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In der Bibliothek des Instituts für Mittelalterliche Geschichte verschwinden seit Monaten einigermaßen wertvolle Bücher und Handschriftenfragmente aus einem allerdings schlecht gesicherten Glasschrank, wie die Mitarbeiterin Elli Eversbach feststellt. Als eine besonders nette und begabte Studentin tot zwischen den Regalen aufgefunden wird, versucht die Kripo , einen Zusammenhang herzustellen - und dann gibt es eine zweite Leiche und schließlich noch einen Anschlag auf eine dritte Person. Gehört das alles wirklich zum selben Fall? Das Team um Joe Schönberger rätselt zusammen mit den Kunstermittlern um Flo Daxenberger, tatkräftig von Elli unterstützt. Diese ärgert sich zeitgleich mit ihren Geschwistern herum, die kein anderes Thema zu kennen scheinen als Ellis verfehltes Leben (keine Kinder, keine schicken Autos, nicht mal ein Pferd!). Kann es auch zwischen diesem Genörgel und dem Fall einen Zusammenhang geben? Als Täter und Verlauf feststehen, werden schließlich alle Zusammenhänge klar und Elli hat eine neue, interessante Perspektive - privat wie beruflich.
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Seitenzahl: 465
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Imprint
Lücken im Regal. Kriminalroman
Elisa Scheer
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de Copyright: © 2018 Elisa Scheer/R. John (85540 Haar)
www.elisa-scheer.de
ISBN 978-3-746748-63-4
Es war weg. Eindeutig. Nicht verstellt, nicht versteckt, nicht nach hinten gerutscht - weg. Aus dem Glasschrank geklaut: Sybels Geschichte des Ersten Kreuzzugs von 1841 mit den wunderbar kitschigen Illustrationen im Stil des Historismus. Natürlich war es für Forschungszwecke mittlerweile unbrauchbar, weil der nationalstolze Ton einem furchtbar auf die Nerven gehen konnte und weil die Interpretation der Quellen heutigen Forschern die Haare zu Berge stehen ließ, aber es war ein wertvolles Stück und selbst Primärliteratur zum Thema Rezeption des Mittelalters im 19. Jahrhundert. Genau deshalb hatte sie es ja aus dem Schrank nehmen wollen!
Und um sich noch einmal das Gemälde des drittklassigen Historienmalers anzusehen, das Gottfried von Bouillon bei der Krönung zum König von Jerusalem zeigte. Schön wie ein Popstar – da konnte man stramm auf die Vierzig zugehen und immer noch schmachten! Leider sah der Gute auf zeitgenössischen Abbildungen nicht halb so attraktiv aus…
Verdammt, hier gab es doch keine schwarzen Löcher! Sicher, das Historische Seminar war in einem schäbigen Altbau untergebracht, aber die Bibliothek des Mittelalterlichen Seminars war tadellos in Schuss, mit einem perfekten Online-Katalog und übersichtlichen Regalen. Und außer den wissenschaftlichen Mitarbeitern und den „Knechten“, wie man die Hilfskräfte üblicherweise nannte, hatte auch keiner einen Schlüssel zu dem Glasschrank, in dem die „Prunkstücke“ des Instituts verwahrt wurden.
Sie linste um das Regal neben dem Schrank. An den paar Arbeitsplätzen vor dem – leider mittlerweile einteiligen – Bogenfenster saßen die üblichen Leute: Teubner, der Streber, der wahrscheinlich abends eine Isomatte zwischen den Regalen ausrollte, und das putzige Pärchen Anja und Olli, zwei Knechte – oder besser Knecht und Magd. Sabine Jehlen, die für ein Fünftsemester schon richtig staubig wirkte, und zwei ratlose Anfänger, die sie nur flüchtig kannte und die verschiedene Bände der Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe um sich aufgestapelt hatten, in denen sie aber nichts zu finden schienen. Alle ganz unbescholten – und keiner hatte den dicken braunen Lederband vor sich liegen. Taschen hatte ja niemand mit hereingebracht, das war schließlich strengstens verboten.
Wer, zum Teufel?
Wenn es das erste Mal gewesen wäre, gut... Nein, nicht gut, um den Band war es wirklich schade. Aber seit etlichen Monaten verschwanden hier Bücher. Nicht die, die man für eine normale Seminararbeit brauchen konnte, sondern die Prachtbände, die historischen Erstausgaben, sogar schon zwei Handschriften – keine wirklichen Glanzstücke, eher Fragmente, aber für ein so kleines Seminar doch beträchtliche Werte.
Dass Mahlmann auch nicht bereit gewesen war, die wertvollsten Stücke als Dauerleihgabe an die Unibibliothek zu geben! Die hatten richtig abschließbare Vitrinen und Schränke und sogar einen - wenn auch dürftigen - Wachdienst. Nein, der alte Sturkopf hatte nur gesagt: „Die gehören uns und bleiben hier, basta. Da passiert schon nichts, Frau Eversbach.“
Das hatte er jetzt davon, jetzt war wieder etwas weg.
Sie müsste es Mahlmann sofort melden, aber der war natürlich schon ins Wochenende verschwunden, obwohl es erst Donnerstagmittag war. Kunststück, wenn man in Garmisch wohnte!
Mahlmann war überhaupt ein alter Faulpelz, ärgerte sie sich. Eine Vorlesung am Dienstagnachmittag, eine am Mittwochmorgen, zwei Seminare, eins am Mittwochnachmittag und eins am Donnerstagmorgen, dazwischen eine einzige Sprechstunde – und dann Wochenende von Donnerstagmittag bis Dienstagmittag. Nicht übel, und das für ein C 4-Gehalt! Man könnte die Kapazitäten der Unis leicht vergrößern, dachte sie sich wieder einmal, wenn man das Deputat der Professoren um zwei bis vier Stunden heraufsetzte und Veranstaltungen am Samstag zuließ. Ohne Extrakosten, aber davon wollten die alten Besitzstandswahrer natürlich nichts wissen.
Von Effizienz hatten die sicher noch nie was gehört!
Sie beschränkte sich darauf, Mahlmann den Verlust per Mail mitzuteilen, um ihm wenigstens das Wochenende zu verderben, und steckte ihr Smartphone danach notdürftig befriedigt wieder ein.
Teubner sah von der Aufsatzsammlung auf, aus der er gerade exzerpierte, und lächelte sie abwesend an. Ganz netter Kerl, dieser Assistent. Schrieb an seiner Habilitation – was war es gleich wieder? Irgendetwas mit den Ottonen… Sie dachte noch darüber nach, als die Bibliothekstür aufflog.
Gereizt drehte sie sich um – der schon wieder! Rücksichtsloser Hund, dieser blöde Kerl von den Germanisten. Fächerübergreifende Forschung hatte eindeutig ihre Nachteile, wenn der jetzt das Chaos aus dem Germanistischen Seminar hier auch einführen wollte. Gut, er hatte keine Hand frei, mit dem Stapel aus Büchern, Mappen und einem Laptop, den er mühsam balancierte, den Kugelschreiber zwischen den Zähnen – aber trotzdem.
Sie nahm ihm den Laptop ab, bevor er noch auf dem Linoleum zerschellte. „Es gibt da so Läden, da geben Sie dem Verkäufer etwas Geld und dafür gibt er Ihnen eine Tasche“, schlug sie leise vor und erntete einen missmutigen Blick, als er den Kugelschreiber auf den Tisch spuckte.
„Ja, und dann heißt es wieder, keine Taschen in der Bibliothek. Das kenne ich noch von meinem eigenen Studium. Danke, dass Sie das Notebook gerettet haben, aber gute Ratschläge brauche ich nicht.“
Blöder Stoffel. Und außerdem hatte er so laut gesprochen, dass alle mit offenem Mund gelauscht hatten – außer Teubner und der Jehlen, die sich nie ablenken ließ. Hatten die Germanisten eigentlich alle so schlechte Manieren? Sie versuchte, sich an ihre eigene Studienzeit zu erinnern, aber außer einem enervierenden Massenbetrieb war ihr nicht viel im Gedächtnis geblieben.
„Könnten Sie etwas leiser sprechen? Das ist hier immerhin eine Bibliothek!“
Er sah sich aufreizend gründlich um. „Stimmt!“, flüsterte er dann theatralisch, „Danke, dass Sie mich darauf hingewiesen haben!“
Es juckte sie im Handgelenk, aber sie bezähmte sich, holte sich einige Aufsatzsammlungen aus dem Regal und setzte sich – glücklicherweise schön weit von diesem unsäglichen Wülfert entfernt – wieder an den Tisch der Aufsicht.
Leider war die Frage, wer hier die Kostbarkeiten des Instituts klaute – und was um Himmels Willen er damit machte, die Dinger waren doch gestempelt! – viel interessanter als die Frage, auf welchen Quellen die eigenartige Mittelalterauffassung der Romantik beruhte. Genau genommen war auch das ein fächerübergreifendes Thema, aber sie würde den Teufel tun und das dieser Nervensäge Wülfert vorschlagen – schlimm genug, dass er sich hier mit seiner Germanistikgeschichte breit machte!
