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"Scheuerleins sind im Golfclub." Diese Tatsache nagt an Josies wohlhabenden, aber in Waldstetten noch nicht ganz anerkannten Eltern. Josie findet das zwar eigentlich albern, aber die Mischung aus Sehnsucht nach sozialem Aufstieg, Mitleid mit den Finanzproblemen einer wirklich vornehmen Waldstettener Familie (speziell mit deren hochverschuldetem Sohn, einem früheren Schulfreund) und einem unwiderstehlichen Angebot ihres Vaters bringt die angehende Unidozentin Josie dann doch dazu, auf eine allseits nützliche und gewünschte Ehe einzugehen. Damit handeln sie und ihr frischgebackener Mann sich aber die Verwicklung in zwei Morde, eine Entführung, einen Bombenanschlag und die Umtriebe des Leisenberger Zockermilieus ein. Aufregende Zeiten, bis aus der strategischen Ehe eine wirkliche wird und sich herausstellt, wer hinter all diesen Verbrechen steckt! LESEPROBE: "Josie hat uns vorhin erzählt, worüber sie gerade arbeitet", verkündete ihr Vater. "Über die Rolle des Grafen Roderich bei der Schlacht von Mühlhausen." "Mühldorf", verbesserte Josie automatisch. "1322." "Oh", machte Regine von Collnhausen, die offenbar nichts mit diesen Informationen anfangen konnte. "Interessant", fand ihr Mann. "Christopher interessiert sich ja auch sehr für Geschichte." Chris sah drein wie vom Donner gerührt. "Ja, klar", sagte er dann. "Deshalb habe ich in Geschichte auch viermal unterpunktet." Josie entfuhr ein Prusten. […] "Ihr habt ja beide keine Vorspeise", stellte Papa fest und musterte Josie und Chris zufrieden. "Wahnsinn!", murrte Josie. "Warum erfindet ihr heute lauter so alberne Gemeinsamkeiten? Kommt als nächstes: Josie, du hast ja Schuhe an! Oh, Chris hat auch Schuhe an! Ihr müsst Seelenverwandte sein! Was zum Henker soll das alles?" "Jo-se-phi-ne! Du bist unhöflich!" Mama schaute regelrecht panisch drein. Horri gackerte, Chris verschluckte sich an seinem Wein und lachte dann hilflos, bis Josie ihm einmal hart auf den Rücken schlug. "Wieder okay?"
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Seitenzahl: 544
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Alle Personen, Namen und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden!
Alles frei erfunden!
Imprint
Verschwunden. Kriminalroman
Elisa Scheer
published by: epubli GmbH, Berlin
www.epubli.de
„Guck mal, so sollen die Anzeigen aussehen!“ Janne reichte Josie eine gefaltete Karte über den Schreibtisch. Die nahm sie entgegen und inspizierte sie. Gutes, schweres Papier, cremefarben. Vorne die üblichen verschlungenen Ringe, innen drin der übliche Text:
Wir heiraten
Janne Metz und Franz Walhauser
02.05.1013 13:00
St. Korbinian in Leisenberg.
Unoriginell. Aber das sagte sie besser nicht, überlegte Josie, Janne war nun mal konservativ und außerdem schnell beleidigt. Sonst war sie okay, und eigentlich war sie auch keine Kollegin, sondern lediglich jemand, mit dem sie sich das Büro teilte, ein Winzkämmerchen im Historikerbau der Leisenberger Uni. Gleichzeitig waren die beiden ohnehin selten anwesend.
Jannes Schwerpunkt war Bildungsgeschichte, vor allem mittelalterliche Universitäten, Josie dagegen sammelte gerade Material für ihre Habilitation über die rätselhafte Politik des Grafen Roderich, der sich etwas unentschlossen in den Konflikt zwischen Habsburgern und Wittelsbachern um die Kaiserkrone im 14. Jahrhundert eingemischt hatte und in der Schlacht bei Mühldorf verschwunden war – gefallen? geflohen? Die Quellen waren sich da nicht einig, und Roderichs jüngerer Bruder Willibald hatte ihn beerbt und die Dynastie fortgesetzt. Roderich – ein bescheuerter Name, aber jeder kannte ihn, vom Herzog-Roderich-Platz her. Der Herzog war ein später Nachfahre, kurz von dem Reichsdeputationshauptschluss, der auch Leisenberg die Souveränität gekostet hatte…
„Und?“
Josie fuhr zusammen und nickte. „Entschuldige. Ja, sehr elegant. Nicht so überladen wie manche andere. Das Standesamt schreibt ihr nicht drauf?“
„Da wollen wir ja noch keine Gäste haben. Nur die Trauzeugen, und die wissen sowieso Bescheid. Zur kirchlichen Trauung kommst du doch auch?“
„Echt?“
„Ja, logisch!“ Janne strahlte sie an.
„Danke schön, da komme ich gerne. Habt ihr irgendwo einen Hochzeitstisch?“
Janne nannte ein recht teures Einrichtungshaus in der Burggasse. Josie seufzte innerlich und hoffte, dass es dort auch Kleinigkeiten gab, während sie sich den Termin notierte. Janne sah währenddessen auf die Uhr, schrak zusammen, rief: „Himmel, ich muss ja weg!“, warf alles in ihre riesige Umhängetasche und enteilte.
Halb zwei… kein Grund, schon aufzubrechen, außerdem hatte sie ab zwei noch Aufnahmegespräche in ihr Seminar „Die Gründung Leisenbergs – Mythen und Wahrheit“. Angesichts des entlegenen Themas rechnete sie mit etwa zwanzig Leuten, die in begehrteren Kursen wie „Barbarossas erster Italienzug“ nicht mehr untergekommen waren.
Sie aß schnell das Käsesandwich, das sie sich vorhin geholt hatte, und trank eine Flasche Wasser und einen Espresso, räumte die Unterlagen für ihr aktuelles Buch „Einführung in die Geschichte der Kreuzzüge“ beiseite und sah erwartungsvoll zur Tür. Kurz vor zwei klopfte es zaghaft, und als sie öffnete, fiel sie fast um: Der lange Gang war voller Studenten!
„Meine Damen und Herren, Ihnen ist aber schon klar, dass das hier die Gründung Leisenbergs ist und nichts mit Gold, Kronen und prächtigem Schlachtengetümmel?“
„Wissen wir!“, rief jemand. „Leisenberg ist doch cool!“
„Na gut. Aber mehr als fünfunddreißig Leute kann ich nicht aufnehmen. So viele Arbeiten lassen sich aus dem Thema auch wieder nicht herausschnitzen. Wer ist denn die oder der erste?“
*
Zwölf Leute hatte sie abweisen müssen, erinnerte sie sich, als sie gegen sechs nach Hause lief. Schön, in der Uni zu arbeiten und an der Uni zu wohnen. Kurze Wege, da konnte man nicht meckern. Die armen zwölf! Aber es gab sicher ein noch abwegigeres Thema als ihres, und da konnten sie dann ja reingehen… Sie hatte früher auch nicht immer ihre Wunschkurse erwischt… Typisches Elternsprech.
