Verkanntes Genie - Elisa Scheer - E-Book

Verkanntes Genie E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Noemi staunt, als ein etwas verwahrloster Mann vor ihrer Tür steht und behauptet, er sei ihr Vater - mit den Worten von Darth Vader, was sich dann zum running gag entwickelt. Sie glaubt es ihm jedenfalls nicht, denn ihr Vater hat ihre Mutter und sie verlassen, als sie erst wenige Monate alt war. Kurz darauf meldet sich ein weiteres angebliches Kind von Leonhard Mylius bei ihr, ihre Halbschwester (?) Klara, bei deren Mutter dieser Mylius - wenn er es denn überhaupt ist - ebenfalls aufgetaucht ist. In die Überlegungen, ob er es überhaupt ist und was er nun plötzlich wieder wollen könnte, kommt die Nachricht, dass man ihn erschlagen in Mönchberg aufgefunden hat. Ein Kripoteam um Thomas Waldmann macht sich an die Arbeit, befragt bekannte Fotografen, Verwandte und Bekannte und ist zunehmend gereizt: Jede/r bezeichnet Mylius als Deppen, der gar nichts könne, zeigt sich aber nur milde verächtlich oder leicht amüsiert. Schloss Ludwigskron, wo die große Fotoaussstellung stattfinden soll, weiß jedenfalls nichts von ihm. Jede Spur führt ins Leere oder zu einer neuen Spur, die dann auch wieder ins Leere... Die Frage, warum Mylius ausgerechnet in Mönchberg getötet wurde, einem biederen Stadtteil, den er höchstwahrscheinlich gar nicht kannte, scheint dann endlich zur Aufklärung beizutragen...

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Seitenzahl: 319

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Imprint

Verkanntes Genie. Kriminalroman

EINS

Noemi konzentrierte sich auf den Bericht über das letzte Konzert von Hell & Heaven. Die waren nicht schlecht, das konnte sie nicht leugnen, auch wenn sie sich bei dieser Musik immer etwas an Metallica erinnert fühlte – und Metallica waren eben doch deutlich besser. Nun ja, man konnte diese Nachwuchsband trotzdem loben, sie musste nur aufpassen, dass es nicht zu gelangweilt klang… Nach etwa zehn weiteren Sätzen las sie sich das Geschriebene durch und fand, dass es schon ganz gut klang. Ein bisschen liegen lassen und dann noch einmal verbessern…

Wenn sie ehrlich war, waren mindestens die Hälfte aller Künstler, über die sie sich Lobhudeleien abquälen musste, völlige Rohrkrepierer. Vielleicht sollte sie doch mal nach einem besseren Job suchen, Scene online war schon seltsam. Und so gut zahlen taten sie wirklich nicht…

Oder sie versuchte, diesen Saftladen etwas aufzumöbeln, vielleicht hatten sie dann auch mal mehr Follower. Zahlende Follower! Schließlich konnte Sceneonline nur so seine paar Angestellten weniger lausig bezahlen!

Dass Mama und David ihr monatlich immer noch etwas zuschossen, ärgerte sie eigentlich – sie war fast dreißig, sie hatte Kommunikationswissenschaften mit einem sehr guten Master abgeschlossen, die tollsten Praktika gemacht und konnte von ihrer Arbeit zwar leben, aber kaum ihr winziges Apartment abzahlen. Immerhin wohnte sie zentral, im Welsergassen-Durchhaus.

Okay, nochmal durchlesen!

Doch, das ging schon – sie legte ja Wert darauf, nicht so schludrig zu formulieren wie viele Redakteure (?) bei diesen Nachrichten-Feeds, die gratis auf dem Rechner vorinstalliert waren. Da konnte man ja nur die allerblödesten Beiträge als Schwachsinn kennzeichnen oder vereinzelte Zeitungsredaktionen blockieren…

Doch, sie fand nur noch zwei Grammatikpatzer und besserte sie aus, dann schickte sie ihre Rezension an den, der sie hochladen würde. Das konnte sie zwar genauso, aber vier Augen und so…

Was gab es denn noch? Geschichte der Fotografie… in Ludwigskron, ab übernächster Woche. Hm, nicht uninteressant, fand sie. Wer hatte das geschickt? Oh, die Petersen persönlich, aber warum stand da quer in Rot drüber Reminder?

Geschickt hatte es jetzt der Posteingang von Scene online – aber warum Reminder? Sicherheitshalber schaute sie in ihr eigenes Postfach – nichts von Ludwigskron oder der Petersen, auch nicht, als sie alle Eingänge seit Frühjahr dreimal durchforstet und auch den Ordner MUSEEN durchgefilzt hatte. Also fragte sie beim zentralen Posteingang nach und erhielt die lapidare Antwort Muss uns durchgerutscht sein, sorry…

Solche Deppen! Die Ausstellung konnte doch interessant sein? Was stand denn alles in diesem Reminder? Naja, das Nötigste, Pioniere der Fotografie, breites Themenspektrum, Wandel in der Malerei, eine lange Liste von bekannten Fotografen, auch Jan Hellmann und Bettina Ferstl tauchten darin auf, und die kannte ja nun jeder, wenigstens hier in Leisenberg! Münchner Künstlerszene, Beginn der Fotografie… etwas durcheinander, schien ihr, vielleicht sollte sie in ihrer Ankündigung die verschiedenen Aspekte besser sortieren und etwas ausführlicher darstellen…

Und das machte sie am besten gleich, wenn sie schon die erste Sendung gar nicht bekommen hatte! Sonst hatten alle Interessenten bloß schon etwas anderes vor – und die Ausstellung sollte nur über zehn Wochen laufen, bis Ende Mai etwa. Wenn dann keiner kam, wäre die Petersen bloß enttäuscht…

Also bastelte sie einen informativen, gut strukturierten und korrekt formulierten Text, eine gute Seite lang – was online dann gut eineinhalb waren – und las ihn befriedigt durch. Das war wirklich Routine, sie konnte sich regelmäßig an ihren Texten begeistern: So gut geschrieben, fand sie dann immer.

Ganz schön eitel, vermutlich, aber im Vergleich zu dem, was sie in manchen Nachrichten-feeds las, war sie wirklich gut, der reinste… Thomas Mann? Nein, der war ihr zu geschwätzig. Heinrich Mann, vielleicht. Na, oder Goethe?