Das tat er allerdings aus gutem Grund, denn bei den Germanisten redete keiner mit ihm. Wer sich habilitierte, indem er die Verstrickungen der Leisenberger Germanisten in die NS-„Kultur“politik darlegte und entschlüsselte, wurde schnell als Nestbeschmutzer abgetan, was sie nun auch wieder nicht verstehen konnte – nach siebzig Jahren sollte man doch allmählich Distanz gewonnen haben? Außerdem war das Buch glänzend geschrieben, man sollte nicht glauben, dass der Verfasser ein derart zerzauster und unmanierlicher Kerl war.
Sie arbeitete weiter, nicht ohne immer wieder misstrauische Blicke in alle Richtungen zu werfen. Leider konnte sie sich auf die Vorstellungen der Romantiker nur sehr unzureichend konzentrieren, weil ihr dauernd anderes durch den Kopf ging: Konnte man den Glasschrank nicht doch mit einem soliden Vorhängeschloss sichern? Aber wer sollte den Schlüssel bekommen?
Warum wechselte die Jehlen jetzt plötzlich den Platz? Fühlte sie sich von Wülfert oder Teubner womöglich gestört? Nein, sie packte ein Netzteil aus – aha, der Laptop-Akku gab den Geist auf und dort drüben befand sich eine Steckdose. Kein Grund zur Panik.
Teubner las aufmerksam einen Aufsatz, Wülfert hämmerte auf seinen Laptop mit einer Wut ein, die dem Gerät auf die Dauer nicht gut tun konnte. Ob er wieder irgendwelche Peinlichkeiten bei den Germanisten – oder dieses Mal bei den Historikern – aufdeckte?
Sie verstand wirklich nicht, warum man sich über so etwas aufregen konnte: Die Zeiten, als die Wissenschaftler den Nazis in den Arsch gekrochen waren – zumeist wohl ohne selbst den Stuss zu glauben, den sie zeitgemäß verzapften – waren nun ein gutes Menschenleben lang vorbei. Es konnte sich also nicht mehr um die gleichen Persönlichkeiten handeln und andere Bevölkerungsgruppen und Institutionen hatten doch auch keine Schwierigkeiten damit, sich von vergangenen Sünden zu distanzieren? Warum dann die Germanisten nicht, bei denen es wirklich peinliche Entgleisungen gegeben hatte? So etwas konnte man doch nicht unter den Teppich kehren, schließlich konnte es ja lehrreich für die Zukunft sein? Es sah immerhin zurzeit nicht so aus, als sei das Zeitalter der Diktaturen endgültig vorbei!
Wollte sie nicht eigentlich an ihrem eigenen Artikel für diese dämliche Festschrift arbeiten? Apropos – sie zog ihr Smartphone heraus und rief die Instituts-Whatsapp-Gruppe auf, um die übrigen Schnarchnasen zum gefühlt hundertsten Mal an den Abgabetermin zu erinnern. Außer Josie Collnhausen hatte nämlich bis jetzt niemand geliefert.
Gegenüber brummte prompt ein Handy und Elli duckte sich – jetzt hatte sie Teubner aufgescheucht!
Ach, warum auch nicht? Der kleine Streber konnte sich ja nun nicht nur auf seine Habilschrift konzentrieren, wenn der gute alte Kehlheimer fünfundsiebzig wurde.
Und ziemlich gaga war, wenn man den Gerüchten glauben durfte.
Aber er musste die Festschrift ja nicht mehr lesen, wenn er nicht mehr konnte. Oder nicht mehr wollte. Die Uni feierte sein Angedenken und hatte etwas – mäßig Aufsehenerregendes – publiziert, basta.
Wülfert wurde etwas Geniales und Unverschämtes beitragen, wenn man ihn fragen würde, aber er gehörte nun einmal nicht zur historischen Fakultät. Und konnte er bitte dieses Gebrumme bleiben lassen?
Die Aufsichten waren gehalten, für Ruhe zu sorgen, aber die meisten taten natürlich nichts dergleichen, bestenfalls starrten sie Ruhestörer stumm an. Feiglinge.
War sie hier denn die einzige, die die Leute ansprach, wenn sie sich nicht benehmen konnten? Eigentlich unmöglich…
Sie zwang sich, nicht weiter über Ungerechtigkeit im Allgemeinen und im Besonderen nachzudenken, denn das brachte sie hier überhaupt nicht weiter.
Etwa eine halbe Stunde lang schaffte sie es, die Rolle Bayerns auf dem Reichstag von Besançon im Lichte bisher unbekannter oder doch wenigstens unausgewerteter Quellen zu beleuchten – über die Raufbold-Pose Ottos von Wittelsbach hinaus. Diese Geschichte kannte ja nun jeder, und echte Bayern grinsten dabei zufrieden: A gscheiter Baier hot si damois scho nix gfoin lassn!
Nicht allzu leises Gekicher schreckte sie aus ihrer Quelle auf. Die Jehlen würde doch nicht -? Nein, die lachte nie.
Ach so, Anja und Oliver amüsierten sich, hinter ihren Laptops nur unzureichend getarnt. Die beiden waren wirklich nett, aber konnten sie nicht anderswo turteln? Elli zischelte warnend, aber das dämpfte das Gekicher nur unwesentlich. Sie warf den beiden gereizte Blicke zu, die wenigstens etwas dämpfend wirkten. Die beiden waren manchmal noch sehr jung und rücksichtslos. Und offenbar ziemliche Konsumjunkies: die neuesten Tablets, nur Markenklamotten, perfekte Haarschnitte… sie selbst hatte während des Studiums nicht so ausgesehen!
Bevor sie in Erinnerungen an die glorreichen Neunziger versinken konnte, richtete sie sich energisch auf und arbeitete weiter. Schließlich waren jetzt alle da, die man in der Ferienzeit erwarten durfte, solange nicht noch jemand plötzlich von Arbeitswut befallen wurde.
Aber wer von dieser überschaubaren Truppe konnte denn den kostbaren Sybel geklaut haben? Und by the way auch die beiden Handschriften im letzten Monat und im Juli die beiden Giesebrecht-Erstausgaben? Nicht zu vergessen im Mai das Bruchstück eines Manesse-Faksimiles (nur zwei Abbildungen, aber immerhin!). Das hätte ohnehin eher zu den Germanisten gehört, fand sie.
Was alle diese Werke wert waren, wusste sie nicht, tippte aber auf einen Wert im gut fünfstelligen Eurobereich. Und der Glasschrank sah mittlerweile schon ziemlich kläglich aus!
In den Ferien schloss die Bibliothek um sechzehn Uhr und Elli war froh, nach Hause gehen zu können, sie war müde und hungrig und hatte sich die letzte Stunde nur noch gelangweilt, auch weil außer ihr niemand mehr dort gewesen war. Die beiden Hiwis und die Anfänger waren schon nach der Mittagspause nicht wiedergekommen (Kunststück, bei dem Wetter wäre sie auch lieber an den Mönchensee gefahren!), Wülfert hatte sich nach halb zwei ziemlich lautstark davongemacht, so dass sie sich fast gewünscht hatte, sein Laptop fiele herunter und ginge kaputt. Recht geschehen wäre ihm!
Die Jehlen sah kurz vor zwei auf die Uhr, quiekte auf und eilte davon, gerade, dass sie ihre Bücher noch zurückstellte. Und Teubner hatte sich gegen drei mit verlegenem Lächeln verabschiedet.
Ihre Wohnung empfing sie heiß und stickig, eher Hochsommer als Spätsommer.
Sie riss alle Fenster auf, um Durchzug zu machen, schleuderte die Schuhe von sich und zog sich auf dem Weg ins Bad erst einmal aus: Jetzt eine schöne lauwarme Dusche!
Zehn Minuten später, in einen dünnen Rock und eine verkrumpelte Leinenbluse gekleidet, fühlte sie sich schon besser und machte sich eine Kleinigkeit zu essen, hauptsächlich Tomaten, Gurken und hartes Ei. Bei dieser Hitze etwas Warmes? Schrecklicher Gedanke!
Sie aß und sah sich dabei zerstreut eine alte Folge einer SOKO-Serie an, zappte zwischendurch zum Dokukanal und schnell wieder weg, weil es um Kristallschädel ging – den Quatsch kannte sie schon – und guckte sich schließlich in einem Schwarzweißschinken aus schätzungsweise den Vierzigern fest. Schließlich beschloss sie, an einem so schönen – wenn auch verdammt schwülwarmen – Abend lieber nach draußen zu gehen und vielleicht ein Eis zu essen. Wozu wohnte sie schließlich im Univiertel? Eisdielen an jeder Straßenecke!
Beim Herumschlendern dachte sie wieder über die dahinschwindenden Kostbarkeiten in der Mittelalterbibliothek nach, nur kurz unterbrochen, als sie sich Schokolade, Pistazie und Birne in eine extra große Waffel mit Krokantrand füllen ließ. Kaum war sie einige Schritte gegangen, eifrig lutschend (Birne war ja gesundes Obst, nicht?), waren die verschwundenen Prachtstücke wieder in ihren Gedanken. Nun gab es nur noch ein weiteres Handschriftenfragment (14. Jahrhundert) und die Erstausgabe einer sozialistischen Kampfschrift aus dem Jahre 1869. Was tat diese Kampfschrift überhaupt beim Mittelalter?
