Eine böse Überraschung - Elisa Scheer - E-Book

Eine böse Überraschung E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Damit hätten sie nicht gerechnet: Henriette und einer ihrer Brüder schauen zu, wie ihr heruntergewohntes Elternhaus abgerissen wird. Sehr interessant – vor allem, als sich im Kellerboden Teile eines menschlichen Skeletts finden! Wer war das zu Lebzeiten und warum wurde er getötet und vergraben? Was hat die WG damit zu tun, die sich Anfang der Siebziger in dem damit völlig überforderten Häuschen etabliert hatte? Und was möglicherweise Lars Maybach, der das Grundstück gekauft hat, um es zeitgemäßer zu bebauen? Allerdings war der zur Zeit des Mordes noch nicht einmal geboren. Felix Marquart und sein Team tauchen tief in die Vergangenheit ein und müssen dabei feststellen, dass viele der Beteiligten entweder tot sind oder sich nur noch vage erinnern können. Und dann wird jemand von den damaligen WG-Bewohnern ermordet… Gegenwart und Vergangenheit vermischen sich und auch Henni und Lars kommen sich beim Nachdenken über das uralte Mysterium langsam näher...

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Seitenzahl: 465

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Elisa Scheer

Eine böse Überraschung

Kriminalroman

Alles frei erfunden!

Imprint

Eine böse Überraschung. Kriminalroman

Elisa Scheer

published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de Copyright: © 2017 Elisa Scheer/R. John (85540 Haar)

www.elisa-scheer.de

ISBN 978-3-7450-1568-3

1

Als ihr Handy brummte, warf Henriette einen eher desinteressierten Blick auf das Display. Ach?

„Willi! Was gibt´s, dass du mich in der Arbeit anrufst?“

„Weißt du, was morgen Nachmittag passiert?“

„Was denn?“

„Der Abbruch beginnt! Ich dachte, wir wollten zusehen?“

„Au ja! Wann genau?“

„Um zwei, glaube ich.“

„Super! Ich hab noch was abzufeiern, ich bin um zwei dort. Was ist mit Ulli und Luggi?“

„Der Ulli ist in München und der Luggi auf einem Kongress in Villingen. Irgendwas über Hautkrankheiten, er hat´s wahnsinnig wichtig gehabt. Wir sollen Fotos machen.“

„Heißt das, mich rufst du als letzte an? Willi, ich bin enttäuscht vor dir!“

Willi lachte nur. „Wieso, bei dir weiß ich doch eh, dass du danach fieberst zu sehen, wie sie die Hütte einreißen. Du könntest Prosecco und zwei Gläser mitbringen.“

„Und du zwei Klappstühle. So schnell wird es wohl nicht gehen, schließlich müssen die das doch sortenrein machen, oder?“

„Na, beim Sortieren müssen wir dann ja nicht mehr zusehen. Mehr beim Zerstörungswerk.“

Henni musste auch lachen. „Sind wir Rabenkinder, dass wir begeistert zusehen, wie unser Elternhaus dem Erdboden gleichgemacht wird?“

„Komm, jetzt mach keinen auf pietätvoll. Die Hütte ist doch der letzte Graus. Erinnerst du dich an diese Heizung?“

„Welche Heizung? Sag bloß, man konnte das Haus tatsächlich heizen? Ich habe nie wieder so gefroren wie damals.“

„Ja, und immerzu kalt duschen.“

„Und dann das Bad aufwischen, weil wir es nie zu einem Duschvorhang gebracht haben.“

„Mit der Hand abspülen, wegen der alten Leitungen.“

„Porzellansicherungen aus dem vorvorigen Jahrhundert, die dauernd rausgeflogen sind. Wenn wir damals schon so viel mit dem Rechner gemacht hätten, wären wir wahrscheinlich wahnsinnig geworden!“

„Waren nicht auch die Wände oben leicht feucht? Womit hatten sie diese Hütte damals wohl isoliert?“

„Gar nicht, vermute ich mal.“

„Nein“, überlegte Willi, „irgendwelchen Mist müssen die sogar damals in die Wände gestopft haben. Wann wurde die Bruchbude gebaut, 38, oder?“

„Stimmt. Hat Papa nicht immer was von Friedensware gesagt?“

„Papa hatte von Geschichte keinen Schimmer. 38 war der Krieg schon längst geplant, da haben sie garantiert nur noch zweitklassiges Zeug freigegeben und den Rest für kriegswichtige Projekte reserviert.“

Willi liebte historische Dokumentationen, wie sie auf bestimmten Sendern praktisch rund um die Uhr liefen – und da neunzig Prozent dieser Dokumentationen aus dem Bereich „Geheimnisse des Dritten Reiches“ stammten, wusste er mittlerweile nahezu alles über die Finanzen der Nazis, ihre Wirtschaft, ihre Geheimwaffen, den Berghof, Hitlers Frauen (oder eher nicht?), Nazibauten und das Kriegsende in Farbe. Henni hatte, wenn sie beim Zappen auf so etwas stieß, immer das Gefühl, genau diese Doku schon einmal oder gar mehrfach gesehen zu haben. Sie zog BBC-Serien vor und war bei einem Streaming-Portal abonniert. Nur keinen Kram anhäufen!

„Pass auf, Willi“, sagte sie nach einem Blick auf ihr Handgelenk, „ich muss hier mal weiter machen. Also morgen um zwei?“

11:25, 4329 Schritte, Puls normal, Blutdruck niedrig – so ein Fitnessarmband war eine praktische Sache, fand sie. Solange man nicht alle fünf Minuten alle Daten abrief und dann besorgt in sich hineinhorchte.

Sie würde jetzt mit diesem Entwurf in die Fertigung hinuntergehen und mal schauen, was der Chef dazu sagte!

Den Lärm in der Fertigung liebte sie, zeigte er doch, dass der Laden brummte, nicht nur ganz wörtlich genommen.

Der Fertigungschef war in seinem erhöhten Glasverschlag und hatte Zeit, als Henni die Treppe aus Eisengitter hinaufgestiegen war.

„Ja, das sieht gut aus… sind Sie sicher?“ Er deutete auf eine Berechnung am Rand.

„Ich habe es mehrfach überprüft, wir würden tatsächlich zwanzig Prozent Material einsparen – und Aussehen und Stabilität blieben gleich. Die Stabilität wäre sogar etwas besser, allerdings nur im niedrigen einstelligen Prozentbereich.“

„Trotzdem sehr gut! Was sagen die anderen in der Entwicklung?“

„Wir haben die Idee gemeinsam entwickelt und an der Umsetzung gearbeitet. Wenn Sie uns die Genehmigung geben, stellen wir einige Probestücke her.“ Sie reichte ihm das Genehmigungsformular und der Fertigungschef unterschrieb.

„Schön wäre es“, regte er während des Schreibens an, „wenn Varianten im Design möglich wären. Sie wissen ja – unsere Kunden setzen sich gerne von der Konkurrenz ab.“

„Das dürfte gar kein Problem sein“, antwortete Henni und nahm ihm das Klemmbrett mit dem Formular wieder ab.

Die Leusch KG produzierte Bedienelemente für die Automobilindustrie – genau genommen lieferten sie allerdings zunächst an die Zulieferer im Bereich der Autoelektrik, die die Leusch-Knöpfe und Griffe mit der nötigen Verkabelung versahen. Immerhin, solange die Automobilindustrie boomte… und wenn eines Tages doch alle auf das Fahrrad umsteigen sollten, überlegte Henni auf dem Weg zurück in ihr Büro, gab es andere Geräte, die ebenfalls Bedienfelder brauchten, die elegant designt und materialsparend konzipiert waren.

„Und, was hat er gesagt?“, rief Anja, die gerade um ihr Zeichenbrett herumlugte.

„Grünes Licht – wir können Probestücke fertigen lassen.“

Allgemeiner Jubel. „Wusste ich´s doch“, verkündete Oliver, „wir sind einfach die Besten!“

Nach einem Gläschen Prosecco für jeden gingen sie gemeinsam daran, die Anweisungen für die Fertigung zu formulieren. Henni als Teamleiterin verteilte die Jobs und bis zum Abend hatten sie alles weitergeleitet. Kurz vor Arbeitsschluss kam der nächste Auftrag herein; Henni las ihn sich mit gerunzelter Stirn durch und warf das Blatt dann auf ihren Schreibtisch. „Leute, morgen ist auch noch ein Tag. Aber morgen muss ich mittags weg, sie reißen mein Elternhaus ab und das will ich sehen.“

„Ach, Henni“, seufzte Oliver, „du hast ja schon ein Gemüt wie ein Fleischerhund, was?“

Henni grinste breit. „Klar doch! Ich sag dir, ohne Sentimentalitäten ist das Leben viel leichter. Das Haus ist übrigens scheußlich, runtergewohnt und architektonisch eine Katastrophe. So ein Nazi-Siedlungsding.“

„Äh…“ machte Sandra und Henni lachte: „Das Wort zum Feierabend!“

2

Henni radelte nach Hause; da die Leusch KG in der MiniCity firmierte, hatte sie sich vor acht Jahren, als sie hier angefangen hatte, eine kleine Wohnung in Zolling gekauft, knapp eine Viertelstunde zu Fuß oder fünf Minuten mit dem Rad. Schließlich war sie zu Recht davon ausgegangen, dass nahezu alle Betriebe, die an einer Ingenieurin im Bereich Entwicklung Interesse haben konnten, in der MiniCity saßen. Da lag diese Wohnung unglaublich günstig.

