach ist“, nickte Max und verabschiedete sich.

Viel war’s nicht, stellte er auf dem Rückweg fest, aber besser als nichts. Wirklich alle anderen waren vergleichsweise blind und taub gewesen.

o

Ben hatte sich im Art Café umgesehen – jetzt war es recht gut besucht, Kunststück, zur Mittagszeit! Die Karte war interessant und er bestellte sich einen Burger mit Kabeljau in Kräutercreme, dazu Wedges und Gurkensticks.

Schmeckte hervorragend, den Laden sollte er sich merken! Langsam und genüsslich arbeitete er sich durch den Burger und stellte hinterher fest, dass er jetzt zwar satt, aber keinesfalls vollgestopft und müde war. Vielleicht sollten sie den Brezenverzehr doch etwas einschränken? Gesund waren die in dieser Menge bestimmt nicht und müde machten sie auch…

Der Laden begann sich allmählich etwas zu leeren, wahrscheinlich mussten die Leute langsam an ihre Schreibtische zurück. Als die Bedienung mit der Rechnung kam, konnte er sie fragen, ohne den Betrieb unnötig aufzuhalten.

Ja, sie konnte sich dunkel an eine große Blonde erinnern, die am Fenster gesessen und die Fischtasche gegessen habe. Aus dem Fenster geschaut? Hm, eher wohl nicht, die hatte mit ihrem Handy gespielt und draußen war ja auch nie etwas los, nicht wahr? Dann stutzte sie und entschuldigte sich: „Also, außer vorgestern, aber das konnten wir ja nicht wissen, oder? Sonst ist hier voll die tote Hose. Die Leute, die am Fenster sitzen, freuen sich, weil es da heller ist, zum Lesen zum Beispiel, aber rausschauen…? Ich habe ja auch nichts bemerkt – hätte man da eigentlich nicht wenigstens etwas hören müssen? Geschrei oder so?“

„Da war also auch nichts?“, fragte Ben.

„Nichts, kein Geschrei, kein Gehupe, keine aufgeregten Passanten… ich meine, Leute gehen draußen schon mal vorbei, die, die in die Carolinenstraße wollen oder weiter zur Uni, gell?“

„Verstehe, da ist offenbar niemandem etwas aufgefallen. So ein Mist aber auch.“

„Der leiseste Überfall aller Zeiten?“

„Ja“, seufzte Ben und bezahlte. „Und Ihre Kollegen wissen auch nicht mehr?“

Sie schüttelte den Kopf. „Die haben sich ihre Kollegen heute Morgen doch schon vorgenommen, bloß ich hatte vormittags frei. Tut mir ehrlich leid.“

Im Präsidium traf Ben auf Max, der zumindest einige Details zu bieten hatte, und Maggie, die sofort diese Aspekte in die Tafel gefügt hatte und außerdem zu berichten wusste, dass Enkofer Feinde hatte.

„Woher weißt du das?“

„Internet. Aber diese Feinde sind eher höhnisch unterwegs. Früher muss er ein tolles Händchen für Geheimtipps gehabt haben und die anderen hatten sich offenbar daran gewöhnt, einfach zu schauen, wen er fördert, und den dann abzuwerben. Und dann hat er, also in letzter Zeit, merkwürdige Leute präsentiert.“

„Und jetzt müssen sich die anderen auch mal selbst anstrengen und sind deshalb sauer?“

„Ja, zum einen und zum anderen verachten sie ihn jetzt, weil er solche Fehlgriffe tut. Gibt´s auf Twitter, ich hab´s rauskopiert und gespeichert. Hoffentlich ist Enkofer da gar nicht unterwegs, dann muss er sich auch nicht ärgern.“

„Ganz interessant, Maggie, aber ist das ein Motiv für einen Überfall?“, fragte Max.

Ben wiegte den Kopf. „Vielleicht wollte ihm jemand eins aufbrennen lassen – und der Raub ist einfach Tarnung? Dann kann er bei einer Befragung sagen Glauben Sie ernsthaft, ich lasse solchen Schrott stehlen? Und wir finden das dann noch ganz einleuchtend…“

„Na, jetzt nicht mehr“, feixte Maggie.