Immerhin hatte sie jetzt 35 Anmeldezettel, und jeder hatte sich auch schon ein Arbeitsthema ausgesucht. Es war ohnehin schon ganz schön spät für einen Anmeldetermin, aber das lag ja auch daran, dass dieses Seminar wie auch zwei andere nachträglich hatte eingerichtet werden müssen, da einige andere ausgefallen waren.
Egal. Mit den Referaten würde sie eben etwas später anfangen. Kurzreferate, dann schaffte man drei bis vier in einer Doppelstunde.
Aber jetzt war Wochenende! Sie schleifte ihre Unitasche mit dem Kreuzzugskram und den Korb mit ihren Einkäufen hinauf in den zweiten Stock und schloss auf. Sie liebte ihre Wohnung, klein, voll die Siebziger, aber praktisch und zentral. Einfach ein Glücksgriff – und wozu brauchte eine allein denn mehr als zwei Zimmer? Eins fürs Gesellige und eins fürs Private, also Schlafen und Arbeiten. Die Küche war funktional, das Bad in Ordnung – und die Miete nicht hoch.
Und sie hatte gestern schon geputzt, das war fast das Allerbeste. Also musste sie nur noch schnell die Einkäufe verräumen und sich ein bisschen frisch machen, dann konnte sie nach Waldstetten fahren, „heim“, sozusagen. Obwohl sie seit acht Jahren nicht mehr dort wohnte – und das auch nie mehr gewollt hätte – dachte sie immer noch „daheim“.
Merkwürdig eigentlich. Vielleicht blieb man in der einen oder anderen Beziehung tatsächlich immer Kind…
Sie wusch sich das Gesicht und puderte sich neu, kämmte ihre dunkelbraunen halblangen Locken, putzte ihre Brille und setzte sie wieder auf und musterte stirnrunzelnd ihre Kleidung. Nein, Jeans, ein Markenpolo und ein blauer Tweedblazer, das war völlig okay. Nichts Billiges, das Mama ärgern würde. Mama hätte sich ja schon sehr gefreut, wenn sich alle ihre Töchter bei angesagten Designern einkleideten – aber nur Letti tat ihr den Gefallen.
Gut, Letti war schon über dreißig und brav verheiratet. Horri ging noch zur Schule, da reichte es doch wohl, wenn sie ab und zu ein Paar neiderregend edler Designerjeans in der Schule zur Schau trug. Und sie selbst musste es in der Uni ja auch nicht übertreiben. Für bessere Anlässe hatte sie durchaus Kostüme und das eine oder andere schicke kleine Schwarze – aber für das allwöchentliche Abendessen am elterlichen Tisch? Wirklich nicht.
Musste sie irgendetwas mitnehmen? Sie drehte sich im Flur langsam einmal um sich selbst und entdeckte die DVD, die sie ihrer Mutter leihen wollte – „Desirée“ mit Marlon Brandon und Jean Simmons. Den Roman kannte Mama praktisch auswendig, seit frühester Jugend, aber der uralte Film war ihr offenbar entgangen – erst letzten Freitag waren sie darauf gekommen.
Josie steckte die DVD in ihre Tasche und grinste. Sie selbst war bei dieser Bonaparte-Manie Mamas noch am besten weggekommen, Letizia und Hortense waren weitaus blödere Namen als Josephine!
Vor allem Horri… die Lehrer, die nicht wussten, ob sie das deutsch oder französisch aussprechen sollten, und französisch war es dann auch noch so ein Zungenbrecher – Hortense Trunz. Was hatte Mama sich dabei eigentlich gedacht? Dass Horri möglichst schnell heiraten würde, um wenigstens den Nachnamen loszuwerden?
Richtung Markt gab es in der Avenariusgasse eine Tiefgarage, in der Josie einen Stellplatz gemietet hatte. Dorthin eilte sie nun, fuhr ihren Golf aus der Garage und machte sich auf den Weg nach Waldstetten.
Typischer Vorort – kaum Ortszentrum, nur einige Geschäfte um den kleinen Bahnhof, an dem die S-Bahn fuhr und ab und zu auch ein Bus hielt. Josie schlich durch die verkehrsberuhigten Straßen bis in den Wendelsteinweg und parkte vor Nummer 6.
Das Haus war wirklich schön, fand sie immer wieder. Eine richtige große alte Villa, die aussah, als wohnte die Familie seit Generationen darin, dabei hatten die Eltern sie erst vor zehn Jahren gekauft. Die Vorbesitzer waren kurz nacheinander gestorben, die Erben konnten sich nicht einigen und wollten dann doch lieber den Erlös teilen.
In der großzügigen Einfahrt standen der Phaeton von Papa und der schwarze Porsche von Mama, beide frisch gewaschen und nobel im letzten Tageslicht schimmernd.
Gut, dass ihr recht ungewaschener A3 auf der Straße stand! Aber dass der dicke Audi von Letti und ihrem Mann noch fehlte? Die waren doch immer so besonders pünktlich?
Sie klingelte, der Summer ertönte und in der Tür stand Elli, das Mädchen. Dass ihre Eltern sich ein Hausmädchen und eine Haushälterin/Köchin leisteten, fand Josie insgeheim dekadent – aber sie hätte diesen Riesenhaushalt auch nicht selbst managen mögen. Schon gar nicht alles putzen!
„Hallo, Elli, wie geht´s?“, grüßte sie freundlich. Elli lächelte. „Alles prima. Ihre Eltern sind im Wohnzimmer.“
Ja, wo sonst um diese Zeit?
„Danke schön.“
Das Wohnzimmer war eindeutig größer als Josies ganze Wohnung. Intarsienparkett, Stuckleisten, französische Fenster auf die Terrasse hinaus, mehrere Sitzgruppen – eine blassgraue vor dem verschnörkelten Kamin, eine dunkelgraue ganz plebejisch von dem Riesenfernseher, in einer anderen Ecke eine Musikhörgruppe aus vier schwarzledernen Relaxsesseln, und dann noch eine apricotfarbene Recamière mit Blick nach draußen.
Zum Träumen für die Dame des Hauses, hatte sich der Innenarchitekt wahrscheinlich gedacht.
Auf der Recamière lümmelte Horri, in Camouflage-Jeans und schwarzem Kapuzenshirt, vor dem kalten Kamin saßen ihre Eltern bei einem kleinen Sherry.
Josie feixte innerlich und trat ein.
„Josie, schön, dass du so pünktlich bist!“
Mama stellte ihr Gläschen ab und erhob sich elegant. Josie trat zu ihr, hauchte ihr ein Küsschen auf die Wange und begrüßte ihren Vater, dann setzte sie sich dazu und akzeptierte ebenfalls ein halbes Glas Sherry.
„Und, wie war deine Woche?“, fragte ihr Vater.
„Recht gut, danke. Meine Seminare im Sommersemester werden sehr ordentlich besucht sein, und mit dem nächsten Lehrbuch komme ich zügig voran.“
Papa nickte billigend, Mama seufzte.
„Sehr schön, mein Kind – aber sonst?“
„Wie – sonst?“, fragte Josie mit weit aufgerissenen Augen zurück, obwohl sie genau wusste, was Mama meinte.
