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Katrin begegnet ihrer Mutter ("Mutti") und ihren beiden Schwestern Dani und Tanja mit gereizter Nachsicht, da beide Schwestern ihrer Ansicht nach wenig auf die Reihe kriegen und dafür - vor allem Tanja! - Gott und der Welt die Schuld dafür geben. Ihre Mutter hat dafür ein ungemein antiquiertes Frauenbild. Als nacheinander zwei Morde und ein Mordversuch geschehen, beginnt die Kripo Leisenberg zu ermitteln, ist sich aber nicht sicher, dass man von einem Täter ausgehen kann. Zu guter Letzt aber werden die Schuldigen ermittelt und die Restfamilie hat besser zusammengefunden...
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Seitenzahl: 345
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Alles frei erfunden!
Immerhin war sie jetzt mit diesem Finanzierungplan fertig! Katrin lehnte sich zufrieden zurück und sah auf die Uhr: Was, schon wieder zehn vor sieben? Sie war schon wieder seit zehn Stunden in der Firma? Dann war es jetzt aber wirklich mal Zeit, nach Hause zu fahren!
Schließlich knurrte ihr der Magen – kein Wunder nach elf Stunden seit dem Frühstück. Was hatte sie denn noch im Haus? Salatgurke, Tomaten, Eier… Schinken! Oder war der schon zu alt? Egal, für ein nettes Tellerchen reichte es bestimmt, denn auf den Supermarkt in der Zollinger Schlossstraße hatte sie überhaupt keine Lust. Und der Discounter am Zollinger Marktplatz? Ganz bestimmt nicht!
Na gut, sie konnte einen schönen Spaziergang machen – die Zollinger Häuser waren ja nett anzuschauen – und vielleicht doch in der Schlossstraße vorbeischauen? Tiefkühlgemüse? Gutes Brot vom Brotstand? Frischen Schinken? Vorräte für den Rest der Woche? Guter Plan.
Außer Daniel, dem Chef von FinanceServices, war niemand mehr da und als er sie in ihren Mantel schlüpfen sah, schüttelte er den Kopf. „Katrin, wir müssen echt mal reden! Wozu machst du Überstunden? Willst du nicht heim?“
„Doch, natürlich. Ich hab nur den Finanzierungsplan für dieses Start-up fertig gemacht.“
„Ach, Katrin! Hab ich nicht gesagt, denn brauche ich erst am Freitag? Heute ist gerade mal Dienstag!“
„Was weg ist, ist weg. Ich geb ihn dir morgen früh, dann kannst du ja mal drüber schauen. Bis morgen dann!“
„Bis morgen.“ Daniel Schubert sah seiner besten Kraft seufzend nach: Immer nur Arbeit, Arbeit, Arbeit? Dabei hatte sie doch einen Freund? Warum drückte sie sich so lange hier herum? Sie musste eine wirklich scheußliche Wohnung haben…
Katrins Wohnung war mitnichten scheußlich, aber außer ihr, Jochen und ihren Freundinnen Inken und Rosi hatte noch niemand diese Wohnung von innen gesehen.
Die blöden Kommentare ihrer Mutter und ihrer Schwestern brauchte sie nämlich wirklich nicht. Sie hatte ja keine Probleme – sie nicht!
Tanja und Daniela sahen das natürlich anders, aber Katrin fand, die sollten sich mal lieber an die eigene Nase fassen und ihr Leben endlich selbst in die Hand nehmen. Und Mutti? Naja… Katrin wollte sich nicht vorstellen, dass sie eines Tages auch so werden konnte.
Sie verbot sich diese ärgerlichen Gedanken, bevor sich ihre Stimmung noch auf ihr Fahrverhalten auswirkte, und kurvte nach Zolling. Die prunkvolle Villa, die man in den Neunzigern in neun eher kleine Wohnungen aufgeteilt hatte, gefiel ihr immer wieder. Sie fuhr in die Tiefgarage, die man hinter dem Haus (im ehemaligen Küchengarten) angelegt hatte, und sprang dann hinauf in den zweiten Stock. Ein großes Zimmer mit einer übersichtlichen Küchenzeile in ganz hellem Blau, ein kleines Zimmer mit Bett und einer Nische für einen ganz glatten Wandschrank – ebenfalls in zartem Eisblau, ein Duschbad in puristischem Weiß (und mit blauen Handtüchern, was sonst) und ein kleiner, quadratischer Flur mit dunkelblauem Fußboden und nichts außer einem Garderobenständer – Mantel, Schirm, Regenhut.
Übersichtlich.
War das nicht das Wichtigste, Übersicht?
Übersicht über ihre Wohnung, über ihre Garderobe, über ihre Finanzen, über ihre Aufgaben, über ihre Ziele im Leben… wer die Übersicht verlor, der geriet wohl schnell in Panik.
Hatten Daniela und Tanja – und Mutti – wohl den Überblick? Ihr kam es nicht so vor.
Ach, egal, was hatte es denn für einen Sinn, sich an diesen drei dauernd abzuarbeiten? Sie hatte ihren Traumberuf, sie hatte eine wirklich nette Wohnung, die genauso aussah, wie sie sie haben wollte, sie hatte mit Jochen einen netten Freund, der aber nicht dauernd bei ihr herumhing – und sie sah doch eigentlich auch ganz ordentlich aus? Schmale Figur, blaue Augen dunkle Haare, angenehmes Gesicht, gute Garderobe...
Ach ja, und ihre Finanzen waren auch sehr in Ordnung.
Der nebelhafte Vati würde sich vermutlich ärgern, wenn er das wüsste – aber sie hatte ihn seit bald dreißig Jahren nicht mehr gesehen und ihn auch nicht weiter vermisst.
Oder?
Nein, wirklich nicht! Mutti wollte zwar nicht genau sagen, warum sie sich damals getrennt hatten, erzählte aber ab und zu in beleidigtem Tonfall Details aus der Vergangenheit. Leider keine wirklich erhellenden Details! Und wenn man sie fragte, warum sie sich immer noch mit dem Kerl befasste, schnappte sie nur noch mehr ein: „Immerhin ist er doch euer Vater!“
Katrin hatte einmal geantwortet: „Sagen wir doch lieber: Erzeuger.“ Da hatte Mutti doch tatsächlich gekreischt…
Verdammt, hier war es so schön – sogar geputzt war schon! Und was tat sie? Wühlte in einer unangenehmen Vergangenheit und ärgerte sich über Mutti, Daniela und Tanja, anstatt den Feierabend zu genießen?
Sie machte sich einen schönen Salat aus den Resten im Kühlschrank (mit dem durchaus noch essbaren Schinken) und dazu ein Fertigsüppchen (garantiert voller mieser Zutaten, aber nur 200 Kalorien).