Wenn Mahlmann weiterhin tatenlos zusah, wie die auch noch verschwanden, würde sie einen Hausmeister beauftragen, den überflüssigen Glasschrank in sein Büro zu schaffen. Als Mahnmal.
Ja, und am besten schon mal Bewerbungen für andere Unis schreiben. Doof, denn eigentlich gefiel es ihr hier doch! Zwei Jahre in München, zwei Jahre in Tübingen – auch nett, aber Tübingen war ihr zu versponnen und München zu überlaufen. Außerdem hatte sie in München für ein echtes Loch eine horrende Miete gezahlt, während ihre eigene Wohnung hier (gut, auch nicht wirklich günstig) viel schöner war – es lebe die Provinz!
Vielleicht sollte sie morgen Mittag als erstes die beiden Kostbarkeiten irgendwo verstecken… aber wo? Morgen hatte jemand anderes sich für die Aufsicht eingetragen, aber sie wusste nicht auswendig, wer, sonst hätte sie ihn anmailen können.
Sie aß ihr Eis auf und kehrte in einem weiten Bogen, die Schattenseiten der Straßen nutzend und gelegentlich gegen die tiefstehende Sonne anblinzelnd, nach Hause zurück. Dort scrollte sie noch kurz durch ihre Whatsapp-Gruppen, was sie sofort bereute: In der Mittelaltergruppe fanden sich haufenweise mehr oder weniger durchsichtige Ausreden, warum die Artikel für die Festschrift noch gar nicht fertig sein konnten. Am besten waren die beiden, die den Artikel angeblich längst geschickt hatten – vielleicht hatten sie sich bei der Adresse vertippt? Haha. Verlogene Bande.
Die Familiengruppe war auch kaum besser: Berni schickte einen Link zu neuen Luxusautos, weil er ihren ältlichen Kleinwagen untragbar fand; Margret hatte einige Fotos gepostet, aber die darauf zu sehenden Pferde sahen eigentlich alle gleich aus, irgendwie rotbraun und beängstigend groß. Elli stand nicht auf Pferde und verstand nicht, warum Frauen, die sich rapide den mittleren Jahren näherten (Klein-Margret war immerhin auch schon zweiunddreißig), plötzlich wieder pferdeverrückt waren wie mit zwölf. Und vor allem verstand sie nicht, warum sie dann alle anderen damit elenden mussten. Da, schon wieder: Du solltest auch mal Reitstunden nehmen, das würde einen ganz neuen Menschen aus dir machen.
Frechheit! Die alte Elli war wohl nicht gut genug?
Und Reni war auch nicht besser: Ein Foto ihrer drei Süßen (Laura, Lorenz und Leonie) wurde begleitet von der Frage, wann Elli denn nun endlich? Sie werde doch auch nicht jünger… es sei allerhöchste Zeit.
Verflixte Geschwister!
Sie tippte eine grußlose Antwort:
Danke für die Hinweise auf mein Versagen (kein anständiges Auto, kein Pferd, kein Nachwuchs), das hat mich richtig aufgemuntert. Aber mir taugt mein Leben genauso, wie es ist, und euch GEHT ES NICHTS AN!!
Das sollte für mindestens eine Woche beleidigtes Schweigen sorgen. Sie schickte es befriedigt ab.
Wenn sie ein Haustier brauchte, würde sie der Spinne oben in der Ecke über dem Fernseher einen Namen geben, die konnte sich wenigstens selbst ernähren!
Und Leonie als Patenkind reichte ja wohl als Kindersatz!
Sie legte ihr Handy beiseite und überlegte, was sie morgen alles zu tun hatte. Vormittags sollte sie einmal einkaufen, den Müll entsorgen und durch die Wohnung saugen. Ach, morgen war ja schon wieder Freitag! Auch gut, am Wochenende war die Bibliothek zu, da würde sie ihren Artikel fertig schreiben und markieren, wo sie noch Belege brauchte. Und dann konnte er raus! Schließlich sollte sie ja auch noch die letzten Arbeiten aus ihrem Seminar über Karl IV und Prag als Zentrum des Heiligen Römischen Reiches fertig korrigieren. Dreißig Arbeiten waren es insgesamt gewesen, vier lagen hier noch herum.
Was machte Josie gleich wieder im kommenden Semester? Die durfte sogar eine Vorlesung halten, nachdem sie nun habilitiert war. Sie las über den Aufstieg der Habsburger, oder? Vom armen Rudolf bis zu Karl V, ganz schön ambitioniert.
Merkwürdig, wie viele Leute zurzeit im Spätmittelalter – Habsburger gegen Luxemburger – unterwegs waren…
Und Regionalgeschichte war zurzeit ohnehin das must have. So ähnlich wie Regionalkrimis, die sämtliche Sender und alle Bücherregale überschwemmten.
Lasen sich aber recht nett. Und Elli musste zugeben, dass sie Serien der Marke SOKO Hintertupfingen ganz gerne anschaute. Leicht zu lösen, putziges Lokalkolorit und skurrile Gestalten. Am liebsten sah sie diese Eifelgeschichten…
Aber Mittelalter und Fernsehen waren ja nun wohl nicht ihr ganzer Lebensinhalt, nicht? Was würde sie sagen, wenn jemand sie fragte: „Und was machst du so?“
Sie legte sich wieder aufs Sofa und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Familie… naja, meistens gab es schnell Krach. Oder sie floh unter einem Vorwand, weil die Konversation – Gäule, Bälger, dicke Schlitten – so öde war. Aber Papa war eigentlich wirklich in Ordnung, er schaute sich sämtliche History-Folgen an und diskutierte dann mit ihr. Mama erwähnte immerhin nur manchmal die biologische Uhr – als seien Renis Kinder nicht genug. Aber das war auszuhalten…
Nun, und außer der Familie? Freunde? Natürlich, aber so viele auch nicht, und da die meisten mittlerweile Familie hatten, gab es gewaltiges Abfeiern nur noch dann, wenn wirklich ausnahmslos alle einen Babysitter gefunden hatten. Und das kam so gut wie nie vor…
Also traf sie sich mal mit der einen, mal mit der anderen Freundin in der Mittagspause auf einen raschen Teller Pasta oder einen noch rascheren Kaffee – und ansonsten tratschte man in der Whatsapp-Gruppe. Dem letzten gemeinsamen Treffen waren, wenn sie sich recht erinnerte, drei Wochen und gefühlt zweihundert Chatbeiträge Verhandlungen vorausgegangen – wo und vor allem wann man sich treffen konnte. Sie grinste bei der Erinnerung, wie dann fast alle pausenlos auf ihre Smartphones gestarrt hatten, um keine Nachricht des Babysitters zu verpassen.
Sie selbst hatte mit Nina, der einzigen, die auch keine Kinder hatte, einen langen Blick gewechselt. „Ich glaube, das nächste Treffen machen wir, wenn das jüngste Kind Abitur hat“, hatte Nina dann gemurmelt – aber die Muttertiere hörten ohnehin nicht zu, da hätte sie auch brüllen können.
„Dann müssen sie wahrscheinlich Studienfach und Studienplatz auswählen, weil sie ihre Kinder derart zur Unselbständigkeit erzogen haben, dass die alleine gar nichts auf die Reihe kriegen“, hatte sie selbst gemurrt. Und dann hatten sie sich über ihre Urlaubsziele unterhalten – ohne Spielplätze, ohne Mini-Disco, ohne Kinderbetreuung.
Freunde also auch nicht so sehr, außer eben Nina. Und die war zurzeit in Südfrankreich im Urlaub.
Hobbys? Lesen, Filme gucken, kurze Städtereisen, ab und zu joggen, Fahrradtouren (wenn das blöde Ding nicht gerade wieder einen Platten hatte), Aufsätze zu allen möglichen abseitigen Aspekten des späteren Mittelalter schreiben… nicht gerade glamourös!
Damit war sie schon wieder beim Mittelalter angekommen, dem langweiligen alten Zeugs, wie Reni, das Muttertier, und Margret, die Stallmagd, es zu nennen pflegten.
Na und? Sie fand dafür Kinder und Pferde nicht übermäßig spannend, und das stand ihr auch durchaus zu. Dann war sie eben langweilig, basta. War sie gerne.
Und jetzt würde sie ein bisschen stöbern. Irgendetwas fand sich doch immer, das man wegwerfen, verkaufen oder verschenken konnte. Sie liebte Übersichtlichkeit, aber es sammelte sich immer Kram an…
Mit dem Wertstoffhofkorb (dem mit dem schamhaften Deckel, wegen des manchmal peinlichen Inhalts) wanderte sie einmal durch die Wohnung und entdeckte zwei Krimis, bei denen sie mittendrin die Lust verloren hatte. Vielleicht hatten sie noch einen Versuch verdient? Ein kurzer Blick hinein: nein. Der eine hatte diese unglaublich nervtötende Heldin, der andere diesen machohaften Ermittler, der jede Frau anbaggerte. Noch nervtötender…
Die beiden wanderten in den Korb, ein merkwürdiges kleines Tongefäß, dunkelrot glasiert, folgte ebenso wie zwei Fläschchen mit längst umgekipptem Duftöl. Duftnote: ranzig, eindeutig. Müll oder Giftmobil?