„Hast du jemanden kennen gelernt, meint sie“, ertönte es von der Recamière. „Du kennst Mama doch, sie giert nach einem zweiten Schwiegersohn und weiteren Enkelchen.“
„Hor-tense!!“ Mama war beleidigt.
„Ach, das hast du gemeint, Mama?“ Josie grinste. „Sorry, kein Interesse.“
„Aber Josie, du musst doch – ich meine, jede Frau – du kannst doch nicht immer nur – das ist doch unnatürlich!“
„Mama, sprich doch mal einen Satz zu Ende, dann wird auch klar, was du eigentlich meinst! Aber ich bin so ganz zufrieden, und es reicht doch wohl, wenn Letti dich glücklich macht. Du erzählst doch immer, wie niedlich die kleine Seraphina ist. Und sie ist ja auch ein netter Fratz. Kannst du damit nicht zufrieden sein?“
Ihre Mutter strahlte auf. „Ach, Josie, das weißt du ja noch gar nicht!“
Während ihrer Kunstpause gab Horri genervte Geräusche von sich, und Josie bemühte sich, gespannt oder doch wenigstens interessiert dreinzuschauen. Es konnte etwas Spannendes oder nur etwas aus dem Bereich gekrönter Häupter sein.
„Kate ist schwanger“, riet sie also.
„Was – ja, aber das wissen doch nun wirklich alle, der Geburtstermin ist doch schon im Juli!“ Mama war entrüstet.
„Ja, sorry, ich lese diesen Quatsch halt nie. Also, was weiß ich Tolles noch nicht?“
„Letti ist schwanger!“
„Ah. Schön, ja. Glückwunsch. Ist sie heute deshalb noch nicht da?“
Mama nickte. „Ihr ist ja so übel, der Armen!“
„Genau wie Kate damals“, ließ sich Horri mit Grabesstimme vernehmen. Josie gluckste. „Ich dachte, man spricht da von Morgenübelkeit?“
„Mädchen! Gibt es keine anderen Themen?“ Papa schenkte sich noch einen Sherry nach, und Mama beobachtete das unzufrieden. „Aber Wolfgang – noch einer? Du wolltest doch…?“
Papa kippte das Gläschen und stellte das Glas beiseite. „Solche gynäkologischen Erörterungen schätze ich eben nicht so sehr.“
„Papa! Sag bloß, du warst bei unseren Geburten nicht dabei?“, spottete Josie.
„Nur bei Letti“, petzte Mama, „danach hatte er Ausreden. Jedenfalls ist die Nachricht doch fantastisch, nicht? Vielleicht bekommen die beiden endlich einen Stammhalter!“
„Stammhalter!“, murrte Horri, und Josie pflichtete ihr bei: „Mama, du klingst, als sei ein Bub endlich ein richtiges Kind und ein Mädchen bloß so naja. Das ist ja sowas von oldschool!“
„Was?“
„Altmodisch“, erläuterte Horri freundlich und rappelte sich von der Recamière auf. „Gibt´s nicht bald mal was zu futtern? Mir hängt der Magen in den Kniekehlen!“
„Hor-tense! Was für eine Ausdrucksweise! Kannst du dich nicht um etwas mehr Damenhaftigkeit bemühen – und ich dächte, wir hätten vereinbart, dass man sich abends zum Essen umkleidet? Was ist das denn für eine entsetzliche Aufmachung?“
Josie streckte Horri triumphierend die Zunge heraus.
„Jo-se-phi-ne!!“
Die beiden kicherten immer noch, als die Hausdame gravitätisch meldete, das Dinner sei serviert. Kopfschüttelnd folgte Josie den anderen ist das ebenfalls großzügig bemessene Esszimmer. Welchen Lebensstil sich ihre Eltern zugelegt hatten! Total übertrieben – zum Essen umziehen, Personal, diese Riesenhütte, dynastische Erwägungen…
Na, wenn es ihnen Spaß machte? Vielleicht brauchte man so etwas in Waldstetten. Sonst war hier ja auch nichts los.
Während die Suppe aufgetragen wurde, durften Horri und Josie sich nicht ansehen, um nicht wieder loszuplatzen; danach begannen sie sittsam zu löffeln. Tomatensuppe mit Croutons, nicht weltbewegend, aber durchaus schmackhaft, fand Josie und sagte das auch.
Böser Fehler.
„Möchtest du noch eine Tasse Suppe?“
„Danke, Mama, nein. Ich muss ja noch etwas Platz für das Übrige lassen.“
Mama seufzte. „Kind, isst du eigentlich genug? Mir scheint, du wirst immer dünner!“
„Natürlich esse ich genug. Und ich wiege immer das gleiche. Meine Klamotten passen auch immer noch, nichts schlottert. Du musst dir keine Sorgen machen!“
„Ach, ich weiß nicht… du siehst so richtig – wie soll ich sagen – ja, asketisch aus?“
Josie prustete Suppe über den Tisch und entschuldigte sich für die Sauerei auf dem blütenweißen Tischtuch. „Aber wenn du auch solche Sprüche raushaust, Mama!“
„Warum, was habe ich denn gesagt? So mager, wie du bist…“
„Ich bin nicht mager, sondern schlank. Und durchaus gut trainiert. Horri hat auch nicht mehr Speck auf den Rippen – und du übrigens auch nicht!“
„Horri! Horri ist ja auch noch ein Kind.“
„Mama!“ Jetzt war Horri beleidigt.
„Mit siebzehn? Nicht wirklich. Und, wie gesagt, du bist auch nicht gerade dick.“
„Ich achte eben auf meine Figur“, entgegnete ihre Mutter mit einem Rest an Würde.
„Na eben. Das tue ich auch.“
„Aber wozu? Du suchst ja gar nicht nach einem Mann!“
„Ach – und du suchst?“ Horri hatte sich schnell wieder erholt.
„Hor-tense!“
Horri hielt drei Finger hoch und grinste Josie zu, die mit fünf Fingern gegenhielt.
Bevor Mama fragen konnte, was das nun wieder bedeuten sollte, wurde der Hauptgang aufgetragen – Forelle Müllerin mit Herzoginkartöffelchen und jungen Brechbohnen. Lecker, fand Josie und aß munter drauf los.
„Kann ich jemandem anbieten, ab und zu auf Lady in Black zu reiten?“, wollte Horri wissen – aber wenigstens nicht mit vollem Mund, das hätte Josie nicht gelten lassen.
„Wenn sie wirklich reiten kann, warum nicht? Du hast ja genug für die Schule zu tun, mit diesem fürchterlichen G 8, nicht dass das Pferd zu wenig bewegt wird“, antwortete ihr Vater, der gerade methodisch seinen Fisch zerlegte. „Wer ist es denn?“
„Tessa“, kaute Horri nun doch.
Beide Eltern sahen fragend drein.