Der Media Player lieferte dazu ein bisschen Latino-Pop und das Essen sättigte zwar nur mäßig, hatte aber rechtgut geschmeckt. Und jetzt?
Joschi und Valli hatten nach der Schule am Tisch gesessen und in ihren Nudeln mit Pfannengemüse herumgestochert.
„Das schmeckt langweilig“, maulte Joschi. „Haben wir keinen Pfeffer oder so was?“
„Und Nudeln sind ganz ungesund!“, assistierte Valli. „Ich will doch nicht aussehen wie Tante Tanja!“
„Sei nicht so respektlos“, mahnte ihre Mutter ohne große Wirkung, denn Joschi murmelte nicht gerade leise Die fette Schnecke…
Warum hatte sie Kinder bekommen? Jetzt hatte sie zwei unverschämte Teenager am Bein und einen unangenehmen Ehemann obendrein… und wie es hier schon wieder aussah!
Sie schlurfte lustlos durch das Wohnzimmer und sammelte mehrere zerfledderte Zeitungen ein, um sie ins Altpapier zu werfen.
Und Georg hatte auch schon wieder seine leergetrunkenen Gläser ins Regal gestellt. Jetzt hatte das Regalbrett – das neben seinem Fernsehsessel – natürlich wieder Ringe und das Furnier wellte sich.
Und wenn sie ihn bat, die Gläser doch in die Küche stellen, wurde er wütend – das sei ja wohl nicht seine Aufgabe, schließlich schaffe er das Geld ran, oder?
Als ob sie nicht arbeitete! Und er behielt seine Kröten doch sowieso für sich! Aber so zu antworten, war riskant…
Sie trug die Gläser in die Küche und sortierte sie in die Spülmaschine. Lieber Gott, war sie sauer! Sie angelte die Flasche hinter dem Putzeimer unter der Spüle hervor und schenkte sich ein Glas ein. Nur eins, das hatte sie festgelegt: nur eins auf einmal!
„Gibt´s keinen Nachtisch?“, rief Joschi vom Esstisch.
„Nein!“, blaffte sie zurück.
„Mama ist wieder mal stinkig“, stellte Valli fest. „Ist doch nichts Neues. Ich geh in mein Zimmer. Muss Mathe machen und Spanisch. Hoffentlich gibt´s abends was Gescheites…“
Daniela hatte schon die Hand nach der Flasche ausgestreckt, zuckte aber im letzten Moment wieder zurück. Warum waren ihre Kinder in letzter Zeit so überkritisch und so unfreundlich geworden? Steckte vielleicht die blöde Katrin mit ihrer Schulmeisterei dahinter? Oder hatte Georg sie aufgehetzt? Dem passte ja auch dieses und jenes nicht – und was ihr alles an ihm nicht passte, das wollte er natürlich nicht hören! Ach, wahrscheinlich waren nach fast zwanzig Jahren die meisten Ehen so – und Georg war ja gar nicht so viel zu Hause. In drei, vier Jahren hatten Valli und Joschi hoffentlich ihr Abitur - und dann sollten sie schön woanders studieren, das konnte dann Georg finanzieren! Sie jedenfalls wollte dann alleine hier sitzen und es gemütlich haben! Darauf noch ein – nein! Es war jetzt zwei Uhr, das nächste Gläschen würde es um vier geben, das wäre dann das dritte heute… Drei, das war doch noch nicht bedenklich? Man musste ja schließlich funktionieren – Haushalt, Kinder, Job…
Na, vielleicht heute Abend noch eins, um den Feierabend zu würdigen? Aber dann lieber ein schönes Glas Wein statt dieses Wodkas… und Georg konnte ganz ruhig sein – was der an Bier konsumierte!
Immerhin waren die Kinder jetzt verschwunden; sie räumte den Tisch ab und startete dann die Spülmaschine, bevor sie damit begann, Wäsche zu sortieren und die Maschine vorzubereiten.
Georgs Hemden musste sie auch noch bügeln, er war da sehr pingelig… ach ja, und im Flur standen mehrere Mülltüten, die sie noch auf die verschiedenen Tonnen verteilen sollte.
Was sollte es denn heute Abend geben? Wieso konnte Georg an einem gewöhnlichen Dienstag überhaupt da sein? Sonst kam er doch erst am Freitagabend und verschwand ab Sonntagmittag wieder. Fisch aß Georg schon mal nicht, da war noch was im Tiefkühler…Schnitzel? Schnitzel hatte er gern. Und Ofenpommes, die machten weniger Dreck. Wie man Frittierfett korrekt entsorgte, wusste sie nämlich immer noch nicht, nur, dass man es keinesfalls in den Ausguss oder ins Klo schütten durfte.
Valli würde zetern, das seien wieder mal die reinsten Kalorienbomben… sollte sie noch einen Salat dazu machen? Gurke und Chicorée? Mit Joghurtdressing und Kräutern? Den aß Valli dann wahrscheinlich ganz alleine auf, nachdem sie allen anderen die Schnitzel vermiest hatte…
Mittagspause – wohin heute? Tanja hatte über diese Frage schon sorgfältig nachgedacht. Die anderen gingen ja meist in diese Salatbar, aber das war doch wirklich unbefriedigender Fraß… Tanja überlegte – gab es an der Ecke zum Heisenbergweg nicht diesen neuen Food Truck? Hatte es gestern dort nicht sehr vielversprechend nach Frittiertem geduftet? Frühlingsrollen oder Wan-Tans, mit dieser leckeren Sweet-Chili-Sauce? Der Gedanke heiterte sie sichtlich auf und sie stemmte sich von ihrem Stuhl hoch, schob die restlichen Paketpappen beiseite und machte sich auf den Weg.
Am besten aß sie ihr Mittagessen hier unten in der Packerei, da sah sie keiner und niemand regte sich über ihr Essen auf. Sätze wie Bist du nicht eigentlich schon dick genug? oder Fühlst du dich wirklich wohl so? brauchte sie heute wirklich nicht schon wieder.
Der Truck war sehr gut, stellte sie fest. Frühlingsrollen (die kleinen und die großen!), Wan-Tans, Samosas… am besten nahm sie nachher gleich noch was fürs Abendessen mit. Ach, und Burritos gab es auch? Das war doch nicht asiatisch? Egal, Hauptsache lecker!
Sie bestellte zwei große Frühlingsrollen und zweimal Wan-Tans und beschloss, doch nicht in der Packerei zu essen – der herrliche Duft würde sie bloß verraten und die Verpackung konnte Fettflecken hinterlassen: Was hast du hier schon wieder für einen Mist gefuttert? Iss doch mal was Gesundes!