Für heute war das schon ganz nett – aber summa summarum war ihr Leben eigentlich recht ereignislos…
Gott bewahre mich vor einem interessanten Leben… wer hatte das gesagt?
Sie hatte keine Ahnung, aber es klang nach Konfuzius.
Egal.
Andererseits war die Frage, wer die kostbaren Bücher und Handschriften (gut, Handschriftenfragmente) aus der Bibliothek des Instituts für mittelalterliche Geschichte klaute, doch wohl aufregend genug? Allerdings war diese Frage nicht zu beantworten, solange Mahlmann die Sache unter den Teppich kehrte und sich weigerte, die Polizei hinzuzuziehen…
Warum war er eigentlich so zickig? Steckte er womöglich selbst hinter diesen Aktionen? Schlich sich nachts in die Bibliothek (den Generalschlüssel hatte er schließlich) und nahm sich Handschrift um Prachtband um Erstausgabe?
Absurde Vorstellung, aber wer wusste das schon…
Aber vielleicht wusste er nur, wer es war, hatte vielleicht auch nur einen Verdacht – ein Lieblingsstudent? Ein bettelarmer Assistent? Dann sollte die Uni eben die Leute besser bezahlen!
Ein Freund oder Verwandter? Hatte Mahlmann Kinder? Einen drogensüchtigen Sohn vielleicht? Nein, das klang schon sehr nach Vorabendkrimi. Wie sehr diese Endlosserien das Denken der Zuschauer beeinflussten, wäre auch einmal ein Thema für eine wissenschaftliche Untersuchung.
Aber nicht mehr heute! Ihr einladend aufgeschlagenes Bett lockte durch die offene Schlafzimmertür…
Gegen zwölf eilte sie am nächsten Tag zum Aufzug des Instituts, um in die Bibliothek zu fahren und ihren Vorgänger abzulösen. In einen interessanten Artikel über das Wesen der Städtebünde vertieft, betrat sie den Aufzug, drückte auf vier und gab, als jemand Guten Morgen wünschte, geistesabwesend Antwort, ohne sich die Mühe zu machen, aufzusehen.
Es gab ja schließlich akustische Signale, nicht wahr?
Der Aufzug plingte und Elli sah wenigstens so weit auf, dass sie die leuchtende Vier sah, dann trat sie lesend aus dem Aufzug und spürte sofort eine Hand an der Schulter.
„Hier können Sie nicht durch.“
Irritiert ließ sie das Geheft sinken. „Warum? Ich arbeite hier! Ich sollte die Aufsicht ablösen, schließlich ist es fast zwölf.“
„Ihr Name, bitte?“
Erst jetzt registrierte sie die Kleidung ihres Gegenübers – beige und grün: Polizei??
„Dr. Eleonore Eversbach. Wissenschaftliche Mitarbeiterin. Was ist denn überhaupt passiert?“
„Es gab einen – Vorfall in der Bibliothek.“
Die Pause vor dem nichtssagenden Wort war ihr nicht entgangen. „Was für einen Vorfall? Ist etwa wieder etwas gestohlen worden?“
„Gestohlen?“
„Okay, wohl nicht.“
„Könnten Sie das etwas näher erläutern?“ Das war ein gut aussehender Mann um die Vierzig, der Zivil trug und einen Kripoausweis vorzeigte. „Schönberger. Wie war das mit dem Diebstahl?“
Elli seufzte. „Seit einiger Zeit verschwinden bei uns wertvolle Bücher, Erstausgaben, historische Ausgaben, all sowas. Aber der Institutschef wollte die Polizei doch gar nicht einschalten?“
„Ach – warum nicht?“
„Weiß der Himmel. Ich hab mir schon einen Haufen bescheuerter Theorien überlegt, aber damit langweile ich Sie wohl besser nicht. Was ist denn nun wirklich passiert?“
„Wir haben in der Bibliothek eine Leiche gefunden.“
„Großer Gott – wer ist es denn?“
„Das können wir Ihnen noch nicht sagen.“
„Soll ich schauen, ob ich sie identifizieren kann? Ich kenne viele, die hier arbeiten, weil ich recht oft Aufsicht mache oder selbst hier recherchiere.“
„Danke, darauf kommen wir vielleicht zurück. Warum ist eine Aufsicht hier so notwendig?“
Elli warf dem Kommissar – oder was er nun genau war – einen befremdeten Blick zu. „Damit es ruhig bleibt und die Leute sich nicht gegenseitig stören. Und damit nichts geklaut wird. Ja, gut – das scheint nicht ganz so funktionieren. Aber ich glaube, diese Diebstähle finden nicht während der Öffnungszeiten statt. Wenn jemand an den verschlossenen Glasschrank geht, merkt man das doch.“
Die Diebstähle interessierten den Kripomenschen offenbar nicht so besonders; er winkte einem Uniformierten, der die Absperrung hochhob und sowohl den Kommissar als auch Elli durchschlüpfen ließ.
Sie folgte ihm zwischen den Regalreihen und den Arbeitsplätzen hindurch bis vor ein Fenster links hinten, wo eine zusammengekrümmte Gestalt lag, die gerade aus allerlei Blickwinkeln fotografiert wurde.
Elli registrierte die abgewetzten Jeans und die uralte schwarze Samtjacke mit den aufgestickten Mohnblumen und den mit Goldfaden umstochenen Kanten. „Das Outfit passt zu Becky. Rebecca Rottenbucher. Achtes Semester. Kann ich das Gesicht sehen?“
„Einem Moment noch“, antwortete der Kommissar. Elli sah mit ihm zusammen zu, wie die Hände eingetütet wurden und eine kleine Handtasche ebenfalls in Verwahrung genommen wurde, dann drehte einer der Weißgekleideten die Tote auf den Rücken und Elli schlug die Hand vor den Mund. „Ja“, stieß sie dann etwas erstickt hervor, „das ist Rebecca Rottenbucher. Die Arme… aber warum sollte jemand sie umbringen?“
„Was wissen Sie denn über die junge Frau?“
Elli zuckte die Achseln. „Viel nicht. Sie studiert – studierte – mittelalterliche Geschichte, wie eigentlich alle, die diese Bibliothek benutzen. Ihr Schwerpunkt war, wenn ich mich recht erinnere, Bildungsgeschichte. Ich müsste im Rechner nachsehen, was sie so ausgeliehen hat.“
„Hier kann man ausleihen?“ Der Kommissar sah sich etwas erstaunt zwischen den Regalen um.
„Ja, am Wochenende. Unter der Woche ist das hier natürlich eine Präsenzbibliothek. Was sich die Leute da aus dem Regal holen, können wir nicht dokumentieren. Aber mittelalterliche Bildungsgeschichte… dabei kann man doch nun wirklich nichts Aufregendes oder Gefährliches herausfinden? Politikwissenschaften meinetwegen oder Zeitgeschichte…“
„Wissen Sie, ob sie Feinde hatte?“
Elli schüttelte den Kopf. „Ich weiß nichts über das Privatleben der Studenten. Ich passe nur, wenn ich Dienst habe, auf, dass sie leise sind, nichts klauen, soweit möglich, ihre Handys auf Vibrationsalarm stellen und am Ende ihren Platz wieder aufräumen.“
„Wozu brauchen die denn hier ihre Handys?“
„Zum Scannen oder Abfotografieren wichtiger Seiten. Als Sie studiert haben, gab es überall bloß Fotokopierer, nicht wahr?“
Der Kommissar brummte, und Elli grinste kurz. „Keine Sorge, das war ja wohl auch meine Zeit. Heute geht nichts ohne Handy und ganz ehrlich, so viel anders sind wir ja wohl auch nicht.“
„Ja, das stimmt schon. Gibt es denn sonst noch irgendetwas, was uns weiterhelfen könnte?“
Elli schüttelte den Kopf. „Sie war immer alleine hier, sie hat auch mit niemandem gesprochen, wenn ich die Aufsicht hatte. Aber ich mache das nur Montag und Freitag nachmittags und Donnerstag den ganzen Tag. Das ist ein kleines Zubrot zu einem doch eher bescheidenen akademischen Gehalt.“
Nicken. „Und wo waren Sie heute Vormittag?“
„Zu Hause. Und Einkaufen. Was man halt so macht vor dem Wochenende. Aber Zeugen habe ich keine – das wollten Sie jetzt doch fragen, oder?“
„Sie schauen sich zu viele Fernsehkrimis an“, tadelte er und zwinkerte.