Horri schluckte herunter und schaute ergeben drein. „Teresa von Collnhausen. Kennt ihr doch, oder? Sie ist in meinem Mathekurs. Die volle Null in Mathe, übrigens.“
„Tatsächlich?“ Die Eltern sprachen beinahe im Chor. „Warum hat Teresa denn kein eigenes Pferd?“
Horri zuckte die Achseln und angelte nach den Kartoffeln. „Sie sagt, ihre Eltern wollen das nicht, weil sie so miese Noten hat. Aber ich glaube, die wollen bloß das Geld sparen.“
„Sparen? Die Collnhausens?“
„Ja, Mama, warum nicht? Geiz ist geil, weißt du doch.“
„Hor-tense!“
Horri hielt vier Finger hoch und zog ein unschuldiges Gesicht. Josie starrte auf ihren Teller, um nicht loszuprusten. Die Collnhausens kannte sie zwar auch, aber sie fand sie eher uninteressant.
Zugegebenermaßen die reichste und vornehmste Familie in Waldstetten – aber was war schon Waldstetten? Außerdem waren die Collnhausens unglaublich stereotyp, fand sie – er saß in diversen Aufsichtsräten, sie in allerlei Wohltätigkeitskomitées und Kunstvereinen, der Sohn gab den Playboy und die Tochter das verwöhnte Püppchen. Kein Kitschfilm konnte platter sein!
Und ob Tessa Collnhausen sich ein Pferd leisten konnte oder nicht, war ihr erst recht herzlich gleichgültig.
„Es ist doch nicht so tragisch, wenn Teresa nicht so gut in der Schule ist“, meinte Mama tatsächlich. „Ich meine – braucht sie denn das Abitur?“
„Stimmt“, grinste Horri und warf Josie einen verschlagenen Blick zu, „früh heiraten kann sie auch als Idiotin.“
„Hor-tense!“
Horri hielt Josie die Hand hin, und die kramte ächzend einen Fünfeuroschein aus der hinteren Hosentasche. Jeden Freitag das gleiche – aber Horri verdiente sich ihre Wettgewinne ja redlich, jedes Familiendinner war auf seine Weise lustig. Andererseits war das Geld auch leichtverdient, denn Mama auf die Palme zu bringen, war wirklich nicht gerade schwierig. Für fünf kleine Frechheiten fünf Euro?
Egal, sie verdiente so schlecht nicht, und Horri war immer noch Taschengeldempfängerin.
„Ernsthaft, Mama“, mischte sie sich dann hastig ein, bevor Mama nach dem Sinn dieser Finanztransaktion fragen konnte, „Das ist doch Unsinn! Warum sollte Tessa keine Bildung brauchen? Wer sagt denn, dass die Collnhausens immer so reich sein werden? Soll Tessa im schlimmsten Fall bei Aldi an der Kasse sitzen, weil sie sonst nichts gelernt hat? Ohne Abi reicht es doch nicht einmal für diese Tussenjobs in den Kunstgalerien.“
„Josie, du bist immer so negativ“, klagte ihre Mutter. „Die Collnhausens haben ein immenses Vermögen. Bist du nicht eigentlich mit Christoph Collnhausen bekannt?“
Josie zuckte die Achseln. „Man sieht sich ab und an bei Festen, und wir waren im gleichen Mathekurs.“ Sie gackerte. „Horri, ich glaube, das mit den Mathegenies ist genetisch bedingt – Chris konnte auch nicht gerade viel. Knapp, dass er im Abi nicht ins Mündliche musste.“ Sie kicherte noch einmal. „In der Abizeitung hat er nur eine Rubrik gewonnen.“
„Nämlich?“ Ihre Mutter klang direkt begierig.
„Wer fährt als erster einen Porsche zu Schrott? Ich glaube, das hat er zwei Tage nach dem Abi geschafft.“
Mama lächelte nachsichtig. „Mein Gott, jung und munter… ist er eigentlich älter als du?“
„Keine Ahnung.“ Josie aß den letzten Bissen und legte ihr Besteck ordentlich auf den Teller. „Sehr gutes Essen, mein Kompliment an Frau Bösel.“
„Das mit dem Pferd finde ich aber tatsächlich merkwürdig“, beteiligte sich nun auch ihr Vater am Gespräch. „Ich muss mich da mal intensiver umhören, aber ich glaube, ich habe so etwas läuten hören, dass die Collnhausens tatsächlich irgendein Geldproblem haben. Vielleicht hat er irgendein größeres Geschäft in den Sand gesetzt.“
„Aber Wolfgang – drück das doch nicht so – so – so deutlich aus! Das ist unfein“, mahnte Mama.
„Claudia, krieg dich wieder ein, wir sind hier nicht in der Tanzstunde. Und ich will auch nicht, dass unsere Kinder sich nicht mehr trauen, die Wahrheit deutlich auszusprechen!“
Mama schwieg beleidigt.
„Seid ihr jetzt eigentlich im Golfclub?“, streute Horri noch Salz in die Wunde. „Da soll ja nächste Woche eine tolle Party stattfinden. Tessa hat gesagt, wenn sie auch Lady in Black reiten darf, nimmt sie mich als ihren Gast auf die Party mit.“
„Das ist ja sehr schön für dich“, lobte Mama matt.
Der Vater brummte. „Nein. Aufnahmesperre. Man müsste für uns eine Ausnahme machen. Ich meine, die Aufnahmegebühr wäre ja kein Problem…“
„Was kostet sowas?“, fragte Josie aus Höflichkeit.
„Fünfundzwanzig pro Nase“, antwortete ihr Vater mit wegwerfender Geste.
„Fünfzigtausend Euro, bloß um einen Ball durch die Gegend zu schlagen? Boah!“ Josie war ehrlich entsetzt. „Im Leisenberger Prinzenpark gibt´s einen Minigolfplatz, reicht der nicht?“
„Josie, du hast wirklich kein Gespür für die bessere Gesellschaft“, tadelte ihre Mutter und dirigierte Elli, die das Dessert auftrug, mit einer eleganten Handbewegung.
„Nee, Mama, da hast du aber mal Recht“, stimmte Josie ihr zu und reckte den Hals, um in die silbernen Schüsselchen zu spähen. „Ist das Eis? Au fein!“
„Nein. Panna cotta mit kandierter Limone.“
„Danke, dann verzichte ich. Wenn ich was hasse, dann den Geschmack von gekochter Milch.“
„Ich auch“, stimmte Horri zu.
„Ihr wisst eben nicht, was gut ist. Das ist ein ganz neues Rezept, ich habe es von Frau Regierungsdirektor Scheuerlein“, erklärte ihre Mutter.
„Oh – eine Regierungsdirektorin kocht neben ihrer Verwaltungstätigkeit auch noch selbst? Sehr fleißig!“, lobte Josie etwas unehrlich.
„Ach, Josie – langsam solltest du dich hier aber auskennen“, grinste ihr Vater. „Natürlich ist Frau Regierungsdirektor Scheuerlein einfach die Frau von Herrn Regierungsdirektor Scheuerlein, und garantiert lässt sie kochen. Stimmt´s, Claudia?“
„Ja, natürlich. Eine Frau als Regierungsdirektor, wo gibt´s denn sowas!“
„In der echten Welt durchaus“, schnappte Josie. „Die Scheuerlein ist selbst also gar nichts? Warum ist dann ein fieses Rezept von ihrer Köchin so heilig?“
„Scheuerleins sind im Golfclub“, gab Mama zu bedenken.