Das ging Alice, Max und Tobi wirklich einen Scheiß an! Sie nahm noch ein Cola mit, das richtige natürlich, und steuerte den Heisenberggarten an, ein etwas dürftig bewachsenes Areal mit einer Magerwiese und drei Bänken aus Drahtgeflecht. Und einem großen Papierkorb!
Eine Bank war noch frei; Tanja setzte ihre Sonnenbrille auf – natürlich wollte sie hier nur das gute Wetter genießen! – und angelte sich unauffällig die erste Frühlingsrolle aus dem Papiergewurstel neben ihrer Handtasche. Sehr lecker, wirklich – und mit Rindfleisch gefüllt, das hatte sie am liebsten. Auch wenn Katrin ihr schon mehrfach vorgerechnet hatte, wieviel Wasser und wieviel Regenwald Rinderzucht verschlang. Sollte sie Bambussprossen futtern? War sie vielleicht ein Panda?
Gut, dass sie noch eine Rolle hatte, das verlängerte den Genuss…
Sie verspeiste beide Frühlingsrollen und alle zwölf Wan-Tans, die sie sehr ausführlich in die Sauce tunkte. Herrlich knusprig… und dazwischen immer mal einen Schluck Cola!
Satt und zufrieden warf sie die fettige Verpackung in den Papierkorb, ohne dass jemand sich über fehlerhafte Mülltrennung entrüstete, und machte sich auf den Rückweg.
Das war ja doch ganz schön viel gewesen, musste sie zugeben. Bestimmt hatte sie davon zugenommen!
Ach, sie hätte das nicht essen sollen! Wenigstens nicht so viel! Beim nächsten Mal würde sie auch Salat essen. Nein, lieber nur eine Frühlingsrolle und nur eine Portion Wan-Tan. Das hätte doch auch gereicht?
Sie versuchte, sich an das Glücksgefühl zu erinnern, das die Frühlingsrolle und der Gedanke, dass sie noch so ein tolles Ding in der Tüte hatte, ausgelöst hatten, aber es wollte ihr nicht gelingen. Warum machte Essen nur glücklich, solange man aß – und danach ärgerte man sich bloß? Sie rülpste diskret.
Waren andere Leute eigentlich auch glücklich, solange sie aßen? Oder aßen sie nur, weil man sich eben irgendwie ernähren musste, und ganz andere Dinge machten sie glücklich? Aber was?
Vielleicht waren manche ja erfolgreich im Beruf und freuten sich darüber. Oder hatten einen tollen Mann. Oder Frau, eben. Oder kamen abends gerne nach Hause, weil sie eine richtig schöne Wohnung hatten… Ob die dann weniger aßen?
Sie jedenfalls hatte einen eher langweiligen Job, ein Einzimmerappartement an der lauten Kirchfeldener Landstraße und keinen Freund, dabei war sie auch schon über dreißig! Daniela hatte doch wenigstens Mann und Kinder – und die besserwisserische Katrin einen guten Job.
Unfair war das.
Mit einem Ächzen setzte sie sich zurück an ihren Platz und griff nach dem nächsten gefalteten Paket, entfaltete es und steckte die Seiten zusammen, bevor sie nach der blauen Plastikwanne angelte, die Medikamente samt Rechnung mit etwas Styropor im Päckchen verstaute, es zuklebte und den Adressaufkleber aus der Wanne nahm, um ihn aufzukleben.
Max streckte schon auffordernd die Hand nach dem Päckchen aus.
Tanja angelte nach der nächsten Wanne, griff einen Paketsatz in der richtigen Größe und machte weiter.
Fünf Pakete später fragte Alice, die links von ihr die Rechnungen und Adressaufkleber ausdruckte und in einem Affentempo die Wannen passend befüllte, ob sie nicht bitte etwas zügiger arbeiten könne. „Ich habe hier vor lauter Wannen bald keinen Platz mehr!“
„Und ich schlaf gleich ein!“, assistierte Max.
„Ich mach ja schon“, murmelte Tanja beleidigt.
„Aber bitte nicht in Zeitlupe!“
Paket auffalten, Styropor, Medikamente, Rechnung, Klebeband, Adressaufkleber… Tanja zwang sich, eine Zeitlang zu arbeiten, ohne zu denken und ohne sich zu bedauern.
„Na bitte! Geht doch ein bisschen schneller“, lobte Alice in ekelhaft herablassendem Ton und schwenkte aufreizend ihre schmalen Hüften in den schwarzen Jeggings, also wollte sie sagen du fette Versagerin. Natürlich sagte sie es nicht, also konnte man sich nicht ärgern - Tanja ärgerte sich aber doch. Stumm arbeitete sie weiter, mindestens zwei Stunden lang, ohne auch nur einen Ton zu sagen, während Max und Alice miteinander flachsten und Tobi mit den Paketen einen Transportwagen belud und diesen schließlich mit Folie umwickelte, bevor er ihn zur Tür schob, damit der Logistiker ihn abholen konnte.
Was, erst Viertel vor drei? Nach so vielen Stunden Arbeit?
Nächster Stapel Paketsätze…
Nach gefühlt tagelangem Packen war es endlich fünf und Tanja knurrte der Magen, als sie erleichtert die restlichen Pappen beiseitelegte und mit Alice zusammen die übrigen Wannen in das Regal hinter ihrem Tisch stellte.
„Dann mal ´nen schönen Abend“, wünschte Alice ohne große Überzeugungskraft und Tanja murmelte die passende Antwort. Alice und Max traten schon auf den Hof, als Tanja noch ihre Tasche von der Stuhllehne wickelte und wieder an den Foodtruck zu denken begann. Oder Pizza?
Nein, Chinafutter ganz offen von einem Teller essen zu dürfen, das stellte sie sich jetzt recht schön vor. Draußen stand nur noch der Wachmann, der ihr zunickte und die Tür zur Packerei dann sorgfältig abschloss. Ein Medikamentenversand lockte ja immer irgendwelche Junkies an!
Alice, Max und Tobi waren schon auf dem Weg zum Bus, sie sah die drei noch von hinten, vom Rauch aus ihren blöden E-Zigaretten umwabert – dann konnte sie ja unbeobachtet zum Food Truck gehen und nachher zum Bus in Richtung Osten…
Mit wieder zwei Frühlingsrollen, zwölf Wan-Tans und vier Samosas kam sie nach Hause. Schon im Lift steckte sie die Nase in die Plastiktüte und schnupperte genießerisch.
Das hatte sie sich jetzt verdient! Das Essen kam auf einen großen Teller, die Chilisauce dazu und dann ließ sie sich aufs Sofa fallen und richtete die Fernbedienung auf den Bildschirm. Irgendwas anschauen, egal was, Hauptsache Geräusch.