„Die Frage ergibt sich also, ob ein Feind selbst aktiv wurde oder den Überfall – mit oder ohne Vortäuschung der Raubabsicht – in Auftrag gegeben hat“, resümierte Max. „Aber ist die Tatsache, dass Enkofer früher mal ein besseres Näschen hatte als die anderen, wirklich ein Motiv?“

Maggie seufzte. „Ganz schön ums Eck gedacht, gell? Ein Depp (oder zwei), der denkt, so ein Kunsthändler hat bestimmt viel Geld und Kunst ist immer wertvoll – das wäre eine deutlich einfachere Annahme. Auch wenn das an Die dümmsten Verbrecher Deutschlands erinnert.“

Ben gluckste. „Es gibt ja auch die Leutchen, die ohne Maske fröhlich in die Überwachungskamera grinsen. Und dann ehrlich verblüfft sind, wenn wir sie finden. Übrigens ist das Essen in diesem Art Café sehr, sehr lecker. Sollten wir mal für Mittagspausen ins Auge fassen.“

„Mehr hast du dort nicht rausgekriegt?“

„Nein. Wenig Gäste, alle am Spielen mit dem Handy. Genau wie vorgestern. Die Bedienung hat sich nur gewundert, dass auch gar nichts zu hören war.“

„Ganz toll“, fand Max. „Im Museum ist keinem irgendetwas aufgefallen. Nur eine Projektmanagerin war so spät in der Mittagspause im Art Café und die hat wirklich am Fenster gesessen, irgendwas mit Fisch gegessen und mit ihrem Smartphone herumgemacht. Rausgeschaut hat sie praktisch nie, aber ein ältlicher Sprinter ist vor der Galerie gestanden. Und sie kennt den Enkofer.“

„Verdächtig?“, überlegte Maggie.

„Weniger“, antwortete Max. „Dass eine Frau aus dem Museum den Inhaber einer Galerie kennt, finde ich jetzt nicht so ungewöhnlich. Aber wir können eine Kachel für sie anlegen. Sie heißt Mutén, Stella Mutén.“

„Schwedisch?“

„Der Vater. Hat sie wenigstens erklärt.“

4

Stella suchte eine Kollegin und durchquerte zu diesem Zweck, ordentlich mit angeheftetem Namensschildchen in den Farben des Museums, die Ausstellungsräume im Erdgeschoss.

„Oh, hallo!“, hörte sie da eine freundliche Stimme und sah sich leicht irritiert um. Ein junger Mann grinste sie lausbubenhaft an und sie runzelte die Stirn: Sollte sie den etwa kennen?

„Ich wollte doch vor einigen Tagen hier rein und war zu spät dran – Sie haben mir das erklärt, erinnern Sie sich?“

„Ach so – ja, flüchtig. Und heute haben Sie die Gelegenheit genutzt?“

„Ja, genau!“ Warum schaute der so treuherzig? Wie ein Teenager, dabei war der bestimmt – naja Anfang dreißig?

„Nun, dann hoffe ich, dass Ihnen die Ausstellung gefällt, Herr-“

„Schilling. Kay Schilling, Frau“ – er linste auf ihr Namensschildchen. „Frau Mutén. Ist das französisch?“

„Nein, schwedisch.“ Ihm zu erklären, dass ein accent aigu und ein Nasal (wegen des en) nicht an der gleichen Stelle auftauchen konnten, war sie zu faul.

„Da gibt´s Akzente? Wusste ich gar nicht! Aber ich kann auch leider kein Wort Schwedisch.“

Sie lächelte etwas mühsam. „Das können hier die wenigsten. Also, viel Vergnügen noch. Ich suche hier eine Kollegin…“

Er vollführte eine graziöse Handbewegung, als wollte er ihr den Weg freimachen, und sie eilte weiter. Im Nachbarsaal fand sie endlich Biggi, die einem der Aufseher etwas erklärte, und zog sich mit ihr in eine Nische zurück, um ein Projekt zu klären, das mit dem Louvre zu tun hatte.