„Ach, und das ist sowas wie eine Heiligsprechung?“
„Josie, du verstehst das nicht. Aber du kennst doch unsere Situation hier in Waldstetten!“
„Jaja“, seufzte Josie, „ich weiß doch. Die Waldstettener Hautevolee. Oder was sich so dafür hält. Aber ganz ehrlich, was ist daran denn so wichtig? Ihr habt hier ein schönes Haus, ihr habt drei ganz, ganz tolle Töchter und eigentlich auch genug zu tun. Und arm seid ihr weiß Gott auch nicht. Was liegt euch an der Billigung von Leuten wie der ollen Scheuerlein und anderen reichen Hohlköpfen?“
„Nana“, machte ihr Vater und zog Josies verschmähtes Schüsselchen vorsichtig zu sich heran. „Harte Worte.“
„Wolfgang! Nicht so viel Süßes! Denk an deinen Blutzuckerspiegel!“
Er warf seiner Frau einen missvergnügten Blick zu und schob das Schüsselchen wieder weg.
„Dass du das fiese Scheuerlein-Zeug magst, Papa?“, wunderte sich Horri. „Und außerdem finde ich, Josie hat ganz recht. Was wollt ihr von den Scheuerleins? Sie ist doof und er ein staubtrockener alter -“
„-Sack“, vervollständigte Josie und feixte in sich hinein.
„Jo-se-phi-ne!“
„Ich schlag dich noch“, flüsterte Josie ihrer Schwester zu. „Zwei hab ich auch schon.“
„Phh! Fünf zu zwei für mich!“, zischte Horri zurück.
„Um die Scheuerleins geht es doch gar nicht“, erklärte ihr Vater. „Wir möchten eben in den Golfclub aufgenommen werden. Das gäbe sehr schöne geschäftliche Möglichkeiten für mich – und für Mama auch interessante Kontakte. Und da Scheuerleins nun mal im Golfclub sind… wie sollen wir denn sonst diese Aufnahmesperre umgehen?“
Josie seufzte. „Jemand Besseres ist nicht im Golfclub? Jemand, den man vielleicht tatsächlich freiwillig kennen möchte?“
„Collnhausens“, schlug ihre Mutter vor.
Horri kicherte. „Tessas Alte? Na, viel Spaß! Ich finde die schon ein bisschen seltsam. Letzte Woche war ich bei Tessa, um ein bisschen Kurvendiskussion in ihren kleinen Hohlkopf zu stopfen – und ich sag euch!“
„Ja, dann sag doch!“, reagierte Josie gereizt. „Jetzt wird es ja vielleicht mal interessant! Wie sind denn die Collnhausens so drauf? Vielleicht kann Papa sie ja erpressen, damit sie euch in den Golfclub reinlassen?“
„Jo-se-phi-ne!“ Das war Papa.
Josie wandte sich zu Horri. „Ich finde, das zählt doppelt. Vier zu fünf. Und jetzt pack mal aus.“
„Ach, sie hat mindestens drei hysterische Anfälle bekommen, die durchs ganze Haus geschallt sind, einmal, weil sie ihre – wie war das? – maronenfarbenen Wildleder-Louboutins nicht finden konnte, dann, weil sie einen Altersflecken auf ihrer linken Hand entdeckt hat und schließlich, weil irgendwas nicht perfekt geputzt war. Die reinste Furie. Und er war knurrig und unhöflich und hat sich dann mit dem Sohn gestritten. Worüber, habe ich nicht mitgekriegt, aber es wurde ordentlich mit Türen geknallt und gebrüllt und Chris ist dann mit hochrotem Gesicht raus und mit diesem affigen TT vom Hof gebraust, dass es nur so gestaubt hat. Tessas Zimmer ist ja genau über dem Portal.“ Das letzte Wort mit gespitztem Mündchen.
„Schade, Erpressung fällt flach. Zicke sein ist nicht strafbar – und wahrscheinlich ist das sowieso schon allgemein bekannt.“
„Frau von Collnhausen ist eine sehr verdienstvolle Frau!“ Mama war entrüstet. „Sie kümmert sich um die Waldstettener Kinderstiftung und um die Ausstellungen im Bürgerhaus. Und sie hat die Adventskonzerte in St. Severin angeregt. Wisst ihr noch, letztes Jahr?“
„Was macht denn die Kinderstiftung?“, wollte Josie wissen. „Das klingt ja wenigstens ganz vernünftig.“
„Sie möchte dafür sorgen, dass sie Kinder in der Grundschule ein ordentliches Frühstück bekommen. Auch hier gibt es Eltern, die ihre Kinder ohne Frühstück in die Schule schicken, stellt euch nur vor! Dafür möchte sie irgendwann im Mai einen Ball veranstalten, um Spenden zu sammeln.“
„Verstehe ich nicht. Mit dem Geld, das so ein Ball kostet, könnte man die Kids doch bestimmt monatelang füttern?“
„Ach, Josie!“
„Gilt nicht“, murmelte Horri.
„Wenn man einen solchen Ball gibt, kommen alle Leute, die sich Spenden leisten können. Die Karten kosten, glaube ich, hundertfünfzig Euro pro Stück – und wenn etwa hundert Leute kommen, sind das doch rund fünfzehntausend Euro.“
„Abzüglich der Ballkosten.“ Josie ließ sich nicht beirren. „Ich finde das keine gute Kosten-Nutzen-Relation.“
„Wo Josie Recht hat, hat sie Recht“, warf ihr Vater ein. „Man erwartet wahrscheinlich exorbitante Spenden von uns, damit sich die ganze Sache irgendwie lohnt. Naja, vielleicht kann man auf so einem Ball den einen oder anderen Kontakt knüpfen.“
„Christens kommen bestimmt“, vermutete die Mutter, „und vielleicht auch Petersens. Nathalie Petersen ist ja ebenfalls sehr an Kunst interessiert – obwohl ich finde, sie hat nicht das angemessene Auftreten. Vielleicht ist sie einfach noch zu jung…“
„Vier Karten sind sechshundert Euro – nicht tragisch“, meinte ihr Vater nachdenklich. „Es ist eben einfach eine gesellschaftliche Verpflichtung…“
„Wieso vier? Wollt ihr Letti und Michi mitnehmen? Muss Letti sich nicht irgendwie schonen oder so?"
„Sie ist schwanger, nicht krank“, entgegnete ihre Mutter und bedeutete Elli, abzuräumen. „Aber Michael kann die Karten für seine Frau und sich wohl selbst finanzieren. Die beiden Karten sind für euch. Es ist ja wohl eine soziale Pflicht, so einen Ball zu besuchen!“
Josie stöhnte. „ Kann ich nicht einfach einen Hunderter abdrücken und daheimbleiben?“
„Nein, das kannst du nicht. Und du hast am siebten Mai auch noch nichts vor, jetzt ist mir das Datum nämlich wieder eingefallen.“
„Und wenn doch?“
„Dann sag das gefälligst ab! Und ich erwarte von euch beiden, dass ihr uns Ehre macht. Korrekte Kleidung und gutes Benehmen. Und keine sozialkritischen Ausfälligkeiten! Denkt doch einmal an euren Vater und mich, wir wollen hier schließlich anerkannt werden!“
„Man könnte meinen, die Waldstettener mobben euch“, murrte Josie. „Na gut, ich gehe mit. Aber ein neues Abendkleid kaufe ich mir nicht, das dunkelblaue wird´s ja wohl tun.“
„Mit anständigem Schmuck, ja. Horri, was wirst du tragen?“
Horri grinste ihre Mutter an. „Da brauche ich wohl ein neues Kleid. Aus dem rosa Ding bin ich bestimmt rausgewachsen, und das cremefarbene hat einen Rotweinfleck. Ich kann ja mit Tessa shoppen gehen.“
„Ich denke, Tessa ist so doof?“, wandte Josie ein.
