Zweifelhafter Erfolg. Kriminalroman - Elisa Scheer - E-Book

Zweifelhafter Erfolg. Kriminalroman E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Ein Fondsmanager ist verschwunden. Seine Frau macht sich nur begrenzt Sorgen, denn er informiert sie selten über seine Vorhaben und wenn, ist es zumeist gelogen. Seine Eltern und seine Schwester sehen das ähnlich. Die Bank, für die er arbeitet, meldet ihn aber vermisst und diese Vermisstenanzeige landet bei der Kripo, die zunächst etwas unentschlossen agiert, bis sie erfahren, dass er neben seinen harmlosen Fonds bei der Bank auf riskantere und zum Teil illegale Anlagen managt und obendrein auch noch einige Privatkunden hat, die durchaus nach seinem Blut lechzen, Van Straatens Lebensstil ist ausgesprochen gehoben, wovon seine Frau und seine Kinder aber nichts haben, seine Finanzen aber sind eher bedenklich – und woher er die Zeit nimmt, nebenbei noch mehrere Affären zu betreiben, versteht auch niemand. Und dann wird sein Luxuswagen in der Flughafengarage entdeckt, mit einem Toten auf dem Fahrersitz… Viele haben ein Motiv, viele aber auch sehr brauchbare Alibis; Thomas Waldmann und seine Mitarbeiter haben also viel zu tun, bis der Fall geklärt ist.

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Seitenzahl: 306

Veröffentlichungsjahr: 2024

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TAG 1 - 23.05.23

Ihre Wohnung gefiel ihr immer noch sehr, da hatte Elke Hanke von der Sparkasse sie wirklich gut beraten, fand Antonia, als sie von der Arbeit nach Hause kam und das große Wohnzimmer mit Küchenzeile musterte. Ja, und das Schlafzimmer war klein, aber völlig ausreichend – und sie hatte die Wohnung in diesen drei Jahren seit dem Einzug schon fast zu einem Drittel abbezahlt, also, das Hypothekendarlehen. Und schon ein hübsches Sümmchen im Depot gebunkert! In sechs Jahren lief das Darlehen aus, dann musste sie neu verhandeln. Mist, das mit den gestiegenen Zinsen, aber bis dahin brauchte sie ja hoffentlich nur noch ein Minidarlehen.

Ihr Blick fiel vom Zimmer auf den Balkon und auf die umgebenden Häuser, alle noch ganz neu, aber die frisch gepflanzten Bäume schufen allmählich doch einen Eindruck von Natur…

Birkenried war wirklich eine gute Wahl gewesen – und jetzt gab es hier ja auch alle nötigen Geschäfte und Einrichtungen, sogar ein kleines Bürgerzentrum für Rat und Tat in Familienfragen, bei Behördenärger und finanziellen Problemen. Nele Garbrecht hatte das angeregt und ihre Erfahrung aus dem Bürgerzentrum Selling mitgebracht, Elke Hanke beriet einmal pro Woche Leute, die mit ihrer Hypothek nicht zurechtkamen; sie selbst predigte zweimal pro Woche Konsumkritik und minimalistisch-ökologischen Lebensstil. Machte Spaß.

Eigentlich ging es ihr doch super!

Sie rappelte sich vom Sofa wieder auf und überlegte – putzen? Nicht heute. Einen kleinen Spaziergang und vielleicht im Da Marcellino eine leckere Pizza mitnehmen? Mit extra Käse und extra Salami? Und danach mal Lotte anrufen, wie es der so ging…

Na, wahrscheinlich auch gut, sie wohnte in einem schönen alten – nach Antonias Ansicht reichlich großkotzigen – Haus, hatte einen erfolgreichen Mann, zwei wirklich süße kleine Kinder, ihren Traumberuf (wenn auch nur in Teilzeit) und wirkte generell sehr ausgeglichen.

Ihren Eltern zufolge hatte Lotte es ja so viel weiter gebracht als Antonia – Ehemann und Kinder! Aber solch altmodisches Gedankengut musste man sich wirklich nicht antun.

Okay, Spaziergang zu Marcellino! Birkenried hatte sich in den letzten Jahr sehr schön weiterentwickelt, das Erich-Kästner-Zentrum enthielt die nötigsten Läden – und einige eher unnötige, wie einen dubiosen Handyladen oder ein Nagelstudio, aber okay, wer so etwas brauchen konnte? Auch Marcellino firmierte im EKZ; Antonia bestellte die Pizza und ging noch ein wenig Schaufenster ansehen, bis sie die Bestellung abholen konnte.

Klamotten: eher merkwürdig, viel Glitzer und oft ganz deutlich reine Kunstfaser; darin schwitzte man doch nur wie verrückt?

Reinigung: uninteressant, Antonia besaß gar nichts, was man reinigen lassen musste.

Schreibwaren: Ui! Hübsche Sachen, Blöcke, Mappen, Ordner – aber genau genommen bewahrte sie doch alles digital auf, also wozu so viele tote Bäume?

Und Bücher hatte sie lieber auf dem Reader. Die Wohnung wirkte schließlich nur so großzügig, wenn man eine gewisse Leere aufrecht erhielt.

Apotheke: Ibu hatte sie, sonst brauchte sie nichts und sie war auch völlig gesund – soweit sie wusste.

Blumen gab es ansonsten noch, aber sie mochte keine Schnittblumen, die armen Dinger! Mit ihren drei Töpfen voller Bienenmischung auf dem Balkon war sie ausgesprochen zufrieden; alles andere war ihr schon früher immer wieder eingegangen.

Die Pizza war fertig; sie eilte mit dem heißen Karton zügig wieder nach Hause und machte sich auf dem Sofa hungrig darüber her. Sehr lecker, vor allem wegen extra Salami und extra Käse!

Ein wirklich angenehm friedlicher Abend nach einem erfolgreichen Tag in der Arbeit. Ihr ging es so richtig gut, es gab gar keine Baustellen in ihrem Leben, das konnte bestimmt nicht jede von sichsagen!