„Ich weiß – aber tut das nicht jeder? Mit diesem profunden Viertelwissen der Leute haben Sie bestimmt viel Spaß.“ Sie lächelte, aber dann wurde sie wieder ernst. „Arme Becky… Sie war zweimal in einem meiner Kurse, also weiß ich so ungefähr, wie talentiert sie als Wissenschaftlerin war… und wenn ein so junges Leben so plötzlich und sinnlos – nun ja. Grausam. Und so, wie sie dort liegt, hatte sie auch keinen angenehmen Tod, vermute ich. Was ist denn mit Ferdi?“
„Sie meinen Herrn Hambacher? Der heute Morgen die Aufsicht geführt hat?“
„Ja, genau. Er hat sie ja wohl gefunden, der Arme.“
„Ja, es hat ihn tatsächlich sehr mitgenommen – mehr als Sie, Frau Eversbach!“
Ihre Kaltschnäuzigkeit schien ihn zu verdrießen und sie fühlte sich bemüßigt, sich ihm zu erklären: „Für mich war es wohl keine so große Überraschung, denn Sie haben mich ja schon am Lift aufgehalten. Den Hambacher hat es bestimmt kalt erwischt, oder? Und dann bin ich wirklich nicht so arg empfindsam, tut mir Leid. Ich denke aber auch nicht, dass Ohnmachtsanfälle oder Heulkrämpfe Ihnen sehr gelegen kämen. Es tut mir um die arme Becky Rottenbucher wirklich leid, aber ich kann so etwas nicht richtig pathetisch rüberbringen.“
„Schon in Ordnung, Frau Eversbach. Wir müssten die Bibliothek allerdings heute schließen, damit die Spurensicherung ungestört arbeiten kann.“
„Kein Problem, schließlich sind Semesterferien. Dann müssen die paar Interessenten eben in die Unibibliothek gehen. Haben Sie einen Schlüssel, um hinterher zusperren zu können?“
„Herr Hambacher hat uns seinen anvertraut, danke. Morgen würden wir Sie bitten, uns zu zeigen, was Frau Rottenbucher ausgeliehen hat.“
„Gerne. Aber morgen ist Samstag, das haben Sie bedacht?“
„Leider haben wir kein Wochenende, wenn es einen Fall gibt. Wenn Ihnen der Termin freilich nicht passt…“
„Nein, mir macht das nichts. Aber sind Sie ganz sicher, dass dieser – äh – Fall nichts mit den Diebstählen zu tun hat? Befragen Sie doch mal den Institutsvorstand, Professor Mahlmann!“
„Danke, die Kontaktdaten hat uns Herr Hambacher schon gegeben. Können Sie uns über die Dame dort hinten noch etwas sagen?“
Elli spähte an seinem ausgestreckten Arm entlang in die hintere Ecke, wo neben dem verständlicherweise völlig fertigen Hambacher eine junge Frau saß, die unablässig die Regale scannte und offenbar ein bestimmtes Buch suchte.
„Sabine Jehlen. Fünftes Semester, Geschichte und Französisch für Lehramt Gymnasium, sehr, sehr fleißig. Ich glaube, sie ist nicht sehr gut bei Kasse und möchte wohl schnell fertig werden. So, wie sie dreinschaut, sehnt sie sich heftig nach einem Buch, das sie durchackern könnte. Nun, vielleicht kann sie sich heute ersatzweise bei den Romanisten betätigen. Die sind ja gleich gegenüber.“
Der Kommissar nickte und wirkte leicht enttäuscht, offenbar hatte er sich von der Jehlen etwas Dramatischeres erhofft.
„Brauchen Sie mich noch?“, fragte Elli schließlich, die weißgekleideten Gestalten nachdenklich betrachtend.
„Nein, vielen Dank. Aber wenn Ihnen noch etwas einfallen sollte…“ Er reichte ihr eine Karte, wie man es aus dem Fernsehen kannte.
Elli verwahrte sie sorgfältig und beschloss, sich einen freien Nachmittag zu gönnen. Sofort weiterzuarbeiten wäre ja auch pietätlos, nicht wahr?
Joe kehrte leicht gereizt ins Büro zurück. Erstens musste er sich erst einmal ein Team zusammensuchen, sowohl Kommissare als auch Hilfskräfte für die Routineaufgaben, zweitens hatte diese kalte Bibliotheksfrau ihn genervt und drittens hatte er überhaupt keinen Schimmer, wer ein harmloses Mädel in einer so esoterischen Bibliothek wie dieser umbringen sollte. Ja, eine Juristin, eine Betriebswirtschaftlerin, eine Informatikerin, da konnte es um Jobs gehen, um Karrieren, vielleicht um geklaute Doktorarbeiten oder Softwareplagiate.
Aber mittelalterliche Geschichte? Was konnte man denn damit schon groß werden?
Egal, erst einmal brauchte er ein Team, also schaute er in das Büro gegenüber, wo Anne mit Patrick, Maggie und Katrin gerade einen Fall abschloss. Sie konnte Katrin entbehren, gab sie nach längeren Verhandlungen zu, und Katrin folgte Joe gerne in sein Büro, denn alles war besser als Berichte zu schreiben und das Material für die Staatsanwaltschaft aufzubereiten.
Im Teamraum Marquart konnte er einem eher unbeschäftigt wirkenden Felix den Neuen, Ben Hollerbach, abschwatzen. Ben schichtete seinen Kram in die übliche Pappkiste und folgte Joe etwas ängstlich.
„Keine Sorge, hier geht es auch nicht anders zu als bei Felix“, beruhigte Joe ihn und vertraute ihn Katrins Fürsorge an, um selbst noch eine vierte Kraft aufzutreiben.
Thomas Waldmann ließ sich überreden, ihm Liz abzutreten, die Joe ebenfalls auf das Bereitwilligste folgte. Dem Team Waldmann hatte man nämlich den schönen Auftrag aufs Auge gedrückt, eine Statistik der Kriminalfälle der letzten Jahre zusammenzustellen – Art des Opfers, Art des Täters, Waffe, Motiv, Tatort, Geständnis oder Indizien… die Begeisterung hielt sich in Grenzen, aber übergeordnete Behörden, auch die Ministerien, hatten sich zu wahren Datenkraken entwickelt. Was machten die bloß mit all diesen Statistiken und Übersichten? Aufheben, falls es irgendwann einmal eine Anfrage im Landtag gab? Bis dahin war der Kram wahrscheinlich schon völlig veraltet…
Das Team hatte sich im Raum verteilt, Katrin und Liz amüsierten sich über etwas, das eine von ihnen erzählt hatte, und Ben sah noch etwas furchtsam drein und hatte seine Kiste noch nicht ausgepackt.
Joe nickte allen freundlich zu und setzte sich auf seinen Schreibtisch, auf dem ja noch gar nichts lag.
„Bis jetzt wissen wir, dass eine Studentin namens Rebecca Rottenbucher heute Morgen gegen halb zehn tot in der Bibliothek des Instituts für mittelalterliche Geschichte gefunden wurde. Katrin, übernimmst du bitte die Verteilung auf der Tafel?“
Katrin begann zu tippen und nacheinander erschienen die Fakten in blassgelb eingefärbten Kästchen auf der Tafel, allerdings in sehr willkürlicher Anordnung. Joe rutschte von seinem Schreibtisch und trat zur Tafel, wo er, während er weiter berichtete, die Kästchen mit dem Finger an die richtige Stelle zog.
„Gefunden hat sie der aufsichtführende Mitarbeiter des Instituts, ein Historiker namens Dr. Ferdinand Hambacher. Er rief sofort die Polizei, und dann kamen wir und mussten für diesen Dr. Hambacher gleich psychologische Betreuung organisieren. Er war völlig zusammengebrochen, warum, müssen wir noch eruieren. Befragen konnten wir ihn noch nicht. Berichte von Spurensicherung und Gerichtsmedizin stehen natürlich noch aus. Hilfreicher war die Nachmittagsaufsicht, die sozusagen in den Tatort gestolpert kam. Eine Dr. Eleonore Eversbach, ebenfalls Historikerin, ich vermute, Privatdozentin oder Mitarbeiterin. Genaueres weiß ich noch nicht, aber sie wird morgen hier auftauchen.“
„Adresse?“
„Im Univiertel, glaube ich. Fragen wir morgen genauer nach. Verschwinden kann sie ja wohl nicht, ohne ihre Stelle an der Uni zu verlieren. Ach ja, und sie hat behauptet, aus der Bibliothek seien in letzter Zeit immer wieder wertvolle Bücher verschwunden.“
„Ach – und das kann nicht der Grund sein? Vielleicht hat diese Rebecca den Dieb überrascht?“
Joe schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht…kommt mir zu einfach vor. Außerdem habe ich gesehen, wo diese Bücher sind – beziehungsweise waren, aber ein paar haben sie ja noch. Verschlossener Glasschrank. Ich vermute mal, dass nur ganz ausgewählte Leute einen Schlüssel haben.“
„Und die sind total wichtig und könnten einer armen Studentin leicht weismachen, dass sie den Prachtband oder was auch immer zu völlig legitimen Zwecken aus dem Schrank nehmen“, ergänzte Liz.
„Richtig. Aber wir behalten die Bücherspur natürlich im Auge.“
Katrin hatte mitgeschrieben und schickte nun ein Kästchen an die Tafel, auf dem Bücherspur? stand. Neonpink umrahmt.
Joe warf einen Blick auf Ben, der die Tafel mit offenem Mund anstarrte. „Danke, Katrin, so vergessen wir diese Spur bestimmt nicht mehr.“
„So war´s gedacht.“
Ben ließ seinen Blick zwischen dem Chef und Katrin hin und her wandern. Liz hatte das bemerkt und versuchte nun, ihn ins Gespräch zu ziehen: „Was meinst du zu all dem, Ben?“
„Ich? Oh – äh… eine Beziehungstat?“ Sofort zog er ein Gesicht, als wollte er seine Worte am liebsten wieder zurücknehmen, aber Katrin tippte schon ein passendes Kästchen.
