Eine Leiche zwischen den Jahren - Elisa Scheer - E-Book

Eine Leiche zwischen den Jahren E-Book

Elisa Scheer

0,0

Beschreibung

Iris Kessler wohnt mit ihrem Mann in einem der vielen Reihenhäuser in Leiching Süd; sozusagen um die Ecke leben sowohl ihre Eltern als auch ihre Schwester samt Lebensgefährten, der sich allerdings um nichts kümmert und auch nicht arbeitet, was die Verwandten durchaus zum Grübeln bringt: Woher hat er überhaupt etwas Geld? Und warum wirft Lydia ihn nicht einfach raus? Nett ist er ja uch nicht...! Iris bereitet Weihnachten etwas unmotiviert vor - Fondue am Heiligen Abend, Gans für alle am ersten Feiertag. Sie telefoniert danach mit Mama und Lydia und beschäftigt sich zwischen den Jahren mit Aussortieren, Aufräumen und Entsorgen. Lydias Jochen ist nach den Feiertagen erst einmal nicht auffindbar, dann stellt sich heraus, dass er tot ist. Erschlagen. Entsorgt? Aber warum? Sogar Lydia sagt, soo lästig sei er doch auch wieder nicht gewesen! Sowohl die Familie als auch die Kripo Leisenberg stellen jede Menge mehr oder weniger abstruse Theorien auf, bis sich eine davon endlich als etwas zielführender entpuppt. Aber erst in der Silvesternacht wird langsam alles klar...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Imprint

EINS 23.12.23 (Sa)

Weihnachten war wirklich lästig, dachte Iris sich seufzend, während sie das Wohnzimmer noch gründlicher als sonst putzte – ihre Eltern, ihre Schwester und Tante Almut und ihre eigenen Kinder kamen am ersten Feiertag zur Gans. Da würden bestimmt viele meckern. Staubreste, Gläser nicht nachpoliert, kein veganes Essen, unökologischer Christbaum, falsche Geschenke, Wein zum Essen – oder kein Wein zum Essen, Plätzchen machen dick, keine Plätzchen wirken freudlos, Klaus mochte ohnehin alle anderen nicht so besonders (nicht ganz zu Unrecht) und würde versuchen, bei der erstbesten Gelegenheit im Keller zu verschwinden, zum „Basteln“. Daraufhin würde Lydia bestimmt feststellen, man sollte doch einmal den Keller besichtigen und nachprüfen, ob er ordentlich aufgeräumt sei… Waren diese pessimistischen Gedanken eigentlich begründet oder bildete sie sich manches einfach nur ein? Weihnachtsblues?

Um zwölf schleppte sie den eher kleinen Christbaum ins Wohnzimmer und bugsierte ihn mühsam in den wassergefüllten Ständer. Schnaufend betrachtete sie sich dann seine Position in der einzig denkbaren Zimmerecke – naja! Aber vor den Vorhängen war es doch wohl nicht besser? Kleiner Zimmerbrand? Ob das das Gansessen abkürzen konnte? Nein, das war es auch wieder nicht wert!

Nun brauchte sie noch die Gabentische – äh, die standen im Keller und waren wahrscheinlich ohne Ende eingestaubt. Und im Keller war auch Klaus. Egal, wenn sie ihn nicht ansprach, merkte er doch gar nicht, wenn sie an ihm vorbeischlich? Wenn doch, gab es eben zwei Minuten Smalltalk!

Als sie die – natürlich verwickelte und verknotete – Lichterkette aus der Kiste zog und allerlei Schmuck-Nikoläuse daraus entfernte, schüttelte sie den Kopf über sich selbst: Zimmerbrand – mit dieser Kette? Wohl kaum.

Lag es an Weihnachten, dass man sich in so veralteten Denkmustern und Scheinproblemen wiederfand? Als nächstes dachte sie noch über Lametta nach, als hätte sie das uralte Zeug (in eine Zeitungsseite von ungefähr 2004 gewickelt) nicht schon vor Jahren in den Wertstoffhof gebracht!

Gut, Klaus´ miesepetrige Stimmung war wirklich ein aktuelles Problem, aber da wusste sie im Moment auch keine Lösung. Außerdem war sie selbst ja auch nicht gerade strahlender Laune! Vermutlich der Stress der letzten Wochen…

So, die Kette war einigermaßen glatt, sie drapierte sie zweimal um den Baum, länger war sie ohnehin nicht, testete die Birnchen und stellte fest, dass nur eine dunkel geblieben war – und die war hinter dem Baum. Merkte eh keiner!

Sie setzte noch einen leicht verbeulten Stern aus Goldpapier auf die Spitze – Caro oder Basti hatten das Ding mal im Kindergarten gebastelt, was man ihm auch ansah – und fand den Baum schon ganz ansehnlich. Kugeln würde siespäter machen…

Die Zutaten für den Heiligen Abend (Fondue) und den ersten Feiertag (Gans mit Knödeln und Blaukraut, darauf bestanden ihre Eltern, denn das machte man so…) waren schon im Haus, die paar Geschenke waren schon eingepackt – halt, die Sternchendecken für die Geschenkehocker! Wo waren die bloß? Einfach bei den Tischdecken oder in der Weihnachtskiste? Später…! Und die Hocker? Wirklich im Keller?

Aufschreiben? Hier gab´s nichts zu schreiben…

Morgen wären sie zu viert – besser gesagt, fünf, vielleicht brachte Caro ja ihren neuesten Freund mit? Fünf Stühle – und am ersten Feiertag, also Montag, waren sie zwei – vier - die Eltern – die Schwester, der komische Jochen, Lydias Kinder (wenn die Lust hatten)  - Almut: maximal elf. Gut, der Tisch war groß genug, aber wo waren eigentlich die überzähligen Stühle? Ihr Blick irrte zum Tisch, wo sechs Stühle standen.