Und schön war sie auch. Eher klein, aber unglaublich geschickt geschnitten, mit einer Luxusdusche, einer perfekten Küchenzeile und einer Regalsäule in der Mitte. Manchmal kam sie sich vor wie in einer Kabine auf der Enterprise. Neben der Tür zu dem winzigen Balkon stand die breite schwarze Lederliege, die tagsüber als Lümmelcouch und nachts, nach dem Ausrollen von Schlafauflage und Bettzeug, als unglaublich bequemes Bett diente.

Sie schloss die beiden Schlösser der Wohnungstür auf, tippte dann ihren Code ein und stieß die Tür auf. Eigentlich war das leicht paranoid, es gab hier gar nichts zu holen, aber diese Sicherungstechnik war – wie die Fensterschlösser (die im siebten Stock auch nicht so nötig waren) – schon drin gewesen.

Es roch frisch, denn über der Balkontür gab es eine kleine Fensterklappe, die mit einem Drahtnetz gesichert war. Henni musste lächeln – vor kurzem hatte sie eine Doku über einbruchssichere Wohnungen gesehen, und dabei kamen die drei Zollinger Wohntürme tatsächlich vor. Ob das diese reisenden Banden aus Osteuropa abschreckte?

Sie schloss die Wohnungstür von innen ab, hängte ihre Jacke an die Garderobe (zwei stylische Wandhaken neben der Tür) und betrat das Zimmer. Dreißig Quadratmeter und halb leer, das wirkte großzügig.

Links befand sich der Tisch, auf dem ihr Laptop stand und an dem sie gelegentlich auch zu essen pflegte; rechts hinten ihr schwarzlederner Wohlfühlplatz mit dem perfekten Blick auf den Fernseher in der Säule (das Fach war auch noch drehbar!), der selbstverständlich mit dem Internet verbunden war, so dass sie problemlos streamen konnte (die Kamera hatte sie natürlich abgeklebt).

Die Säule enthielt ansonsten noch den WLAN-Router, ihren E-Book-Reader, das Tablet und eine winzige Stereoanlage, in den Fächern darunter tatsächlich noch die Bücher, die bis jetzt noch nicht in digitaler Form erhältlich waren, und ganz unten einige Ordner mit persönlichen Daten und wichtigen Projektunterlagen.

Zuerst einmal schauen, ob es neue Nachrichten gab! Aha:

Willi nochmal: Bitte zu Prosecco und Gläsern auch Chips mitbringen!

Henni: Alter Vielfraß, ist gut.

Belli: Wir sind heute Abend im Ratlos. Kommst du auch? Und viele Gläser-Emojis.

Uäh… sie war eigentlich müde. Aber Belli, Tom und Iris waren auch saulustig. Warum eigentlich nicht? Dann konnte sie auch im Ratlos etwas essen und musste sich hier keine Mühe machen… nicht schlecht.

Henni: Okay, wann? Aber soo viel trinke ich bestimmt nicht!

Belli: Halb acht. Musst du ja auch nicht. Bring die Fotos von London mit!

Ach herrje, die London-Fotos… waren die auf dem Tablet? Und war das überhaupt aufgeladen? Natürlich nicht… Die Mediensäule hatte auch einen geeigneten Ladeanschluss. Sie steckte das USB-Kabel ein: 24 Prozent? Das hätte nie gereicht.

Stirnrunzelnd studierte sie den Inhalt ihres Einbauschranks und zog schließlich die ausgewaschenen Jeans heraus, dazu ein geringeltes T-Shirt und eine dunkelblaue Strickjacke. Für das Ratlos war das genau das Richtige, ihren Teamleiter-Hosenanzug brauchte sie dort nicht.

Vielleicht noch duschen…

Als sie abgetrocknet, eingecremt und angezogen war, betrachtete sie sich im Spiegel: Ging schon. Immerhin, für fünfunddreißig sah sie noch ganz ordentlich aus. Nicht übermäßig verwittert, jedenfalls nicht so wie ihre Schwägerin Claudia. Willis Frau sah eindeutig älter als achtunddreißig, warum, war nicht festzustellen. Ansprechen konnte man sie darauf schließlich nicht… Henni grinste bei dem Gedanken und revidierte ihren blauen Lederbeutel: Geld, Handy… die alten Busfahrkarten konnten ins Altpapier und – Himmel! – die verbrauchten Batterien trug sie ja immer noch spazieren! Halb acht im Ratlos, da konnte sie unterwegs noch in einen Supermarkt huschen und die alten Dinger endlich in die entsprechende Pappkiste werfen.

So klein, leer und übersichtlich die Wohnung war, irgendwelcher Mist sammelte sich eben doch immer wieder an.

Natürlich vergaß sie die Sache mit den alten Batterien schon wieder auf dem Weg zum Ratlos. Kein Wunder, denn auf der recht langen Strecke musste sie sich mehrfach ärgern: über Autofahrer, die die Türen öffneten, ohne zuvor auf die Radfahrer zu achten, über alle diejenigen, denen man mal wieder die Blinker gestohlen hatte (was machten die Diebe nur mit all diesen Blinkern??), über zwei saublöde Werbeplakate und schließlich über den dunkelbraunen Lieferwagen eines Paketdienstes, der mit eingeschalteter Warnblinkanlage mitten auf der Emilienstraße stand, so dass sich hinter ihm eine lange, eifrig hupende Schlange bildete und Henni selbst mit ihrem Fahrrad auf den Bürgersteig umziehen und tugendhaft schieben musste.

Nur Idioten unterwegs! Wie sollte man sich da an diese dämlichen Batterien erinnern?

Leider konnte sie die Dinger morgen Nachmittag anstandshalber auch nicht in den bestimmt aufgestellten Bauschuttcontainer werfen…

Ökologie war manchmal schon ein Fluch. Okay, wenigstens lästig, ab und zu…

Immerhin kam das Ratlos in Sicht, und mittlerweile durfte man sein Rad auch im Hinterhof abstellen.

Sie kämpfte sich durch den wie immer überfüllten Gastraum und fand Belli, Iris und Tom in der hintersten Ecke; Tom hielt mit der einen Hand sein Bier fest, mit der anderen die Lehne des vierten Stuhls.

„Gibt´s hier heute was gratis?“, fragte Henni beim Hinsetzen. „Heute ist es ja noch schlimmer als sonst!“

„Montags gibt´s doch seit Kurzem immer ein nostalgisches Gericht“, erklärte Iris. „Keine Ahnung, wieso, aber darauf fahren die Leute voll ab. Fast schon bedenklich…“

Belli kicherte. „Meinst du, alle, die sowas essen, wählen insgeheim AfD und pöbeln vor dem Flüchtlingsheim herum?“

„Na, nicht ganz so.“ Henni sah sich trotzdem kritisch im Lokal um. „Also, ich mag diese Rückwärtsgewandtheit einfach nicht. Früher war nicht alles besser.“

„Denkt man nur, weil wir heute die Probleme von damals lösen könnten“, dozierte Tom.

„Da ist was dran… was ist denn heute das gutbürgerliche Nostalgiemahl?“

„Kabeljaugulasch im Reisrand. Mit grünem Spargel, Kapern und ziemlich exotischen Kräutern“, erklärte Iris. „So konservativ sind Birgit und Rudi eben auch nicht.“

Wie aufs Stichwort tauchte Birgit hinter Henni auf. „Bier und was zu essen?“

„Ein Radler und diesen Kabeljau“, bestellte Henni. „Oder gibt es etwas noch Unwiderstehlicheres auf der Tafel? Ich kann sie in diesem Gedränge nicht sehen.“

„Der Fisch ist leider schon aus“, bedauerte Birgit. „Lachs im Blätterteig haben wir noch, asiatischen Nudelsalat, den scharfen, du weißt schon, und Tortellini mit Brokkoli, Tomaten und Serrano.“

„Den Lachs, bitte. Ich bin jetzt voll auf Fisch eingestellt.“

„Ess ich auch“, lobte Tom. Birgit entfernte sich, während Iris und Belli zu streiten begannen, ob man angesichts der Überfischung der Meere überhaupt noch Fisch essen sollte.

„Das ist Zuchtlachs“, versuchte Tom die Diskussion zu beenden, aber weit gefehlt.

„Du meinst, der war in so einem Becken eingesperrt, der arme Hund?“

„Hund esse ich nicht“, warf Henni ein, aber das trug ihr nur einen irritierten Blick ein. Tom grinste. „Wahrscheinlich hat der Lachs einen psychischen Schaden erlitten, weil er nie stromaufwärts schwimmen durfte.“

„Um sich fortzupflanzen, meinst du? Der Arme, nie Sex – obwohl, müssen die sich in einer Zuchtfarm nicht auch fortpflanzen?“

Tom lachte und wandte sich an die streitenden Frauen. „Was meint ihr?“

„Was?“ Iris war sofort abgelenkt.

„Haben Fische Spaß am Sex?“

Iris starrte ihn an, Belli winkte verächtlich ab. „Männer!“

„Wieso?“, verteidigte Henni ihren Kumpel. „Wenn der arme Lachs in der Zuchtfarm dauernd den Hengst geben muss, wäre es doch interessant zu wissen, ob er da wenigstens Lust drauf hat. Vielleicht ist er ja jetzt heilfroh, seine Ruhe zu haben und friedlich und schön kuschelig warm im Blätterteig zu liegen?“

Jetzt starrte Belli genauso verdutzt wie Iris, dafür tauchte Tom unter den Tisch, von wo unterdrücktes Gelächter erscholl.