Ja, und fremde Schicksale. Im Vergleich zu denen war sie doch richtig gut? Nicht arbeitslos, nicht alkoholkrank, nicht total verschuldet.
Sie aß und schaute und fühlte sich wieder zufrieden, Alice und Max waren vergessen und ihre blöden Schwestern, vor allem das Dauergemecker Katrins, ebenfalls.
Aber sobald auch die Samosas verputzt waren und Tanja noch eine Tafel Marzipanschokolade als Dessert gefunden und gegessen hatte, ließ das Glücksgefühl wieder nach; sie fühlte sich vollgefressen – rülps! – und begann sich über sich selbst zu ärgern. Außerdem war diese Wohnung eine Katastrophe.
Wieso hatte Dani ein Haus und Katrin so ein Riesending im feinen Zolling – und sie musste in diesem Loch hausen? Sie hatte eben immer Pech.
Katrin würde jetzt sagen Also, ich verdiene auch deutlich mehr als du. Ich habe aber auch studiert und mir durch Praktika die nötigen Beziehungen verschafft – und du?
Blöde Kuh.
Ein richtiges Schlafzimmer wäre schön. Und eine richtige Küche. Gut, da würde Dani wahrscheinlich sagen: Wozu denn, ein Schrank voll Chipstüten reicht für dich doch?
Dani tat ja immer so, als würde sie großartig kochen, aber Tanja hatte nicht nur einmal gehört, wie Valli und Joschi von Saufraß gesprochen hatten. Und Katrin? Die aß bestimmt da, wo sie arbeitete, Salate ohne Dressing in irgendeinem feinen Lokal, nicht in einer billigen Salatbar!
Sie warf die Verpackungen weg – der Müllsack musste auch mal in die Tonne, der stank schon ziemlich. Später.
Sie wollte ja nicht die Frau Langhammer treffen, die dann wieder schaute, ob sie auch keine Verpackungen in den Restmüll warf. Albernes Theater, das Zeug wurde doch sowieso irgendwo verbrannt?
Katrin würde jetzt sagen, das sei Blödsinn und sie selbst eine ökologische Drecksau. Was wusste Katrin schon, die hatte ja wohl die Wahrheit auch nicht gepachtet!
Ihr tat der Rücken weh. Und das linke Knie. Im Bad sah sie sich im Spiegel und erschrak wie immer: Ganz schön fett! Und immer so müde – warum nur? Sicher war die Arbeit anstrengend, aber so müde?
Sollte sie den Spiegel wenigstens mal putzen?
Später.
Im Flur hingen vier Jacken an den Garderobenhaken, die blaue, die graue, die schwarze und die rosa Jacke. Passten die ihr eigentlich alle? Die graue bestimmt, die hatte sie ja vorhin erst getragen.
Die blaue ging, als sie hineinschlüpfte. Gut, zugeknöpft war sie schon eng, aber man konnte sie noch zuknöpfen. Schwarz? Naja. Der Reißverschluss ging zu, aber atmen konnte man dann praktisch nicht mehr – und das rosa Ding war bestimmt zwei Nummern zu klein.
Sie rollte sie zusammen und warf sie im Kleiderschrank auf den Boden, zu all dem anderen Kram, der ihr nicht mehr passte.
Im Bad stand auch die Waage. Hm. Wollte sie das wirklich so genau wissen? Wie bei The Biggest Loser sah sie noch nicht aus, aber viel fehlte da auch nicht mehr.
Wie konnte das passieren? Sie aß doch gar nicht so viel? Aber wenn sie sich das so ansah – das waren doch bestimmt, naja, über achtzig Kilo?
Dani und Katrin sahen nicht so aus… Dani war das egal, Mutti auch, aber Katrin schaute sie, wenn sie sich schon mal sahen, immer leicht verächtlich an. Wahrscheinlich dachte sie dann Fettsack. Und Danis unerzogene Bälger dachten bestimmt auch nichts anderes…
Verdammt, das war doch wohl ihre Sache? Wenn sie sich damit wohlfühlte, hatten Katrin, Valerie und Joshua überhaupt nichts zu kommentieren!
Aber eigentlich fühlte sie sich damit eben gar nicht so wohl. Außer, wenn sie vor einem Teller mit leckeren Sachen saß.
Sie stieg nun doch auf die Waage: 107,9.
Betäubt wankte sie einen Schritt zurück und stolperte gegen die Badezimmertür: Hundertacht? Die Waage musste falsch gehen, anders konnte das nicht angehen!
Achtzig, das wäre noch „vollschlank“ gewesen, wie Mutti das nannte. Schlimm genug – aber hundertacht, das war fett.
Wirklich ungerecht! Ein langweiliger Job, eine winzige, hässliche Wohnung an der scheußlichsten Ecke Leisenbergs, nicht mal ein Auto – und jetzt noch diese Lüge über ihr Gewicht!
Sie musste sich trösten.
Eigentlich hatte sie ja vorgehabt, wenigstens mal staubzusaugen und vielleicht eine Ladung Wäsche zu waschen, bevor sie überhaupt nichts mehr anzuziehen hatte, aber jetzt? So ein Scheißtag! Im linken Oberschrank musste doch noch – genau, die Familientüte Käseflips! Die war jetzt genau das Richtige! Und zur Feier des Tages – sie lachte bitter auf – würde sie die nicht aus der Tüte, sondern aus der großen Glasschüssel essen. Richtig genießen! Käseflips waren hier in der Gegend schwer zu kriegen, der Supermarkt hatte sie nur manchmal, genauso wie diese tollen Orangenmarzipanpralinen mit weißer Schokolade. Aber von denen hatte sie sich bei der letzten Gelegenheit drei große Packungen gesichert – und zwei hatte sie jetzt noch. Etwas Süßes, nach den Käseflips.
Sehr gemütlich! Sie lag auf dem Bettsofa, griff sich immer zwei Flips auf einmal und verfolgte eine Seifenoper. Als die Nachrichten kamen, zappte sie weiter und fand diese Telenovela, die in einem bayerischen Hotel spielte. Das musste gefühlt Folge fünftausend sein – wenn schon. Um Viertel nach acht sollte ein alter Agatha Christie kommen, dazu passten dann die Marzipanküsschen perfekt…
Nach dem Spielfilm war ihr ein bisschen übel und sie ärgerte sich, dass sie so viel gegessen hatte. Und die Wohnung war immer noch schmutzig und die Wäsche nicht gewaschen. Müde war sie jetzt auch, am besten ging sie mal früh ins Bett – naja, früh? Jetzt war es Viertel nach zehn! Und morgen um acht musste sie schon wieder in der Packerei sitzen!