Fehlten also fünf… im Gästezimmer waren zwei, im Flur stand einer, machteneun. Zwei müssten noch irgendwo sein – Schlafzimmer? Sie konnte sich gar nicht konzentrieren, kein Wunder, dass Weihnachten wie eine Wand vor ihr stand!

Diese blöden Hocker, die man nie brauchte, außer eben zur Bescherung, waren bestimmt im Keller, da würde sie jetzt nachschauen.

Vor dem Treppenhaus hing ein Spiegel, in dem sie sich im Vorbeilaufen sah – du lieber Himmel, hatte sie sich heute Morgen nicht wenigstens frisiert? Eine perfekte out-of-bed-Frisur! Und ein mieses G´schau. Sie setzte ein etwas gekünsteltes Lächeln auf. Dabei an Weihnachten zu denken, erwies sich eher als kontraproduktiv, jetzt dachte sie ja schon wiederScheißweihnachten!

Ach, egal, Hauptsache, am Montagabend war alles vorbei… vielleicht konnte sie jetzt mit diesem Weihnachten-Bashing mal aufhören?

Im Gerümpelraum im Keller fand sie die zwei Sätze Gabentische und trug sie in zwei Tranchen nach oben, um sie neben dem doch etwas dürftigen Christbaum abzustellen. Als sie mit dem zweiten Satz die Kellertreppe hinaufstieg, rief Klaus aus der Werkstatttür: „Iris, was machst du da?“

„Am Tag vor Heiligabend? Rate mal!“, gab sie zurück und stieg weiter nach oben. Andere Frauen lagen heute vielleicht in einem Cremebad, um an den Festtagen gut auszusehen und sich entspannt zu fühlen. Sollte sie sich ernsthaft darüber ärgern? Cremebäder mochte sie gar nicht – und wen in dieser etwas lästigen Familie sollte sie denn bezaubern wollen? Klaus? Dreimal kurzgelacht…

Wenn ich mir was wünschen dürfte, sagte sie sich, dann soll jetzt jemand anrufen und sagen, dass sie alle über Weihnachten auf eine Hütte fahren, aber ich dürfte nicht mit, weil ich ja keine Ski mehr habe. Herrlich…

Wenn sie realistisch war, musste sie natürlich zugeben, dass sie alle am Montag spätestens um elf vor der Tür standen, bereit, alles kritisch zu beäugen, alle Plätzchenteller leer zu fressen und sich an der Gans den Magen zu verderben. Ja, und ihr dann die Schuld zu geben! Naja, nicht alle…

Am Montagabend war alles vorbei, das war doch auszuhalten?

Sie sollte doch noch mal schnell zum Supermarkt gehen, ein paar Extrapakete Plätzchen und Lebkuchen konnten nicht schaden, sonst guckten wieder alle so. Jetzt war es… Viertel vor eins, eigentlich Mittagszeit. Sie würde jetzt einkaufen gehen und Klaus konnte sich ja wohl mal ein Brot schmieren – falls er alles dazu Nötige in der Küche fand. Wahrscheinlich konnte sie dann gleich wieder losziehen, weil er die Fonduezutaten aufgefuttert hatte…

Das war natürlich Quatsch, musste sie unterwegs zugeben, Brühe ohne was mochte er nicht, rohes Fleisch auch nicht – und die Saucen waren noch nicht angerührt, die Baguettes aber schon eingefroren. Den Rest Schinken konnte er sich mit etwas Butter auf ein Knäckebrot klatschen – oder eine Fünfminutenterrine, wenn er wusste, wie sie aufzugießen, umzurühren und schließlich zu löffeln war. Stand ja eigentlich auch außen auf dem Napf… das hatte er schon mal fertiggebracht, erinnerte sie sich.

Sie musste am Montag mal Lydia fragen, wie sich ihr Jochen anstellte, wenn er sich im Haushalt einmal selbst zurechtfinden sollte – der brachte doch nicht einmal ein bescheidenes Gehalt nach Hause? Was machte der eigentlich beruflich? Sie würde ihn am ersten Feiertag fragen. Das belebte die Diskussionen bestimmt sehr hübsch! So und jetzt auf zum Supermarkt!

Dort griff sie sich die letzte Box mit Vanillekipferl und auch noch eine mit Ochsenaugen, erntete dafür einige sehr unweihnachtliche Blicke, verzichtete auf zusätzliche Christbaumkugeln und stellte sich ans Ende der endlosen Kassenschlange.

Die übrigen Verkäuferinnen hatten wohl schon frei? Na, die mussten ja wohl auch dieses „Sch…weihnachten“ vorbereiten, Männer und Kinder hatten sich garantiert verkrümelt!

Sie war aber auch selber schuld, warum war sie nicht gestern nach der Arbeit noch schnell wegen Plätzchen hier reingesprungen? Weil sie um sieben Uhr abends echt keine Lust mehr gehabt und gedacht hatte, am nächsten Vormittag wäre es bestimmt besser – ich dumme Kuh, am Samstag?

Die Klingel wurde immer nachdrücklicher betätigt und schließlich eilte der Filialleiter herbei, sichtlich schlecht gelaunt, und öffnete Kasse zwei. Gefühlt hundert Leute wechselten dorthin, Iris rückte gleich etliche Meter vor; den Filialleiter mochte sie nicht besonders – ja, wenn die Selbstbedienungskasse mal funktionieren würde, aber da hing ja immer noch das Außer-Betrieb-Schild…

Endlich konnte sie ihre paar Sachen bezahlen und nach Hause eilen.