Als sie zurückkam und das Treppenhaus ansteuerte, war dieser Schilling nicht mehr zu sehen – schade oder glücklicherweise?

Ganz hübscher Kerl, aber was sollte ihr das? Bisher hatte sie mit Männern nicht allzu viel Glück gehabt – die einen hatten offenbar bei Schwedinnen merkwürdige Vorstellungen von besonderer Freizügigkeit im Kopf, die anderen fanden, Frau plus Kunst sei Weiberkram und folglich nicht weiter ernstzunehmen, und wieder andere hatten vielfältige Macken aufzuweisen gehabt. Oder lag es an ihr, wenn sie immer heilfroh war, sobald eine Beziehung wieder eingeschlafen war?

Schwer zu sagen - und im Moment auch nicht das dringendste Problem.

Gut, Biggi würde an dieser Louvre-Sache mitarbeiten; was das Thema sein sollte, würden die in Paris entscheiden, sie sollte aber wenigstens schon einmal anfragen.

Also schrieb sie an Claire Demésnil, mit der sie schon einmal eine Ausstellung organisiert hatte, und las ihren Brief dann zufrieden durch – bis auf einen Akzent kein Rechtschreibfehler, auch nicht, wenn man bei Überprüfen als Prüfsprache Französisch anklickte.

Gut so.

Und wo war jetzt ihr Handy?

Sie hatte es mit nach unten genommen, um Biggi etwas darauf zu zeigen… aber sie hatte es doch auf keinen Fall aus der Hand gelegt? Doch nicht in einem Ausstellungsraum, da sähe sie es ja nie wieder…

Verflixt! Sie drehte sich mehrmals um die eigene Achse, dann setzte sie sich. Okay, sie war zurückgekommen, das Handy in der Hand – oder? Nein, mit einer Hand konnte man die Tür schlecht aufschließen, weil man die Tür am Knauf zu sich herziehen musste… hatte sie es draußen…? Nein, wo denn, auf dem Gang stand nichts Geeignetes.

Sie wollte die Hände in die Blazertaschen schieben und stutzte – keine Taschen! Das war ja zum Irrewerden!

Ach, Blödsinn, sie hatte den Blazer ausgezogen und an den Haken hinter der Tür gehängt. Und in der Tasche – na bitte! Ihr Handy.

Da dachte sie schon, Alzheimer habe angeklopft – mit dreiunddreißig? Das gab´s wahrscheinlich gar nicht! Frühvergreist oder wie? Beruhigt kehrte sie wieder an ihren Schreibtisch zurück und sammelte Ideen für ihre Projekte; dazwischen sortierte sie einiges, das bereits erledigt war, in den Ordner ABGESCHLOSSEN und sah sich danach befriedigt um: Schon wieder besser!

Und natürlich hatte sie keine geistigen Aussetzer, weshalb denn auch?

Abends auf dem Parkplatz hatte ihr jemand irgendwelche angeschmuddelten Pizzaflyer unter den Scheibenwischer geklemmt; sie entfernte sie leise schimpfend und stellte fest, dass Biggi, die ebenfalls ein rotes Auto fuhr, auch mit diversem Altpapier kämpfte.

„Hasst da einer rote Autos oder glaubt er, wir hätten diesen Kram zu Unrecht im Papierkorb versenkt?“, rief sie zu ihr hinüber.

Biggi zuckte die Achseln und schlug vor: „Spaßvogel?“

„Ja, wahnsinnig lustig. So ein Idiot…“

„Und dann noch Pizza! Wenn es wenigstens Chinafutter gewesen wäre!“ Einträchtig warfen sie das schmuddelige Papier in den Papierkorb, grinsten sich dann unfroh an und stiegen in ihre Autos.

Blöder Tag, überlegte Stella zu Hause, erst die Sache mit dem Handy, wo sie schon fast an sich gezweifelt hatte – und dann dieser Müll an ihrem Auto? Sie versuchte, sich die Erfolge dieses Tages vor Augen zu halten, aber das nützte gar nichts, sie ärgerte sich ja doch.