„Auch denkbar“, lobte Joe moderat. „Dazu müssen wir über die junge Frau noch mehr herausfinden. Wer begleitet mich zu den Eltern?“
Keine freiwilligen Meldungen, kein Wunder. Eltern erzählen, dass ihr Kind, womöglich ihr einziges, tot war, wollte keiner, aber es war leider notwendig. „Nun, bevor ihr euch streitet, nehme ich Katrin mit.“
Katrin nickte schicksalsergeben.
Joe erhob sich. „Ben und Liz nehmen sich das Netz vor: Rebecca Rottenbucher und alles, was über dieses Uni-Institut zu finden ist. Komm, Katrin!“
Immerhin hatten sie den Personalausweis, auf dem eine Adresse in Kirchfelden angegeben war.
An der angegebenen Adresse fanden sie ein recht gepflegtes Reihenhaus und wappneten sich. Joe drückte auf die Klingel und sagte dann zu Katrin: „Du machst es, damit du es mal lernst.“
„Na toll! Ich kann das übrigens schon.“
Die Haustür öffnete sich zögernd und eine Frau in mittleren Jahren erkundigte sich misstrauisch, was sie denn wollten. Katrin zückte ihren Ausweis und stellte sich und Joe vor. „Frau Rottenbucher?“
„Ja…?“ Das klang noch misstrauischer.
„Es geht um ihre Tochter Rebecca. Dürfen wir hereinkommen?“
„Becky? Ich habe keine Ahnung, wo sie ist, seitdem sie in dieser WG wohnt.“
„Ach, hier wohnt sie gar nicht mehr?“
„Naja!“ Die Tür öffnete sich etwas weiter und sie traten in einen etwas unordentlichen Flur, in dem vor allem viele pastellfarbene Sneaker, bunte Schals und andere Mädchensachen für Farbe sorgten.
„Sie haben noch mehr Töchter?“, fragte Katrin. Immerhin, nicht das einzige Kind…
„Fiona und Camilla. Drei Mädchen, und keine räumt jemals irgendetwas in ihr Zimmer.“ Sie seufzte theatralisch. „Also, was hat Becky angestellt? Eigentlich ist sie eine recht Brave – aber vielleicht erzählt sie mir auch bloß nicht alles…“ Sie ging, während sie sprach, in ein ebenso heftig bewohntes Wohnzimmer voraus. Katrin holte tief Luft. „Frau Rottenbucher, vielleicht sollten Sie sich hinsetzen…“
„Oh Gott! Du lieber Himmel, ist es das, was ich jetzt denke? Nein, bitte nicht…“
Katrin setzte sich neben sie auf das abgewohnte Sofa und legte ihr die Hand auf den Arm. „Ich fürchte, es ist so. Rebecca wurde heute Vormittag tot aufgefunden. Wir hätten jetzt natürlich viele Fragen, damit wir möglichst schnell herausfinden können, wer für diese Tragödie verantwortlich ist – aber wenn Ihnen das im Moment zu viel ist, wäre das verständlich. Dann kämen wir morgen wieder.“
Joe nickte zufrieden: Sie machte das wirklich schon recht gut!
Frau Rottenbucher sah sie mit tränenlosen Augen an. „Becky ist wirklich tot? Das glaube ich nicht, ich habe doch erst gestern mit ihr telefoniert! Haben Sie mal ein Taschentuch?“
Katrin zückte die Packung und Frau Rottenbucher schneuzte sich kräftig. „Na, fragen Sie ruhig“, seufzte sie dann. „Aber ich glaube nicht, dass es Ihnen viel nützen wird…“
„Zunächst: Worum ging es denn in dem Telefonat gestern?“
„Das war eigentlich gar nichts Besonderes. Ich wollte wissen, ob sie dieses Wochenende mal vorbeikommt. Sie hat gemeint, sie hat wahrscheinlich keine Zeit, weil sie noch eine Arbeit schreiben muss. Das sagt sie ja immer!“
Sie sah Katrin empört an und jetzt füllten sich ihre Augen doch mit Wasser, wahrscheinlich war ihr aufgefallen, dass Becky dies nie wieder sagen würde.
„Sie kommt – kam – also nur selten hierher zurück?“
„Ja.“ Das klang schon recht erstickt und Katrin reichte ihr schnell ein neues Taschentuch.
„Sie meinte, ich würde zu viel herummeckern. Dabei wollte ich doch bloß wissen, wann sie mit ihrem Studium fertig ist, schließlich muss ja Milly auch noch, die macht nächstes Jahr Abitur… bloß gut, dass Fi schon mit allem durch ist…“
„Wo hat Rebecca denn dann gewohnt, wenn sie hier nur noch zu Besuch kam?“
„Besuch!“, schluchzte Frau Rottenbucher, „genau, so war sie, so fremd, plötzlich. Fi ist ja auch nicht mehr hier, aber die hat ja auch schon geheiratet, da ist das ganz normal. Wenn Becky wenigstens schon einen richtigen Beruf gehabt hätte…“
„Sie wollte Lehrerin werden, nicht wahr?“
„Ja. Hab ich auch nie verstanden. Warum nicht schön ins Büro – oder etwas mit Mode? Fremde freche Kinder erziehen…“
Katrin überlegte, dass sie wohl auch ausgezogen wäre, um sich dieses Geschwätz nicht dauernd anhören zu müssen.
„Aber jemand muss doch auch dafür sorgen, dass unsere Kinder etwas lernen?“
„Warum ausgerechnet meine Becky? Sie sehen doch, wohin das geführt hat!“
„Nun, ob ihr Studium etwas damit zu tun hat, wissen wir doch noch gar nicht.“
„Ach ja – wie ist es denn eigentlich geschehen?“
„Wir behalten die Einzelheiten noch für uns, das kann für die Ermittlungen wichtig sein. Aber Rebecca wurde in der Bibliothek für mittelalterliche Geschichte gefunden, so viel kann ich Ihnen schon verraten.“
„Muss ich – muss ich – sie identifizieren?“
„Das wäre günstig, aber wenn Sie es nicht über sich bringen können, können wir auch jemand anderen fragen, der sie gut gekannt hat. Wo hat sie denn nun gewohnt?“
„Offiziell hat sie immer noch hier gewohnt, immerhin ist das ihr Elternhaus!“
„Ja, Frau Rottenbucher, das wissen wir. Schließlich haben wir Ihre Adresse aus Rebeccas Personalausweis entnommen.“
„Ach, dann war ihre Handtasche noch da? Also war es kein Raubüberfall?“
„Nein, davon gehen wir derzeit nicht aus“, warf Joe ein, der bisher das Gespräch nur verfolgt hatte. Frau Rottenbucher warf ihm einen waidwunden Blick zu und führte das Taschentuch an die Augen.
„Aber dann – wer könnte denn wohl…? Ich verstehe das nicht“, klagte sie dann.
Katrin unterdrückte einen gereizten Seufzer. „Genau das möchten wir herausbekommen. Und dazu könnte es beitragen, wenn wir wüssten, wo Rebecca gewohnt hat, nachdem sie hier ja nur noch besuchsweise aufgetaucht ist.“
„Ja, das stimmt natürlich. Recht undankbar, nicht wahr? Nach allem, was ich für sie getan habe…“
„Frau Rottenbucher, bitte! Wo hat Rebecca gewohnt?“
„Ach, irgendwo hinter der Uni. So genau wollte ich das gar nicht wissen. Sicher in einem ganz verwahrlosten Haus. Sie hatte dort wohl ein Zimmer…“
Frau Rottenbucher verdiente sicher jede Anteilnahme, dachte Joe, aber diese Art, Fragen gar nicht oder wenigstens betont vage zu beantworten, war schon recht anstrengend. Katrin verdrehte in seine Richtung kurz die Augen und fragte dann weiter: „Zur Untermiete oder in einer WG? Einer Wohngemeinschaft?“
„Ist das nicht egal?“
„Nein, das ist nicht egal!“ In Katrins Ton hatte sich erkennbare Schärfe eingeschlichen. „Wir hoffen, dass eventuelle Mitbewohner uns weiter helfen können. Die müssten wir aber erst einmal auftreiben. Und dazu wäre die Adresse nützlich, die Sie aber offenbar nicht kennen. Oder nicht kennen wollen. Also müssen wir alle WGs an der Uni abklappern – ein unglaublicher Aufwand, da darf in den nächsten Tagen nichts mehr passieren, wo Polizei gebraucht würde. Müssen wir auch noch alle Untermietverhältnisse überprüfen, dauert es noch länger. Vielleicht ist Ihr Mann ja besser informiert als Sie?“
„Mein - Mann hat uns vor fünf Jahren verlassen. Er hat wohl eine Jüngere gefunden, aber das wollte ich so genau gar nicht wissen.“
„Mir scheint, Sie wollen eine Menge Dinge nicht so genau wissen“, warf Joe ein, der kurz davor stand, die mäßig trauernde Mutter aufs Präsidium mitzunehmen. Wollte sie nicht, dass der Mord an ihrer Tochter aufgeklärt wurde?
„Bitte?“
„Wie hätten Sie Ihre Tochter in dringenden Fällen denn erreichen wollen?“, fragte Katrin.
Frau Rottenbucher wandte den Kopf von links nach rechts, als sei sie mit zwei Gesprächspartnern restlos überfordert. „Telefon?“, schlug sie schließlich vor.