Fotografie war ja durchaus ein interessantes Thema, da gab es wirklich Koryphäen. Dazu gehörte ihr verschollener Vater, der selbsternannte Superfotograf, aber nicht, fand sie sofort. Viel wusste sie ja auch nicht über ihn, aber besonders wichtig war er ihr doch auch nicht. Eher im Gegenteil.

Verschollen klang auch viel zu gut, ähnlich wie beim Schiffsuntergang verschwunden oder so. Vom Acker gemacht traf es wohl eher. Kurz Zigaretten holen gegangen, das Interesse verloren, untergetaucht, durchgebrannt…. Egoistischer Sack. Na, egal, verschollen hieß ja auch weg. Hauptsache, weg.

Sie überflog die übrigen Nachrichten nach Mylius, fand sich aber hauptsächlich selbst als Mitglied der Scene online-Redaktion, ihren missratenen Erzeuger aber nirgendwo, immerhin aber schon Hinweise auf die bevorstehende Fotografie-Ausstellung!

Jetzt erst einmal Mittagessen! Vor der Tür traf sie Ilona, ihre Kollegin, und Erik, der mehr mit der Softwareseite der Redaktion befasst war, und ging mit ihnen zur Sandwich-Bar.

Sie nahm wie immer das Sandwich mit gewürztem Frischkäse, Streifen von scharfem Kirschpaprika und einem Hauch Olivenöl, weil es so schön an diese gefüllten Paprika von der Antipasti-Platte erinnerte und so wunderbar wach machte, Erik wählte – auch wie immer – dunkles Vollkornbrot mit Camembert und Emmentaler, zwischen den beiden Käsesorten einige zerbröselte kleine Salzbrezelchen. Und Ilona machte ihrem ungarischen Vornamen traditionell keine Ehre, sie hatte Mehrkornbrot mit Schinken, Ei und Mayonnaise. Erik hatte schon den Mund geöffnet, da sagte Noemi: „Können wir das nicht mal lassen? Warum sollte Ilona nicht Schinken essen, wenn sie das mag?“

„Woher wusstest du, was ich sagen wollte?“

„Weil du das jedes Mal sagst. Überhaupt haben wir ein ganz festes Gesprächsritual: Punkt eins: Streit über vegane, vegetarische und fleischhaltige Sandwiches.“

„Punkt zwei: Tratsch über andere Kollegen und diverse Promis, über die wir was geschrieben haben“, kicherte Ilona.

„Punkt drei: Ideen, um mehr Follower zu keilen“, fügte Erik hinzu. „Das sollten wir endlich mal schriftlich fixieren und nach oben weitergeben, meint ihr nicht?“

Die Sandwiches kamen und Ruhe kehrte ein.

„Geht ihr zu der großen Fotoausstellung, die in zwei Wochen in Ludwigskron anfängt?“, fragte Noemi dann, sobald der erste Hunger mit den ersten Bissen gestillt war.

„Vielleicht, ich hab schon was gelesen“, kaute Ilona.

„Ach ja? Wo?“ Hoffentlich war nicht ein anderes Online-Portal schneller gewesen!

„,mex-online. Bei uns hab ich noch nix gefunden!“

„Der Posteingang hat die Weiterleitung verschnarcht, ich hab´ s heute bekommen und den Artikel schon zum Hochladen und Einfügen geschickt. Müsste heute Nachmittag noch im Netz stehen.“

Erik bekannte ebenfalls sein Interesse, „- obwohl ja mittlerweile alle Welt fotografiert!“

„Ja, aber Selfies und Fotos vom Essen zählen ja wohl nicht mit!“, widersprach Noemi sofort. „Ich fotografiere auch jedes Jahr die schönen Herbstfärbungen, nur um dann festzustellen, dass ich die gleichen Bäume im Vorjahr schon erwischt habe. Und dass der Anblick auch wirklich jedes Jahr der gleiche ist.“

„Ich meine natürlich Kunstfotografie. Und Leute, die vor einem eindrucksvollen Abgrund ein Selfie machen, werden doch naturgemäß oft nicht mehr viel älter, oder?“

„Darwin-Award?“

Erik grinste. „Ganz genau! Gibt ja immer noch genug Idioten…“

ZWEI

Mit einer Tasche voller Einkäufe kam Noemi ganz zufrieden nach Hause, schloss die violette Tür auf, stellte die Einkäufe beiseite und machte die Tür wieder zu. Nun noch den Schlüssel wieder in die Tür und zweimal umgedreht, so verlegte man wenigstens den Schlüssel nicht so leicht!

Endlich daheim! Bei Mama und David war es natürlich netter, aber hier war sie eben ganz für sich, keiner quatschte ihr rein, keiner machte Dekovorschläge oder brachte ihr alberne Teelichthalter oder sonstigen Unsinn mit. Gut, Mama und David machten so etwas auch nur ganz, ganz selten – meistens fanden sie ihre knapp dreißig Quadratmeter originell und geschickt eingerichtet, aßen zufrieden, was sie ihnen vorsetzte, gingen danach mit ihr in den diversen Durchhäusern spazieren und seufzten bei jeder Ecke nostalgisch auf: „Hier war doch früher dieser makrobiotische Laden, in meinen ersten Semestern? Warst du da mal drin, David?“

„Einmal, aber der Fraß war echt ungenießbar! Und du?“

Noemi seufzte selbst bei dem Gedanken an diese Erstsemester-Nostalgie – süß waren die beiden ja schon!

Was sollte sie sich zu essen machen? Sie inspizierte das dürftige Angebot im Kühlschrank und die beiden angebrochenen Chipstüten im Fach über dem Geschirr und seufzte. In der Einkaufstasche fand sie eine dritte Chipstüte (dringend nötig!), eine Tüte gefrorene Mehrkornsemmeln (toll, aber was konnte sie drauftun? Remoulade aus der Tube? Naja…), eine neue Fernsehzeitschrift, ein festes Shampoo und drei Äpfel. Etwas frugal…

Okay, zwei Semmeln mit Remoulade, diese Tube musst ja auch mal weg…

Die beiden Semmeln tauten im Backofen auf, während sie allerlei, was hier noch herumlag, verräumte, bis das Zimmer wieder ordentlich aussah. Man sollte morgens wirklich nicht denken Mach ich nach der Arbeit…

Eine so kleine Wohnung durfte man eben nicht zumüllen! Na, jetzt ging es ja wieder – die kleine Küchenzeile (aber sie kochte ohnehin so gut wie nie), das Bettsofa, zwei niedrige Regale, ein großer Tisch, der zu allem diente, drei Stühle über das Zimmer verteilt – und das violette Bad. Gut, die Farbe war natürlich naja, aber sonst konnte man es hier schon aushalten. Wenn man alleine hier wohnte, hieß das.  Zwei Türen weiter wohnte ein Paar – und die Wohnung war auch nicht größer als ihr Kämmerchen! Da durfte man sich aber nicht auf die Nerven gehen…Ganz am Ende des gewundenen Gangs gab es eine etwas größere Wohnung, sozusagen eineinhalb Zimmer.