Sie reagierte sich mit Putzen ab, aber da ihre Wohnung nicht gerade groß war, war sie danach auch nicht wohlig erschöpft – nur so halb zufrieden. Außerdem hatte sie erst vor wenigen Tagen geputzt, man sah also ohnehin kaum einen Unterschied.

Es gab eben doofe Menschen – und was das Handy betraf, hatte sie einfach vergessen, dass sie ihre Jacke schon weggehängt hatte!

Lieber lümmelte sie sich aufs Sofa und dachte an die seltsame Geschichte, von der Paulie erzählt hatte: Eine ihrer Kolleginnen glaubte, von einem Stalker verfolgt zu werden, aber niemand hatte jemals etwas Entsprechendes beobachtet. Und die Botschaften, die an ihrem Wagen zu klemmen pflegten, konnte sie, so tuschelten manche, genauso gut selbst verfasst haben.

Paulie gehörte so halbwegs auch zu diesen bösen Stimmen, denn diese Kollegin schien dazu zu neigen, sich interessant machen zu wollen.

„Wahrscheinlich hat man das zurzeit – einen Stalker“, hatte Paulie dann gefeixt. „Sozusagen das must have der Saison.“

„Das ist gemein“, hatte die sanfte Sabine gemahnt, „vielleicht ist es ja auch etwas Psychisches?“

Das fand Stella eigentlich auch nicht viel besser. Wer sich von einem Stalker verfolgt fühlte, war also entweder eine Angeberin oder nicht ganz dicht? Stalker gab es doch, auch wenn Paulie behauptete, vor allem in schlechten Filmen.

Dem war eine längere Diskussion gefolgt, warum man eigentlich immer sofort sagte „in schlechten Filmen“: Konnte ein solches Thema nicht auch in einem anspruchsvollen und gelungenen Film umgesetzt werden?

Bis sie damit durch waren, hatten sie alle aufgegessen, lehnten satt und zufrieden in ihren Stühlen und hatten keine Lust mehr auf Tiefschürfendes, also beschränkten sie sich auf ihrePläne für Ostern, auf die Frage, was an den Gerüchten von einer neuen Grippeart in einem Kaff bei München und irgendwo im Rheinland dran sein konnte und natürlich: Warum diese komischen Grippearten mit den schwer merkbaren Namen alle aus China stammten – oder angeblich stammen sollten.

Die Frage, ob es Rassismus war, alles den Chinesen in die Schuhe schieben zu wollen, konnten sie dann nicht mehr abschließend klären, denn dafür war ihr Inneres doch zu sehr mit der Verdauung und zu wenig mit Nachdenken beschäftigt.

Ja, es war ein netter Abend gewesen, fand Stella abschließend. So, und jetzt würde sie sich etwas ebenso Nettes zu essen machen!

5

Zwei Tage später saß sie gerade an einem zu überarbeitenden Info-Blatt zur Wanderausstellung „Installationen zur Medienkritik“, die bald wieder bei ihnen ankommen sollte, als die Tür aufging und der Bote ihr ein Päckchen brachte.

„Hier. Riecht aber ein bisschen seltsam, finde ich.“

„Ach ja?“ Sie nahm es entgegen und stellte es auf das alte Infoblatt. „Von wem ist das denn? Metzgerei Bartl? Kenn ich nicht…“

Sie hob das Päckchen wieder hoch.

„Ihh!“ Das Infoblatt wies jetzt blassrote Flecken auf, die sehr unerfreulich rochen. War das womöglich – Blut?

Sie schluckte krampfhaft und kramte das Kärtchen von diesem Korka heraus – obwohl der für solche blöden Scherze wahrscheinlich gar nicht zuständig war – und nahm den Hörer ab. Jemand anderes ging dran, sie verstand in ihrer Aufregung den Namen nicht. Immerhin konnte sie das Paket und seine unappetitlichen Folgen für ihre Unterlagen beschreiben, ohne verwirrt zu wirken – und der Beamte versprach, sofort vorbeizuschauen.