Was für ein Scheißleben… Dani und Katrin hatten es natürlich viel besser. Und sie musste diesen blöden Job machen und außerdem noch etwas finden, was sauber war und ihr obendrein noch passte.
Die schwarze Stretchhose vielleicht? Schwarz machte schlank, und die Biesen auf den Beinen sollten doch streckend wirken? Sie zwängte sich hinein und begutachtete sich vor dem Spiegel: Furchtbar! Wieso kaschierte der dunkle Stoff denn diese Speckrollen nicht? Wäre vielleicht eine weite, glatte Hose besser? Die dunkelblau-rosa gemusterte mit dem Gummizug in der Taille?
Ja, wenn sie sie bis zur Taille hätte hochziehen können! Die Beine waren mitnichten weit, sondern zu eng. Und der Stoff war 100 % Viskose, die riss schnell, wenn sie zu stark beansprucht wurde. Mit zerrissener Hose konnte sie nicht in der Packerei sitzen!
Die dunkelbraune aus Cord? Mist, die hatte sie gerade in die Wäsche sortiert. Aber jetzt noch in den Waschkeller? Keinesfalls, sie wollte jetzt ins Bett.
Ach, sie würde die Hose von heute nehmen und diese Riesenbluse mit den Blümchen. Problem gelöst. Und übel war ihr auch schon fast gar nicht mehr.
Was würde sie sich morgen in der Mittagspause beim Food-Truck holen? Samosas vielleicht? Die hatten ja auch frittierte Krabben… und Pommes hatte sie diese Woche noch gar nicht gehabt!
Okay, es war erst Dienstag, aber trotzdem.
Sie wusste gar nicht, woher der Speck kam – sie aß doch wie alle anderen Leute drei Mahlzeiten am Tag! Ihre blöden Schwestern futterten bestimmt das gleiche und waren nicht dick… naja, Dani schon ein bisschen, aber nicht so arg.
Und mehr Geld hatten die auch. Größere Wohnungen. Dani sogar ein Haus. Dani hatte auch einen Mann und Kinder – und sie selbst? Nichts davon. Was, wenn es mal ein Abitreffen gab? Was sollte sie da denn erzählen? Ich bin Single, wiege doppelt so viel, wie ich sollte, und bin Packerin bei einem Medikamentenversand? Tolle Bilanz…
Warum war ihr Leben so schiefgelaufen? Warum hatte sie immer Pech? So einen schlechten Stoffwechsel, so dürftige Punkte im Abitur – wie hätte sie denn so studieren sollen? Und mit so einem armseligen Job verdiente man eben auch armselig…
Sie schniefte auf und ließ sich aufs Sofa fallen, wo sie umgehend einschlief, ohne das Bett aufzuklappen oder ihr Bettzeug aus dem unteren Fach hervorzuangeln. Egal.
Mittwochs trafen sich die Schwestern stets bei Mutti, die Wert darauf legte, dass die Familie zusammenhielt, und deshalb mittwochs groß aufkochte.
Keine der Töchter hielt das für eine besonders gute Idee, aber Mutti Heinrich pflegte so dermaßen nachdrücklich einzuschnappen, wenn man auch nur vorsichtige Kritik oder auch bloß Änderungsvorschläge wagte, dass sie sich eben fügten.
Katrin fand, das Essen war schlecht, ungesund, verkocht und schmeckte obendrein nicht, Tanja suhlte sich in Selbstmitleid und Dani war kaum besser – genau wie Mutti!
Dani hasste es, dass ihre Schwestern Georg nicht mochten – das stand nur ihr selbst zu! - und dass Mutti ihr ständig Haushaltstipps gab, als wäre sie selbst noch zu doof, ihren Haushalt zu führen. Mutti behauptete auch, Valli und Joschi seien frech und schlecht erzogen – und das konnte Dani auf keinen Fall durchgehen lassen, auch wenn sie ihre Kinder selbst öfter frech fand. Aber auf keinen Fall schlecht erzogen! Höchstens lag es Georgs schlechtem Vorbild…
Tanja konnte es auf den Tod nicht leiden, dass Katrin ihre Figur angewidert zu mustern pflegte und fand, ihr Job sei wirklich zu armselig, etwas Besseres müsse sich doch wohl finden lassen, wenn man sich bemühte? Muttis Essen war nicht besonders lecker, aber wenigstens war es reichlich und machte satt. Gebratenes und Frittiertes, auf jeden Fall Knuspriges wäre ihr bei weitem lieber gewesen.
Mal sehen, was heute geben sollte!
Daniela hatte ihre Kinder gefragt, ob sie zur Omi mitkommen wollten, aber Joschi hatte Handballtraining und Valli musste einen Übungsaufsatz schreiben. „Außerdem kocht die Omi furchtbar, noch schlimmer als du, Mama! Und Tanjas weinerliches Getue macht mich rasend. Nee, geh da mal schön alleine hin.“
Daniela hatte nichts anderes erwartet – und sie konnte ihre Kinder da beinahe verstehen. Muttis Genörgel, ihr Selbstmitleid und ihre sogenannte gutbürgerliche Küche, dazu Katrin, die alle Welt aufforderte, sich endlich mal zusammenzureißen und diverse schlechte Angewohnheiten abzulegen: „Dann würdet ihr euch auch gleich viel besser fühlen!“
Nein, sie ging aus Familiensinn hin, Lust hatte sie darauf eigentlich nie. Familiensinn hatten die anderen ja eher nicht. Tanja wohl nur, wenn sie Mutti etwas abbetteln wollte – und Katrin verachtete sie ja sowieso alle. Worauf zum Henker bildete die sich eigentlich so viel ein? Aber immerhin bettelte sie nicht bei Mutti! Tanja hatte da bestimmt schon – na, ganz schöne Sümmchen jedenfalls! Ob das verrechnet wurde, wenn Mutti mal ihr Testament machte? Das Reihenhaus, in dem sie alle aufgewachsen waren, war alt und scheußlich, aber bei den Immobilienpreisen zurzeit: nicht so schlecht! Oder gehörte das eigentlich Vati?
Um sieben. Naja, gegen halb zehn würde Mutti dezent ein Gähnen unterdrücken und zumindest Katrin würde daraufhin Müdigkeit vortäuschen und so den allgemeinen Aufbruch einleiten. Das konnte man überleben.
Immerhin war Georg wieder nach Augsburg abgerauscht, um dort Netzwerke zu reparieren oder irgendwas zu verkaufen– eine Sorge weniger.
Sie selbst vermisste ihn eigentlich nie, aber das fand Mutti wahrscheinlich wieder unangebracht für eine brave Ehefrau. Geistesabwesend rieb sie den blauen Fleck auf ihrem Unterarm und überlegte, ob sie jetzt ein Gläschen… um dieses Familienessen auszuhalten? Nein, lieber nicht, sonst rief Katrin wieder Boah, du hast ja eine Fahne! Eigentlich brauchte sie das Gläschen auch gar nicht, sie war ja ganz alleine in der Küche.