Luxus, aber halt lila!

Nein, wenn sie eines Tages etwas mehr verdiente und die Mieten und Preise nicht weiter ins Unermessliche stiegen, würde sie sich eine normale, weiße Wohnung suchen, vielleicht sogar mit einem vernünftigen Balkon – aber das war eben Zukunftsmusik, wer wusste denn, was noch alles passierte! Oder sie blieb hier und leistete sich weiße Kacheln… da sollte sie ihr Schächtelchen aber noch weiter abzahlen! Teuer war es nicht gewesen, der Siebziger Jahre-Schick war eben gar nicht mehr der Zeitgeschmack.

Alternativ konnte sie sich später einmal vielleicht das Häuschen von Mama und David mit Davids Kindern teilen? Etwas weiter draußen in der Rheinlandsiedlung, aber gar nicht so klein…

Eigentlich war sie allerdings gar nicht der Typ, der die Zukunft so genau plante – einfach abwarten, das war sie doch viel eher?

Der Ofen klingelte. Sie schnitt die beiden Semmeln auf, ließ sie etwas abkühlen (sonst wurde die Remoulade wieder so flüssig) und drückte nach einer Anstandsfrist die Remoulade darauf, in hübschen Kringeln. Und ein paar Drehungen mit der Pfeffermühle.

Als sie gerade nach der zweiten Semmelhälfte griff, läutete es an der Tür. Da es hier eine Menge Idioten gab, die Abos/Glasfaserkabel/Versicherungen verkaufen oder über Gott sprechen wollten – von denen, die klauen wollten, einmal ganz abgesehen - hängte sie die Kette ein und öffnete die Tür nur einen Spalt weit. Ein Mann, der aussah, als sei er kurz vor dem Ruhestand und habe keinen Kamm zu Hause, stand da. Er öffnete den Mund und Noemi fiel ihm sofort ins Wort: „Ich kaufe nichts, ich will nicht über Gott sprechen und spenden tue ich nur per Überweisung an seriöse Organisationen. War´ s das dann?“

Sie versuchte, die Tür wieder zu schließen, da rief er: „Nein! Das ist es nicht!“

Noemi seufzte gereizt. „Noch eine Minute!“

„Kann ich reinkommen?“

„Großer Gott, halten Sie mich für eine Idiotin?“

„Aber – ich bin dein Vater!“

Noemi verdrehte die Augen. „Aber ich bin nicht Han Solo oder Luke Skywalker oder  zu wem Darth Vader das eben gesagt hat. Ich stehe nicht so arg auf Star Wars. Versuchen Sie es woanders, vielleicht finden Sie einen Fan.“

Damit schloss sie die Tür und drehte nachdrücklich den  Schlüssel zweimal herum. Die Kette blieb eingehakt, sicher war sicher…

Es klingelte wieder, einmal, zweimal – Dauerklingeln. „Hauen Sie ab oder ich rufe die Polizei!“, rief sie durch die Tür. Daraufhin trat der Unbekannte einmal kräftig gegen ihre Tür und Noemi rief tatsächlich den Notruf.

Den Streifenbeamten konnte sie gar nicht so viel sagen, aber immerhin gelang ihr eine ordentliche Beschreibung des Verbrechers vor ihrer Tür.

„Nana! Verbrecher? Was hat er jetzt genau gesagt?“

„Erstmal eigentlich nichts. Ich habe aufgezählt, was ich alles nicht will, Haustürgeschäfte, über Gott sprechen und all so was. Und dann wollte er in die Wohnung, ich hab natürlich gesagt, auf gar keinen Fall, ich bin ja nicht komplett bescheuert! Ich hab die Tür langsam zugeschoben, da sagt der doch plötzlich Ich bin dein Vater!“

„Huch, wie Darth Vader – oder der Marsregulator?“, fragte der eine von den Streifenbeamten und Noemi musste kichern. „Ja! Ich hab gesagt, aber ich bin nicht Han Solo oder wer auch immer und er soll verschwinden. Dann hab ich die Tür zugemacht. Zweimal zugesperrt und die Kette eingehängt.“

„Ziemlich deutlich!“

„Ich weiß, freundlich war das nicht. Und dann hat er kräftig gegen meine Tür getreten, da hab ich dann richtig Angst bekommen und bei Ihnen angerufen. Nicht, dass er mir noch die Tür eintritt!“

Sie war gerne bereit, eine Phantomzeichnung erstellen zu lassen und fuhr mit zum Präsidium, um den Darth-Vader-Verschnitt zu beschreiben. Das Ergebnis gefiel ihr. „Genau, so hat er ausgesehen… er hatte nichts bei sich, soweit ich es gesehen habe. Eigentlich komisch, oder?“

„Warum?“ Jetzt fragte die Polizistin.