„In der Schule, ja, aber reiten und Klamotten kaufen kann sie.“
„Die ideale Waldstettenerin“, murmelte Josie, aber leider zu leise – ihre Mutter konnte sie nicht so tadeln, dass sie mit Horri gleichziehen konnte. Wenn Horri siegreich blieb, hatte Josie keine Chance, ihre fünf Euro zurückzubekommen. Auch egal.
Ihre Mutter hob die Tafel auf und man scharte sich nebenan um den (kalten) Kamin, um zu plaudern. Josie konnte wieder Boden gutmachen, denn ihre Mutter war von den Windsors fasziniert und Josie konnte als Historikerin doch das eine oder andere historische Detail beisteuern, auch wenn ihr Thema eher das Mittelalter war. Wie standesgemäß Queen Mum vor ihrer Ehe gewesen war, wusste sie allerdings auch nicht – nur, dass sie die Tochter eines schottischen Grafen (oder so ähnlich) gewesen war.
Mamas Gedanken kreisten schon arg um das Gesellschaftliche. Die Krönung für sie wäre wahrscheinlich, in Ascot in die königliche Loge gebeten zu werden… Josie hätte sich bedankt, sie wusste nicht einmal, wie man die Queen korrekt anredete. Oder musste sie die gewöhnlichen Leute anreden? Und worüber sollte man reden? Und was interessierten sie Pferderennen?
Josie war schon ein unnatürlicher Teenager gewesen, der sich nur mäßig für Pferde interessierte und nicht besonders gut reiten konnte. Letti hatte sich früher sogar auf Turnieren herumgetrieben und Horri ritt ebenfalls ausgezeichnet und liebte ihre Lady in Black, die auch wirklich ein reizendes Tier war. Irgendwo gab es ein Foto – Letti auf ihrem Feuervogel, daneben Horri, ganz klein, strahlend auf einem dicken kurzbeinigen Pony – und sie selbst, in Reitklamotten auf dem Koppelzaun sitzend und ein Buch lesend. Total typisch!
Ihr Vater unterhielt sich leise mit Horri, aber Josie konnte nicht viel verstehen, außer dass es immer noch um die Reitbeteiligung für Tessa Collnhausen ging.
Josie fand, man müsste die Eltern fragen, vielleicht war das Reitverbot ja eine pädagogische Aktion (Tu du erst mal mehr für die Schule!)?
Janne war schlecht gelaunt, kein Wunder, fand Josie. Wenn man seine Hochzeit so legte, dass man – da mitten im Semester – nicht einfach verreisen konnte, war das natürlich ärgerlich.
„Heute ist der neunte“, versuchte sie zu begütigen, „schau mal, es sind doch nur noch zwei Monate und ein paar Zerquetschte, dann könnt ihr euch in die Südsee davonmachen oder wohin auch immer.“
„DomRep“, murrte Janne. „Noch fast zehn Wochen!“
Josie gackerte. „Sozusagen Neuneinhalb Wochen? Schaut euch den Film an, er ist zwar doof, aber vielleicht kriegt ihr ein paar Anregungen für euer Liebesleben.“
„Brauchen wir nicht. Machst du was für diesen Kongress im Juli?“
„Den hier an der Uni oder den in Augsburg?“
„Den hier. Ich hab gehört, es gibt noch gar keinen Vortrag aus unserem Institut.“
„Oh, peinlich. Dann muss ich wohl dran glauben - na, ich glaube, ich habe noch etwas. Fast neuwertig.“
Janne musste doch grinsen. „Erst auf ungefähr zehn Lehrerfortbildungen verbraten?“
„Nicht annähernd! Ich sage ja, fast neuwertig. Einmal bis jetzt vorgestellt, ein Projekt zur Kirchenkritik im Mittelalter.“
„Für Schüler?“, fragte Janne ungläubig. „Das ist denen doch sowas von egal!“
„Nein, das ist schon Mainstream – Investiturstreit, neue Orden, Reformation – wie kommt es dazu, dass sich interne Kritiker abseilen, wie kann man die Einheit wieder herstellen, Krieg im Namen der Religion oder Religion als Kriegsvorwand. Durchaus aktuell! Ich hab ganz gute Texte und Aufgaben dazu, mit Plakatgestaltung, Gruppenreferaten und so weiter. Mache ich gerne, sag das dem Vorstand. Boah, hätte ich heute Abend Lust, an so etwas herumzubasteln…!“
„Mach´s doch!“
„Können vor Lachen!“ Josie angelte nach ihrer Wasserflasche und nahm einen tiefen Schluck. „Ich muss auf einen saudummen Wohltätigkeitsball gehen.“
Janne staunte. „Etwa auf diesen Megaevent? Im Russischen Hof? Der Humanitas-Ball?“
„Heißt er so? Ja, im Russischen Hof. Ein Riesenumstand, wahrscheinlich hauptsächlich blöde Leute, die nur etwas spenden, wenn sie sich vorher den Wanst vollschlagen können. Aber meine Eltern freuen sich eben, wenn wir alle mitgehen. Na, egal. Morgen um die Zeit hab ich´s schon lang überstanden.“
„Mein Gott, andere würden sich nach einer solchen Gelegenheit alle zehn Finger abschlecken – und du hast keine Lust! Du bist ganz schön verwöhnt, weißt du das?“
„Wahrscheinlich.“ Josie holte sich einen Band des großen Kirchengeschichts-Lexikons und begann etwas nachzuschlagen, dann vertiefte sie sich in ihre Arbeit.
Janne seufzte, öffnete den Mund, seufzte erneut und begann, in den Papieren auf ihrem Schreibtisch herumzusuchen.
Josie grinste innerlich. Janne war bildhübsch und wäre rasend gerne auf so einen blöden Ball gegangen; dass stattdessen Josie dort betont lustlos auftauchte, empfand sie bestimmt als Verschwendung von guten Gelegenheiten. Andererseits war Janne doch schon so gut wie verheiratet, also brauchte sie doch keine weiteren Gelegenheiten?
Janne verabschiedete sich bald ins Wochenende, Josie hatte noch Sprechstunde, beriet einige Student/innen bei Problemen mit ihren Hausarbeiten, räumte ihren Schreibtisch auf, schrieb einen Abschnitt ihres neuesten Werks fertig, beantwortete einige Mails, hängte eine neue Terminliste nach draußen und packte dann auch zusammen. Freitagnachmittags war im Historikerbau auch nicht gerade viel los.