Sie räumte etwas lustlos die Küche auf und füllte die Spülmaschine, dann stellte sie einige Flaschen Bier kalt, damit Georg, wenn er denn irgendwann mal nach Hause kam, nicht ärgerlich wurde. Ein ärgerlicher Georg war kein Spaß und sie wollte am Freitag nicht nach Hause kommen und sofort einen Krach kriegen, nur wegen des blöden Biers.
Die Kinder waren in ihren Zimmern und dort blieben sie erfahrungsgemäß auch; freiwillig hatten sie ihre Mutter schon länger nicht mehr angesprochen, außer, wenn sie Geld für die Schule brauchten. Oder? Nein, nicht einmal dafür. Bezahlten sie Papiergeld und andere Dinge einfach selbst? Beide hatten ja auch einen Job, Valli an der Kasse im Supermarkt, Joschi im Baumarkt, samstags. Eigentlich sollten die lieber mehr für die Schule tun, sonst wurde aus ihnen auch nicht mehr als aus Tanja mit ihrem Primitivjob in dieser Packerei. Da hatte sie es mit Sachbearbeitung halbtags wirklich besser getroffen, das war doch nicht so – so – so ungelernt! Sie hatte ja immerhin eine Ausbildung!
Warum hatte Tanja eigentlich nichts Besseres gelernt? Aber das war eigentlich Tanjas eigene Angelegenheit, da musste sie sich nicht einmischen.
Katrin sah auf die Uhr: Viertel vor sechs, das war einigermaßen früh. Kurz nach Hause und dann zu diesem unsäglichen Essen. Wahrscheinlich war es wieder so ein Fraß aus Fett und Kohlenhydraten… wenn es wenigstens schmecken würde! Gute Kekse waren ja auch nichts anderes, aber die waren die Sünde im Allgemeinen auch wert, Muttis Fraß aber nicht. Und nachdem, was Valli ihr mal erzählt hatte, kochte Dani auch nicht viel besser, sie musste es wirklich bei Mutti gelernt haben.
Vielleicht war Vati deshalb so früh abgehauen? Nein, er hatte eine Neue, das wussten sie ja schließlich, weil Mutti es ihren Kindern einmal erzählt hatte, obwohl sie normalerweise eher ausweichend auf direkte Fragen reagierte.
Dass die Neue kochen konnte, war aber immerhin denkbar… netter Gedanke, damit könnte man Mutti sehr schön ärgern. Ach, wozu? Mutti war doch eigentlich arm dran.
Sie würde hingehen, sich das allgemeine Gejammer anhören, keine guten Ratschläge verteilen, auch wenn ihr das verflixt schwerfallen würde, und freundlich Konversation über irrelevante Themen machen. Wahrscheinlich hatte Tanja wieder irgendwelchen Stuss im Fernsehen gesehen und musste sich dazu unbedingt äußern. Meinetwegen, dachte Katrin, während sie sich im Spiegel betrachtete und überlegte, ob sie sich umziehen musste.
Nein, fand sie schließlich. Ganz dunkelblaue Jeans, ein dunkelblauer Sweatblazer und darunter ein T-Shirt in blassem Gelb. Da konnten sie nicht meckern.
Eigentlich war es doch egal, ob die meckerten, weder Mutti noch Dani und schon gar nicht Tanja waren irgendwie maßgeblich, die sahen alle selbst scheußlich aus und kleideten sich auch so. Wäre ja egal, wenn sie nett wären, sinnierte sie weiter, aber das waren sie eben auch nicht. Superkritisch bei anderen, und bei sich selbst?
Sie musste grinsen. War sie selbst nicht auch so? Das mussten die Familiengene sein!
Aber sie sah ja auch nicht scheußlich aus und sie jammerte nicht über ihr schlimmes Schicksal, warum auch, wenn es ihr doch prima ging? Dass sie auch nicht besser war als die anderen, konnte sie so nicht akzeptieren!
Tanja war schon da, als sie bei Mutti im Vogelbeerenweg ankam. Sie begrüßte sie höflich und wich nicht einmal Muttis Umarmung aus, obwohl sie dabei kurz überlegte, ob ihre Mutter sich zu vernachlässigen begann. Sie roch jedenfalls ein bisschen streng… und Tanja hatte doch schon wieder zugelegt? Sie schien kaum noch in den Sessel zu passen, den sie sich ausgesucht hatte. Dani tauchte unmittelbar nach Katrin auf.
Katrin lehnte etwas zu trinken ab und lobte etwas verkrampft den Blumenstrauß auf dem Couchtisch. Mutti lächelte. „Nicht wahr? Und sie sehen doch wirklich echt aus, findest du nicht?“
Huch, Plastik? Oder Stoff?
„Stimmt. Ich hätte sie tatsächlich für echte Blumen gehalten. Da hast du dann länger was davon, gell?“
Warum schaute Mutti jetzt schon wieder so verkniffen? Sie hatte sich doch gar nicht kritisch geäußert?
„Du kannst dir natürlich täglich frische Blumen leisten!“, sagte Dani in leicht anklagendem Ton, wohl um Mutti beizustehen, die immer noch schmollte.
„Also so hatte ich es nicht gemeint. Ich mag übrigens keine frischen Blumen. Die sollen da stehen, wo sie wachsen, warum bei mir in einer Vase vergammeln, die armen Dinger?“
„Ich würde mich schon freuen, wenn Georg mir mal wieder Blumen mitbringen würde.“
Katrin grinste. „So wie du das formuliert hast, rechnest du aber nicht damit?“
„Dein Jochen schenkt dir wohl dauernd was?“
„Nein, das tut er nicht, er kennt mich ja. Keine Blumen, keinen Schnickschnack.“ Sie versuchte, sich nicht in dem völlig überladenen Wohnzimmer beziehungsreich umzusehen, aber das war mal wieder vergebliche Liebesmüh – die legten ihr doch alles als Kritik, Angeberei oder wenigstens unerbetene Ratschläge aus!
Tanja hatte bis jetzt noch gar nichts gesagt, sich nur aus der Colaflasche stetig nachgeschenkt. Und das war Zuckerpampe, diese doofe Kuh! Ach, was ging es sie an!