„Na, so ein typischer Haustürgauner? Müsste der nicht eine Mappe mit Verträgen bei sich haben, um mir sofort eine Unterschrift abzuluchsen? Oder eine Bibel und ein paar Wachturm-Hefte? So denke ich mir das halt…“

Beide lächelten. „Aber dass er sich als Ihr Vater ausgibt, fanden sie nicht eigenartig?“

„Nein, wieso denn? Ich dachte, der steht vielleicht auf StarWars, was weiß denn ich.“

„Hat er Ihrem Vater vielleicht ähnlich gesehen?“

„Das weiß ich nicht, ich kenne meinen Vater nicht. Jedenfalls weiß ich nicht, wie er aussieht.“

Das weckte das Interesse der Polizisten: „Könnten Sie das etwas genauer erklären?“

Sie zuckte die Achseln. „Mama und er haben geheiratet, nach einem Jahr kam ich zur Welt und zwei Monate später – sagt Mama – ist er abgehauen. Weil er nie greifbar war für eine Scheidung, kann Mama nicht ihren langjährigen Freund heiraten.“

„Aber heißt das nicht, dass Ihre Mutter und Sie ja wohl auch den Nachnamen von ihrem entschwundenen Vater haben? Dann müsste er doch auch Mylius heißen?“

„Oh! Stimmt natürlich, aber er hat seinen Namen gar nicht genannt. Nur eben Ich bin dein Vater – und das kann man ja leicht mal behaupten, oder?“

„Oder es vom Türschild ablesen? Seinen Vornamen haben Sie nicht zur Hand? Oder doch wenigstens Ihre Mutter?“

Noemi seufzte. „Sie haben ja Recht, aber ich wollte Mama nicht fragen, sie lässt sich nicht so gerne an diesen Fehlgriff erinnern. Na, jetzt bleibt mir wohl nichts anderes mehr übrig, oder?“

Die beiden nickten ernsthaft. „Der Tritt gegen die Tür könnte zur Not als Sachbeschädigung durchgehen, wenn er Spuren hinterlassen hat.“

„Naja, eher nicht, glaube ich. Nur ein sehr schmutziger Fußabdruck, den kann ich wegputzen.“ Noemi war verlegen, sie hatte diese freundlichen Beamten wohl wegen gar nichts alarmiert?

„Wir behalten diesen Herrn trotzdem im Auge, vielleicht kommt da eine neue Masche im Trickdiebstahl auf uns zu. Und denken Sie sich nichts, Frau Mylius, besser ruft man die Polizei einmal zu viel als einmal zu wenig!“

Etwas getröstet schlenderte Noemi zurück in das Durchhausgewirr in der Altstadt – hatte sie also doch richtig gehandelt! Und wie hatte dieser Mylius jetzt geheißen? Leo? Leo Mylius… das klang doch nach gar nichts? Er war er doch irgendetwas mit Fotografie gewesen? Oder er hatte sich das wenigstens eingebildet?

Leo also? Leonhard? Lennart? Das nun wohl weniger, Er musste ja wenigstens Ende Fünfzig sein, waren um 1968 denn so schicke Namen schon Mode? Lennart und Yannick (in verschiedenen Schreibweisen) bestimmt nicht. Oliver, vielleicht – aber an den Namen erinnerte sie sich wirklich nicht!

Es half ja alles nichts – sie musste Mama anrufen! Früher Abend, da war sie doch schon zu Hause?

War sie. „Rate mal, wer heute vor meiner Tür aufgetaucht ist!“, fiel sie mit der Tür ins Haus. Mama riet brav dreimal – Noemis vorletzter Freund, Großtante Sybille, die Zeugen Jehovas. „Alles falsch. Großtante Sybille, ist die überhaupt noch mobil?“

„Das weiß ich auch nicht. Wer war´ s denn nun?“

„Als ich ihn nicht reinlassen wollte, hat er gesagt Ich – bin – dein – Vater. Die Stimme war noch nicht ganz passend, aber immerhin…“

„Huch! Darth Vader? Was sollte das denn? Was hast du gemacht?“

„Ich hab gesagt, ich bin nicht Han Solo und mag StarWars sowieso nicht. Dann hab ich die Tür zugemacht, zweimal zugesperrt und die Kette eingehängt. Da hat der Arsch gegen die Tür getreten und ich hab die Polizei gerufen.“

„Gut so. Moment! Wie hat er denn ausgesehen?“

Noemi kicherte: „Die haben sogar ein Phantombild – oder wie man das nennt – von ihm gemacht! Ich schätze, so um die Sechzig, graue, zu lange Haare. Kleine Augen, die Farbe hab ich nicht gesehen. Saure Miene, mit hängenden Mundwinkeln, abgeschabter Mantel. Ganz ehrlich, ein bisschen wie die Leute, die früher gefragt haben, ob man was gegen Drogenopfer hat, um einem Zeitschriften-Abos anzudrehen, du müsstest dich daran doch noch erinnern können?“

„Dunkel. Nein, das sagt mir eigentlich auch nichts…. Ich habe einen Moment lang überlegt, ob das vielleicht tatsächlich dein Vater – äh – Erzeuger gewesen sein könnte… Dass der noch lebt? Und ganz ehrlich, graue längere Haare und eine unzufriedene Miene, das ist zu wenig, so sieht um die Sechzig doch wohl die Hälfte aller Leute aus!“

„David nicht!“

„Stimmt, der hat die Haare geschnitten und schaut zufrieden und gut gelaunt. Ach ja… Mensch, wenn das dein Vater gewesen wäre: wie lästig! Der will doch dann irgendwas! Ist gescheitert und will jetzt durchgefüttert werden, vermute ich.“

„Also ich füttere ihn bestimmt nicht durch, eher müsst ihr schließlich noch mich durchfüttern!“

„Nana, nur ein bisschen zufüttern, so arm bist du doch gar nicht! Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Aber du hast schon recht, füttern müsste wohl ich ihn.“ „Wegen Gütergemeinschaft?“

„Großer Gott, nein! Damals war er doch ganz sicher, der Leonhard, dass er unmittelbar vor einer Riesenkarriere steht. Und die wollte er immer schon für sich alleine haben!“

„Aha. Karriere. Leonhard Mylius. Als was denn, bitte?“

„Er hielt sich damals für einen begnadeten Fotografen, allerdings wüsste ich nicht, dass er später in dieser Hinsicht von sich reden gemacht hätte. Nun, vielleicht ist er Maler geworden oder was auch immer…“

„Paparazzo?“

„Noemi, du bist fies – aber du hast recht, da hätte man ja nur fix sein müssen und auf die Qualität wäre es gar nicht so arg angekommen. Ja, das könnte ich mir vorstellen…“ Sie kicherte. „Sehr verehrungsvoll klingen wir beide nicht, was?“

„Also, er hat nicht gesagt, dass er eine Spende braucht. Ich weiß, dass es in zwei Wochen eine große Fotoausstellung in Ludwigskron gibt, die habe ich heute schon beworben - aber meinst du, deshalb ist er wieder einmal in Leisenberg? Hat ihm da nicht etwas Größeres vorgeschwebt?“