Zwei Mädels saßen auf einer der steinernen Bänke in der Halle, als sie vorbeieilte und den Ausgang ansteuerte, ansonsten war niemand zu sehen.
Das Dunkelblaue tat es vollkommen, überlegte sie auf dem kurzen Heimweg. Dazu das silberne Halsband mit den kleinen Türkisen. Ziemlich dekorativ, aber nicht teuer. Ein Urlaubssouvenir.
Andererseits war das Dunkelblaue aus Samt – schwitzte sie da nicht tierisch?
Ach was!
Ansonsten besaß sie nur noch schwarzen Chiffon, und das blöde Ding war ein Fehlkauf gewesen, das konnte sie nicht ausstehen und behielt es nur für den absoluten Katastrophenfall (Ball beim Bundespräsidenten und ein Einbrecher hatte kurz zuvor das Blausamtene gestohlen – oder so ähnlich).
Nein, dann schwitzte sie eben. Außerdem hatte der Russische Hof auch eine Terrasse.
Blauer Samt und die Türkise. Dunkelblaue Pumps, normale Strümpfe… die Fingernägel sollte sie sich noch lackieren. Blassrosa natürlich, so diskret wie möglich – auch wenn Horri wahrscheinlich irgendwas mit buntem Glitzer oder winzigen Tattoos auf den Nägeln hatte und Mama zu Feuerrot oder Magenta gegriffen hatte. Josie gab gerne die langweilige Tochter.
Sie hatte gerade geduscht, ihre Haare auf Vordermann gebracht und sich bis auf Schuhe und Schmuck angezogen, als das Telefon klingelte – Horri war dran.
„Horri, bitte, bitte sag, der Ball ist abgesagt! Ich hab sowas von keine Lust, du glaubst es nicht.“
„Keine Chance! Außerdem will ich auch heute fünf Euro verdienen. Pass auf, wir holen dich um Viertel vor acht mit dem Taxi ab, ja? Komm dann runter.“
„Wieso denn so umständlich? Ich kann doch die paar Minuten zum Hotel laufen!“
Horri schnalzte tadelnd mit der Zunge. Durchs Telefon klang das wie ein Pistolenschuss. „Aber Josie – mal wieder so gar kein Gespür? Papa möchte den großen Familienauftritt; wenn schon Letti und Michael streiken und erst später kommen, müssen wir wenigstens als Viererbande antreten. Und du weißt doch, dass Mama nicht raufkommt, weil sie nicht sehen will, wie beengt du da hausen musst.“
„Mein Gott, ist das albern! Die Wohnung hat fast sechzig Quadratmeter, das ist für eine einzelne Person ja wohl mehr als genug! Hat Mama noch nie etwas von Ressourcenschonung gehört?“
„Sag das doch nicht mir, sag´s Mama. Aber du weißt doch selbst, dass das zwecklos ist.“
„Ja doch. Für meine Töchter ist ein Palast gerade mal gut genug, weiß ich selbst. Gut, um Viertel vor acht stehe ich auf der Straße.“
Noch zwanzig Minuten: Das war dieser Bande mal wieder auf den letzten Drücker eingefallen!
Josie kehrte ins Bad zurück, tuschte sich die Wimpern, puderte ihr Gesicht etwas weniger flüchtig als sonst, kämmte sich noch einmal, putzte ihre Brille, füllte etwas Geld, ein Päckchen Taschentücher und eine halbe Rolle Pfefferminz in ihr silbernes Abendtäschchen, außerdem zweihundert Euro für eine eventuell geforderte Spende (die Karten sollte Papa gefälligst selbst bezahlen, sie hatte um diesen dämlichen Ball ja nicht gebeten) und schlüpfte in die dunkelblauen Pumps.
Etwas zu lesen einzupacken, wäre wohl grob unhöflich? Mit Bedauern kam sie von diesem Plan wieder ab – obwohl sie Horri damit um Längen schlagen konnte. Sie hörte im Geiste „Jo-se-phi-ne!“ in Endlosschleife und grinste vor sich hin. Was hatte Mama nur an sich, dass man in ihrer Gegenwart sofort wieder in die Pubertät zurückkehrte und dringend etwas anstellen musste?
Immerhin hatte sie noch ihr Kunstfellcape, wenn es auch schon etwas räudig aussah. Mama würde natürlich die Nase rümpfen und beziehungsreich über ihren Zobel streichen, und sie selbst würde einen Vortrag über Pelze und Tierquälerei halten. Hatte sie vielleicht irgendwo noch PETA-Flyer?
Nein, besser nicht.
Zwanzig vor acht, ein letzter Blick in den Spiegel. Josie lief die Treppen hinunter und stellte sich auf die Straße. Frische Frühlingsluft, Abenddämmerung… jetzt schön spazieren gehen und tief durchatmen. In Ballsälen roch es immer nach Kerzenwachs, Haarspray, tausend verschiedenen Parfüms und in der Nähe des Raucherraums auch nach Tabaksqualm.
Ein Taxi hielt in zweiter Reihe und Horri gestikulierte aus dem Fenster. Josie beeilte sich, einzusteigen, Mama drehte sich auf dem Beifahrersitz nach hinten um und musterte ihre Tochter kritisch. „Na, immerhin“, sagte sie dann. „Nicht weltbewegend, aber sehr angemessen.“
„Welche Welt soll ich denn auch bewegen? Das Volk im Russischen Hof ist nun wirklich nicht die wahre Welt. Aber danke für das bescheidene Lob.“
Mama nickte gnädig, und Josie war direkt froh, dass sie nur „Volk“ gesagt hatte und nicht, wie ihr schon auf der Zunge gelegen hatte, „Pack“.
Im Handumdrehen war man da – man hätte wirklich zu Fuß gehen können. Der Russische Hof war ungewöhnlich voll, anscheinend war der Ball doch ein begehrteres Event, als Josie sich das vorstellen konnte.
Sie betraten das Foyer, wurden von dienernden Pagen in Richtung Ballsaal gewiesen und legten an der Garderobe ihre Capes und Mäntel ab – Mama mit einer Gestik wie aus einem alten Zarah-Leander-Film, fand Josie. Sie selbst reichte ihr flokatiartiges Ding mit erheblich schlichterer Geste über den Tresen.
Den Ballsaal hatte man üppig in Blau und Gold dekoriert, ausgesprochen abendländisch, dachte sich Josie, als sie sich umsah.
„Da ist Tessa“, quiekte Horri neben ihr und wollte schon davonstürzen, aber ihr Vater hielt sie hastig fest. „Erst wollen wir sicher sein, dass man uns auch bemerkt hat. Und wir begrüßen die Gastgeber, wie es sich gehört. Hortense, du bist kein Kleinkind mehr, benimm dich entsprechend.“
Eine fast lautloses „Männo!“, war Horris einzige Reaktion. Josie grinste ihr zu und murmelte: „Gutes Kleid. Woher?“
„Danke. Glamour&Glitter, an der Uni. Scharf, gell?“ Horri sprach aus dem Mundwinkel und sah sich gleichzeitig mit künstlichem Lächeln um.