Heilweg Im+Ex war eine sehr erfolgreiche Firma, die dauernd an Verbesserungen arbeitete; von wirklich abbaubaren Verpackungen hatte man sich zu 100 % recyclebaren Verpackungen weiter entwickelt und auf dem Markt von wiederverwendbaren Verpackungen und Ideen für unverpackte Waren auch schon recht schöne Fortschritte erzielt. Im Vergleich zu der Zeit, als sie bei Elke den Kredit für die Wohnung aufgenommen hatte, war Heilweg wirklich weit gekommen – und sie auch, sie leitete jetzt schon mehrere Gruppen. An die arme Lisa erinnerte sich vermutlich außer ihr selbst kaum noch jemand…

Und jetzt – Feierabend und lecker Pizza!

Sie wollte gerade nach dem letzten Achtel greifen (obwohl sie schon ziemlich satt war), als ihr Handy brummte.

Oh, Lotte! Na, die eigene Schwester konnte man ja nicht einfach wegdrücken! Also nahm sie das Gespräch an und warf dem Pizzastück dabei einen bedauernden  Blick zu: „Lotte! Alles gut?“

„Naja, muss ja, nicht?“

„Sehr aussagestark! Wo liegt das Problem?“

„Welches Problem, mir geht´ s doch gut? Naja, Ben halt, wie immer, aber daran bin ich doch gewöhnt.“

„Was macht er denn? Ist er immer noch so selten zu Hause?“

„Immer seltener! Ich glaube, die Kinder erinnern sich nur noch nebelhaft an ihn. Gestern hat Emmi gefragt: Wer bist´ n du? Er war etwas angesäuert und hat gesagt Der Papa, daraufhin hat sie sich ganz ratlos zu mir gedreht, ich habe genickt, also hat sie ihm die Hand gegeben und geknickst – mit zwei Jahren! Wie findest du das?“

„Hm. Sehr wohlerzogen. Hast du ihr das beigebracht?“

„Ja, sicher – aber dass er so selten da ist, dass seine Kinder ihn gar nicht mehr kennen? Emmi kennt das Wort Papa gar nicht! Das ist doch ziemlich bedenklich?“

„Warum muss er eigentlich derartig viel arbeiten? Hat er noch irgendwelche Nebenjobs? Ich dachte, er ist so erfolgreich als Fondsmanager?“

„Das stimmt ja auch, eigentlich muss man da auch nicht rund um die Uhr die Kurse beobachten, seine Fonds sind relativ risikoarm, sagen auch seine Kollegen, ich hab da auch den einen oder anderen kennengelernt, ist aber schon ewig her…“

„Und das hast du deinem Ben auch gesagt?“

„Naja, einmal, aber das war kein großer Erfolg. Er hat mich angeblafft, ich verstünde ja wohl nichts von Geldanlagen, also könne ich die Problematik von Aktienfonds gar nicht einschätzen. Und was er bitte dauernd zu Hause machen sollte?“

„Was für ein Blödmann!“, entfuhr es Antonia. „Zum Beispiel könnte er dafür sorgen, dass er für seine Kinder kein Fremder ist. Oder hat Noah wenigstens Hallo Papa gesagt?“

„Gar nichts! Er hat sich nur umgedreht und ist ins Zimmer hinter der Küche gelaufen.“

„Fremder böser Mann?“

„Genau, das muss ich Emilia noch beibringen, nicht dass sie vor wirklich Fremden auch noch knickst und Händchen gibt! Außerdem habe ich doch auch Geldanlagen und da passiert nicht viel. Langsames Wachstum eben, aber Wachstum!“

„Na, sollte er sich mal verkalkulieren, kann er dann darauf zurückgreifen, oder?“

„Nur mit meiner Erlaubnis, er hat schließlich damals auf Gütertrennung bestanden! Da hab ich Glück gehabt… aber bis jetzt scheint er durchaus Erfolg zu haben, wenn er auch nie zu Hause ist. Naja, damit kann ich eigentlich leben.“

„Hui, da scheint ja ziemlich die Luft raus zu sein! Kleine Ehekrise?“

„Eher eine große. Aber das ist mir ziemlich egal. Ben ist unsere Ehe ja offensichtlich auch egal. So, und jetzt bringe ich die Kinder ins Bett!“

Antonia sah sich ihr Telefon nachdenklich an, als Lotte abgeschaltet hatte. Dass Ben so merkwürdig war? Ein bisschen eigenartig war er eigentlich immer schon gewesen, überlegte sie, aber da sie ihn noch nie besonders gemocht hatte, war ihr Urteil vielleicht nicht wirklich objektiv…

Ein smarter Geschäftsmann, jedenfalls benahm er sich so – und so sah er sich eindeutig auch selbst. Geld verdienen, viel Geld verdienen, in Luxus leben, seiner Frau etwas bieten können…

Nur war Lotte darauf gar nicht so scharf, sie verdiente ihr eigenes Geld, denn Noah und Emilia waren tagsüber ja gut untergebracht, in Kindergarten und Krippe. Ihre Mama holte sie nachmittags wieder ab und sie erzählten dann auf dem Heimweg aufgeregt davon, was sie alles Tolles gespielt hatten – Emilia noch etwas unzusammenhängend, aber auch das wurde ja täglich besser. Die Kinder waren wirklich niedlich… und Ben hatte kaum Interesse an ihnen, erwartete aber offenbar, dass sie ihm begeistert entgegenrannten, wenn er sich denn mal zu Zeiten blicken ließ, zu denen sie noch wach waren.

Hatte Ben sich die beiden Kinder eigentlich gewünscht? Hatte er sich die Ehe mit Lotte eigentlich gewünscht? Aber ein Mäuschen war er doch wirklich nicht, der vornehme Benjamin van Straaten, der Shooting Star der Finanzwelt? Er hätte doch nein sagen können, da hätte Lotte doch nichts einwenden können?

Wieso war er eigentlich so vornehm? Waren seine Eltern bei der Hochzeit dabei gewesen? Und er hatte doch auch eine Schwester? Die hieß… verdammt. Luise? Lovisa? Wie so eine uralte schwedische Königin? Quatsch, es war irgendwie anders – Ludovika? Wie die Mutter von Sisi? Die sollte ja viel griesgrämiger gewesen sein als in diesen Kitschfilmen… Nein, das war es auch nicht… warum dachte sie bloß über diesen Blödsinn nach?