„Natürlich, aber ein kleiner Angeber war er ja immer schon. Kannst du dich einmal erkundigen, ob er unter den Fotografen  ist, die dort ausstellen?“

„Ich werde es versuchen. Aber warum eigentlich sollte er dann den Kontakt zu uns suchen, sind wir nicht meilenweit unter seiner Würde? Keine Künstler, kein Verständnis?“

„Bedauerlich bürgerliche Existenzen?“ Ihre Mutter klang eher amüsiert. „Wenn ich ihn festnageln könnte, könnte ich endlich mal die Scheidung einreichen…“

„Dann können wir ja nur hoffen, dass er der Star dieser Ausstellung ist – aber warum haben wir sonst nie etwas von ihm gehört?“

„ich glaube, seine Karriere hat sich nicht ganz so entwickelt, wie er es sich erträumt hat, als er uns verlassen hat. Offenbar ist eben kein zweiter Helmut Newton aus ihm geworden.“

„War das der mit diesen aggressiven Aktbildern?“

„Ja, der konnte eben wirklich was. Leonhard genau genommen nicht. Keine Aussagen in den Bildern. Und wenn ich was gesagt habe, hieß es immer nur Ach, was weißt denn du schon!“

„Oh, hast du Bubis Künstlerseele nicht genügend gestreichelt?“ Noemi gluckste.

„Sehr hübsch formuliert. Wir könnten uns, wenn es nötig werden sollte, auf ihn als „Bubi“ beziehen“, schlug Mama vor – und Noemi freute sich sehr.

DREI

Tatsächlich hatte sie am nächsten Vormittag die Gelegenheit, in Ludwigskron anzurufen und zu fragen, ob ein gewisser Leonhard Mylius unter den Ausstellenden der großen Fotoausstellung im Schloss sein konnte. Das stieß zuerst auf Befremden: „Warum wollen Sie das denn wissen?“

„Naja…“, Noemi wusste selbst nicht so recht, wie sie das nun schlüssig begründen sollte, dann entschied sie sich einfach für die Wahrheit: „Ich bin Noemi Mylius von Scene online und gestern stand ein fremder Mann bei mir vor der Tür und sagte Ich bin dein Vater.“

Am anderen Ende war ein Prusten zu hören; Noemi lachte auch: „Ja, ich hab auch einen StarWars-Witz gemacht und die Tür wieder geschlossen. Meine Mutter meint, er war mal Fotograf, so vor fast dreißig Jahren, als er sich vom Acker gemacht hat – und Sie haben doch diese große Ausstellung?“

„Ja, haben Sie schon etwas dazu gepostet?“

„Natürlich, auch wenn ich die Info erst gestern bekommen habe, da hat unsere Poststelle offenbar geschlafen. Ich wollte von Ihnen nur wissen, ob dieser Mann von gestern bei Ihnen ausstellen wird.“

„Aber Sie wissen doch gar nicht, ob dieser Mann Ihr Vater ist?“

„Das weiß ich nur nicht, weil er seinen Namen nicht gesagt hat. Eigentlich komisch, er hätte den Namen ja vom Türschild ablesen können! Aber ich weiß doch, dass er Leonhard Mylius heißt, meine Mutter hat es mir gesagt und sie muss doch wissen, wen sie damals dummerweise geheiratet hat. Jetzt möchte ich nur wissen, ob ein Leonhard Mylius bei der Ausstellung in Ludwigskron dabei ist. Schließlich möchte ich ja hingehen, schon, um einen schönen Bericht zu schreiben!“

„Na gut, ich schau mal schnell…“ Noemi hörte sie unverständlich murmeln und schließlich kam: „Hören Sie? Ich sehe den Namen nirgendwo.“

„Danke schön – dann ist er wohl doch nicht so arg berühmt…“

„Vermutlich. Es wäre aber nett, falls jemand nachfragen sollte, wenn Sie meinen Namen nicht nennen würden – Datenschutz, nicht wahr?“

„Kein Problem. Sie heißen doch wohl nicht Ludwigskron, Empfang?“

Kichern. „Na, umso besser!“

„Also, vielen Dank nochmal!“

Hinterher überlegte sie, ob dieser etwas struppige, verkäuferartig aussehende Mann wirklich ihr Vater gewesen war: Sah sie dann eines Tages etwa auch so aus? Hoffentlich nicht, es war ihr lieber, nach Mama zu schlagen, die groß, elegant und anmutig war. Aber so weit war es bei ihr selbst noch nicht …

Vielleicht war das so etwas wie der Enkeltrick? Liefen mehrere ältere Herren in Leisenberg herum und versuchten, aus jüngeren Leuten eine Spende herauszuholen? Aber konnte das so analog funktionieren? Und waren die diese Jüngeren so leicht zu verwirren oder reinzulegen? Und woher wollten diese Frührentner denn wissen, dass die Angesprochenen ihre Väter – ihre leiblichen Väter – nicht kannten, so dass man ihnen alles erzählen konnte?

Nein, diese Theorie konnte man knicken, die war wirklich allzu bescheuert!

Sie rief noch einmal ihre Mutter an und teilte ihr mit, dass Leonhard Mylius nicht in Ludwigskron ausstellen würde. Mama hatte sich das natürlich gleich gedacht: „Wie gesagt, ich fand seine Fotos schon damals nicht gerade besonders gelungen.“

„Müsste er dann nicht irgendwas anderes gemacht haben? Vielleicht in einem Fotogeschäft? Sowas gibt´ s ja immer noch, sogar hier in der Altstadt, da kann man Passfotos machen lassen und Babys nett in Szene setzen. Die entwickeln auch Fotos und reparieren Kameras oder beraten einen, wenn man einen besonderen Farbfilter braucht.“

„Hui, spricht da die Fachfrau? Du scheinst dich ja super auszukennen, also fotografierst du nicht wie die meisten einfach mit dem Smartphone?“

„Doch, natürlich! Ich hab mich nur neugierig umgesehen, als ich letztes Jahr neue Passfotos gebraucht habe. Wie gesagt, in unserem Durchgänge-Wirrwarr gibt´s noch so einen Laden, total vollgestopft. Klugerweise hat er aber an den Eingängen in die Höfe ein großes Schild. Die sagen, es läuft durchaus noch ganz ordentlich.“

„Obwohl sicher manche bei der Passstelle ein Selfie einreichen würden? Da sehe ich doch viel besser aus?“

„Stimmt. Jetzt sind wir wieder bei unserem Lieblingsthema, gell?“

„Nämlich?“ Man hörte Mama förmlich durchs Telefon grinsen.