Ach so, ja. Katrin ärgerte sich über sich selbst.
„Wir haben in Rebeccas Tasche kein Handy gefunden“, warf Joe ein.
„Dann hat sie´s wohl nicht mitgenommen. Sie war doch in der Bibliothek, haben Sie gesagt? Ist Handyklingeln da nicht verboten?“
„Dann machen wir es so“, legte Katrin entnervt fest, „Sie werden ja wohl die Kontaktdaten ihrer Tochter Fiona haben. Die geben Sie uns bitte und wir fragen nach, ob diese sie etwas über ihre Schwester weiß. Ihre Jüngste soll bitte im Präsidium vorbeikommen, heute oder morgen. Bei allem Verständnis für Ihre Trauer, aber Sie sind ausgesprochen unkooperativ, Frau Rottenbucher.“
„Erst so eine schreckliche Nachricht, dann wird man noch beschimpft… gehen Sie jetzt bitte!“
Joe und Katrin wechselten einen Blick, dann sagte Joe: „Gut, Frau Rottenbucher – aber wir werden sicher wiederkommen, und wenn es dann nötig ist, nehmen wir Sie auch aufs Präsidium mit. Das haben Sie verstanden?“
Das Nicken wirkte eher teilnahmslos. Katrin schob ihr einen Block hin und bat um Name und Adresse der älteren Schwester und der WG.
Frau Rottenbucher kritzelte eine Zeitlang vor sich hin und schob den Block dann nachlässig zurück. Als Katrin sich das offenbar betont lustlos hingeworfene Geschreibsel durchgelesen hatte, fixierte sie die trauernde Mutter mit gereiztem Blick: „Hausnummern haben Sie nicht?“
„Wozu? Glauben Sie, wir schreiben uns Briefe? Fi wohnt in der Straße in dem Haus, wo unten der Metzger drin ist. Milly wohnt sowieso noch hier und diese Wohngemeinschaft oder wie man das nennt ist in der Floriansgasse, wenn die so heißt.“
„Florianstraße, wenn schon. Prima, das ist so etwa die längste Straße in der City. Kennen Sie da vielleicht auch einen Laden im Erdgeschoss?“
„Nein. Ich war da noch nie. Becky hat mich ja nie um einen Besuch gebeten.“ Dies in eindeutig beleidigtem Tonfall. Katrin und Joe wechselten einen Blick und verabschiedeten sich.
„Was ´ne blöde Kuh“, stieß Katrin auf der Straße hervor. „Die trauert doch gar nicht richtig, die ist doch bloß sauer, dass nicht alle brav zu Hause wohnen.“
„Kein Wunder, dass sich der Mann eine Lustigere gesucht hat“, stimmte Joe zu und öffnete die Fahrertür. „Schauen wir, ob wir diese Schwester finden, Fiona – wie noch? Fiona Rottenbucher ist ja auch eine abartige Kombination…“ Er stieg ein.
„Deshalb hat sie wohl auch einen Herrn Marsh geheiratet“, entzifferte Katrin auf dem Beifahrersitz. „Wahrscheinlich sind die sowieso beide bei der Arbeit. Um kurz vor zwei?“
„Schauen wir halt mal“, begütigte Joe und ließ den Motor an.
Ellis Erholungsphase hatte ungefähr eine Stunde gedauert, dann hatte Margret angerufen und erst einmal eine geschlagene Viertelstunde erzählt, sie habe in der Nacht geholfen, das total süüüße Fohlen der Stute Cindy auf die Welt zu befördern. „Das musst du dir mal vorstellen, sie ist ganz schwarz, aber sie hat schon eine weiße Blesse und einen weißen Strumpf, links vorne, das ist total selten. Nur einen Namen haben wir noch nicht.“
Elli, die bei Cindy an Cindy aus Marzahn, dabei an viel Rosa und dann an Kleinmädchenkram dachte (Leonie mit fünf Jahren!), schlug Kitty vor und war erstaunt, dass Margret darauf begeistert reagierte. Dann allerdings fragte sie misstrauisch: „Wieso bist du überhaupt schon zu Hause? Musst du gar nichts arbeiten?“
„Ich arbeite zu Hause“, schwindelte Elli sofort, denn sie hatte keines ihrer Projekte auch nur auf den Schreibtisch gepackt. Dann überlegte sie, dass sie auch einmal interessant sein wollte.
„Die Bibliothek ist gesperrt, weil sie dort eine Leiche gefunden haben.“
„Was! Wer ist denn tot?“
Erschrocken leugnete Elli jede Kenntnis der Toten. Hatte sie jetzt der Kripo womöglich die Ermittlungen versaut? Aber hätten die sie dann nicht zu Stillschweigen verpflichten müssen?
„Hast du die Leiche gefunden?“
„Nein. Die Kripo war schon da, als ich gekommen bin. Ich denke, die sammeln jetzt Spuren ein oder was die da halt so zu machen haben. In den Ferien kommen eh nicht so viele Leute. Nur die, die noch Hausarbeiten schreiben müssen.“
Margrets Interesse flaute spürbar ab, ihr Ausflug in den akademischen Bereich (Kommunikationswissenschaften) hatte nur zwei Semester vorgehalten, dann hatte sie festgestellt, dass ihr trockene Theorie nicht so lag. Als Immobilienkauffrau war sie auch sehr zufrieden, aber ihr Herz war ohnehin im Stall.
„Na, du scheinst es ja gut überstanden zu haben.“ Klang das leicht enttäuscht? Wenn schon, sie galt im Familienkreis ohnehin als gefühllos. Jemand, der kleine Kinder und süße Tiere nicht mochte.
Stimmte gar nicht, aber das war ihr ziemlich egal.
Margret verabschiedete sich und Elli überlegte, ob sie tatsächlich etwas arbeiten sollte, um der Lüge wenigstens einen dürftigen Anstrich von Wahrheit – nächster Anruf: Rena. Tatsächlich, eine Leiche? Sie sei doch sicher traumatisiert? Das könne Spätfolgen haben, wenn man sich nicht sofort um eine Therapie kümmere!
„Ich bin nicht traumatisiert, ich hab die Leiche doch kaum gesehen“, wehrte Elli sich mit langjähriger Routine gegen unerbetene psychologische Betreuung.
„Verdränge es nicht, Elli! Du kannst doch mit Gefühlen sowieso nicht richtig umgehen, sonst wärst du doch schon längst verheiratet und hättest eigene Kinder anstatt -“
„Anstatt was?“, fragte Elli wütend zurück. „Kannst du bitte endlich mal aufhören, deinen Lebensstil als allein seligmachend auszugeben? Es gibt Leute, die anders leben und das sind weder Idioten noch Verbrecher, auch wenn du mich für das eine und das andere hältst. Und ich frage mich langsam, warum ich mit Leuten Umgang pflege, die mich für eine bekloppte Versagerin, Sozialschmarotzerin und Kinder- und Tiermörderin halten.“
„Übertreib doch nicht immer so maßlos, das haben wir doch nie gesagt!“
„Oh doch, habt ihr. Wortwörtlich, und nicht nur einmal. Und diese Taktik ist das allerletzte, aber das kann ich auch: Du bist ein beschränktes Muttertier und ein ganz schlechtes Vorbild für deine Töchter.“
Sie wartete fünf Sekunden, dann kreischte Rena programmgemäß los: „Spinnst du? Wie kannst du so etwas behaupten? Ich bin doch nicht beschränkt!“
„Ach, übertreib doch nicht immer so, das hab ich ja nie gesagt… wenn du immerzu alles in den falschen Hals kriegst, musst du wohl ein Problem haben. Paranoia vielleicht? Du solltest dich dringend um eine Therapie kümmern!“
Rena knallte den Hörer auf und Elli grinste kurz über ihren Triumph, dann aber verfinsterte sich ihre Miene wieder: Jetzt würde sie garantiert den halben Tag schlechte Laune haben, weil ihre Schwestern sie verachteten! Die machten das doch mit Absicht!
Warum bloß? Neid? Das Bedürfnis, sich selbst besser zu fühlen? Fürsorge war es auf keinen Fall, Fürsorge kannten sie alle nur für ihre eigenen Interessen, egal, ob Pferde, Kinder oder Autos.
Warum waren drei so ähnlich geworden und sie selbst so ganz anders?
Mama war ein Vorbild für Rena, eindeutig. Papa dagegen arbeitete sich immer noch an seinen Nazieltern ab, obwohl die schon längst tot und begraben waren und so viel geistige Anstrengung überhaupt nicht verdienten. Elli hörte sich seine Tiraden ab und zu an und hoffte, dass darüber zu reden ihm endlich einmal half, damit abzuschließen. Er war ein Kriegskind gewesen und seine Mutter – eine große, hagere und ewig unzufriedene Person, die aller Welt vorwarf, dass sie ihren Mann nach vierwöchiger Ehe schon wieder verloren hatte – war ein grässliches Weib. Elli hatte mit vierzehn tatsächlich einmal eine Ohrfeige von ihr kassiert, weil sie gesagt hatte, man könne doch froh sein, dass der Krieg verloren gegangen sei, „sonst hätten wir diese Scheißnazis ja immer noch an der Backe!“
Der Ohrfeige war eine Tirade gefolgt, in der die Worte Undank, Patriotismus, Juden und Volkskörper vorkamen. Elli hatte ihre Großmutter daraufhin als antisemitische Drecksau bezeichnet und sich schnell außer Reichweite gebracht, Berni hatte geschnaubt und gesagt: „Reg dich nicht so auf, Elli. Schau sie doch an, dumm geboren und nix dazugelernt.“
Das haltlose Gekreische schallte noch länger durchs Haus, bis der Vater die Alte aufgefordert hatte, das Haus zu verlassen, und zwar zügig.