Die Eltern waren tatsächlich bei der Hochzeit gewesen, mit säuerlicher Miene, wenn sie sich recht erinnerte, besonders die Mutter. Komische Person… Vor sechs Jahren, da war sie selbst achtundzwanzig und Lotte (Ben nannte sie Charlotte, weil er das eleganter fand) sechsundzwanzig. Ja, warum hatten sie es ihrem Sohn denn nicht ausgeredet?

Diese – Julie, genau! – hatte daneben gesessen und praktisch überhaupt nichts gesagt. Hatte sie sich über diese Mittelklassenfamilie geärgert oder nur gewundert? Hatte sie solche Leute noch nie gesehen? In welchem Elfenbeinturm lebte die denn? Eigentlich hatte sie nur einmal ihre Mutter angefahren…

Toni, lass das, ermahnte sie sich selbst. Du hast mit dem Mädchen noch so gut wie kein Wort gewechselt, also woher die Vorurteile?

Und Mittelklasse war ja wohl eine Frage der Definition!

Was ging sie Bens Familie an? Die hatte sie doch nach der Hochzeit nie mehr gesehen, oder? Nein, was war denn mit den beiden Taufen? Aus Konvention waren Noah und Emilia schließlich getauft worden – und sie selbst war doch Emilias Patentante?

Mit Lego duplo und Püppchen spielte sie selbst gerne, wenn sie Emilia in dem prätentiösen Bau in der Nussbaumallee besuchte. Lotte hatte einmal erzählt, die Nachbarn waren recht nett zu ihr und den Kindern, Ben schienen sie aber nicht zu mögen. Na, wenn schon – vielleicht hatten sie da ein gutes Gespür?

Jetzt hatte sie eine gute halbe Stunde über Lottes Familie nachgedacht, ohne wirklich Fakten zu haben, das war doch Zeitverschwendung! Sie würde jetzt das letzte – kalte – Stück Pizza essen und diesen Krimi weiterlesen! Kalte Pizza schmeckte nicht besonders, sie warf den letzten Rest in den Restmüll und  räumte ein bisschen auf. Ja, diese Wohnung war schon ein guter Griff gewesen!

TAG 2 – 24.05.23

Lotte rief am nächsten Vormittag schon wieder an und Antonia staunte: Wie oft hatte sie sie denn schon bei Heilweg angerufen? Das war doch praktisch noch nie vorgekommen?

„Ich mach mir richtig Sorgen!“, fiel sie quasi mit der Tür ins Haus.

„Worüber denn? Du hast übrigens Glück, dass ich gerade nicht in einer Besprechung bin. Zehn Minuten hab ich noch, dann muss ich rüber in den Sitzungsraum.“

„Keine Online-Sitzungen?“

„Wozu denn, wir sind ja alle vor Ort! Corona ist nicht mehr so arg und wir sind doch alle mehrfach geimpft. Machst du dir darüber Sorgen?“

„Was? Nein, Unsinn, warum sollte ich denn?“

„Es klang mir halt so. Lotte, was treibt dich um?“

„Ben war nicht zu Hause!“

„Wann? Heute Nacht? Ist das das erste Mal?“

„Nein, natürlich nicht – aber das erste Mal, dass er keine Ausrede gebraucht hat. Sonst sagt er immer, er müsse den Hang Seng beobachten oder sonst einen Index in einer weit entfernten Zeitzone, weil sich da gerade etwas Spannendes tut. Hab ich sowieso nie geglaubt.“

„Und was dachtest du?“

„Das Übliche, dass er fremdgeht. Mit wem auch immer.“

„Nach sechs Jahren Ehe ist es schon so weit?“

„Du kennst doch Ben, wenn er sich nicht über Erfolg an der Börse definiert, dann durch die Rolle als Super-Womanizer.“

„Er könnte es ja auch mal mit der Rolle Familienvater versuchen“, schlug Antonia vor, ohne sich da große Hoffnungen zu machen.

„Das ist doch uncool und spießig“, spottete Lotte, wobei man die Resignation deutlich heraushören konnte.

„Lieber Himmel, wie alt ist er denn? Fünfzehn?“

„Das glaube ich manchmal auch. Was meinst du, sollte ich die Polizei einschalten – nur weil er mir nichts vorgelogen hat, bevor er sich in ein fremdes Bett gestürzt hat?“

Antonia wusste es auch nicht, riet aber dazu, noch ein bisschen abzuwarten. „Wenn er heute Abend immer noch nicht auftaucht, könntest du mal bei der Polizei nachfragen… oder bist du schon ganz hibbelig?“

„Ach, Blödsinn, er ist doch sonst auch nie da, aber da erzählt er mir vorher eben einen vom Pferd – und jetzt nicht, das irritiert mich doch etwas.“

„Brauchen tust du ihn eigentlich nicht, oder? Hm, das klingt vielleicht schon etwas grausam…“

„Eher nach der nüchternen Wahrheit. Na, ich lass dich mal wieder weiterarbeiten und lese selbst dieses merkwürdige Manuskript weiter…“

Antonia vertiefte sich wieder in das Exposé eines neuen Start-ups, das revolutionäre Verpackungsmaterialien anpries – die sollten sich im Sonnenlicht zersetzen? In wieviel Jahrhunderten denn wohl? Und in welche Bestandteile? Vermutlich setzten die bloß reichlich CO2 frei, das brauchte die Erde ja nun wirklich nicht! Sollte sie das Heilweg zeigen? Wohl besser… Er hatte auch gerade Zeit und war mit ihrem Vorschlag, da erst einmal kritische Rückfragen zu stellen, sehr einverstanden. Und unverpackt war doch viel besser!

Zufrieden kehrte sie zurück und schrieb dem Start-up entsprechend. Ob sie da jemals eine Antwort bekäme? Vielleicht nur den Hinweis auf Emissionshandel? Das war doch alles bloß Beschiss…

Das nächste war eine Anfrage von einer Drogeriemarktkette, was von verschiedenen Fast-Unverpackt-Marken zu halten war. Na, zumeist viel! Sie schrieb eine positive Bewertung, vor allem zu den Marken, deren sparsame Papp-Banderole ohnehin von Heilweg stammte.