Dort saß Klaus am Esstisch – kein Geschirr, kein Besteck, kein Essen, saure Miene. Er sah anzüglich auf die Uhr. Iris verdrehte die Augen und stellte ihm einen Teller und Besteck hin, dazu ein Glas, in das sie gleich ein kaltes Bier einschenkte.

„Und du?“

„Keine Zeit, ich muss dir doch was kochen?“

„Wäre schon nett...“

Dann haute sie ihm eben ein Fertigessen – Nudeln und Gemüse – in den Topf! Geschah ihm recht! Zehn Minuten später setzte sie ihm den Teller hin. „Parmesan?“

„Nö, muss nicht sein.“ Er begann, kommentarlos das langweilige Zeug in sich hineinzuschaufeln – na, dann schmeckte es wohl einigermaßen. Der große Lobpreiser war er ohnehin nie gewesen.

Als sie wieder einmal zum Esstisch schaute, war er verlassen – der geleerte Teller stand noch da, die schmutzige Gabel lag auf dem Set. Na gut, das konnte man abwischen.

Wieviele Haushalte gab es wohl, in denen ein solcher Stoffel die Weihnachtsfeiertage nur verletzt oder gar nicht überlebte? Sie räumte Wohnzimmer und Küche weiter auf und überlegte sich dabei weihnachtliche Mordmethoden – vergiftete Plätzchen? Ach nein, die armen Dinger konnten doch nun auch nichts dafür! Und was konnte man da überhaupt an Giftnehmen?

Aus Krimis kannte sie nur Arsen und Strychnin, aber die konnte man doch leicht nachweisen, oder? Und woher bekam man denn so etwas?

Blödsinn! So arg war Klaus auch nicht, ein manischer Bastler eben. Und die Geräte, die erwieder zum Laufen gebracht hatte, spendete er an diesen Gebraucht-Laden, wo man Geräte kaufen konnte, die manche sich neu nie leisten konnten, DVD-Player, Toaster und so. War doch eigentlich ganz lobenswert?  Manche,hieß es, wollten die alten Geräte wegen des vintage-Designs. Warum dachte sie jetzt darüber nach?

Allerdings hatte sie währenddessen den Tisch saubergemacht, auch das Set, einmal durchgesaugt und obendrein die Spülmaschine gestartet. Erst das Telefon unterbrach ihr Herumgewusel.

Caro, ob sie morgen etwas mitbringen sollte? Iris wehrte entsetzt ab, sie hatte mindestens Vorräte bis Neujahr gebunkert! „Komm einfach, sei gut gelaunt und hör übermorgen weg, wenn die Stänkerer wieder loslegen.“

„Lass mich raten – Opa, Jochen, vielleicht auch Papa?“

„Na, Lydia ist ab und zu auch etwas seltsam, findest du nicht?“

„Stimmt schon. Na, morgen haben wir doch bloß Papa? Vielleicht geht der ja bald wieder in den Keller…“

Iris lachte. „Vermutlich. Das muss mir dann Kraft geben für übermorgen, wenn die ganze Mischpoke um den Tisch sitzt und bestimmt wieder was zu meckern hat. Was machst du heute noch?“

„Bisschen lernen, an einer Seminararbeit schreiben und ein Projekt planen. Und meine Wohnung putzen. Nix Aufregendes also.“

„Ich weiß nicht. Routine hat an solchen Tagen sicher etwas Beruhigendes, meinst du nicht?“

„Naja. Ich freu mich schon ein bisschen auf morgen.“

„Ehrlich? Erwartest du Geschenke?“

„Das weniger, wir haben das doch schon gestrichen, oder? Aber ich sehe dich und Tante Almut gerne mal wieder, Basti auch, Papa ist eh im Keller und die anderen sind mir egal, aber vielleicht kann ich sie ein bisschen ärgern? Basti denkt bestimmt das Gleiche.“

„Ein bisschen ärgern ist okay, denke ich, aber nicht so arg, nicht, dass die Verwandtschaft beleidigt hinausrauscht!“

„Nicht mal dieser Jochen?“

„Naja, der reizt ja schon, aber die arme Lydia – und die Kinder? Die müssten da doch wohl mitgehen?“

„Ach komm, die mögen ihren Erzeuger doch auch nicht, oder? Wovon lebt dieser Kerleigentlich?“

„Na, von Lydia, vermute ich. Vielleicht hat er ja andere Qualitäten – obwohl, äh…“

„Ja, äh! Scheußliche Vorstellung! Also, bis morgen – um sechs? Wollt ihr vorher womöglich noch in die Kirche?“

Iris kicherte, als sie das Handy beiseitelegte: Caro war wirklich nicht nur ihre Tochter, sondern auch eine Schwester im Geiste! Gut, ein Informatikstudium hätte sie sich für sich selbst nicht vorstellen können, aber das tat der Verbundenheit ja keinen Abbruch…

Sie sah sich prüfend um – alles in Ordnung, soweit es ihr schien. Und ganz ehrlich, morgen war es ziemlich egal, niemand hatte da einen Blick für staubige Ecken, außer ihr selbst. Und sie würde einfach wegschauen!

Übermorgen waren Lydia und vor allem Mama vielleicht etwas problematisch, die legten schon Wert auf ein keimfreies Ambiente… Lydias Kinder kamen ja wohl doch nicht mit und dieser Jochen konnte ja mal ganz ruhig sein, da fiel ihr schon etwas ein, um ihn zum Schweigen zu bringen!