„Gegessen werden will er bestimmt nicht“, fuhr Belli Henni an, sobald sie sich wieder gefasst hatte.

„Ihr fallt aber auch auf jeden Blödsinn rein“, konnte Henni sich nicht verkneifen. „Jedenfalls ist ein Lachs kein Haustier, also bricht es mir nicht das Herz, wenn er schön saftig in Blätterteig auf den Tisch kommt. Seit wann seit ihr denn so vegan unterwegs?“

„Wieso vegan?“, wollte Iris wissen. „Ich hab den letzten Kabeljau geordert.“

„Ach? Kabeljau darf man essen und Lachs ist ein teures Mitgeschöpf – oder wie?“

Iris winkte ab. „Lass gut sein, Henni. War doch bloß Quatsch.“

„Na gut, lassen wir das Thema. Wisst ihr was? Morgen reißen sie die alte Hütte ab!“

„Welche alte Hütte denn?“

„Na, unser verwarztes Elternhäuschen. In Zolling, für mich aber am falschen Ende.“

„Da müsstest du das Auto zu Leusch nehmen, was? Wo du doch so gerne radelst!“ Tom hatte sich beruhigt und war wieder unter dem Tisch hervorgekrochen.

„Macht dir das gar nichts aus?“ Belli hatte die blauen Augen weit aufgerissen.

„Wieso denn? Die Hütte ist hässlich, heruntergewohnt, außerdem total eng und klein und stört nur auf dem Grundstück, das wir für eine ziemlich anständige Summe verkauft haben. Da kommen mir nicht die Tränen.“

„Ich weiß nicht… das ist doch auch deine Kindheit, nicht? Also, ich könnte das nicht, so kalt darüber reden…“

Henni grinste, sowohl über Bellis Gefühlsseligkeit als auch über den Lachs, der soeben auf dem Tisch erschien, zusammen mit Kabeljau, Nudelsalat und Tortellini.

Sie konzentrierte sich zunächst darauf, vorsichtig ein Stückchen der duftenden Teighülle abzuschneiden und es ekstatisch schnaufend zu verspeisen. „Boah, lecker. Hier esse ich immer noch am allerliebsten! Hältst du mich für kaltschnäuzig, Belli? Dann nimm dies: Morgen schauen Willi und ich auch noch zu, wenn die Abrissbirne hineinfährt. Mit Prosecco und Klappstühlen!“

Belli riss die Augen noch weiter auf: „Das ist aber nicht dein Ernst, doch?“

„Aber mein voller Ernst! Belli, warum sollte ich so pietätvoll sein, wenn es in der Hütte immerzu kalt war, das Linoleum komisch gerochen hat, dauernd die Sicherungen rausgeflogen sind und man die Hakenkreuze in der Haustür nur mit viel Mühe rausfräsen konnte?“

„H-hakenkreuze?“ Iris stotterte vor Abscheu.

„Ja, was denkt ihr denn? Baujahr 38, erbaut von einem ganz Hundertprozentigen!“

„War das dein Großvater?“

„Quatsch, mein Großvater war damals gerade mal aus der Volksschule raus. Vierzehn oder so. Nein, der Nazibonze hatte mit uns nichts zu tun, Gott sei Dank. Seine Witwe hat kurz nach dem Krieg wieder geheiratet, einen Wirtschaftswundertypen mit einem viel besseren Haus. Na, keine große Kunst“, fügte sie gedankenvoll hinzu. „Jedenfalls hat sie die Hütte dann verkauft, ich glaube, 1949. Jetzt wirklich an meinen Opi, der war damals 25 und frisch verheiratet und Omi war schon mit Onkel Klausdieter schwanger…“ Sie grinste. „Der war auch so ein Siebenmonatskind…“

„Ein Mickerling?“, fragte Tom etwas ratlos, was ihm mitleidige Blicke aus drei Augenpaaren eintrug. Männer – von nichts eine Ahnung!

„Nein, Omi war bei der Hochzeit schon schwanger“, erklärte Henni im Tonfall nachsichtiger Geduld.

„Was – ach so.“

„Damals musste man noch schleunigst heiraten“, erläuterte Iris, die bei einer Familienberatungsstelle arbeitete und alles über ungewollte Schwangerschaften im Lauf der Jahrhunderte wusste.

Tom nickte, als sei ihm das natürlich längst klar gewesen, und widmete sich schleunigst wieder seinen Tortellini.

„Also haben meine Großeltern dort Onkel Klausdieter, meinen Vater und Tante Christa großgezogen. In den Fünfzigern war das Haus wahrscheinlich noch ganz annehmbar. Ich meine, da hat man ja auch noch nicht so viel verlangt, nicht?“

„Zumindest haben die Sicherungen nicht so viel aushalten müssen“, gab Tom den Technikspezialisten.

„Ja, und als die Kinder erwachsen waren, sind die Eltern dort weggezogen. Klausdieter war nach Amerika gegangen, Christa hat nach Stuttgart geheiratet, also war Papa alleine dort. Deshalb hat er da eine WG aufgezogen.“

„Hui, so progressiv?“

„Wieso, damals war das die große Mode. Das muss so um 1972 gewesen sein, da war Papa Anfang zwanzig.“

„Aber das deine Großeltern weggezogen sind?“ Iris wunderte sich. „Ich meine, heute machen das ja viele, in einen Kurort ziehen oder nach Mallorca – aber vor vierzig Jahren, sind die alten Herrschaften da nicht einfach geblieben, wo sie waren, bis es – naja – bis es eben vorbei war?“

„Stimmt schon, aber meine Oma hatte ja eine Schwester, die Erika.“

„Spießiger Name“, kommentierte Belli.

„Damals nicht. Die Erika soll in ihrer Jugend toll ausgesehen haben und hat auch prompt einen sehr feinen Herrn geheiratet, einen Adalbert von Dohme. Der hatte eine schicke Villa in München. Nymphenburg, glaube ich. Wirklich mit allen Schikanen. Na, und der ist gestorben, als Papa und seine Geschwister gerade erwachsen waren. Die Erika wollte, dass ihre Schwester bei ihr wohnt, also haben die das gemacht, Christa und Klausdieter sind weggezogen, also konnte mein Vater diese WG aufziehen.“

„Die reinste Familienserie“, spottete Tom, der mittlerweile als einziger schon aufgegessen hatte. „Schreib doch mal einen Roman darüber!“

„Schreiben - ich??“, wunderte sich Henni. „Sonst hast du keine Probleme? Futtere lieber nicht so hektisch!“

„Lass du dein Essen nicht vor lauter Erzählen kalt werden!“, gab Tom sofort zurück.

Henni verspeiste den nächsten Bissen Lachs und Blätterteig, dann sagte sie: „Aber viel erzählt hat er nie über diese WG. Obwohl er und meine Mutter doch damals noch ganz jung und frisch verheiratet waren… eigentlich seltsam.“

„Wieso?“ Iris war ganz Erwartung, die beladene Gabel hoch erhoben.

„Na, komm, erzählen nicht alle Leute gerne von ihrer wilden Jugend?“

„Also, meine nicht. Die waren angeblich früher immer die Allerbravsten und keinesfalls hätten sie irgendwas von den Sachen gemacht, die Vi und mir immer so eingefallen sind…“

„Also haben sie aus pädagogischen Erwägungen gelogen?“, schlug Tom vor.

„Ja, glaube ich auch. Wenn die beiden wirklich so super in der Schule waren, warum haben wir immer noch keinen Nobelpreis in der Familie? Und wenn sie wirklich immer ihr Taschengeld gespart haben, warum sind wir dann nicht steinreich? Und wenn -“

„Wir haben es begriffen“, wehrte Henni ab. „Meine Eltern haben ja die Tatsache der WG nicht verschwiegen, aber einfach keine lustigen Einzelheiten erzählt. Ich weiß nicht einmal genau, wer alles dort gewohnt hat. Lange hat das Ganze sowieso nicht gedauert. Ich glaube, 1972 hat Papa die WG aufgemacht, wahrscheinlich mit Leuten, die er aus der Uni kannte, und mit Mama – und etwa 73 war es damit schon wieder vorbei. Da war der Willi gerade mal unterwegs, wenn überhaupt schon. Dem wollten sie das wohl nicht zumuten…“

„Ist das so eine richtige Nazivilla?“, wollte Iris wissen. „Wegen dem Hakenkreuz, meine ich.“

Henni aß weiter. „Nazi ja, Villa nein. Ein richtiges Siedlungshäuschen eben, in Einfachbauweise, wie es damals üblich war. Kaum zu heizen, dünne Wände, Leitungen zum Teil über Putz. Du weißt schon, wir schaffen für arme Volksgenossen günstigen Wohnraum. Luxus schadet dem Kampf ums Dasein. Bei den Bonzen ist der Luxus natürlich völlig unschädlich.“

„Wie immer eben“, kommentierte Tom, nun wider Willen doch gefesselt.