Danach erlahmte ihr Eifer wieder und sie begann über Lottes Ehe nachzusinnen. Nach sechs Jahren schon am Ende? Anfangs hatte es doch so ausgesehen, als passten die beiden sehr gut zusammen – oder hätte ihnen allen Julies saure Miene zu denken geben sollen? Aber was hätte ihnen diese Miene denn verraten können? Gönnte sie ihrem Bruder diese Frau nicht? Oder umgekehrt, war Lotte zu bürgerlich, nicht imstande, den nächsten Shooting Star zu unterstützen? Nochmal anders: Verdiente der eingebildete Ben diese vernünftige Frau gar nicht? Wollte sie jetzt täglich darüber nachdenken?

Hatten sie diese Julie eigentlich später noch getroffen? Über die Taufen der beiden Kinder hatte sie ja schon einmal nachgedacht, aber sie wusste da wirklich keine Einzelheiten mehr… ob das schon Alzheimer war? Mit vierunddreißig?

Blödsinn. Julie hatte an den Taufen nicht teilgenommen, da war sie ganz sicher. Mit faulen Ausreden wahrscheinlich. Noahs Taufpate war ein Freund von Ben, der aber schon bei der Taufe verkündet hatte, eigentlich halte er nichts von christlichen Ritualen. Das hatte Antonia zunächst gar nicht so schlecht gefallen, sie konnte mit organisierter Religion auch nicht viel anfangen, vor allem, wenn das in Richtung Verschwörungsschwätzer ging, aber dann hatte dieser Wiehießergleich hinzugefügt, das Christentum sei ohnehin eine verweichlichte Religion.

Sie hatte sich erlaubt zu fragen, wie seine ideale Religion denn aussehen sollte. Daraufhin hatte er ihr einen mitleidigen Blick zugeworfen und nur gesagt: „Lies mal Nietzsche!“ Kleine hatte er sich garantiert dazu gedacht, aber es immerhin nicht laut ausgesprochen. Arrogantes Arschloch – Mr. Oberwichtig, aber sein Name war ihr nicht mehr im Gedächtnis geblieben, das hatte er jetzt davon, der Wicht! Und was hatte sie gesagt, nach kurzem Wühlen in Erinnerungen an die Schulzeit? Genau! „War das nicht der mit der blonden Bestie? Den die Nazis so toll gefunden haben? Mei, wer sowas notwendig hat…gell?“

Daraufhin hatte er sich abrupt umgedreht und nachdem noch jemand gefragt hatte, ob er echt so eine braune Sau sei, war er dann zügig gegangen. War Ben damals eigentlich sauer gewesen? Ben kannte schon seltsame Leute…

*

Lotte war ebenfalls geringfügig unkonzentriert, während sie ein Manuskript studierte, dass ihr als bestsellerverdächtig angepriesen worden war, allerdings von einer absolut nicht verifizierbaren Quelle.

Bis jetzt waren eine wunderschöne, aber sehr kaltherzige Frau und ein ebenso wunderschöner und genauso kaltherziger Mann aufgetreten, die sich auf den ersten Blick nicht ausstehen konnten.

Sie griff nach einem Zettel und notierte ihre Vermutungen:

SM-Beziehung

Große Liebe

Er/Sie hat verbrecherische Absichten

Er und sie entpuppen sich als Geschwister (rechtzeitig oder zu spät?)

A heilt B von schrecklicher Kindheit – oder umgekehrt…

Damit waren ja wohl alle trivialen Entwicklungen schon vorausgesehen? Jetzt war sie aber mal gespannt… Sie schaffte etwa zwanzig Seiten, auf denen die beiden sich lustvoll beharkten – sehr schlagfertig wirkten sie aber beide nicht (Notiz: pointierter darstellen??), dann aber dachte sie wieder an Ben: Hatte er ganz überraschend verreisen müssen? Nach China oder so? Er hatte doch gar keine chinesischen Werte in seinem Fonds? Und nicht mal für eine kurze Whatsapp hatte die Zeit gereicht? Am Flughafen? Beim Warten aufs Boarding? Sollte sie ihn als vermisst melden? Oder war es dafür noch zu früh?

Zu früh, beschloss sie ärgerlich. Wenn er wirklich etwas Dringendes zu tun hatte und ihr nichts gesagt hatte, weil es ihm ja eigentlich gleichgültig war, was sie dachte, würde er sehr wütend werden, wenn die Polizei ihn suchte. Und ein wirklich wütender Ben war kein Spaß – unwillkürlich rieb sie sich den rechten Arm.

Lieber sollte sie das Manuskript noch etwas weiterlesen! Sie sah sich kurz um, Amelie und Sabine waren ebenfalls mit Lesen beschäftigt, Marco, bei dem merkwürdigerweise immer die esoterischen Autoren landeten, verhandelte wieder mit dieser Fantasy-Autorin, Lise de Faire. Wetten, die hieß gar nicht so?

Sie senkte ihren Blick wieder auf das Manuskript: Die zwei zankten sich ja immer noch? (Notiz: Zänkerei etwas kürzen?)

Und jetzt tauchte die Freundin des schönen Schurken auf, hübsch, aber kleinlaut – war die devot? Variante 1? Och nee, nicht schon wieder, war dieser Boom nicht schon längst vorbei?

Schöner Schurke beobachtete feixend, wie die schöne Schurkin (war die wirklich böse oder nur kühl zu Männern? Vielleicht stand sie mehr auf Frauen?) das Frauchen kopfschüttelnd betrachtete. War das Frauchen nun ein Rollenvorbild oder keine echte Konkurrenz oder was nun immer? So ein Blödsinn – aber auf Seite 30 musste doch auch noch nicht alles bereits aufgeklärt sein, vielleicht versuchte die Autorin so die Spannung zu halten?