Naja, Mama? Papa war harmlos, der brauchte nur genug zu futtern – dann sagte Mama wieder Kurt, denk an deinen Blutzucker, deinen Blutdruck und deine Arterien, iss das nicht, iss dieses nicht… dann stritten sie ein bisschen und Papa fügte sich, er war ja nicht lebensmüde. Mama genoss kurz ihren Sieg, dann wandte sie sich aber wahrscheinlich den Defiziten ihrer Töchter zu. Den eingebildeten Defiziten!

Almut hatte ihr Leben voll im Griff und war neben ihrer Bibliotheksarbeit noch ehrenamtlich tätig, bei der Tafel und bei der Betreuung von Obdachlosen.

Lydia hatte zwei Kinder, die noch nicht ganz auf eigenen Füßen standen, einen Mann, der eher ein Klotz am Bein war und einen Vollzeitjob, damit sie die Bande durchfüttern konnte.

Und sie selbst war eigentlich auch nicht erfolglos – guter Job, nette, fleißige und engagierte Kinder… na gut, ein etwas zurückgezogener Ehemann, aber so what?

Auf die Tipps von Mama war sie ja mal gespannt… vielleicht konnte sie das Ganze ja auch von der heiteren Seite nehmen?

ZWEI 25.12.23 (Mo)

Heiligabend war gar nicht so schlecht verlaufen, musste sie am Montagmorgen zugeben, während sie die Gans – ein Riesenvieh, das reichte locker für alle – ausnahm, auswusch, trockentupfte, mit den  geschälten Maronen, Äpfeln und Beifuß füllte und mit einigen Zahnstochern „zunähte“. Sogar Klaus war freiwillig aus dem Keller nach oben gekommen, was allerdings kein Wunder war, denn Fondue liebte er sehr.

Die Kinder hatten sich seinen Bericht über ein original DDR-Kofferradio, das er schon fast wieder zum Laufen gebracht hatte, geduldig angehört und erst danach aus ihrem eigenen Leben berichtet. Das allerdings hatte sich eher an ihre Mutter gerichtet, denn Papa war währenddessen geistig schon wieder etwas weggedriftet und hatte sich darauf beschränkt, stetig Saucen nachzunehmen und sich ordentlich viele Baguette-Scheiben neben dem Teller aufzustapeln, was Iris sich achselzuckend angesehen hatte – Baguettes gab es noch im Gefrierschrank.

Basti hatte von einer Demo für ein Tempolimit auf Autobahnen berichtet und von einer Aktion, um Winterkleidung für Arme und Obdachlose zu sammeln. „Oh, wie bei Almut?“

„Genau, sie hat uns ja auch auf die Idee gebracht. Habt ihr vielleicht auch noch überzählige warme Handschuhe, Mützen und Schals?“

Iris hatte kurz überlegt. „Ich bestimmt – und sag mal: Schlafsäcke? Wir fahren doch bestimmt nicht mehr weg, da bleiben ja die Reparaturen liegen!“

„Oder Papa verpasst die Lieferung eines Volksempfängers im Originalzustand“, hatte Caro vorgeschlagen.

Auf seinen Namen hörte Klaus im Allgemeinen, also hatte er kurz aufgesehen und gefragt: „Was?“

„Ach, nichts…“ hatte Caro abgewunken. „Wir wollten dich ja nicht stören,gell?“

„Hast du da was von Volksempfänger gesagt?“

„Da merkt der Papa auf!“, hatte Basti gemurmelt.

„Klaus, denk dir nichts, wir haben nur überlegt, dass wir unsere Schlafsäcke doch wegspenden können.“

„Die sind aber doch noch gut?“

„Eben. Und andere Leute brauchen sie doch viel nötiger. Oder wolltest du nochmal verreisen? Mit Schlafsack?“

„Lieber Gott, nein. Ich würde mit den Reparaturen ja nie mehr fertig!“

„Wenn wir mit dem Essen fertig sind, gehen wir mal in den Keller, okay?“ Dies zu den Kindern, aber Klaus war trotzdem erschrocken.

„Nicht in die Werkstatt, keine Sorge! Wie haben genügend Rumpelkammern…“

Und tatsächlich hatten sie nicht nur Schlafsäcke und allerlei Winterkram  gefunden - auch diese blöden Mützen, die Mama ihnen einmal für die ganze Familie geschenkt hatte! Mit der Begründung Dann sieht man doch gleich, dass ihr eine Familie seid! Hatte Caro da nicht Würgegeräusche vorgetäuscht?

Sie lächelte vor sich hin und schob das extragroße Reindel mit der ölglänzenden Gans in den Ofen, ja, die Temperatur stimmte auch. In zwei Stunden konnte sie ja mal nachschauen, wie es voranging. Also kurz vor acht…

Den Tisch sollte sie auch noch schön decken; Blaukraut und Knödel hatten noch etwas Zeit, sonst waren sie bis halb eins schon total verkocht…

Nein, den Tisch noch nicht, denn wenn jemand frühstücken wollte – so gegen zehn –, saute er dann bloß das gute Geschirr oder gar die Tischdecke ein. Ach, wahrscheinlich beides. Vermutlich frühstückte aber sowieso niemand, wenn es mittags schon wieder Gans gab. Höchstens Klaus – egal. Wer auch sonst?