„Willi und ich sind vor allem auf den Moment gespannt, wenn man eine der Außenmauern mal im Querschnitt sieht. Wir haben uns immer schon gefragt, ob das Haus überhaupt gedämmt ist – und wenn ja, womit zum Teufel. Keinesfalls irgendein wirkungsvolles Zeug, das war wahrscheinlich kriegswichtig und für die Leute zu schade.“

„Alte Zeitungen sollen ja sehr wirkungsvoll isolieren“, schlug Belli vor.

„Uäh“, machte Henni und schüttelte sich. „Dann kommen da womöglich lauter Seiten aus dem Völkischen Beobachter zum Vorschein und wir müssen uns vor den Abbruchleuten noch schämen… Na, mal sehen, wie das morgen so läuft.“

„Mach Fotos!“, verlangte Iris. „Vielleicht ist ja was Interessantes dabei.“

„Dann zeigt deine Schwester es im Unterricht, was?“

„Warum nicht? Alltag unterm Hakenkreuz oder sowas.“

3

Als Henni am nächsten Tag pünktlich mit Prosecco, Gläsern, etwas Knabberkram in einem Schüsselchen und ihrer Kamera in Zolling ankam, war von Willi natürlich weit und breit noch nichts zu sehen, also gab es noch keine Möglichkeit, sich gemütlich hinzusetzen und den Blick auf die Aktion zu genießen. „Dieser Wichtigtuer“, schimpfte sie halblaut vor sich hin, „erst macht er´s so dringend und dann kommt er nicht? Bricht ohne ihn mal wieder alles zusammen?“

Nun gut, sie fotografierte schon einmal das trübselig dastehende Häuschen, dass seine Hinrichtung schon zu erwarten schien, die eingeschlagenen Fenster, die schief in den Angeln hängende Haustür und das steile Giebeldach, in dem schon einige Ziegel fehlten.

Hatten sie es eigentlich vollständig ausgeräumt, bevor sie es an MayBau verkauft hatten? Oder hatten die es erledigt? Willi fragen, wenn er denn mal auftauchte, beschloss sie und musste grinsen – zum letzten Geburtstag hatten sie ihm „Nur noch kurz die Welt retten“ geschenkt, auf einem richtig teuren 256 GB-Stick, den er wirklich brauchen konnte. Sogar mit seinem Namen eingraviert. Luggi hatte noch gesagt: „Lad dir aber keine Pornos drauf, du kannst den Stick echt schlecht verleugnen.“

Willis Frau Claudia hatte etwas kariert dreingesehen, auch noch, als Luggi schnell behauptet hatte: „War bloß ein Witz, sowas täte der Willi doch nie!“

Henni hatte noch einen draufgesetzt: „Der Luggi schließt bloß mal wieder von sich auf andere!“

Über Luggis Wut freute sie sich heute noch, aber Sybille hatte dann gemeint, wer mit ihr verheiratet sei, habe billige Pornos nicht notwendig, und ihr Geschenk überreicht – eine dezente (fast schon langweilige) Krawatte.

Alle Möbius-Geschwister hatten sich eisern beherrscht, sogar Luggi, dem ein „Schatz, das geht ja gar nicht“ ins Gesicht geschrieben stand.

Henni umrundete den gelben Bagger und fotografierte durch die zerschlagenen Wohnzimmerfenster – leer. Und feuchte, schimmelige Wände. Kein Wunder, hier hatte seit einem guten Jahr niemand mehr geheizt! Das dünne Mosaikparkett wellte sich, mehr war nicht mehr zu sehen.

Wie hatten die den Bagger eigentlich hier hereingeschafft? Und die drei verschiedenfarbigen Container? Sie wanderte um das Häuschen herum und entdeckte, dass auf der anderen Seite der Zaun entfernt worden war und der verdorrte Rasen die Spuren von Baggerketten aufwies. Auch egal.

Das einzige, worum es ihr fast leidtat, war der kleine Zierahorn direkt an dem Zaun vor der Haustür. Ob man den ausgraben konnte? Dumm, dass sie keinen Spaten im Auto hatte…

Immerhin, als sie einen unschlüssigen Blick auf ihren Wagen warf, der einige Meter weiter weg an der Straße stand, entdeckte sie Willi, der mit seinem schwarzen BMW die Straße entlangglitt und schließlich ganz affig vor ihr rückwärts einparkte.

Henni beobachtete das kopfschüttelnd – die Straße war bis auf ihren eigenen Wagen völlig leer, er hätte überall problemlos vorwärts einparken können, ohne sein Können zu demonstrieren. Ach, was hieß hier Können?

Sobald er auf Hörweite herangekommen war, wenigstens wirklich zwei Klappstühle schleppend, lobte sie ihn also freundlich: „Guter Parkassistent, gell?“

Willi zog eine ertappte Grimasse, musste aber dann grinsen. „Noch nichts los hier?“

„Viertel nach zwei – pünktlich sind die nicht, da passen sie zu dir. Aber ich weiß, wo der beste Platz ist, komm!“

Schließlich hatten sie sich so auf der Seite platziert, dass sie beste Sicht auf das noch nicht stattfindende Geschehen hatten. Willi hatte sogar in dem halb eingestürzten Schuppen noch eine Kiste entdeckt, die, zwischen den Stühlen platziert, einen passablen Tisch abgab. Henni stellte gerade die Gläser, die Flasche und die Schale mit dem Knabbergebäck auf diesen Tischersatz, als Willi ausrief: „Na endlich!“

Sie sah auf und spähte über die Reste des Gartentors: „Ach was! Sind die doch schon da…!“

Immerhin sprangen draußen mehrere Männer – und eine Frau – mit Bauhelmen auf dem Kopf aus einem Sprinter und betraten das Grundstück. Einer stutzte, als er sie dort sitzen sah, und wandte sich an einen anderen, der nach einigen Worten abwinkte und dann die Ecke ansteuerte, in der Henni und Willi saßen.

„Herr und Frau Möbius?“

Willi nickte. „Sie sind der Leiter der Abrissaktion?“

„Bernberger. Genau. Und Sie wollen sich das wirklich anschauen?“

„Warum denn nicht? Glauben Sie, es ist zu gefährlich?“

„Aber woher denn, auf die Entfernung… Trotzdem, Helme sollten Sie schon aufsetzen…“ Er reichte ihnen zwei quietschgelbe Helme. Henni setzte ihren auf und nickte zufrieden. Willi besah sich seinen zweifelnd und setzte ihn dann leicht schräg auf. „Flott“, meinte Henni spöttisch.

„Und Sie wollen sich das auch anschauen?“, fragte Bernberger erstaunt. Henni sah zu ihm auf. „Ja, warum auch nicht? Es ist doch interessant, was da alles zum Vorschein kommt.“

„Was soll denn da zum Vorschein kommen? Ein Schatz vielleicht? Ja, die romantischen Vorstellungen der Damen, gell?“ Er zwinkerte Willi zu, der ein Steingesicht aufsetzte.

„Nicht ganz“, lächelte Henni süß. „Ich möchte wissen, mit welchem Mist man damals die Wände gedämmt hat, in der Hütte war es nämlich immer arschkalt.“

„Um es mal damenhaft zu formulieren“, murmelte Willi.

„Hui!“ Bernberger fuhr regelrecht zusammen. „Ganz schön hartgesotten, die Dame – war das nicht Ihr Elternhaus?“

„Mag sein, aber ganz objektiv war es ein Graus. Da wohne ich heute tausendmal schöner.“

Bernberger hatte sich wieder gefasst. „Ja, da muss man den Richtigen heiraten, gell?“

„Wieso? Ich kann mir meine Wohnung schon selbst leisten. Und da geht sogar die Heizung.“

Bernberger fiel ein, dass er mal nach dem Bagger sehen sollte. Leise den Kopf schüttelnd, trabte er davon, und Henni grinste ihm hinterher. „Ein wandelndes Klischee, der Mann.“

„Du hast jetzt wahrscheinlich sein Frauenbild zerstört“, befürchtete Willi, der schon am Korken der Proseccoflasche herumoperierte.

„Oder er hält mich einfach für eine herzlose Bestie“, antwortete Henni und hielt die Gläser für den Notfall schon bereit, „dabei haben wir alle vier das Haus nicht gemocht. Dass wir trotzdem eine ganz schöne Kindheit hatten, hat damit ja nichts zu tun. Und ich glaube auch nicht, dass Papa und Mama, wenn sie uns von oben zugucken, glauben, wir hätten ihr Lebenswerk zerstört – du?“

„Quatsch.“ Willi hatte den Korken endlich aus der Flasche gebracht und schaffte es auch, die beiden Gläser zu füllen, ohne etwas zu verschütten. „Wie oft hat Mama geschimpft, dass sie nicht einmal eine Spülmaschine haben konnte, und Papa über die vorsintflutliche Heizung..."

„Die undichten Fenster, egal wieviel TesaMoll man reingeklebt hat.“

„Die knarrenden Böden. Sogar das Linoleum in der Küche hat geknarrt.“

„Und die Farbe! Wie gespiener Spinat. Wer hat so etwas bloß hergestellt?“

„Die altmodischen Drehlichtschalter.“

„Die Zimmertüren, die immer wieder aufgesprungen sind.“

„Mit den blöden Glasfüllungen, so dass man abends nicht heimlich länger lesen konnte“, ärgerte sich Henni bei der Erinnerung. „Prost!“

Willi stieß mit ihr an. „Du hattest immerhin ein eigenes Zimmer – wir waren zu dritt unterm Dach.“

„Ihr hattet Platz – mein Zimmer hatte ungefähr vier Quadratmeter!“

„Eine Runde Mitleid – hui, schau mal, die fangen doch nicht etwa schon an?“

Der gelbe Bagger hatte ein Stück zurückgesetzt, was dem völlig vermoosten Rasen wohl den Rest gab. Zwei Arbeiter machten sich daran, eine Abrissbirne am Bagger zu befestigen – offenbar eine mühsame Aufgabe. „So ein Ding muss ja ordentlich was wiegen“, sagte Willi in diesem Moment. Henni lachte. „Hab ich mir auch gerade gedacht. Darauf ein Schlückchen!“

Schließlich hing die Stahlkugel in der richtigen Höhe und der Baggerausleger hob sich.