Also konnte sie jetzt noch kein Urteil fällen, weder über dieses Machwerk noch über Ben, dem es einfach an einem Mindestmaß an Manieren fehlte. Sie schaute auf ihr Handy – keine Hiobsbotschaft aus der Kita, wo Emilia in der Krabbelgruppe herumwuselte und Noah sich bei den Vierjährigen als sozusagen Erwachsener aufspielte. Ganz der Papa? Aber den sah er doch praktisch nie?

Gegen drei war sie hier auf jeden Fall fertig, dann würde sie ihre Süßen abholen und bis zum Abendessen mit ihnen spielen – und bis dahin würde sie sich jetzt auf diese unoriginelle Geschichte konzentrieren, jawohl!

Zunehmend schüttelte sie beim Lesen den Kopf – die Geschichte wies deutliche Längen auf, sie musste unbedingt gestrafft und gekürzt werden, es gab zu viele völlig irrelevante Passagen – und weder sie oder ihn konnte man mittlerweile etwas besser verstehen, vom Frauchen ganz zu schweigen. Hatte die Autorin sich denn gar kein Konzept gemacht, bevor sie an die Arbeit gegangen war?

Wenn das so weiter ging, würde sie mit dieser Cara Sourir (saublöder Name, wer hieß denn tatsächlich Lächeln?) morgen ein ernstes Wort sprechen müssen. Wenn es nicht umgehend besser wurde, war das Manuskript Mist – das konnte man kaum im Selfpublishing herausbringen, ohne Hohn und Spott zu ernten! - Und es ging so weiter… Lotte seufzte und Amelie kam zu ihr herüber: „So furchtbar?“

„Grausig. Zwei schöne böse Leute, die sich weder näher kommen noch irgendein erkennbares Ziel damit verfolgen, dass sie sich befehden, Lücken in der Entwicklung…“

„Fifty Shades…?“ Amelie feixte. „Hatte ich auch schon mal.“

„Ja, aber der Mist ist doch jetzt wieder out, oder?“

„Ich weiß nicht – solange es sich verkauft? Das Netz ist voll mit diesen ewigen Bad Boy-Geschichten. Von out keine Rede, fürchte ich!“

Lotte seufzte. „Soll ich der Frau sofort sagen, dass es Mist ist - oder noch weiterlesen?“

„Wie viel hast du schon?“

 „Vierunddreißig Seiten! Hätte ich das auf dem E-Reader, würde ich es jetzt löschen, aber ich kann ja hier nicht einfach…“

„Ich weiß, manchmal muss man einen Scheiß lesen, das ist fast schon Körperverletzung. Aber wir haben uns den Job ja schließlich selbst ausgesucht, oder? Mach noch zwanzig Seiten, wenn die ersten fünfzig Seiten bullshit sind, ist deine Argumentation stichhaltiger.“

Lotte nickte lustlos. „Bis jetzt habe ich vor allem den Eindruck, dass man die Hälfte streichen könnte. Und dass die gute Frau überhaupt kein Konzept gemacht hat.“

„Ja, sowas gibt´ s leider auch, immer wieder. Manche denken sich offenbar sowas schreiben kann ich auch - wie, Struktur? Aber du machst mir heute auch sonst einen etwas abgelenkten Eindruck, kann das sein?“

Lotte zuckte die Achseln. „Ich weiß nicht recht – mein Mann ist weg, ohne zu sagen, wohin oder warum. Gut, sonst sind das eh bloß faule Ausreden, aber so ganz ohne was? Ich überlege immer schon, ob ihm was passiert ist oder ob die Idee übertrieben ist. Meine Schwester meint, ich soll ihn lieber erst morgen vermisst melden. Aber schaut das nicht so aus, als wäre es mir ziemlich wurscht?“

„Ist es dir denn ziemlich wurscht?“

„Naja, die Luft ist schon raus – und sonst ist er auch nie da, die Kinder behandeln ihn schon wie einen Fremden, was ihn dann wieder kränkt: Aber was erwartet er denn eigentlich?“

„Eure Kinder sind doch auch noch sehr klein, nicht wahr?“

„Zwei und vier. Denen kann man noch nicht so viel erklären, da hast du schon recht. Ach, egal, das Thema nervt mich sowieso. Ich versuche, mich wieder auf diesen Stuss hier zu konzentrieren.“

„Na, ich drücke dir die Daumen, dass die Handlung langsam mal zu Potte kommt!“

Von wegen, stellte Lotte fest, beide Held*innen dachten viel Irrelevantes, taten aber wenig und guckten dafür viel in den Spiegel. Da konnte man doch eigentlich nur einen Model-Job empfehlen! Trafen sich die beiden eigentlich bald mal wieder? Oder sollte es gar nicht um die beiden als Paar oder Feindespaar gehen? Ja, worum dann bitte sonst? Jetzt war sie auf Seite 47 und es wurde ja auch kein anderes Thema angedeutet – Klima? Rechts vs. Links? Kampf der Geschlechter ganz allgemein? Irgendwas Krimiartiges? Keine Spur davon!

Ihre Gedanken schweiften wieder ab und beinahe willenlos rief sie Google auf und tippte Benjamin van Straaten in die Suchleiste.

Was tat sie hier eigentlich? Während der Arbeitszeit?

Okay, Daniel, der Chef, war nicht im Raum, Marco zankte sich immer noch mit der selbsternannten Fee, Sabine räumte, soweit man das erkennen konnte, hochkonzentriert ihre Ordner auf und Amelie wirkte ebenfalls beruhigend beschäftigt.

Dann konnte sie doch kurz - ? Wirklich nur einen Moment lang!

Viel stand ja nicht drin, Benjamin war am 13. September 1986 geboren, das wusste sie natürlich schon. Studium in München, St. Gallen und an der London School of Economics, Arbeit bei verschiedenen Banken in den USA, England und Deutschland (für die Arbeit bei Lehman Brothers war er 2009 noch etwas zu jung gewesen, da hatte er ja gerade erst den Bachelor gehabt). Aber auch in den entsprechenden Artikeln im Netz gab es Geraune über halbseidene Geschäfte und eine hohe Risikobereitschaft. Offenbar managte er nicht gerade ETFs – aber was gäbe es bei denen auch groß schon zu managen?