„Dass wir von Idioten umgeben sind?“

„Hast Recht. Und sollte dieser merkwürdige Fremde – klingt wie ein Roman von Camus, finde ich – auch noch bei mir oder bei sonst jemandem auftauchen, sollten wir uns überlegen, wie wir uns da positionieren wollen.“

„Hat er – also, wenn er wirklich Mylius sein sollte: Hat er noch Verwandte?“

„Eine Schwester, glaube ich. Wie hieß die gleich wieder? Sie hat ihren Bruder zunächst toll gefunden und mir vorgeworfen, ich hätte ihn nicht genügend gefördert, mir war das ziemlich egal, ich habe viel gearbeitet, um uns beide durchzubringen. Du warst oft bei Oma, erinnerst du dich noch?“

„Natürlich. Oma war lieb – und ich durfte nach der Schule fernsehen!“

„Leider!“, seufzte Mama. „Das sollte sie nicht, auch nicht die Gummibärchen, aber wahrscheinlich wusste sie sich nicht anders zu helfen. Verflixt, wie heißt diese Schwester jetzt wieder? Irgendwas Spießiges, glaube ich…“

„Das ist doch wohl Geschmackssache? Und ist Sabine nicht auch ziemlich bieder?“

„Aber Noemi nicht!“

„Dafür waren in meine Klasse noch drei weitere Noemis. Das war ziemlich trendy - und ich bin jedes Mal zusammengezuckt, wenn die anderen drei aufgerufen wurden!“

„Ach ja, und da hast du jetzt eine posttraumatische Belastungsstörung?“

„Schmarrn, das konnte man auch ausnutzen: Wenn ich da etwas wusste, hab ich einfach reingeplärrt, dann waren die Lehrer eher froh, wenn ich mal die Klappe gehalten habe, also haben sie mich kaum gezielt aufgerufen. War also eigentlich gar nicht so blöd. Und ganz ehrlich, mit originellen Namen profilieren sich Eltern doch bloß auf Kosten ihrer Kinder, die dann in der Schule nur verarscht werden.“

„Sowas wie Sunset Melody?“

„Genau – kriegt man das hier überhaupt genehmigt?“

„Kann ich mir nicht vorstellen“, stimmte Mama zu. „Also, ich kriege heraus, wie Leos Schwester heißt, und frage nach, ob er sich hierher verirrt haben könnte – und du?“

„Ich weiß nicht, ich kenne doch niemanden, der den Mylius kennt. Wüsste ich jedenfalls nicht. Höchstens in der Redaktion, aber die meisten dort sind jünger als ich, warum sollten die jemandem kennen, der seit bald dreißig Jahren kein Shooting Star ist?“

„Schön formuliert! Na, schau, ob dir etwas über den Weg läuft. Wenn nicht, macht es doch auch nichts!“

„Dein Wort in Gottes Ohr“, seufzte Noemi. „Ich bin nicht scharf darauf, diesen merkwürdigen Typen näher kennenzulernen.“

VIER

Am nächsten Vormittag wartete Noemi förmlich darauf, dass sie von Darth Vader noch einmal etwas zu hören bekam, aber die Zeit verging in völliger Routine, sie schrieb zwei Artikel, las sie Korrektur, lud sie hoch, damit sie überprüft und auf der Webseite eingefügt wurden, und machte sich an ihre wöchentliche Kolumne, dieses Mal zum Thema Minimalistisches Wohnen.

Ein Rätsel wollte sie sich auch noch überlegen, vielleicht zu Filmzitaten? Ihr spukte schon wieder Ich bin dein Vater im Kopf herum, aber da brauche sie noch mindestens neunzehn weitere Zitate…

Immerhin stand das erste Zitat schon auf ihrem Schmierblock!

Die Kolumne gelang ihr eigentlich sehr gut, fand sie, wenn man von dem rätselhaften Satz genau in der Mitte absah, wo ihr schon wieder der dämliche Mylius in den Kopf geraten war – nein, das musste anders heißen, und zwar so! Ja, jetzt war es perfekt! Und ein bisschen boshaft auch, das mochten die Leser. Für morgen hatte sie auch schon eine Idee: Wie schätzten die Schreiber dieser billigen Nachrichten eigentlich ihre Leser – oder ganz allgemein die Bevölkerung – ein? Sie behaupteten, die Leute fielen wegen irgendwelcher Belanglosigkeiten vom Glauben ab, seien begeistert über das durchsichtige Kleid einer – maximal! - C-Promi, als hätten sie noch nie nur notdürftig verhüllte Brüste gesehen oder gar ein Hinterteil in einem String. Musste ganz nett kneifen… Fans jubeln über Prinzessin Whats-her-name in roter Robe…

Wen interessierte solcher Stuss eigentlich wirklich?

Schnappten dann die Hälfte der Leser ein oder sagten alle Na endlich zeigt mal einer mit dem Finger drauf! Vielleicht erst mal nachfragen – oder war das feige? Ach, feige, egal - sie wollte doch nicht den ganzen Laden ruinieren! Sie würde nachfragen!

Die Chefredaktion – tatsächlich, so etwas Nobles hatten sie hier auch schon; sie musste dabei ja immer noch an Schtonk! denken, der Film war einfach zu köstlich – gab ihr grünes Licht, offenbar  ging denen dieses betont dämliche pseudo-Aufgeregte auf den S - die Nerven.

Sehr schön! Sie wollte gerade starten, da klingelte ihr Handy. Wer störte denn jetzt wieder!

Ach, Pina…! Pina war ihre Cousine, was wollte die wohl? Neugierig ging sie dran und Pina fragte ganz aufgeregt: „Rate mal, wer gestern bei meiner Mama angerufen hat!“

Noemi riet: „Dein Papa?“

„Blödsinn! Noemi, du bist echt doof. Nee, ganz wer anderer!“

„Nämlich?“ Noemi hoffte, dass man das gelangweilte Seufzen durch das eine Wort hören konnte.