Es genügte, wenn sie noch etwas Wasser in den Christbaumständer gab, die Krümel von gestern Abend wegsaugte und einen großen Plätzchenteller zentral aufstellte, damit alle Gäste sich bedienen konnten. Weihnachten wirkte sich immer sehr auf den Appetit aus – und danach auch auf das Gewicht…

Weißwein und Sekt konnte sie noch kaltstellen und dann eine kleine Lesepause einlegen – Caro hatte ihr einen frechen feministischen Roman geliehen und der erste Blick hinein gestern Abend hatte recht vielversprechend gewirkt… Mit dem Buch machte sie es sich auf dem Sofa gemütlich, langte zwei, drei Mal in den Plätzchenteller und schnupperte gelegentlich, ob sich die Gans schon bemerkbar machte.

Dann allerdings irrten ihre Gedanken wieder ab und sie dachte an ihre Freundinnen, die in der letzten Woche, als sie sich noch einmal im Fabrizio´s auf eine leckere Pizza getroffen hatten, nur gejammert hatten – Weihnachtsstress, freche Kinder, gleichgültige Ehemänner, zu wenig Geld… manche waren wirklich Jammerliesen und machten selbst nichts, um die Lage zu verbessern. Als sie gesagt hatte: „Lieber Himmel, dann mach doch nicht so viele und so teure Geschenke, wenn du gerade nicht so viel Geld hast!“

„Aber die Kinder erwarten das doch!“ Winsel, winsel…

„Das ist doch deren Problem?“ Manche hatten ihr recht gegeben, eine hatte allerdings gefragt: „Was bist du denn für eine Mutter?“ – und dann war es so richtig rundgegangen!

Kinder heillos verziehen gegen Kinder mit Härte auf das Leben vorbereiten – Iris hatte gefragt, ob es nicht auch einen Mittelweg geben könnte, da hieß es dann: „Sei du doch ruhig, was weißt du denn schon!“

„Eigentlich habe ich ja auch zwei Kinder, die sehr vernünftig geworden sind, aber wenn ihr mich sowieso für eine Idiotin handelt, kann ich ja auch gehen, nicht wahr?“

Sie hatte ihr noch fast unberührtes Essen am Tresen bezahlt und das Lokal verlassen, ohne dass sie jemand zurückzuhalten versuchte. Blöde Schnepfen! Nicht gerade weihnachtlich – aber sie hatte ja nicht angefangen! Wenn man daran dachte, sollte man selbst vielleicht darauf achten, nicht dauernd zu winseln!

Mal sehen, wie es heute Mittag krachen würde! Wenn niemand meckerte, wäre sie ja direkt enttäuscht… so musste man das sehen, sportlich!

Sie begoss die schon leicht bräunende Gans mit der Mischung aus Fleischsaft, Gänseschmalz und Öl, schnupperte anerkennend und schloss den Ofen wieder. Kurz vor neun, wenn Klaus jetzt endlich mal aufstand, sollte er eben am Küchentisch frühstücken, sie würde jetzt den Tisch im Wohnzimmer decken! Damit, mit dem Formen der Knödel und dem Vorbereiten des Apfelblaukrauts verging der restliche Vormittag recht rasch; sie warf sich in ihr Weihnachtskleid, drehte die Kochstellen unter Knödeln und Blaukraut hoch und war fünf Minuten zufrieden, dann läutete es.

Ach, nur Caro, dann war ja erst einmal alles gut. Viertel vor zwölf… um halb eins war alles fertig.

„Basti kommt auch bald, der war gestern noch feiern und hat jetzt einen Schädel auf.“

„Dann gibt´ s wieder mal Jugend-von-heute-Gelaber?“

„Logisch. Mama, du musst das wie eine alte Comedy-Show sehen und über das Casting nachdenken. Loriot zum Beispiel?“

„Für Papa, Opa, Jochen?“

„Opa, denke ich. Wie heißt denn der aus der Heute-Show, der sich immer so in Rage redet?“

Iris musste lachen und es läutete wieder. „Mach du auf, ich rühre mal das Blaukraut um – und alles andere.“

„Vor allem die Gans, gell?“

„Wo ist denn deine Mutter?“, hörte Iris aus dem Flur.

„In der Küche“, antwortete Caro kühl und Iris grinste kurz. „Passend“, sagte Jochen und Lydia ging natürlich sofort hoch: „Soll das heißen, das ist der Platz einer Frau?“

„Naja… das hast du gesagt!“

Feigling.

Lydia murmelte etwas, was sich auch auf die Entfernung wie Arschloch anhörte. Zu Jochen passte das, fand Iris, begoss die Gans wieder einmal und fand sie schon sehr schön, dann gab sie die Knödel ins Kochwasser und stellte die Riesenplatte für die Gans und ihre Füllung bereit. Eine halbe Stunde brauchte sie wohl noch…

Sie konnte gerade noch einmal das Blaukraut umrühren, dann musste sie wohl doch mal in den Flur gehen und sich diesem grässlichen Kerl stellen. Warum hatte Lydia sich den bloß zugelegt? Wenn sie es recht bedachte, hatte sie sich das schon gefragt, als Lydia ihn zum ersten Mal mitgebracht hatte, damals noch bei den Eltern. Lydia war gescheit, sah gut aus und hatte ihr Leben im Griff – und dann diesen Chaoten? War der eine Art Kontrastprogramm?

Lydia hatte ihr Leben vermutlich immer noch im Griff, aber warum hatte sie den Idioten immer noch nicht abgestoßen? Gut, Lydia dachte sich über sie und Klaus das gleiche, vermutete sie, aber Klaus störte doch nicht weiter, er saß doch eh immer im Keller, wenn er nicht in der Arbeit war. Jochen stellte Ansprüche und hatte nur selten – wenn überhaupt - einen Job, fraß aber für drei, bildlich gesprochen…

Der Flur war leer, aber es läutete schon wieder. Dieses Mal waren es die Eltern, mit grämlicher Miene. Warum das nun wieder! Es schneite nicht, regnete nicht, stürmte nicht, es war Weihnachten und sie bekamen binnen kurzem eine Weihnachtsgans mit allem Zubehör, was war daran schon wieder so betrüblich?