Nun wieder etwas  von Frau Lächeln! Konnte man Cara Sourir mit Grinsekatze übersetzen? Das wäre ein tolles Pseudonym – aber die Story war leider völlig spaßfrei…

Lotte las die nächsten zehn Seiten und versuchte, gespannt zu sein, wie es wohl weiterging – aber in Wahrheit war sie zu Tränen gelangweilt, da passierte ja gar nichts! Er hatte ein Geschäft abgeschlossen, das sich zwar undurchsichtig anhörte, aber es wurde nicht recht klar, ob es undurchsichtig war oder die Grinsekatze es bloß nicht besser beschreiben konnte. Und was trieb sie, die schöne Schurkin – wenn sie überhaupt eine Böse war? Sie kaufte sich sexy Nachtwäsche - doch wohl nicht für das nächste Treffen im ihrem Schurken-Gegenstück? Kannten die beiden überhaupt den Namen des jeweils anderen? Wie sollten die sich überhaupt wieder finden?

Machte sich die Grinsekatze keine Notizen, während sie schrieb? Solche Fragen konnte man doch (in einer anderen Farbe) einfach reintippen und dann wieder löschen, sobald man die logischen Fehler ausgebügelt hatte und danach den Text zum Lektorat schickte?

Schlamperei!

Und im Netz ließ sich nichts finden, was sie über ihren eigenen Mann nicht ohnehin schon wusste. Na, außer dass er manchmal hart am Wind segelte. War ihm etwas danebengegangen und deshalb kam er praktisch nicht mehr nach Hause? Wollte er keinen Misserfolg beichten oder musste er wirklich rund um die Uhr die Märkte beobachten, um sich mit einem gigantischen Coup wieder zu sanieren? Wenn sie seiner wieder einmal habhaft würde, würde sie ihn danachfragen!

*

Antonia hatte alle Gedanken an die Ehe ihrer Schwester beiseitegeschoben und sich mit neuen Entwicklungen in der Verpackungsbranche beschäftigt. Da gab es ja schon interessante Nachrichten… und sehr viel Blödsinn. Etwas, was wirklich für Heilweg nützlich sein konnte, ließ sich allerdings nicht finden – aber es gab Anfragen an Heilweg, wegen der schon vorhandenen Möglichkeiten, Verpackungen zu reduzieren oder das Recycling zu intensivieren.

Auch gut! Sie leitete das an Heilweg himself weiter und begann nun doch, über Lottes vermaledeite Ehe nachzudenken. Warum bloß hatte sie den kleinen Angeber überhaupt geheiratet? Hatte sie das Lotte überhaupt schon mal gefragt? Vermutlich nicht, die Empörung hätte sie sich ja schon denken können…

Ben war Fondsmanager, das wusste sie. Eigene Fonds oder bei einer Gesellschaft, wo sie ihm doch sicher genauer auf die Finger schauten? Sie googelte also schnell Ben – dem Himmel sei Dank für ein eigenes Büro!

Sie überschlug die Biographie, seine Ausbildung, seine Arbeitsplätze und kam auf verschlungenen Wegen schließlich zu Winning.com.

Saublöder Name – und kompletter Loss wäre dann nur gerecht. Die meisten Moneymaker fielen doch irgendwann voll auf die Fresse und die Öffentlichkeit grinste dann ausgiebig…Zwei Fonds, bei denen er als Manager angegeben war – keine ETFs und nicht gerade unter strenger Aufsicht, denn seine eigentlichen Fonds gehörten zur ByB. Und deren Fonds hießen doch immer etwas mit ByBInvest?

Also betrieb er diese Fonds wohl auf eigene Rechnung. Durfte man das überhaupt, zweigleisig fahren? Und wie hießen die nun? POC.win und VIC.win – hm. Ganz ehrlich klang das nach Power und Siegern. Blöde Angeberei.

Kurze Unterbrechung: Hatte sie neue Mails? Tatsächlich, zwei Leute baten darum, das Gruppentreffen am Freitag um eine halbe Stunde zu verschieben, also setzte sie diesen Vorschlag in eine Mail an die gesamte Gruppe. Ansonsten lag nichts an, dann konnte sie doch mal POC.win inspizieren?

Aha? Die Zusammensetzung wies ziemlich viele Energieanbieter auf, außerdem Technologiekonzerne, Rohstoffaktien und zwei Nachrichtenseiten.

Hm. Gut oder schlecht? Das Tortendiagramm war nicht allzu aufschlussreich, also klickte sie weiter.

Das war ja mal interessant! Der Hauptenergieanbieter war Gazprom. Wie war das mit den Sanktionen wegen des Überfalls auf die Ukraine? Technologie – da sagten ihr die meisten Firmen nichts, nur ein deutscher Rüstungskonzern kam ihr bekannt vor. Rohstoffaktien – ein chinesischer Konzern führte die Liste an,  seltene Erden oder was? Das exportierte China doch wohl nicht? Außerdem – China?

Bei den Nachrichtenseiten war eine eher unbekannt, die andere war Russia Today. Ben, du Pfosten – das gab doch Ärger wegen der Sanktionen und außerdem wegen dieser dubiosen Anlagen, da fehlten ja bloß noch Heckler&Koch und irgendwas mit Atomkraftwerken! In welche Kreise hatte er sich denn da begeben? Und poc.? War das vielleicht bloß die Umschrift von ros.? Rossija oder wie das hieß?

Nachher würde sie Lotte anrufen und ihr erzählen, was sie hier schon rausgefunden hatte! Erst einmal die Seite über diesen Fonds auf ihr Tablet kopieren…

Dear Putin, let´ s speed up to the part where you kill yourself in a bunker… Das Plakat vom Brandenburger Tor hatte ihr sehr gut gefallen. War Putin eigentlich nicht klar, dass er eins zu eins in Rhetorik und Kriegsführung Hitler imitierte? Und mit solchen Leuten machte Ben gemeinsame Sache? Oder war ihm alles egal, solange der Rubel rollte? Passte ganz gut, fand sie. Rubel, hihi.