„Jetzt!“ Henni staunte, wie aufgeregt sie war. Willi stellte sein Glas ab und zückte sein Handy. „Gut, dass die Kamera ein Tele hat… Moment, so, das wird gut. Ich schick´s dir dann, ja?“

„Unbedingt!“

Die Kugel schwang zurück und dann vor und schlug ein beträchtliches Loch in die Hauswand knapp oberhalb der Wohnzimmerfenster.

Willi ließ seine Handykamera aufgeregt surren. Henni kniff die Augen zusammen: „Was ist das graue Zeug zwischen den Wandplatten?“

„Sieht tatsächlich aus wie alte Zeitungen“, murmelte Willi, der durch das Teleobjektiv mehr sah. „Das war sogar für damals zu schundig gebaut! Pappe und Zeitungen?“

„Na, Pappe? Aber Rigips geht doch auch nicht für Außenwände, oder?“

„Wer hätte sich damals beschweren wollen? Immer noch besser als eine Baracke in Dachau.“ Willi fotografierte, was das Zeug hielt.

Beim nächsten Schlag stürzte an dieser Stelle das steile und praktisch ungedämmte Dach teilweise ein. Mehrere Kartons stürzten auf den Rasen und entleerten sich.

Henni kicherte geniert. „Haben wir den Plunder auf dem Speicher vergessen?“

„Schaut so aus. Ist doch egal, wir wussten doch eh nicht, was da oben war. Was man nicht kennt, kann man nicht vermissen, oder?“

„Ja, aber nachher sollten wir doch mal schauen. Vielleicht gibt es peinliche Fotos, da haben wir dann doch was zu lachen. Und wir können Ulli und Luggi raten lassen, was drauf ist.“

Tatsächlich stoppte der Bagger und Bernberger eilte auf die beiden zu. „Wollen Sie schnell schauen, ob in den Kisten etwas ist, was Sie retten wollen? Aber nicht lange, wir haben einen ziemlich engen Zeitplan!“

Henni erhob sich und erschreckte Bernberger sichtlich, denn sie war einen guten halben Kopf größer als er. Willi folgte ihr zu den Kisten, aus denen vor allem Stoffe herausquollen. „War das nicht Mamas Schlabberhose mit den Mohnblumen darauf? Ein scharfes Teil“, kommentierte sie, ohne nach dem Stoff zu greifen. Stattdessen hob sie ein in dunkelrotes Plastik mit Goldrand gebundenes Album auf. Willi fand noch ein passendes in grellem Türkis. „Einen Geschmack hatten die damals in Fotoalben… voll die Siebziger“, kommentierte Henni kopfschüttelnd.

„Was erwartest du? Die Siebziger waren doch das Jahrzehnt des schlechten Geschmacks“, rief Willi ihr zu, der mit der Schuhspitze einen weiteren Haufen rasch durchstöberte.

„Quatsch, das waren die Achtziger!“, rief Henni zurück und hob ein weiteres Album auf – Querformat, Stoffbezug in trübem Streifendessin, naturbraune, leicht ausgefranste Seiten innen. Toll, das musste noch viel älter sein!

„Ich sehe nur noch Mist!“, rief Willi da wieder. „Moment – was ist das denn?“ Er winkte ihr zu und sie eilte zu ihm hin. „Was hast du da?“

Er zeigte es ihr. „Iih!“ machte Henni prompt, als sie den Bierseidel in Form einer nackten Frau sah. „Wieso ist das Mistding denn nicht kaputtgegangen?“

Willi grinste und klopfte darauf. „Echt Plastik. Du willst die Tussi nicht? Dann wäre sie was für den Luggi.“

„Langsam glaubt seine Sybille, dass er früher der totale Schwerenöter war. Aber er würde sich sehr nett aufregen.“ Sie kicherte. „Und wenn er das Ding auf den Wertstoffhof bringt, schauen sie ihn dort auch recht merkwürdig an…“

„Wahrscheinlich muss dann Sybille den Kram wegfahren“, vermutete Willi und klemmte sich die nackte Schöne unter den Arm.

Bernberger eilte wieder herbei. „Sie sind fertig?“

„Ja. Drei Fotoalben, der Rest dürfte Plunder sein. Kann alles in den Container, wenn von Ihrer Truppe niemand etwas davon haben will.“

Bernberger zuckte die Achseln und machte dem Baggerfahrer ein Zeichen; die Abrissbirne setzte sich wieder in Bewegung.

Nach einigen weiteren Attacken – die Gartenseite war bis etwa einen Meter über dem Boden eingestürzt – hielt der Bagger wieder inne.

„Müssen die den Kram nicht sortieren?“, überlegte Henni. „Wegen Wiederverwertung?“

„Meistens sortieren sie nur Kunststoff und Wertvolles aus“, erklärte Willi. „Hier gibt´s ja wohl weder – noch.“

„Das Holz von den Fensterrahmen könnte man doch wenigstens noch verbrennen?“

„Das klaubt doch gerade einer raus. Vorher hätte man das bisschen verrottete Holz ja noch mühsam aus der Wand brechen müssen.“

Willi hatte Recht, stellte Henni fest – ein Arbeiter hob die zersplitterten Fensterrahmen mit den Resten weißer Farbe auf und schüttelte die Glassplitter ab; ansonsten lagen vor allem zerbrochene uralte Dachziegel und Mauerbrocken, aus denen die dubiose Füllung heraushing, auf dem Boden. Auf der Vorderseite hängten zwei andere Arbeiter gerade die hölzerne Haustüre aus und warfen sie in den kleineren der Container, dann hörte man Sägegeräusche.

„Treppengeländer“, vermutete Willi und schenkte sich Prosecco nach. Henni stand auf und näherte sich der Ruine. Einige Fetzen der Tapete hingen noch an den Mauerbrocken und noch stehenden Mauerresten und verströmten genau jenen klammen Geruch, den sie mit ihrer Kindheit in diesem Haus verband.

Naserümpfend kehrte sie zu Willi zurück. „Bilde ich mir das ein, oder war die einzige Zeit, in der wir uns darin nicht den Hintern abgefroren haben, Weihnachten?“

Willi brummte zustimmend. „Das waren die vielen Kerzen am Baum. Weißt du noch, unser allabendlicher Wettkampf?“

Henni lachte. „Wessen Kerze am längsten durchhält? Ich war als Kleinste logischerweise auch die Doofste, immer wieder habe ich mich in schöne lange Kerzen weiter oben verliebt. Bis ich mal kapiert habe, dass die untersten am längsten halten…“

„Ja, dass du noch Sinn für Physik entwickeln würdest, konnte man damals wirklich nicht vermuten!“

Henni spürte eine sentimentale Anwandlung. „Ja, Spaß hatten wir schon, aber die Hütte war doch furchtbar. Und ganz ehrlich – Papa und Mama mochten sie doch ja auch nicht.“

„Woher denn! Aber vier Kinder und nur ein Gehalt? Da musste man wohl um das verschimmelte Erbe noch dankbar sein, sonst wären wir in einer Dreizimmerwohnung in Spitzing aufgewachsen.“

Henni schüttelte sich unwillkürlich. „Wieso hat Mama sich eigentlich keinen Job gesucht, wenigstens sobald ich in der Schule war?“

„Keine Ahnung. Naja, mit ein paar Semestern – was war´s, Anglistik? Was gibt´s da schon für Jobs…“

„Auch wieder wahr, aber das war doch furchtbar, den ganzen Tag in der Schimmelbude, die hat man doch eh nicht saubergekriegt“, murrte Henni. „Ui, schau mal, es geht weiter!“

Die nächsten Momente waren von sehr befriedigendem Krachen erfüllt, und dann war der Rest des Hauses auch mehr oder weniger verschwunden – nur noch ein flacher Haufen aus Mauerbrocken, Holzteilen, Teppichresten von der Treppe und losen Tapetenfetzen war zu sehen.

„Schäbige Bilanz“, urteilte Henni sofort. „Meinst du, es lohnt sich, noch dazubleiben?“

„Unbedingt! Die schmeißen jetzt alles in die Container und dann müssen sie den Keller noch einreißen oder aufbohren oder wie auch immer… ob das Beton war?“

„Weiß ich auch nicht. Mehr so erdig, oder? War Beton nicht zu wertvoll für gewöhnliches Volk? Haben die damit nicht die Autobahnen gebaut, damit die Panzer flott nach Osten rollen konnten?“

„Oder so ähnlich. Stimmt schon. Schau!“

Tatsächlich wurde die Abrissbirne vom Bagger entfernt; der Bagger stellte sich direkt neben den Container und schaufelte die Trümmer völlig unsortiert hinein; zwei Arbeiter fegten die kleinsten Überreste schließlich in die Baggerschaufel und sahen sich dann zufrieden um. Mehrere andere mit Kopfhörern und Pressluftbohrern trabten jetzt an und begannen, die Kellerdecke aufzubrechen.