„Dein Vater!“

„Nicht schon wieder! So ein ältlicher Kerl im Regenmantel wie einer, der einem Abos andrehen will?“

„Noemi! Der hat angerufen!! Haben wir Bildtelefon oder was? Aber anscheinend kennst du den schon?“

„Hör bloß auf! Er hat gesagt Ich.Bin.Dein.Vater – na?“

„Darth Vader?“ Pina kicherte, aber es war ja auch zu albern, fand Noemi und kicherte mit. „Genau, ich hab gesagt, ich steh nicht auf StarWars, und hab die Tür wieder zugemacht. Er hat ein bisschen geklopft und gegen die Tür getreten, also hab ich das Ganze nicht allzu ernst genommen, aber die Polizei informiert. Und Mama angerufen, ich wusste ja schließlich nichts über meinen Erzeuger, bloß den Nachnamen, den habe ich schließlich auch.“

Pina brummelte. „Ich frage mal meine Mama, die müsste sich doch an diese Zeit auch noch erinnern können! Vielleicht gibt´ s da noch Fakten?“

„Das wäre toll! Ich überlege gerade, wen ich noch anspitzen könnte… wenn wir den Typen finden können, können wir ihm auch klarmachen, dass er sich zügig aus Leisenberg verpissen soll, weil wir auf seine Anwesenheit gar keinen Wert legen.“

„Willst du ihn ein bisschen bedrohen?“

„Gerne, ich weiß bloß nicht, wie man sowas macht. Als wäre man plötzlich in einem billigen Fernsehkrimi gefangen!“

„Vielleicht meldet er sich auch gar nicht mehr bei dir?“

„Glaubst du das wirklich? Wenn er schon deiner Mama auf die Nerven gegangen ist? Wie geht es deinen Eltern überhaupt? Hat sich Anette sehr aufgeregt?“

„Ach wo. Eigentlich nur gewundert – wenn er´ s ist, warum taucht er denn jetzt plötzlich wieder auf, nach praktisch dreißig Jahren?“

„Hab ich mir auch schon überlegt, ich dachte, wegen der Fotoausstellung in Ludwigskron.“

„Wieso, kann er die nicht anschauen, ohne einen solchen Bohei um sein Auftauchen zu machen?“

„Nein, Mama sagt, er war vor seinem Verschwinden der kommende Starfotograf, das hat er jedenfalls selbst geglaubt. Vielleicht, dachte ich, stellt er in Ludwigskron aus, aber offenbar ist nicht allzu viel daraus geworden, ich hab mich in Ludwigskron erkundigt, er steht gar nicht auf der Liste.“

„Du hast ja gute Beziehungen!“

„Ich nicht, nur scene online. Ich habe ja den Artikel über die kommende Ausstellung geschrieben, deshalb kennen die mich dort wohl. Solche Sachen mache ich doch öfter!“

„Sehr gut. So semi-prominent bin ich leider noch nicht – aber wer weiß, was nach dem Master noch alles kommt?“

Pina studierte Kommunikationswissenschaften und würde wohl nach dem Abschluss auch irgendwo im Online-Bereich landen, überlegte Noemi sich, als sie das Gespräch beendet hatte. Bis dahin war ihr Kleiner ja wohl auch aus dem Gröbsten raus und hoffentlich im Kindergarten.

 Süßer Fratz. Dass Luis´  Vater so wenig Interesse an ihm zeigte, war gar nicht nachvollziehbar, fand Noemi.

An wen konnte sich dieser Mann – Vater – Ganove? denn wohl noch gewendet haben? An David doch wohl kaum, der hätte ihm höchstens einen Kinnhaken angeboten!

Mama hatte aber auch noch einen Bruder, der allerdings bei München lebte. Da dürfte Mylius – wenn er es denn war – wohl keine Kontaktdaten haben, oder er war schlauer, als er gestern auf sie gewirkt hatte!

Zurück zur Arbeit!

Doofe Nachrichten bzw. Nicht-Nachrichten… sie schrieb sich geradezu in Wut, aber das war ungemein befreiend – später musste sie aber noch einiges etwas abmildern, na, wenn schon! Sie las doch ohnehin alles mehrfach Korrektur – und die Chefredaktion sah ja auch nochmal drüber…

Beim Durchlesen formulierte sie einige Grobheiten etwas sanfter und besserte einige Satzbauprobleme aus. Ja, so war es gut, ironisch, ohne dass die Leser*innen, die auf Promi-, Royal- und Beauty-Nachrichten (letzteres stark an der Grenze zur Werbung) standen, sich abgewertet fühlen mussten.

Das Telefon klingelte wieder, aber es war nur ein Kollege, der um Hilfe bat, was seinen etwas – wie er fand – missglückten Artikel über Urlaubsziele betraf: „Ich kann doch nicht schreiben, dass man eigentlich gar nirgendwo mehr hinfahren kann? Entweder hassen einen die Einheimischen, oder da herrscht ein Diktator oder die Tourismus-Industrie beutet die Einheimischen aus.“

„Oder es gibt radikale Vorschriften wie im Islam. In ein Land mit Scharia würde ich auch nicht fahren wollen, dazu hab ich da viel zu wenig Ahnung, was man alles nicht darf. Oder unbedingt muss.“

„Ja, oder auf Homosexualität steht die Todesstrafe“, trug er grämlich bei. Eigentlich waren sie sich wundervoll einig, aber schließlich schlug Noemi vor, das Ganze ins Positive zu drehen: „Schreib halt, wenn ein Land dies und dies und dies erfüllt, dann kann man da wunderbar Urlaub machen.“

„Ja, toll! Welche Länder sollen das denn dann noch sein?“

„Da muss der Leser schon selbst draufkommen. Und dann denkt er vielleicht nach, was ihm an seinem Urlaub wichtig ist, vielleicht ist ihm ja alles recht, solange er nicht fliegen muss, wegen klimaschädlich, oder er will es nicht so heiß haben oder nicht wohin fahren, wo es total überfüllt ist, Amsterdam oder so… du hättest auf jeden Fall nichts von dir aus runtergemacht.“

„Hm.“

„Ist das okay oder eher nicht, Tobi?“

„Eher schon. Danke, Noemi.“

Noemi fühlte sich sehr zufrieden – ihre gute Tat für diesen Tag! Und hoffentlich verkrümelte sich dieser Möchtegern-Mylius wieder dorthin, woher er gekommen war!