So, das genügte vorerst. Ob sich Ben in den Osten abgesetzt hatte? Du lieber Himmel, das klang ja wie aus einem Spionage-Thriller zurzeit des Kalten Krieges! Aber wahrscheinlich kam alles irgendwann wieder… gruselige Vorstellung.

Wenn er sich zu Putin geflüchtet hatte und glaubte, er könne jetzt ein Leben als Oligarch führen, konnte man ihn nur bedauern – wieviele Oligarchen waren schon mysteriösen Fensterstürzen, Vergiftungen oder Autounfällen zum Opfer gefallen oder unter dubiosen Anklagen in ein Straflager verbannt worden!

Jedenfalls war dieser Fonds sehr zweifelhaft, das würde sie Lotte später erzählen! Jetzt rief sie sie erst einmal schnell an und kündigte ihren Besuch gegen sechs Uhr an: „Ich hab da was rausgefunden, das muss ich dir erzählen!“

„Oh, danke. Ich habe noch nicht viel rausgefunden, aber ich glaube sowieso, dass du in wirtschaftlichen Sachen besser bist. Es ist doch was Wirtschaftliches?“

„Da kannst du drauf wetten. Und etwas Politisches auch noch. Sorry, aber dein Ben ist wirklich ein Vollpfosten!“

„Erzähl mir was Neues“, brummte Lotte. „Du, jetzt muss ich diesen langweiligen und unstrukturierten Roman weiterlesen. Wenigstens bis Seite 100, ächz…“

„Viel Vergnügen. Soll ich was Essbares mitbringen?“

„Nein, ich habe eine Minestrone. Die magst du doch?“

„Ich schon – aber deine Süßen auch?“

„Es geht schon, solange die Suppe schön bunt aussieht.“

*

Endlich mal kein neuer Fall, freute sich Liz, während sie die Unterlagen des gerade abgeschlossenen Falls sortierte, den Stapel dann zusammenband und für die Staatsanwaltschaft bereitlegte. Thomas schickte eine Zusammenfassung an den Kriminalrat, Annika und Max räumten den Materialschrank auf und holten, was offensichtlich beim nächsten Mal schnell zur Neigung gehen würde. Annika hängte auch schnell sämtliche Tablets an die Steckdosen und entfernte die alten – aber natürlich mehrfach gespeicherten – Kacheln vom Whiteboard. Bereit für etwas Neues!

„Was?“

„Hab ich das laut gesagt?“, reagierte Annika leicht verlegen. „Macht doch nichts“, meinte Max. „Schön, dass du noch so voller Vorfreude bist! Wir denken ja immer Wahrscheinlich wieder so´n Scheißfall, keiner hat ein Motiv, alle ein Alibi und obendrein lügen wieder alle wie gedruckt.“

„Das ist doch gerade die Herausforderung?“

„Ja, du bist ja auch noch jung“, spottete Thomas, der ja nun tatsächlich bald fünfzig und täglich etwas grauer wurde.

Jeder Moment, in dem das Telefon nicht klingelte, war ein Gewinn, da waren sich alle einig und alle räumten deshalb auch sehr zügig auf, um für einen eventuellen neuen Fall bereit zu sein.

„Hoffentlich gibt es nicht sowas wie gerade bei Anne“, sagte Liz, während sie das Material in den geputzten Schrank zurück stapelte.

„Tausend Verdächtige und alle können es nicht gewesen sein?“, fragte Annika. „Aber Mick sagt, das findet er eigentlich sehr aufregend.“

Prompt klingelte das Telefon.

„Na bitte! Jetzt habt ihr es herbeigeredet“, tadelte Thomas und nahm ab. Dann lauschte er, murrte etwas, machte sich Notizen und seufzte schließlich: „Ist schon recht…“ Er legte auf und sah seine Leute prüfend an. „Wahrscheinlich ist es gar kein Fall. Die ByB hat angerufen.“

„Überfallen? Ich denke, wir sind eine Mordkommission?“ Max klang entrüstet.

„Die ByB“, fuhr Thomas geduldig fort, „vermisst einen Fondsmanager in ihrer Fondsgesellschaft. Die firmiert – wo sonst – in der MiniCity.“

„Krank?“

„Sie haben bei ihm zu Hause angerufen, aber niemanden erreicht. Adresse der Familie: Nussbaumallee 38.“

„Leiching!“, stöhnte Liz. „Wieder so Angeber…“

„Keine Vorurteile!“, mahnte Thomas. „Ich fahre mit… Liz nach Leiching und ihr zwei nehmt die Fondsgesellschaft. Otto-Hahn-Weg 11. Danach wieder hier. Alles klar?“

„Wahrscheinlich liegt der irgendwo mit einem Gspusi im Bett und hat sich keinen  Wecker gestellt“, murrte Max und schnappte sich ein Tablet; Liz tat es ihm gleich. „Vielleicht ist er aber so ein richtiger Zocker und interessiert sich nur für Geld?“

„Fonds bei der ByB sind doch eherzahm?“, wandte Max  ein. „Müsste es einen richtigen Zocker nicht langweilen, so einen offiziellen Fonds zu managen?“

„Du meinst, wenn er ein Zocker ist, müsste er sich auf eigene Faust etwas Aufregenderes organisiert haben?“, überlegte Liz.

*

Sobald sie frühestens gehen konnte, fuhr Antonia nach Leiching in die Nussbaumallee. Nummer 38 war eine recht große, prunkvolle Villa, aus den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, glaubte sie. Von Architekturgeschichte verstand sie nicht allzu viel, aber diese Angeberburg hielt sie für typisch.