„Also doch Beton“, stellte Henni fest.

„Oder Holzbalken mit Zement“, behauptete Willi. „Egal, wir haben doch beide keine Ahnung. Was war eigentlich im Keller?“

Henni überlegte. „Dieser kleine Öltank, oder? Aber der war doch leer. Oder??“ Sie starrte ihren Bruder in Panik an. Willi winkte ab. „Klar war der leer – und wenn nicht, ist das wohl die Aufgabe von MayBau, nicht unsere, oder? Das Grundstück gehört uns doch gar nicht mehr. Moment – den Schotter in der Rumpelkammer haben wir mit den Möbeln abtransportieren lassen, die Vorratskammer war leer und in der Waschküche waren höchstens noch die Reste von der alten Wäscheleine. Keine Sorge, mehr war da nicht.“

„Eigentlich komisch“, überlegte Henni. „Wenn dieses grässliche Haus 1938 gebaut wurde, wieso hat es keinen Luftschutzkeller?“

„Kein Platz?“

„Aber war das nicht Pflicht?“, rief Henni, um das immer lauter werdende Rattern der Bohrer zu übertönen.

„Kommt es auf ein paar Volksgenossen mehr oder weniger denn an?“

„Auch wieder wahr.“

Das Bohren schien erfolgreich zu sein, jedenfalls wurden immer mehr Bruchstücke Beton oder Zement oder was auch immer in Richtung Container geworfen, wo sie jemand aufnahm und korrekt entsorgte.

Schließlich war nur noch ein Arbeiter zu sehen, aber der Lärm war unverändert.

„Sind die schon beim Kellerboden angelangt?“, überlegte Willi. Henni stimmte gleichmütig zu und goss ihnen die letzten Schlucke Prosecco ein. „Ziemlich warm schon“, bemerkte sie dann. „Na, ich denke, noch ein paar Minuten, dann können wir gehen. Das Beste dürfte vorbei sein.“

„Mhm… war der Garten früher eigentlich schöner, was meinst du?“

Henni ließ ihren Blick über die ins Kraut geschossenen Sträucher, die halbkahle Lärche direkt an der Straße und die zahlreichen Ahornschößlinge unter der löchrigen Thujahecke wandern. „Nein. Nicht ganz so zerzaust, aber so ähnlich. Hatten wir eigentlich nie Blumen?“

„Doch. Der Großvater musste mal ein Staudenbeet angelegt haben, hinter dem Haus. Das hat der Papa noch ziemlich lange notdürftig in Schuss gehalten, aber wahrscheinlich hat er, wenn eine Staude den Geist aufgegeben hat, nichts Neues gekauft. Als ich so neun oder zehn war, hat er aufgegeben, alles rausgerissen und Rasen gesät.“

„Echt Rasen? Warum nicht gleich Moos?“

„Wahrscheinlich, weil das über kurz oder lang von selbst kommt. Ach ja, er hat an der Hintertür noch einen Rosenstrauch gepflanzt, aber der ist dann sofort eingegangen. Vielleicht hat der Mucki zu oft hingepisst.“

„Der Mucki…“ sinnierte Henni. „Der war doch schon so alt?“

„Als das mit dem Rosenstrauch war, war er vielleicht zehn – und du gerade mal drei. Wahnsinn – der Mucki und ich waren gleich alt! Fällt mir jetzt erst auf. Jedenfalls, der Papa hatte jetzt nicht wirklich den grünen Daumen.“

„Eher zwei linke Hände. Weißt du noch, dieses Schuhregal im Flur?“

Willi prustete vergnügt, brach aber plötzlich ab, als einer der Arbeiter aus dem Kellerloch krabbelte und schreiend und gestikulierend auf den Bagger zulief. Ein anderer rannte zu Bernberger, der mit einer Wurstsemmel in der Hand ebenfalls auf einem Klappstuhl saß und in Unterlagen blätterte. Auch Bernberger sprang auf und rannte mit der Wurstsemmel zum Keller. Als er hineinschaute, ließ er die Wurstsemmel fallen, schlug sich die Hand vor den Mund und drehte sich weg.

„Der schaut, als hätten sie gerade eine Leiche gefunden“, spottete Henni.

„Wer weiß?“

„Sei nicht albern, wer sollte denn eine Leiche in unserem Keller verstecken – und wie? Mit vier neugierigen Kindern im Haus? Und hätte das nicht ziemlich gestunken?“

„Vielleicht war das schon vorher?“

„Dann ist doch jetzt nichts mehr davon übrig, oder?“

„Schauen wir mal. Bernberger kommt eh schon her.“

„Sagen Sie mal!“, schrie Bernberger, als er noch kaum in Hörweite war, „was soll das denn?“

„Was denn?“ Willi hatte sich kampfbereit erhoben.

„Na, dann kommen Sie mal lieber mit, Sie beide!“

Henni und Willi folgten ihm und Henni spürte eine merkwürdige Mischung aus Neugier und Beklemmung: Auf jeden Fall musste etwas Gefährliches oder Scheußliches im Keller – besser noch im Kellerboden – aufgetaucht sein!

An der Kante der Ausschachtung stoppte sie abrupt und spürte tatsächlich den Sog der Tiefe, auch wenn diese Tiefe nicht sehr eindrucksvoll war. Zunächst sah sie nichts außer Erdhäufchen. grauen Zementbrocken und fünf Pressluftbohrern in schmutzigem Orange, außerdem die dazugehörigen fünf Arbeiter. Genaugenommen sah sie von ihrer erhöhten Position aus fünf gesenkte gelbe Schutzhelme. Offenbar starrten sie alle in die gleiche Vertiefung, die sie in den Kellerboden geschlagen oder gegraben hatten.

„Was soll dort sein?“, fragte sie den heftig schnaufenden Bernberger.

„Ich zeig´s Ihnen!“

Er lotste sie beide zu einer provisorischen Holzleiter und unten zu der Stelle, die immer noch von den Arbeitern umstanden war.

Als schauten sie in ein offenes Grab, dachte Henni, während sie versuchte, nicht über die diversen Brocken zu stolpern. Wie in einem ganz, ganz schlechten Film. Bernberger scheuchte die Arbeiter beiseite und wies dann dramatisch in das Loch.

Henni und Willi schauten gehorsam in die angegebene Richtung und fuhren zurück: Ein Totenschädel grinste sie an, mit bemerkenswert guten Zähnen.

„I-ist der echt?“, stotterte Willi.

„Schaut ganz so aus. Es gibt auch noch Knochen, aber die haben die Bohrer und Spaten nicht ganz so gut überstanden…“

Henni zückte ihr Handy. „Ich denke, das ist ein Fall für die Polizei.“

Bernberger runzelte die Stirn. „Glauben Sie wirklich, das muss sein? Das bringt unseren Zeitplan nur völlig durcheinander – und der arme Hund ist doch wohl seit Ewigkeiten tot, oder?“

Henni maß ihn streng. „Er hat sich aber wohl nicht selbst im Keller vergraben, oder? Als könnte es sich um einen Mordfall handeln – und Mord verjährt nicht, das wissen Sie doch wohl auch?“

„Ja, aber wer könnte ihn ermordet haben?“ Bernberger versuchte, schlau dreinzusehen. „Ich meine, das hier ist doch Ihr Elternhaus – wer anders als Ihre Eltern könnten denn die Mörder sein?“

„Das glaube ich weniger. Aber unsere Eltern sind tot, und ich habe keinen Hang dazu, etwas zu vertuschen. Du vielleicht?“, wandte sie sich an ihren Bruder, und Willi schüttelte den Kopf. „Tausende Krimis gesehen und gelesen – etwas verbergen zu wollen bringt einen nur noch mehr in die Bredouille. Ruf die Polizei, Henni.“

„Na gut, aber dann rufe ich den Chef an!“

„Gute Idee, tun Sie das ruhig“, gab Henni sich großzügig und tippte die 110 ein.

4

Kurz darauf fuhren ein Streifenwagen, eine zivil wirkende dunkelgraue Limousine aus bayerischer Produktion, ein Notarztwagen und ein weißer Kombi auf das Grundstück.

„Na, darauf kommt es jetzt auch nicht mehr an“, murmelte Willi. „Der reinste Acker, dieser Rasen.“

Der Notarztwagen entlockte Henni ein albernes Kichern: „Ist der nicht ein paar Jahre zu spät dran?“

Die Uniformierten aus dem Streifenwagen traten an die Kellerkante und forderten alle anderen auf, zurückzutreten und sich vom Tatort fernzuhalten, dann spähten sie selbst hinunter.

Sie wurden von Weißgekleideten vertrieben – „Spurensicherung“, wusste Willi, der ja Fernsehkrimis liebte.