In ihrer engelhaften Stimmung rief sie Tobi gleich noch einmal an: „Und wenn du einen Test bastelst?“

Tobi wirkte verschreckt: „Huch? Hab ich noch nie gemacht…“

„Na, zum Beispiel fragst du nach der gewünschten Actionrate, von a) stille Natur bis d) Ballermann und weist jeweils die Punkte zu. Ganz wenig ist naturschonend/öko, ganz viel ist rücksichtslos und nur auf Saufen und Poppen aus. Dazwischen die Städtefans, da gibt´s doch immer noch welche, die sich über Touris freuen, weil dann die örtlichen Geschäfte und Kneipen endlich mal ein bisschen Umsatz machen, dann Studienreisen oder sportlastige Angebote. Pass auf, du kennst doch die Ariane bei der Beratung, oder?“

„Ja?“ Tobi klang immer noch so, als sei er überfordert.

„Die macht öfter solche Tests, die kann man online machen. Das mögen die Leute. Frag die mal, ob sie dir ein bisschen helfen kann. Oder nachher drüberschauen…“

Hinterher wusste sie nicht, ob sie Tobi eigentlich geholfen oder ihn nur in Panik versetzt hatte – aber so ein Baby war er doch auch nicht mehr?

Erst einmal würde sie jetzt zu Mittag essen, vielleicht heute mal in der Salatbar, falls Erik und Ilona einverstanden waren.

Waren sie nicht, heute gab es in der Sandwichbar Schnitzelsemmeln und auf die hatten sie sich schon den ganzen Vormittag gefreut, also mussten sie sie auch haben: „Du kennst das ja, Psycho-Diät! Wenn man nicht genau das isst, was man sich gewünscht hat, futtert man aus lauter Unzufriedenheit dann immer weiter“, erklärte Ilona und Noemi grinste: „Meine Mama hat das Buch auch – aber ist das nicht voll die Achtziger?“

„Deswegen kann es doch stimmen?“

„Ich wüsste aber nicht, dass so viele Leute seitdem eine Traumfigur hätten“, stichelte Noemi, bevor sie zur Salatbar abbog. Hoffentlich saß da jetzt nicht dieser Pseudo-Papa! Aber der war ja schon eher alt, der zog doch sicher ein vernünftiges Wirtshaus vor? Sowas gab´ s in der Mini-City bloß gar nicht, da musste er schon in die Altstadt gehen!

Er saß auch nicht in der Salatbar und Noemi tadelte sich wegen ihrer Albernheit. Bestimmt trieb er sich in der Altstadt herum, denn die musste er doch schon von früher kennen? Oder hatte er sich in den letzten fast dreißig Jahren tatsächlich in Leisenberg versteckt? Kaum vorstellbar, irgendwer musste ihn da doch erkannt haben, vielleicht sogar jemand, der dann Mama sagte „Hey, Sabine, ich hab deinen Ex gesehen, hast du gewusst, dass er wieder da ist?“

Dann hätte Mama ihn doch umgehend ausgegraben und endlich die Scheidung eingereicht?

Noemi hatte sich ganz nach hinten verzogen und verspeiste dort ihren Garnelensalat mit Vollkornbaguette, nicht ohne immer wieder misstrauisch in die Runde zu schauen.

Konnte es sein, dass dieser Typ nur einmal kurz auftauchen musste und sie stand kurz vor dem Verfolgungswahn? Er hatte ja nicht einmal deutlich gesagt, dass er ihr Vater war – oder? Vielleicht kannte er StarWars gar nicht und wollte wirklich sagen, dass er ihr Vater war? Aber was hatte er denn da erwartet, dass sie ihm begeistert um den Hals fallen würde, nachdem er sich neunundzwanzig Jahre lang nicht um sie gekümmert hatte, nie greifbar gewesen war und auch keinen Cent – am Anfang sogar noch keinen Pfennig! – Unterhalt gezahlt hatte? Sie hätte ihm an Mamas Stelle vermutlich erst einmal ordentlich eins reingehauen…

Sie stellte sich das gerade vor – er klingelte bei Mama und David und sobald die Tür aufging, breitete er die Arme aus und rief: „Ich bin wieder da! Freust du dich?“

Was sollte Mama da sagen? Hau bloß wieder ab? Oder Und Sie sind…? Oder, noch besser: Super, dann kann ich endlich die Scheidung einreichen! Das dritte gefiel ihr am besten, sie konnte sich richtig gut vorstellen, wie diesem Mylius – wenn das überhaupt sein echter Name war, die Gesichtszüge entgleisten, wie man so schön sagte.

Was wollte der überhaupt? Was hatte er denn bis jetzt auf die Beine gestellt? Da gab´ s ja nur eins! Sie aß ihren Salat auf, zahlte an der Kasse und eilte zurück zu scene online, wo sie sofort den Mylius googelte.

Es gab da einen niederländischen Wissenschaftler – nein, der war schon fast dreihundert Jahre tot. Ein dänischer Expeditionsanführer? Auch nicht zielführend… einige Firmen? Da! Mylius, Noemi bei scene online. Na toll, die kannte sie ja nun wirklich!

Leonhard Mylius? Mama zufolge hieß der doch so? Und stand er nicht auch so in ihrer Geburtsurkunde? Aber Google kannte ihn nicht, so wie es schien, Google kannte aber doch jeden?

Lebte dieser Kerl unter falschem Namen? Nachher sollte sie das Mama erzählen, die wunderte sich bestimmt genauso wie sie selbst! Ein Künstlername konnte es doch nicht sein? Nicht in amtlichen Dokumenten – und eine Geburtsurkunde war doch wohl etwas Amtliches?

Jetzt verstand sie gar nichts mehr – dieser blöde Kerl! Warum tauchte er hier auf und brachte ihr schönes, friedliches Leben so durcheinander? Mit niemandem hatte sie Ärger, sie war ja auch ein harmonischer Mensch, wenn man das so sagen konnte. Jedenfalls hatte sie noch niemandem etwas angetan, verstand sich mit allen gut, ob bei scene oder in der Familie – Pina hatte auch nichts gewusst, aber was war denn mit  Oma? Und Oma konnte sie doch mal fragen? Die hatte doch, behauptete Mama, schon bei dieser verfehlten Hochzeit Unheil prophezeit? Später…