„Schön, das ihr da seid!“ Iris, um Harmonie bemüht, umarmte beide. „Frohe Weihnachten.“

„Eure Einfahrt ist nicht ordentlich geräumt“, antwortete Papa.

„Wie meinst du das? Da liegt doch kein Schnee?“

„Trotzdem!“

Altersstarrsinn – mit gerade einmal siebzig? Noch nicht mal ganz?

„Kurt!“, mahnte Mama. „Ich finde, es riecht schon sehr gut!“

„Danke schön“, antwortete Iris artig. Es klingelte wieder – dieses Mal war es Basti, der aussah, als sei ihm ziemlich übel. Iris zwinkerte ihm zu: „Nachher noch gefeiert?“

Er nickte reuig.

„Was! Am Heiligen Abend?“ Mama war empört. „Denkst du gar nicht an deine Familie?“

„Mama, was meinst du damit? Bescherung, Essen und einige gute Gespräche waren da schon vorbei – und ich wüsste nicht, dass ein Gesetz besagt, man habe nach der Bescherung nach Hause zu gehen und dort gefälligst auch zu bleiben. Das ist doch nicht Allerheiligen!“

„Seltsame Sitten.“

„Jetzt kommt rein und setzt euch ins Wohnzimmer, ich muss nochmal in die Küche“, versuchte Iris diesen albernen Disput zu beenden.

„In die Küche?“ Papa, wer sonst?

„Ihr wollt doch einen Gänsebraten?“

„Der ist noch gar nicht fertig? Du hast wohl verschlafen?“

„Nein.“

Denen fiel doch immer neuer Blödsinn ein, ärgerte sie sich, während sie die Gans tranchierte und alles samt der Füllung auf der großen Servierplatte arrangierte; dann richtete sie Knödel und Blaukraut an und rief Caro, um ihr beim Servieren zu helfen.

„Basti war wohl zu riskant?“, grinste die, als sie nach den beiden Schüsseln griff und das Wohnzimmer ansteuerte. Iris trug die Gans hinterher und danach die Sauciere.

Alle waren da – außer Klaus, na, kein Wunder! Immerhin hatte sich Jochen zum ersten Mal in seinem Leben nützlich gemacht und den Weißwein geöffnet. Er schenkte sogar ein, fragte aber nicht, ob alle Wein wollten, sondern verteilte die Flasche auf sämtliche Gläser. Iris eilte noch einmal in die Küche und holte einige Wassergläser und die Flasche. Puh, ihr reichte es jetzt schon!

Schließlich hatten alle einen wohlgefüllten Teller  vor sich stehen, Jochen allerdings beklagte, er habe sich eine Keule gewünscht. „Jochen, es haben sich fünf Leute eine Keule gewünscht und die Gans ist kein Fünffüßler.“

Caro kicherte.

„Du hättest eben zwei Gänse braten sollen“, maulte er.

„Das ist hier kein Gasthaus. Zwei hätten gar nicht in den Ofen gepasst.“

„Dann brauchst du eben einen größeren Ofen.“

„Jochen, lass es!“, zischte Lydia. „Außerdem hattest du letztes Jahr eine Keule.“

Klaus, der es gerade noch rechtzeitig geschafft hatte, an das Gansessen zu denken, erklärte, er habe auch nur Brust bekommen.

„Wer hat denn die Keulen?“

„Mama und Almut“, erklärte Iris, die gute Lust hatte, die blöden Neidhammel vor die Tür zu sitzen. „Jetzt esst und hört mit dem kindischen Theater auf! Guten Appetit. Haben alle Wein oder Wasser?“

„Wieso Wasser? An Weihnachten trinkt man doch was Richtiges!“, ließ sich Jochen wieder vernehmen. „Au!“ Er rieb sich theatralisch die Seite.

„Du hast jetzt Redeverbot!“, verfügte Lydia.

„In diesem Haus zwingen wir niemanden zum Saufen“, erklärte Iris und hoffte, dass ihr Lächeln so stählern aussah, wie sie sich fühlte.

Fünf Minuten lang ging alles gut, das Essen wurde gelobt, man hörte auch leises Schmatzen, und mehrfach wurde gesagt „Ich liebe Maronen! Die sollte man wirklich öfter essen!“

„Am Marktplatz steht den ganzen Winter ein Maronibrater“, erklärte Caro und lächelte freundlich in die Runde.

„Die schmecken nicht so wie die hier“, wandte Opa ein.

„Ja, weil die hier in einer Gans geschmort worden sind – am Markt werden sie gebraten. In der Schale.“

„Woher willst du denn das wissen?“, war die grämliche  Antwort.

„Weil Caro kochen kann“, schnappte Iris.

„Und warum sagt sie das nicht selbst?“

„Warum sollte ich? Du glaubst es eh nicht und mir ist es auch wurscht“, erklärte Caro lächelnd.