„Der muss doch schon ewig da liegen“, mutmaßte Henni, „ob´s da überhaupt noch Spuren gibt?“

„Wie kommen Sie darauf?“, fragte jemand hinter Henni und sie fuhr herum. Ein freundlich zwinkernder Mann um die Vierzig in einem ordentlichen Trenchcoat stand hinter ihr und zückte einen Ausweis. „Marquart, Kripo Leisenberg.“

„Naja“ meinte Henni, „wenn außer dem Schädel und ein paar Knochenresten nichts mehr übrig ist – dauert so etwas nicht mindestens ein Jahrzehnt?“

„Vielleicht sogar länger. Aber manche Spuren halten ewig. Es gibt doch sogar Mammut-DNA. Wer sind Sie übrigens?“

„Henriette Möbius. Das ist mein Bruder Wilhelm. Der Trümmerhaufen da vorne war mal unser Elternhaus.“

„Besser die Elternhütte“, warf Willi ein. „Die Nazibillighütte Haus zu nennen, wäre zu viel des Lobes.“

„Nazi - ? Vermuten Sie da irgendwelche Umtriebe?“

Henni winkte ab. „Ach wo. Die Hütte war Baujahr 38, da waren alle anständigen Baumaterialien ja wohl schon kriegswichtig. In der Hütte haben wir nur gefroren und zu klein war sie für sechs Leute auch.“

„Du hattest wenigstens ein eigenes Zimmer!“, wollte Willi wieder stänkern, aber Marquart hob eine Hand. „Bitte nur Sachdienliches! Sechs Personen?“

„Unsere Eltern und wir vier Kinder“, erklärte Henni. „Wir haben noch zwei Brüder, Ulrich und Ludwig. Woher haben zwei WG-Freaks eigentlich diesen Hang zu altmodischen Vornamen?“

Marquart verdrehte ein wenig die Augen. „Das überlegen Sie sich dann bitte mit Ihren Brüdern. Warum sind Sie heute hier?“

„Wir wollten beim Abriss zuschauen, und der Chef von MayBau hat es uns erlaubt.“

„Aha – warum?“

„Ist doch spannend“, erklärte Henni. „Ja, ich weiß schon, ich sollte wahrscheinlich traurig sein, aber ich fand es nur interessant. Allerdings hätte ich mir die sortenreine Trennung etwas aufregender vorgestellt – und mein Dachkämmerchen habe ich nicht einstürzen gesehen, weil das ganze morsche Ding auf einmal runtergekommen ist.“

„Ihre Eltern haben das Haus an MayBau verkauft?“

Die junge Frau neben Marquart tippte alles in ihr Handy ein und Henni runzelte die Stirn. „Ich finde das Display ja immer arg futzelig… wäre ein Tablet nicht praktischer? Oder gibt es dafür noch kein Geld?“

„Doch, wir haben Diensttablets – aber hier kann ich mich nicht setzen, und im Stehen ist so ein Tablet recht schwer, finde ich.“

„Willi?“

Willi enteilte, einen der Klappstühle zu holen.

„Meine Kollegin, Frau Bohn“, stellte Marquart etwas verspätet vor. Die beiden Frauen lächelten sich an und kurz breitete sich Stille aus.

„Nein“, griff Willi die Frage auf und reichte Henni den Klappstuhl, „wir haben das Haus verkauft. Unsere Eltern sind vor fast einem Jahr tödlich verunglückt.“

„Oh“, war Marquart offensichtlich betreten, „darf ich fragen, wie das geschehen ist?“

„Sie haben eine USA-Reise unternommen und waren auf einem Inlandsflug dort, der dann abgestürzt ist. Bei Albuquerque, oder, Henni?“

Henni hatte den Stuhl aufgeklappt und begutachtete nun das Tablet der Kommissarin mit professionellem Interesse. „Was? Ja, das stimmt. Eine kleine Privatfluglinie, offenbar mit schlecht gewarteten Maschinen – aber das darf man nicht öffentlich sagen.“

„Ach?“

„Milliardenklagen – man kennt doch die Amis“, warf Willi wieder ein. „Das könnte diesen Ganoven doch das Geschäft versauen.“

„Haben Sie nicht geklagt?“

Henni winkte ab. „Kein Interesse an näherem Kontakt mit denen. Und dieses Schadensersatzrecht ist mir zumindest recht suspekt.“

„Nun gut“, lenkte Marquart von diesen antiamerikanischen Äußerungen ab, „Sie haben das Haus also vor einem Jahr geerbt – hier wohnen wollte keiner von Ihnen?“

„Nein, wirklich nicht. Wir sind vielleicht verwöhnt, aber ein Mindestmaß an neuzeitlichem Komfort wollten wir schon haben. Meine Brüder haben alle mehrere Kinder und erinnern sich sicher noch mit Grausen, wie eng es in diesem Häuschen war – und ich stehe zwar auf Minimalismus, aber eher vom Typus Smart Home und Klassische Moderne.“

Kommissarin Bohn nickte eifrig. „Alles digital, außer den Klamotten? Toll…“

Henni grinste. „Finde ich auch. Bücher, Filme, Musik in digitaler Form machen das Aufräumen so angenehm. Und man spart viel Platz!“

„Maggie, können wir zur Sache zurückfinden?“, mahnte Marquart. „Also, Sie wollten das Haus nicht bewohnen. Dann war der Verkauf wohl die beste Lösung.“

„Ja, das dachten wir eben auch“, sagte Willi. „Mit dem Erlös konnte jeder sein Haus oder seine Wohnung“ – mit einem Seitenblick auf Henni – „ein schönes Stück abzahlen.“

„Da ich keine solche Riesenscheune gebraucht habe, bis ich fast schon schuldenfrei“, konnte Henni sich nicht verkneifen.

„Äpäpäp“, machte Willi aus alter Gewohnheit; Henni grinste und wurde dann wieder ernst. „Aber wer könnte dieses Skelett im Keller sein?“

„In welchem Teil des Kellers liegt denn der Fundort?“, wollte Marquart wissen.

„Hm…“ Henni trat etwas näher an die Kante und rekonstruierte mit raschen Fingerbewegungen die Lage der Räume im Keller, ausgehend von den Resten der Kellertreppe.

„Das ist der Vorratsraum. Oder, Willi?“

Willi reckte den Kopf. „Ja, stimmt. Der erste Raum, wenn man die Treppe runtergestolpert kam, war diese Rumpelkammer, dann kam der Vorratsraum, da war eine marode Tiefkühltruhe drin und ein Regal mit schrumpeligen Äpfeln.“

„Es hat da immer nach Erde gerochen. Irgendwie modrig“, erinnerte sich Henni. Willi gab ein bestätigendes Geräusch von sich.

„Ich glaube, da war gar kein richtiger Fußboden“, überlegte Henni. „Was für eine erbärmliche Hütte, oder? Festgetrampelte Erde im Keller, wo gibt´s denn noch sowas! Dass man da überhaupt eine Tiefkühltruhe aufstellen durfte?“

„Durfte man wahrscheinlich auch gar nicht. Und die Rumpelkammer war auch bloß Erde“, behauptete Willi. „Ich glaube, nur die Heizung und die Waschküche hatten einen Estrich. Ja, und die Waschküche natürlich einen Abfluss.“

Henni kicherte. „Hat nicht viel genützt, weißt du noch?“

Marquart räusperte sich mahnend. „Das heißt, jemand hätte eine Leiche durchaus im Vorratsraum vergraben können…“

„Ehrlich? Ich meine, muss da nicht trotzdem sowas wie Beton drunter sein? Und die Erde wahrscheinlich gerade mal zehn Zentimeter?“ Henni schüttelte den Kopf. Marquart spähte hinunter. „Nein, offenbar hat man damals auch am Beton gespart – Holzbretter, ziemlich angefault, waren wohl das einzige unter der Erde.“

„Und unter den Holzbrettern war wohl wieder Erde. Oder Kies“, überlegte Willi. „Was für ein Schund...“

„Vorstellbar“, kommentierte Marquart. „Können Sie sich an jemanden erinnern, der plötzlich verschwunden ist?“

Henni und Willi sahen sich an, dann schüttelten sie beide den Kopf. „Nö“, antwortete Henni schließlich. „Unsere Eltern hatten selten Besuch, Freunde von früher, ein Onkel… aber verschwunden ist von denen niemand, jedenfalls wüsste ich nicht.“

„Vor unserer Zeit war hier bestimmt mehr geboten“, ergänzte Willi. „Die müssen hier so eine Art WG gehabt haben. Kurz vor meiner Geburt sind sie dann wohl bürgerlich geworden…“

„Und wann war das, Herr Möbius?“

„Also, geboren bin ich am 14. Juni 1974. Ich denke, die WG hat sich irgendwann im Frühjahr aufgelöst.“

„Nicht eher schon dreiundsiebzig?“, fragte Henni.

„Sehr interessant“, murmelte Marquart. „Wer gehörte denn alles zu dieser WG?“

Willi zuckte die Achseln. „Keine Ahnung, das war ja nun wirklich vor meiner Zeit.“

„Warte mal, Willi – hat Mama nicht mal gesagt, ihr Bruder war auch dabei?“

„Der Thomas? Ehrlich? Der ist doch dermaßen spießig!“

„Ja und? Erstens ist eine WG ja wohl nicht ehrenrührig und zweitens waren unsere Altvorderen ja auch ziemlich bieder, oder?“

Willi nickte. „Vielleicht hat die Hütte irgendwann abgefärbt…“

Allmählich klang Marquart etwas ungeduldig. „Thomas – und wie noch?“

„Thomas Wiesinger.“

„Wie der Stadtrat?“

„Ja, das ist er ja auch“, erklärte Henni. „Wir haben wenig Kontakt. Er ist auch noch CEO bei LogiTrans und wohnt in Waldstetten. Die Adresse weiß ich jetzt gerade nicht auswendig.“

„Was denn“, spottete Willi, „hast du nicht alle Daten auf dem Handy?“

„Nur, was ich auch öfter brauche. Den Thomas brauche ich doch nie.“

„Das kriegen wir auch so heraus“, beruhigte Frau Bohn und lächelte von ihrem Klappstuhl aus in die Runde.