Lotte öffnete ihr; im Hintergrund sah man  - hinter der Küche - ein Zimmer, in dem sich Noah und Emilia (ausnahmsweise) einträchtig mit einigen Lego duplo – Figuren beschäftigten. Antonia sah sich um. „Was ist denn eigentlich mit den anderen Zimmern?“

„Die brauche ich nicht. Das Wohnzimmer kann Ben benutzen, die Bibliothek ist sowieso affig; meine eigene Bibliothek befindet sich auf einem E-Reader. Und die Schlafzimmer sind alle oben; den zweiten Stock habe ich abgeschlossen.“

„Du wolltest dieses Haus doch eh nie, oder?“

Lotte zuckte die Achseln und ging in die Küche voraus - auch sehr edel, gut geputzt und nahezu unbenutzt wirkend. „Ist das eine Showküche? Kochst du insgeheim woanders?“

„Nein, ich habe den beiden schon Essen gemacht, hier, aber Ben legt Wert darauf, dass hier alles aussieht, als hätten wir dienstbare Geister, also ist das Geschirr in der Spülmaschine, sämtlicher Edelstahl ist frisch poliert und die Stühle um den Küchentisch sind präzise ausgerichtet.“

„So ein Korinthenkacker“, entfuhr es Antonia. Sie setzte sich. „Nein, ich möchte nichts trinken, dann musst du doch bloß die Gläser spülen, damit mein Besuch unbemerkt bleibt. Hunger hab ich auch nicht.“

„Ach komm, Toni, Ben ist ein Spinner, aber hat bestimmt nichts gegen dich!“

„Das weiß ich nicht, aber ich habe ein bisschen im Netz geschnüffelt und dabei interessante Dinge herausgefunden.“ Sie reichte ihr Tablet über den Tischund Lotte vertiefte sich in Text, Tabellen und Diagramme.

Schließlich sagte sie: „Du lieber Himmel!“, und starrte ihre Schwester an. „Du meinst, er hat die Sanktionen gegen Russland gebrochen? Hui, das könnte Ärger geben…“

„Er könnte nach Russland geflohen sein, meinst du?“

Lotte hob die Schultern. „Was weiß denn ich! Wenn er glaubt, so könnte er Putins neuer best buddy werden – aber politisch ist er doch gar nicht so gestrickt? Moment, hat er sich in letzter Zeit überhaupt mal über Politik geäußert?“

„Das wäre auch ganz schön gefährlich“, gab Antonia zu bedenken, „nehmen diese Oligarchen und andere Exfreunde von Putin nicht ziemlich schnell ein böses Ende?“

„Glauben die nicht alle, ihnen kann das nicht passieren? Die anderen müssen etwas falsch gemacht haben? Das würde wieder zu Ben passen. Jetzt ist er knapp vierundzwanzig Stunden weg – zu früh, um ihn vermisst zu melden, oder?“

„Morgen Vormittag. Warte mal, er arbeitet doch auch noch woanders als Fondsmanager, oder? War´ s nicht bei der ByB?“

„Stimmt. Obwohl ich nicht glaube, dass er mit einem ByB-Fonds sowas anstellen könnte.“ Sie zeigte auf das Tablet.

„Ja, aber war er heute in der Arbeit? Hast du von denen was gehört?“

„Nein. Aber ich war heute wirklich mal live in der Agentur, die Nummer haben die bei der ByB nicht, genauso wenig wie meine Handynummer. Nur die hier.“

„Und da hängt kein AB dran?“

„Eigentlich schon…“ Lotte stand auf und ging im Flur (der „Halle“) zum Telefon, einem verblüffend altmodischen Gerät auf einer Kommode neben den Sofas.

Antonia folgte ihr. „Was ist denn das für ein Wirtschaftswunder-Ding?“

„Alles Täuschung. Innen ist es schon modern, sonst könnte man ja nicht mal einen AB dranhängen. Ich glaube, er liebt diese blöde Wählscheibe und – Scheiße!“

„Was denn?“

„Der AB ist ausgesteckt. Also, wenn die hier nachfragen wollten, haben sie kein Glück gehabt.“ Sie sah auf ihren Tracker. „Viertel vor sieben… da ist jetzt auch keiner mehr, ich rufe da morgen früh an.“

Damit kehrte sie zu ihrem Platz am Küchentisch zurück, wieder gefolgt von Antonia, die die Wohnverhältnisse in dieser Riesenscheune schon öfter etwas eigenartig gefunden hatte und auch jetzt den Kopf schüttelte.

„Warum darfst du nicht im Wohnzimmer sitzen?“

„Ich will nicht, weil ich´ s scheußlich finde. Das ist Bens Bereich. Ich mag die Küche ganz gerne, aber jetzt müssen die Kinder baden und ab in die Heia. Hilfst du mir?“

Natürlich wollten Noah und Emilia nicht ins Bett und zeterten lauthals; in der Badewanne des Gästebads plantschten sie dann doch recht vergnügt und bewarfen sich mit den Quietscheentchen.

Dass sie abgeseift wurden (Antonia hatte die zappelnde und immer wieder protestierende Emilia übernommen), war natürlich wieder unerträglich. Emilia beruhigte sich erst wieder, als sie frisch gewickelt und im Schlafanzug im Bett lag und Antonia ihr ein Buch vorlas. Als das Bilderbuch zugeklappt wurde, schlief sie schon fast; Antonia küsste sie auf die Wange – so weich…! -  und wünschte gute Nacht, bevor sie hinausschlich.

Kurz darauf kam Lotte von Noahs Bett, die Augen zum Himmel verdrehend. „Todmüde, aber ins Bett dürfen ist natürlich die reinste Folter…“

„Emilia auch, aber als sie dann schön eingemummelt war und Betty kommt in den Kindergarten hören durfte, war eigentlich alles wieder gut.“

Sie setzten sich wieder an den Küchentisch. „Magst du ein Glas Wein?“, fragte Lotte müde.

Antonia schüttelte den Kopf. „Ich muss ja noch fahren. Also, morgen früh gehst du zur Polizei?“ Lotte nickte matt und schenkte sich ein Glas Wein ein. Als es plötzlich klingelte, zuckte sie zusammen und verschüttete etwas.

„Mach du auf, ich hole einen Lappen“, sagte Antonia und eilte zum Spülbecken. Lotte lief zur Tür und kam nach einem kurzen Wortwechsel mit zwei Fremden zurück, einem Herrn in mittleren Jahren und einer Dame Mitte der Dreißiger, jedenfalls sah sie so aus.

Antonia wischte den verschütteten Wein auf und grüßte dann freundlich.

„Das sind zwei Leute von der Kripo“, erklärte Lotte.

„Du liebe Zeit! Ben?“