„Das ist unverschämt!“

Iris ließ klappernd ihr Besteck fallen. „Wenn man sich alles zu Herzen nehmen wollte, was hier an Kritik, Verdächtigungen und Gemaule geäußert wird, müsste man sich einen Strick nehmen. Caro macht das ganz richtig. Und jetzt redet gefälligst von etwas anderem!“

Oma Sigrid tat ihr den Gefallen, aber erfolgreich war das nicht: „Wo sind denn eigentlich Nico und Nora, Lydia?“

„Beim Skifahren, seit vorgestern.“

Caro staunte: „Wo liegt denn überhaupt Schnee? Ist der nicht schon wieder weggetaut?“

„Südtirol, glaube ich.“

„Ganz schön teuer“, murmelte Klaus, unüberhörbar mit vollem Mund.

„Schluck erst mal runter“, mahnte Iris halblaut.

„Sie haben Weihnachten nicht mit euch gefeiert?“ Sigrid war entrüstet.

„Ja, wozu denn?“

„Aber das wichtigste Fest der Christenheit?“

„Das wichtigste Fest der Christenheit ist Ostern“, korrigierte Almut, der das Gejammer auf die Nerven zu gehen begann, wie es Iris schien, „und ich wüsste jetzt nicht, dass wir Weihnachten  aus lauter Frömmigkeit feiern. Oder war jemand von euch im Weihnachtsgottesdient?“

Verlegene Blicke richteten sich auf die jeweiligen Teller. „Eben! Weihnachten ist das höchste Fest des Einzelhandels, sonst nichts mehr. Und wir schenken uns doch gegenseitig nicht mehr gerade viel, oder?“

„Ich mag keine Geschenke“, verkündete Iris, um ihrer Tante beizustehen.

„Ach, warum denn nicht?“ Mama, natürlich.

„Weil ich das Zeug zumeist nicht brauche und nicht hier rumliegen haben will. Jeder Aufräumratgeber sagt, man soll Zeug, das man nicht braucht und/odernicht mag, loswerden, weil man sich sonst immer bloß ärgert. Und sind wir doch auch ehrlich miteinander: Haben wir nicht alle irgendwelchen Krempel zu Hause, bei dem wir uns total freuen würden, wenn den jemand klauen täte?“

Almut lachte auf: „Sigrid, hast du den Kaffeewärmer von unserer Oma noch, den gelb-braun-gestreiften? Den sie dir zur Hochzeit geschenkt hat?“

„Uns!“, verbesserte Opa Kurt sofort.

„Du hast den doch noch nie angefasst“, kommentierte Almuts Schwester. „Nee, Almut, da hast du schon Recht. Ich hab ihn aber noch – bloß wo? Hui…“

Mit dem Thema Scheußlicher Kram, aber wo hab ich den bloß verbuddelt? waren alle bis zum Walnusseis mit heißen Himbeeren aufs Netteste beschäftigt – nur Klaus und Jochen, die ollen Spaßbremsen, hielten sich heraus und vertilgten stumm die Reste der Gans und des Blaukrauts. Morgen gab es angebratene Knödelscheiben mit Spiegelei und Parmesan, beschloss Iris im Stillen, bevor sie auf ihr Kostüm von der standesamtlichen Trauung zu sprechen kam. Das wieder interessierte Caro, die es einmal anprobieren wollte.

„Bist du nicht erst im dritten Semester?“, fragte Lydia. „Bis du den Master machst, ist es wahrscheinlich wieder aus der Mode.“

„Mir egal – dunkelblau geht doch immer. Geh ich halt damit ins Theater, Glitzerhalstuch drumrum und fertig.“

Zum ersten Mal meldete sich auch Basti: „Ich geh mit runter, vielleicht finde ich auch was?“

„Ein dunkelblaues Kostüm?“, spottete seine Schwester.

„Eher einen Eisbeutel“, vermutete seine Mutter.

„Oder etwas für den Wertstoffhof“, spekulierte seine Großtante.

Basti grinste: „Voll ins Schwarze, Tante Almut! Soll ich bei dir auch mal auf die Suche gehen?“

„Nicht nötig – mein Schotter ist längst im Wertstoffhof gelandet!“

„Was seid ihr denn für eine Generation? Ihr werft alles weg, was ihr nicht mehr wollt, wo ein Knopf fehlt oder ein Kratzer drin ist. Ganz schön großkotzig, finde ich“, tadelte Opa Kurt.

Seine Schwägerin Almut verdrehte die Augen. „Kurt, lass das Greinen aus den fünfziger Jahren. Wir werfen doch nichts weg! Im Wertstoffhof gibt´s einen Laden, dort können Leute das Zeug für ein paar Euro kaufen. Die freuen sich, wir sind den Kram los und der Wertstoffhof-Verein hat noch ein paar Euro verdient. Und es gibt keinen Müll!“

„Du biederst dich bei den Jungen ganz schön an“, murrte Kurt. Iris seufzte hörbar: Papa wurde ziemlich rasch ziemlich alt! Mama war wenigstens weniger altmodisch – naja, fast.

Jochen und Klaus hatten sich den Rest Eis noch geteilt, grinsten und klopften sich auf die Plauzen. „Gutes Essen“, quälte Klaus sich dann nach einem strengen Blick seiner Frau ab – und erhob sich: „Ich muss dann mal wieder…“

Almut betrachtete sich Jochen sinnend und erkundigte sich dann, was er zurzeit eigentlich beruflich machte. Jochen errötete. „Na, Geschäfte!“

„Was denn für welche?“, fragte Basti, der sich zu Iris´ Freude von seinem Kater erholt zu haben schien.

„Was geht das dich an, du Grünschnabel?“, blaffte Jochen zurück. Basti grinste kurz und murmelte: „Sehr verdächtig. Ich tippe auf krumme…“

„Krumme was?“, fragte Almut, die Jochen ohnehin nicht leiden konnte – warum hatte Lydia nicht jemand besseren gefunden?