Elli lächelte versonnen vor sich hin. Diese alte Szene schaffte es doch immer wieder, sie in heitere Stimmung zu versetzen!
Leider traf dies auf ihren Vater nicht zu, aber er hatte ja wohl auch bei dieser alten braunen – naja – eine scheußliche Kindheit verbracht und Mama war es offenbar nicht gelungen, ihn darüber hinwegzutrösten. Hätte sie das überhaupt gekonnt?
Sie beschloss, Papa am Wochenende einmal zu besuchen. Und jetzt sollte sie an diesem Aufsatz weiterarbeiten. Wenn sie Glück hatte, rief auch Berni nicht an, um ihr einen jungen Gebrauchten anzudienen. Der alte schaffte den TÜV schon noch mal, vielen Dank!
Immerhin kam sie zwei Stunden lang gut voran, lehnte sich dann zufrieden zurück und beschloss, dass sie ja eigentlich auch Ferien hatte und ein bisschen in der Altstadt spazierengehen konnte. Und danach würde sie am Konzept ihres nächsten Seminars basteln.
Naja, oder mal schauen, was im Fernsehen kam…
Fiona Marsh war tatsächlich zu Hause und gelinde verblüfft, als die Polizei vor ihrer Tür stand: „Ich weiß jetzt gar nicht, wieso -“
„Hat Ihre Mutter Sie denn nicht angerufen?“
„Nein, warum? Ist denn etwas passiert?“ Sie schwieg kurz, dann sagte sie: „Blöde Frage, sorry. Wäre nichts passiert, wären Sie ja wohl auch nicht hier, nicht wahr? Kommen Sie doch weiter!“
„Ja, leider ist wirklich etwas passiert. Man hat Ihre Schwester tot aufgefunden.“
Fiona Marsh fiel auf das Sofa, das hinter ihr stand, und wedelte matt mit der Hand. Joe und Katrin nahmen das als Aufforderung und setzten sich ebenfalls, ihr gegenüber.
Sie sah auf. „Welche Schwester? Becky oder Milly?“
„Rebecca. Man hat sie in der Bibliothek gefunden.“
„Ein Unfall? Nein, Unsinn – Sie sind von der Kripo, nicht wahr? Dann muss sie ja jemand… aber das verstehe ich nicht, Becky war die Harmloseste weltweit. Eine ganz Liebe, vielleicht ein kleines bisschen langweilig. Sehr fleißig… Die einzige, die etwas sauer auf sie war, war Mama, weil Becky ausgezogen ist, aber das war ja wohl kein Wunder. Mama kann einen Heiligen auf die Palme bringen, sie will immerzu alles wissen und fragt immerzu, wann man denn nun ein Leben führt, wie sie es sich vorstellt. Und wenn man sich dem entzieht, ist sie beleidigt. Ohnehin hat sie ja keiner lieb. Aber dass sie daran selbst schuld ist, kann man ihr nicht klarmachen. Also, nicht dass Sie mich da falsch verstehen, jemanden umbringen würde sie aus so bescheuerten Gründen bestimmt nicht. Nur schmollen.“
„Das scheint uns auch so“, antwortete Katrin, die eine Tante mit ähnlichem Verhalten hatte. „Sie wollte ja nicht einmal wissen, wo Becky genau gewohnt hat. Sogar Ihre Adresse hat sie betont ungenau angegeben. Nur gut, dass es hier nur einen einzigen Metzger gibt…“
„Becky wohnt in der Florianstraße 37 im ersten Hintergebäude. Eine Dreier-WG, die anderen beiden Mädchen heißen Bille und Tanja. Alles ganz solide – nur Mama mal wieder mit ihrem Getue!“ Sie schnaubte. „Was glauben Sie, warum sich Papa vom Acker gemacht hat? Ein Wunder, dass er´s überhaupt so lange ausgehalten hat…“
„Haben Sie seine Adresse auch noch? Wir glauben zwar nicht, dass er uns viel weiterhelfen kann…“
„Glaube ich auch nicht. Wir haben zwar mit ihm eine Whatsapp-Gruppe, aber da tauscht man ja keine Geheimnisse aus, nicht?“
„Vor allem, da Whatsapp zu Facebook gehört“, nickte Katrin. Sie bekam noch eine Adresse in München und erkundigte sich dann, ob Becky einen Freund gehabt habe.
„Ja, den Markus. Markus Sonnleitner, ein ganz lieber Kerl, auch wenn er Jurist ist.“ Fiona grinste kurz. „Er wohnt aber tatsächlich noch bei seinen Eltern, mit allem Pipapo. In Leiching.“
„Schick!“, reagierte Katrin pflichtgemäß.
„Ja, der Vater ist irgendwas Wichtiges. Was genau, hab ich vergessen. Bank oder so ähnlich? Ich kann´s rauskriegen, wenn Sie das brauchen!“
„Machen wir selbst, danke schön.“
Draußen sahen sie sich an: Immerhin! „Dann mal in die WG. Und danach sollten wir den Freund informieren. Den wird es wohl ziemlich treffen…“, legte Joe fest, der gerade an seine Kira dachte.
In der WG trafen sie nur Bille an, die den Namen Sybille Bauernfeind zu Protokoll gab und gebührend schockiert war: „Ausgerechnet die Becky, die ist – war – doch so eine Nette! Und total harmlos, wirklich! Hat nie einem was Böses gewollt, hat allen geholfen, hat mit allen gut zusammengearbeitet… wenn Tanja oder ich mal wieder vergessen hatten, die Spülmaschine zu füllen, hat sie das stillschweigend übernommen und wenn wir uns verlegen entschuldigt haben, hat sie nur abgewunken: Ist doch egal… So war sie eben – und so jemanden bringt einer um? Und fleißig war sie, jeden Tag in der Bibliothek, damit diese verflixte Seminararbeit perfekt wurde. Ich meine, es sind doch gerade Semesterferien! Nicht für Becky. Ich will ja auch ein gutes Examen machen, obwohl das mit Mathe/Physik nicht ganz so wichtig ist, da kriegt man leichter eine Stelle, aber ich mach doch jetzt nichts für die Uni, lieber jobbe ich, damit ich Geld fürs nächste Semester habe.“
Katrin nickte zu diesen sprudelnd vorgetragenen Informationen; Joe runzelte die Stirn. „Und Becky musste nicht arbeiten?“
„Ach doch, natürlich. Ihre Mutter war ja offensichtlich beleidigt, weil sie ausgezogen ist, also hat sie von der nichts bekommen. Ihr Vater hat ihr ein bisschen was gezahlt, aber das hat gerade für die Miete gereicht. Wenn sie was essen wollte oder mal ein T-Shirt kaufen, musste sie schon auch was arbeiten. Wie wir alle. Tanja kellnert und Becky hat bei einer komischen Firma in der Altstadt die Ablage gemacht und Rechnungen geschrieben und solchen Kram. Ich glaube, dreimal pro Woche. Damit ist sie ganz gut hingekommen.“
„Wie heißt denn die Firma?“
„Sorry, das weiß ich nicht. Die sind irgendwo in der Nähe vom Markt, in einem Hintergebäude, und sie machen irgendwas Langweiliges.“
„Wo ist denn Beckys Zimmer? Vielleicht finden wir da etwas Genaueres?“
„Dürfen Sie das denn? Müssen Sie mir da nicht so ein rosa Blatt zeigen?“
Joe lächelte. „In diesem Fall nicht. Sie sollten nicht alles glauben, was Sie im Fernsehen sehen. Also, wo ist Beckys Zimmer?“
Bille ging voraus und stieß eine von drei Türen auf. „Hier!“
Katrin und Joe staunten, als sie sich umsahen: Welch perfekte Ordnung! Ziemlich untypisch – oder war das ein Vorurteil? Die Möbel waren zum größten Teil IKEA- Produkte, die schon einige Male zu oft umgezogen waren, wie ihr abgewracktes Aussehen nahelegte, aber alles war blitzblank und staubfrei, Bücher und Ordner standen in Reih und Glied, die Ordner waren auf das Sauberste beschriftet, der kleine Schreibtisch war fast leer, das Bett ordentlich gemacht und der Kleiderschrank geschlossen.
„Respekt“, sagte Katrin deshalb zu Bille, „so sah mein Zimmer während des Studiums nicht aus.“
Bille lächelte traurig. „Ja, Becky ist – war – einfach perfekt. Ich will ja nicht sagen, dass es viel besser jemand anderen hätte erwischen sollen, aber – nun ja.“
„Das denkt man sich in einer solchen Situation verständlicherweise oft“, beruhigte Joe sie. Katrin setzte sich an den Schreibtisch und begann, die Schubladen rasch, routiniert und ohne die Ordnung zu zerstören durchzusehen.