Mutti erhob sich nicht ohne Mühe und ging etwas ungleich in Richtung Esszimmer. Katrin hatte sie schon mehrfach gefragt, wie es denn mit einer Knieoperation aussah – das zahlte doch die Versicherung! Aber Mutti hatte stets mit Leidensmiene abgewehrt. Nun, wenn sie lieber Schmerzen leiden wollte…
„Kommt essen, Kinder!“
Dani erhob sich als erste. „Was gibt´s denn heute?“
Katrin, die ihr gefolgt war, schnupperte. „Ich rieche Kapern. Königsberger Klopse mit Reis, würde ich vermuten.“
„Wartet doch auf mich!“, Tanja trippelte unbeholfen hinter ihnen her. Das Esszimmer sah auf den ersten Blick aus wie immer, dunkle Möbel aus den frühen Achtzigern (Vatis Geschmack?) und diese unsäglichen Samtportieren, die Wohn- und Esszimmer voneinander trennten. Aber was war in den Kisten auf der Vitrine, auf dem Geschirrschrank und unter dem Buffet? Katrin wagte es zu fragen und hoffte, dass sie nur interessiert klang und nicht etwa kritisch.
Mutti klapperte in der Küche herum und ignorierte die Frage, statt dessen rief sie: „Setzt euch schon mal und schenkt euch etwas zu trinken ein.“
„Sollen wir dir nicht helfen?“, fragte Katrin.
„Danke, ich mache das lieber selbst.“
Als ob sie noch Teenies wären und zu allem zu dämlich! Aber bitte…
Auf dem Tisch standen Wein, Orangensaft und Wasser; Katrin schenkte sich schnell ein halbes Glas Wasser ein, Dani wählte Wein, Tanja Orangensaft. Noch mehr Zucker?
Wenn Mutti schon so tat, als seien sie alle noch Kinder, warum stellte sie dann nichts Gesünderes hin? Wenigstens eine Saftschorle statt dieser Zuckerbombe? Und sie könnte Dani vorschlagen, sich eine Weinschorle zu mischen…
Mutti kam, eine Schüssel Reis in den Händen. „Tut euch schon mal auf!“ Damit ging sie wieder und holte die nächste Schüssel, tatsächlich Königsberger Klopse.
Jetzt setzte sie sich wenigstens auch und goss sich Orangensaft ein, dann musterte sie Katrins Glas. „Keinen Saft? Das ist ein guter! Mit extra Vitamin C!“
„Danke. Das ist lieb von dir, aber ich esse viel Obst, also bin ich mit Vitaminen gut versorgt. Orangensaft enthält mir zu viel Zucker.“
War natürlich wieder falsch.
„Du musst doch immer was zu meckern haben“, stellte Dani fest und strahlte Mutti an. Ach, machte sie jetzt einen auf Ich bin die gute Tochter? Na, wenn´s ihr Spaß machte…
„Ich meckere nicht, wenn ich mich nur über mich äußere. Was ich tue, müsst ihr doch nicht nachmachen!“
„Das sagst du jetzt bloß so“, murmelte Tanja.
„Himmel! Was bitte könnte ich denn sagen, sodass ihr nicht einschnappt?“
Darauf gab es natürlich keine Antwort. Mutti und Dani unterhielten sich über das beliebte Thema der hektischen Zeiten. Dazu sagte Katrin lieber nichts, denn ihr kamen die Zeiten überhaupt nicht hektisch vor, sie war aber auch gut organisiert, fand sie selbst.
Sie aß vorsichtig ihren Teller leer, obwohl der Reis klumpig war und manche der Klopse innen etwas kalt waren – Mutti hatte also wieder ein Tiefkühlgericht aufgetaut, aber offenbar nicht lange genug. Na, was hatte sie denn auch anderes erwartet? Mutti kochte immer aus Tiefkühlschachteln. Sie selbst besorgte ja auch öfter Zeug aus der Kühltruhe, aber doch nur Obst und Gemüse, weil das länger hielt, nicht Zeug mit fertigen Soßen voller billigem Fett und diversen Zusatzstoffen! Dani machte es offensichtlich genauso wie Mutti, jedenfalls hatte sie Valli und Joschi schon öfter meckern gehört. Andererseits waren die doch wohl alt genug, sich selbst einen Salat zu machen oder sonst etwas Vernünftiges? Sie stocherte in den Resten herum – waren die Klopse innen eigentlich durch? Wurden die vor dem Einfrieren überhaupt vorgekocht oder holte sie sich hier womöglich eine Lebensmittelvergiftung?
Wahrscheinlich schon vorgekocht, überlegte sie, die mussten in der Fabrik ja auch irgendwie - aus billigsten Zutaten – die Sauce fabrizieren. Ohne Kochen war das kaum möglich…
Auch Dani aß etwas vorsichtig, sah sie aus dem Augenwinkel, den Kopf geradeaus auf ihren eigenen Teller gerichtet, damit nicht wieder eine blaffte Was schaust du schon wieder so? Allmählich bekam man hier wirklich Verfolgungswahn!
Auf keinen Fall aber Tanja anschauen, die schaffte es womöglich, loszuzetern und gleichzeitig weiterzuessen.
Der mollige Arm, den sie schon wieder nach der Schüssel mit dem klumpigen Reis ausstreckte, war aber auch ohne Kopfbewegung festzustellen.
„Tanja, frisst du das alles alleine auf?“, platzte Dani in diesem Moment heraus. Katrin unterdrückte etwas zu spät ein Prusten, tarnte es mit einem Husten und behauptete dann, ihr sei eine Kaper in die falsche Kehle geraten. Mutti sah leidend drein, als habe man ihr die Schuld zugewiesen, und wandte sich dann an Dani: „ Lass sie doch, ihr schmeckt es eben!“
„Sieht man ihr auch an“, murmelte Dani und rührte in ihren Resten herum, bevor sie den Teller wegschob. „Ich kann nicht mehr.“
Katrin war mittlerweile mit ihrer kleineren Portion fertig und legte ihr Besteck auch ordentlich ab, fromm schweigend, während Dani ihren Gedankengang weiterspann: „Tanja, mittlerweile bist du wirklich ganz schön – äh – dick. Bist du damit wirklich zufrieden?“
Tanja hielt inne, die Gabel mit Reis und einem ganzen Klops halb erhoben, während ihr die Tränen in die Augen traten; dann schob sie sich die Gabel hastig in den Mund.
„Jetzt lass deine Schwester in Ruhe, du machst sie nur traurig!“
Katrin wollte ablenken, bevor sich diese beiden in die Haare kriegten und dann so ausführlich beleidigt waren, dass man es nicht aushalten konnte. Ihr Blick fiel auf die Kartons auf den Schränken und unter der Anrichte und sie fragte nun doch noch einmal: „Mutti, was ist eigentlich in den Kartons?“
Mutti war sofort abgelenkt und Dani zog ein Gesicht, aber man merkte, dass sie die Frage auch interessierte.