„Geschäfte“, erklärte Basti, wobei er Jochens Stimme nachahmte. Breites Grinsen bei fast allen – nur Opa Kurt hatte so schnell nicht geschaltet und Jochen schmollte mit gerötetem Gesicht.

Iris grinste innerlich. Vielleicht haute er jetzt ab? Dass Lydia brav mitging, war wohl nicht zu erwarten…

Nein, Jochen blieb sitzen und verlangte, dass ihm Wein nachgeschenkt werde. Iris verdrehte die Augen und stellte ihm die Flasche vor die Nase. „Schlechter Service“, murrte er.

„Seit wann verstehst du etwas von Service?“, fragte Basti natürlich prompt.

„Ich bin doch Kunde“, trumpfte Jochen auf, Oma Sigrid zog ihm aber sofort den Stecker: „Von welchem Geld denn? Oder hast du jetzt tatsächlich einen richtigen Job?“

Das vergrämte Jochen sehr, was die anderen wiederum grinsen ließ. Opa Kurt hatte das leider verpasst, er hatte sich zurückgelehnt und schnarchte leise vor sich hin.

Jochen hatte sein Glas Wein schon wieder ausgetrunken und wollte nun gehen.

Basti vermutete, er müsse wohl dringend zur Arbeit, Caro schlug prompt vor, er habe noch einen Nikolausjob, was sonst könne man am ersten Feiertag denn schon zu tun haben? Lydia feixte unverhohlen und verkündete, sie werde gerne noch etwas bleiben, aber „wenn du nach Hause gehen willst, Jochen, kannst du das natürlich gerne tun!“

Oma Sigrid betrachtete nachdenklich ihren schlafenden Mann und beschloss, noch zehn Minuten zu bleiben und Kurt dann zu wecken; Iris schaute sich um und holte den großen Plätzchenteller auf den Tisch. Jochen bediente sich sofort großzügig, packte seine Beute in eine Papierserviette und verließ den Tisch grußlos.

„Lydia, ehrlich, warum bist du eigentlich schon so lange mit dem zusammen?“, fragte Caro, nicht unbedingt leise.

„Ja, du bist eine andere Generation, du hättest das nicht gemacht – aber ich? Ich weiß es eigentlich auch nicht.“

„Das hab ich gehört!“, plärrte Jochen aus dem Flur, wo er wohl Daunenjacke und Plätzchenbeute unter einen Hut bringen wollte.

„Gut!“, rief Lydia zurück, „das musste ja mal gesagt werden!“

Die Haustür knallte zu.

„Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen“, grinste Basti.

„Ist doch in den meisten Familien so“, behauptete Caro.

„Und eigentlich ist Gans essen doch total unökologisch“, überlegte Iris. „Was wäre, wenn wir nächstes Jahr ein veganes oder wenigstens vegetarisches Essen machen?“

„Jochen kommt dann bestimmt nicht“, stellte Lydia nachdenklich fest.

„Schon ein Vorteil!“, kommentierte Basti und grinste seine Tante vergnügt an. Almut lachte. „Sigrid, was denkst du? Verweigert Kurt dann das Weihnachtsessen?“

Sigrid lachte auch, aber etwas unwillig. „Bestimmt! Wie heißt es immer? Fleisch ist sein Gemüse! Männer müssen ja bei Kräften bleiben, gell?“

„Vor allem Rentner, die immer nur hinter einem Schreibtisch gesessen haben. Kostet viel Kraft.“

 Das war Caro. Bastian setzte noch einen drauf: „Die meiste Kraft kostet das Aufstehen, wenn es nach Hause geht.“

Kurt schnarchte immer noch; Sigrid stupste ihn an, das Schnarchen verstummte mit einem irritierten Geräusch und er sah sich etwas orientierungslos um. „Was ist?“

„Wir gehen jetzt heim, Kurt! Da kannst du auf dem Sofa weiterschlafen.“

„Is gut…“ Er erhob sich etwas schwerfällig, von seinen Töchtern nachdenklich betrachtet.

Iris umarmte alle beide pflichtschuldig und stellte fest, dass ihre Mutter ein neues Parfum hatte – sehr interessant! „Wie heißt dein Parfum?“

„Activity, sozusagen eine Mahnung…“ Sie kicherte. „Sag mal“, raunte Iris noch, „der Papa ist aber nicht mehr gut beieinander, findest du nicht? Er kommt ja kaum noch vom Stuhl hoch?“

„Stimmt – aber heute ist es ärger als sonst. Zuviel Gans, vielleicht. Vielen Dank für den netten Nachmittag – und erhol dich jetzt auch mal ein bisschen!“

Iris sah ihrer Mutter und ihrer Schwester noch nach, wie sie durch den Vorgarten des Reihenhauses gingen, den wenigen Schneeresten auswichen, sich noch einmal umdrehten und ihr zuwinkten, dann kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, wo der Baum jetzt schon sichtbar zu nadeln begann.

Na toll.

„Scheißbaum“, murmelte sie also und setzte sich wieder zu Almut, Caro und Basti wieder an den Tisch.

„Früher hab ich mal gesagt So, damit ist Weihnachten ja wohl für dieses Jahr abgehakt, da waren Papa und Mama vielleicht stinkig, von wegen Geburt Christi, Familiengedöns und so weiter“, sinnierte Almut. „Mir ginge es wohl nur um die Geschenke?“

Iris nickte. „Die waren ja ohnehin ziemlich komisch, stimmt´s?“. Basti schaute recht überfordert, also erklärte sie kurz: „Das waren meine Großeltern, die habt ihr gar nicht mehr mitgekriegt.“