„Vielleicht weiß der Thomas auch noch, wer damals alles in der WG gewohnt hat“, wollte Henni wenigstens etwas hilfreich sein.

Willi prustete. „Na logisch – senil ist er noch nicht. Aber viele können es nicht gewesen sein, hier war doch wirklich kein Platz.“

„Auch wieder wahr. Jeder ein Zimmer? Dann sind das…“, sie zählte an den Fingern ab, „eins unten, zwei oben und eins im Dach. Vier Leute? Dürftig…“

„Vielleicht haben sich Papa und Mama ja auch ein Zimmer geteilt, wie hätten sie mich sonst produziert?“, gab Willi zu bedenken.

„Nun gut“, resignierte Marquart, „Sie geben meiner Kollegin bitte noch Ihre Adressen, auch die Ihrer beiden Brüder. Wir kommen sicher wieder auf Sie zu.“

„Zum Beispiel, wenn Sie wissen, wie lange das Skelett da schon in der Erde liegt?“, fragte Henni und zeigte in die Kellergrube, wo diverse Weißgekleidete Knochenstückchen in Plastiktütchen füllten.

„Zum Beispiel“, nickte Marquart, verabschiedete sich knapp und schritt hinüber zu der Leiter, die in die Grube führte.

„Dann fangen wir mal mit Ihnen an, Frau Möbius!“, forderte die Kommissarin sie munter auf.

5

„Ich hasse uralte Leichen“, brummte Felix Marquart und kippelte in seinem Sessel, den Blick fest auf die noch recht leere elektronische Wandtafel gerichtet.

„Warum? Ist so ein Fall nicht ziemlich romantisch?“ Maggie Bohns Augen funkelten aufgeregt.

„Ein Hauch von Cold Case?“, erklang es amüsiert von der Tür, in der Max Korka mit seiner Kiste stand.

„Das klingt meistens besser als es ist“, merkte Felix an. „Hallo, Max! Wahrscheinlich können wir den Todeszeitpunkt nur auf fünf Jahre genau festlegen, wie soll man da denn vernünftig ermitteln!“

„Wir schaffen das schon“, behauptete Maggie und Max lachte. „Der Optimismus der Jugend… Wer ist noch im Team?“

Felix zuckte die Achseln. „Katrin und Patrick nicht, die hat sich Joe geschnappt. Ehrl ist bei Andi… ich denke, Liz kriegen wir noch. Und wenn wir ganz alte Akten brauchen, fragen wir den Kurti.“

„Was?“, rief Max und hätte fast seine Kiste fallen lassen. „Nicht dein Ernst, oder?“

„Wieso, zum Akten raussuchen reicht es doch gerade noch beim Kurti?“

„Der mault immer so rum, wenn man was braucht“, gab Maggie zu bedenken und zeigte für Max auf den Schreibtisch neben ihrem.

Schließlich tauchte auch Liz auf. „Ein Fall aus den Siebzigern, höre ich? Ist ja scharf…“

Sie bezog den letzten Schreibtisch.

„Na, prima“, meinte Felix grämlich, „dann wollen wir euch mal auf Stand bringen, was, Maggie? Schick alles gleich an die Tafel.“

Maggie signalisierte Betriebsbereitschaft und ließ an der Tafel die Worte SKELETT IM KELLER erscheinen. Liz und Max schienen geneigt, über diesen Falltitel zu diskutieren, aber Felix hob mahnend die Hand. „Das ist jetzt wurscht! Prioritäten setzen, Leute! Erstens wurde das Skelett im Keller eines Siedlungshäuschens in Zolling gefunden. Beim Abriss.“

„Das hätten die Leute sich aber doch denken können, dass es aufkommt, wenn sie die Hütte abreißen lassen“, überlegte Max.

„Verkauft haben die Kinder“, wandte Felix ein. „Durchaus möglich, dass die Sache mit der Leiche vor ihrer Zeit war. Zweitens lebte in dem Haus in den Jahren 1972 bis wohl irgendwann 1973 eine WG, bestehend aus den Eltern der Verkäufer, offenbar dem Bruder der Mutter, einem Thomas Wiesinger, und noch zwei, drei Leuten, deren Namen die Tochter nicht wusste. Der Sohn hat noch weniger Fakten zu bieten.“

„Wie heißen die Eltern? Und was ist mit denen passiert?“, fragte Liz.

„Gabi Wiesinger und Hanshelmut Möbius. Hanshelmut in einem Wort.“

„Wann sind die denn geboren? Diese Namen klingen so – so weit weg“, fand Max.

„Gut beobachtet. Ja, geboren in den frühen Fünfzigern. Wären heute Anfang der Sechzig; die Eltern sind aber letztes Jahr in den USA auf einem Inlandsflug verunglückt. Wenn nötig, prüfen wir das nach, aber zuerst müssen wir herausbekommen, zu wem diese kläglichen Überreste gehören.“

Alle nickten, Maggie schickte diese Informationen an die Tafel.

„Der Vater hatte keine Geschwister?“, fragte Liz.

„Keine Ahnung. Wir erkundigen uns am besten bei der Tochter, Henriette.“

„Wer hat denn in den Siebzigern eine Tochter Henriette genannt?“, wunderte sich Liz. „Damals hatte man es doch gar nicht mit so altmodischen Namen… wie heißen denn die anderen?“

„Wilhelm, Ulrich und Ludwig“, las Maggie vor. „Stimmt, eigentlich komisch.“

„Vielleicht nach den Großeltern. Die könnten die Hütte gebaut haben. 1938, das passt ja ganz gut, oder?“

„Ihr könnt gerne nachsehen, wie die Großeltern geheißen haben. Eine Art Stammbaum wäre ohnehin nicht schlecht. Da kämen dann auch etwaige Geschwister des Vaters unter. Die wissen vielleicht noch, wer alles in der WG gewohnt hat.“

„Wenn wir erfahren, ob Männlein oder Weiblein und wann die Leiche da eingebuddelt worden ist… hat die Gerichtsmedizin was gesagt, wann sie Ergebnisse haben?“

„Kann dauern, haben sie gemeint. Hast du die Brösel gesehen, die die Arbeiter aus den Knochen gemacht haben, mit ihren Pressluftbohrern und Spaten? Außer dem Schädel ist da praktisch nichts mehr vollständig…“, seufzte Felix.

„WG“, sinnierte Max. „Eine stinknormale WG oder mehr so etwas wie eine Kommune? Ich meine, Siebziger, vielleicht waren die noch so Flower-Power-mäßig unterwegs?“

„Wer zweimal mit demselben pennt, gehört schon zum Establishment“, zitierte Felix. „Verdammt lang her…“

„Auch ein Zitat“, freute sich Liz.

Felix winkte ab. „Ihr denkt an Eifersucht und Beziehungsknatsch? Möglich. Aber dass ein Mitbewohner plötzlich spurlos verschwindet… wäre das in den Siebzigern nicht aufgefallen?“

Max zuckte die Achseln. „Der Sowieso ist nach Indien gegangen und nennt sich jetzt Wasweißich… hätte das damals nicht jeder geglaubt?“

„Oder nach Westberlin, um dem Wehrdienst zu entgehen“, stimmte Felix zu. „Dort hatten ja auch die Kneipen die ganze Nacht auf…“

„Ein überzeugendes Argument“, lobte Liz, „aber was, wenn die Leiche eine Frau war? Dann sticht das Wehrdienstargument nicht so arg.“

„Dann kommt die Masche Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“, konterte Felix und lachte auf, als er auf drei ratlose Augenpaare traf. „Okay, muss man nicht gelesen haben, aber am Bahnhof Zoo in Berlin gab´s eine wüste Drogenszene und da hat es eine Menge Junkiemädels hingezogen. Besser als in Leisenberg am Bahnhof herumzustehen, wo einen dann die eigenen Eltern erwischen und an den Ohren heimschleifen.“

„Oder“, fiel Maggie ein, „sie könnte ihr Herz für den Kommunismus entdeckt haben und in die DDR gegangen sein?“

Felix nickte. „Gut möglich. Das war zwar, glaube ich, gar nicht so einfach, aber das hätte hier ja keiner gewusst. Alle hätten bloß gedacht Gut, dass sie weg ist, wenn sie so drauf ist…Oder sie beneidet, wenn sie selbst so ähnlich dachten.“

Kurzes Schweigen, in dem sich alle vergegenwärtigten, wie wenig sie bisher wussten.

„Egal“, fasste Felix schließlich zusammen, „das sind eh bloß Spekulationen. Wir wissen ja noch gar nichts! Teilen wir uns auf – eine Gruppe geht zu Wilhelm Möbius in Mönchberg, die andere zu Henriette Möbius in Zolling.“

„Die wohnt auch in Zolling?“, fragte Max. „Warum hat sie das Elternhaus dann nicht übernommen?“

Die anderen drei sahen ihn verächtlich an.

„Baujahr 1938?“, schlug Liz schließlich vor.

„Äh, ja“, ärgerte sich Max. „Aber trotzdem – ich meine, das Elternhaus?“