Tanja nicht, die aß weiter. Jetzt hatte sie tatsächlich die Reste aus der Klopse-mit-Sauce-Schüssel auf ihren Teller geleert und noch Reis darauf gehäuft!
„Ach, es sammelt sich eben immer so viel an, das kennt ihr doch auch?“
Dani stimmte eifrig zu, Katrin nickte heuchlerisch. „Du meinst, Geschirr und solche Sachen?“
„Genau, auch Tischwäsche und so etwas… wollt ihr davon nicht etwas haben?“
Hm. Dani war sofort positiv gestimmt, Tanja futterte – und Katrin selbst besaß zweimal vier Sets und keine Tischdecke, nicht einmal für den Notfall. Welcher Notfall sollte das überhaupt sein? Sie stimmte zu, als Mutti nach den Kisten angelte, und half ihr, alles unfallfrei auf den Boden zu stellen.
Tanja verschlang die Reste und saß dann untätig da, während Katrin und Dani wenigstens den Tisch abräumten.
„Aber tut es nicht in die Spülmaschine, das mach ich lieber selbst – das muss man richtig machen!“
„Mutti, wir haben beide selbst eine Spülmaschine, wir können das. Aber wie du willst!“
Sie stapelten alles sauber auf, wischten aus langjähriger Gewohnheit auch den Tisch feucht ab und hievten dann die erste Kiste auf die Tischplatte.
Mutti hob den Deckel. Tatsächlich: Tischdecken! Riesige Decken, die sich nur für Hochzeitstafeln eigneten, dazu ein gewaltiger Stapel Damastservietten, leider zum Teil recht zerschlissen.
„Schön, nicht?“ Mutti sah gerührt auf die Stoffwolken.
„Hast du die geerbt?“
Das trug Dani einen freundlichen Blick ein. „Von Vatis Großmutter Dorothea. Hier, in der Decke steht DH, Dorothea Heinrich. Die waren sehr reich… Katrin, wäre das nichts für dich?“
Katrin schüttelte bedauernd den Kopf. „Mein Tisch ist dafür viel zu klein. Und ganz ehrlich, ich lade nie mehrere Leute ein. Wir alle gehen in dem Fall lieber essen. Indisch, ins Tadsch Mahal – oder Chinesisch, in den Kaiserpalast.“
„Chinesisch mag ich auch“, ließ sich Tanja vernehmen. „Kennst du Wan-Tans?“
„Klar. Lecker, aber fettig. Dieses ganze frittierte Mistzeugs, das sollte man wohl lieber ganz selten… Kennst du Huhn extrascharf mit acht Gemüsen? Das ist im Kaiserpalast fantastisch.“
Tanja brummte etwas und fixierte Mutti. Sie wollte doch nicht etwa noch einen Nachtisch?
Mutti ignorierte sie aber und öffnete die nächste Kiste, die dieses Mal Dani unter der Anrichte hervorgeangelt hatte. Du lieber Himmel, weitere Tischdecken!
Bestickte Decken.
Mit passenden Servietten.
Wohlstandsmüll aus den Sechzigern.
Dani sah die Stapel begeistert durch und suchte sich vier Decken mit den dazugehörenden Servietten aus.
„Kannst du die wirklich gebrauchen?“, fragte sie leise und ungläubig.
„Wieso, die sind doch schön?“
„Und deshalb adoptierst du sie?“
„Katrin, möchtest du denn nichts? Schau mal, hier eine Weihnachtsdecke, die hat meine Großtante Heidi noch selbst gestickt!“
„Großtante Heidi? War das die mit dem Verfolgungswahn?“, rutschte es Katrin heraus.
„Äh – ja, aber das war erst viel später. Du hast doch bestimmt nur eine Weihnachtsdecke, oder? Und stell dir mal vor, wenn du auf die Wachs kleckerst oder Glühwein, dann brauchst du doch eine zum Wechseln?“
Katrin starrte ihre Mutter an. „Mutti, das klingt wie aus einer anderen Welt! Ich dekoriere Weihnachten nichts. Ich habe überhaupt keine Weihnachtsdecke, trinke keinen Glühwein und zünde keine Kerzen an. Zugegeben, die Decke ist hübsch, aber bei mir würde sie nur in einem Regalfach einstauben, das arme Ding. Wie wäre es denn mit einem Flohmarkt? Da könnte man noch etwas verdienen und dann vielleicht die Hälfte spenden und für den Rest Weihnachtsdeko kaufen. Ich glaube, St. Korbinian macht vor dem ersten Advent immer so eine Art Basar mit Flohmarkt. Und sowas ist ja auch lustig, nicht?“
„Ja, das ist eine gute Idee!“, rief Dani, „da hab ich schon die tollsten Sachen gefunden, Mutti! Weißt du noch, dieses krasse Bowlengefäß? Mit zwölf Henkelgläsern?“
Mutti nickte unzufrieden, Katrin fragte: „Trinkt ihr echt so viel Bowle? Im Sommer ist das ja ganz lecker…“
Dani winkte ab. „Ach wo. Georg ist gegen Erdbeeren allergisch. Und wann sitzen wir schon zusammen im Garten…“ Sie nahm einen großen Schluck Wein und griff nach der Flasche, um ihr Glas wieder aufzufüllen.
Katrin schwieg; ihr lagen zwar zwei Kommentare auf der Zunge, aber weder die Frage, wozu Dani dieses Bowlengefäß dann eigentlich brauchte, noch die Bemerkung, sie habe doch eigentlich schon genug getrunken, wenn man bedenke, dass sie mit dem Auto da sei, würde die einigermaßen friedliche Stimmung erhalten. Verdammt, Dani war sechsunddreißig, die musste das doch wohl selbst wissen?
„Mutti!“, quengelte Tanja, „Gibt´s denn keinen Nachtisch?“
„Ach, entschuldige, Kind, natürlich! Erdbeereis mit Schokoladensauce und Schlagsahne, das magst du doch?“ Mutti ließ ihren Blick über ihre älteren Töchter gleiten, die beide resigniert nickten.
„Aber für mich bitte ohne Sauce und Sahne“, bat Katrin.
„Du bist so eine Spaßbremse!“, zeterte Tanja prompt los.
„Ach, du hättest mehr Spaß, wenn mir davon schlecht würde? Warum eigentlich?“
„Du tust doch bloß so! In Wahrheit willst du mir bloß den Appetit verderben!“
„Du hast jetzt echt noch Appetit?“, erkundigte sich Dani hörbar erstaunt. „Hast du nicht praktisch alles alleine weggefuttert?“
„Und du hast schon fast die ganze Flasche Wein weggepichelt!“
„Kinder! Streitet doch nicht! Es ist wirklich genug für alle da!“