Da konnte Josie nur zustimmen – blasses Mintgrün mit silbernen Pailletteneinfassungen, schleierartig geschnitten – und perfekt zu Horris kastanienbrauner Hochsteckfrisur. „Da hast du gleich was für den Abiball nächstes Jahr“, tuschelte sie ihrer Schwester zu.
„Nö, da will ich was Neues! Aber dieses Jahr nehme ich das hier für den Getränkeverkauf. Du kennst das ja, Q11 bedient Q12.“
Die Eltern begrüßten Scheuerleins und waren damit offiziell anwesend, Horri eilte zu Tessa und die Eltern folgten gemächlicher. Wahrscheinlich hoffte Mama, endlich einmal von der ollen Collnhausen zur Kenntnis genommen zu werden!
Josie sah sich mit mäßigem Interesse um und hatte eigentlich keine Lust, bei Collnhausens herumzustehen und auf Gnadenerweise zu warten, aber Papa sah sich leider auffordernd nach ihr um, also setzte sie sich mürrisch in Bewegung.
Horri schnatterte bereits mit Tessa, die ganz in Silber auch sehr eindrucksvoll aussah. Josie beobachtete ärgerlich, wie demütig ihre Eltern darauf warteten, sich den Collnhausens nähern zu dürfen – aber, oh Wunder, Tessas Mutter zwang sich ein etwas mechanisches Lächeln ab und reichte Mama etwas herablassend die Hand. Mamas glückseliges Strahlen tat Josie direkt weh. Papa und Wilhelm von Collnhausen unterhielten sich ebenfalls etwas stockend – aber hier wirkte eher Collnhausen eifrig. Sehr merkwürdig!
Aber gut, sie war nicht hier, um ihre Eltern zu beobachten, sondern um in deren Sinne aufzutreten. Innerlich seufzend wandte sie sich Christopher Collnhausen zu, der ebenfalls unbeschäftigt herumstand.
„Hi, Chris – wie geht´s?“
Christopher reichte ihr die Hand. „Geht schon – und dir, Josie? Wir haben uns lange nicht mehr gesehen.“
„Mir geht´s prima – naja, wir sind wohl auch nicht in den gleichen Cliquen unterwegs, oder? Genaugenommen bin ich meist gar nicht unterwegs, außer, meine Eltern kaufen doofe Ballkarten, so wie heute.“
Er grinste, und seine Mundwinkel kerbten sich dabei auf eine Weise ein, die Josie bei einem anderen, noch unbekannten Mann bestimmt ziemlich sexy gefunden hatte. Chris kannte sie nur leider schon, und seit der Schulzeit fand sie ihn nett, harmlos und verflixt oberflächlich. Ein Bürschlein von fertigem Gelde eben. Eine leises Gefühl der Verachtung konnte sie nie unterdrücken, wenn sie (selten genug) an ihn dachte.
„Ich könnte mir auch etwas Schöneres vorstellen – aber was tut man nicht alles für die lieben Erzeuger…“
Josie sah sich um. „Na, wenn ich mich so umschaue, alle deine alten Kumpels aus der Schulzeit sind ja auch hier – Flo, Torben, Max: Wärst du ohne diesen Ball nicht sowieso mit denen unterwegs?“
Chris verdrehte die Augen. „Nicht unbedingt. Bist du immer noch an der Uni?“
„Ja, klar. Vielleicht bringe ich es ja wirklich noch mal zur Professorin, aber wenn nicht, bin ich auch so ganz zufrieden. Am liebsten schreibe ich.“
„Was denn?“
„Alles Mögliche. Wissenschaftliche Artikel, Lehrbuchbeiträge, Einführungen für Studenten, manchmal lektoriere ich auch Fachbücher anderer Forscher.“
„Klingt ganz spannend.“
Das mit dem Interesseheucheln sollte er aber noch etwas üben…
„Und du?“
Chris zuckte die Achseln. „Mei… ich hab ja BWL gemacht, Schwerpunkt Marketing, aber im Moment habe ich nichts Gescheites.“
„Komisch“, meinte Josie, „dein Vater hat doch nun wirklich die besten Beziehungen, er sitzt doch praktisch in jedem Aufsichtsrat. Kann er dich nicht irgendwo reinbringen?“
„Das wäre ja Protektion, das hat irgendwie -“
„- ein Geschmäckle? Wenn schon! Wenn du dich als gut entpuppst, ist es doch wurscht, und wenn du nichts kannst, schmeißen sie dich schon wieder raus. Dein Vater muss natürlich sagen, dass du dich bewähren musst. Aber wir sind doch ziemlich gleich alt, oder täusche ich mich da? Da wären Amt und Würden langsam schon ganz schön, findest du nicht?“
Chris zog ein mürrisches Gesicht. „Du redest wie mein Vater! Okay, ja, du hast schon Recht. Eigentlich wollte ich mich mit einem Kumpel selbständig machen, der ist Game Designer. Darin liegt das wirklich große Geld.“
„Auch nicht schlecht. Warum eigentlich – hat das nicht geklappt?“
„Schwer zu sagen. Er hatte die Ideen, ich hatte das Kapital – aber jetzt habe ich seit zwei Wochen nichts von ihm gehört, allmählich mache ich mir Sorgen.“
„Seltsam“, fand Josie. „Hast du ihn auch selbst nicht erreichen können?“
„Nein. Es geht immer nur die Mailbox dran. Langsam wird mir das unheimlich. Wenn ihm was passiert ist… er hat das ganze Geld mitgenommen, und er wollte sich mit einem weiteren Geschäftspartner treffen… er ist da ein bisschen vage geblieben.“
Josie legte den Kopf schräg. „Das klingt aber schon ein bisschen obskur, findest du nicht? Wer transportiert das Firmenkapital denn in bar durch die Gegend? Und was sagt dieser andere Geschäftspartner?“
Christoph zuckte die Achseln. „Den Namen kenne ich nicht, den kennt nur Kai. Das war ein Geheimtipp.“
„Großer Gott!“ Josie verzichtete darauf, hinzuzufügen Du Vollpfosten. „Du gibst deinem Kumpel ein Vermögen von – wie viel war es gleich? – damit er mit einem anderen Kumpel, den du gar nicht kennst, mauscheln kann, weil er eine Game-Idee hat? Was war das überhaupt für ein Spiel?“
„Du hörst dich an wie mein Vater. Ich weiß auch, dass das suboptimal gelaufen ist – und die Spieleidee war noch ganz geheim.“
„Aber dieser Kai hatte schon wirklich eine Idee?“
„Na hör mal!“
„Komm, wer sagt dir denn, dass Kai und dieser andere nicht mit deinem Geldköfferchen nach Brasilien geflogen sind und sich dort eine schöne Zeit machen?“
Chris zog ein frustriertes Gesicht. Leider konnte das seine hübschen Züge auch nicht entstellen. Josie fragte sich unwillkürlich, warum ein gutes Gesicht so oft mit einem hohlen Schädel einherging.
„Ich glaube es jedenfalls nicht. Kai ist okay, bestimmt. Den kenne ich schon länger, noch von der Uni. Aber Papa ist natürlich stinksauer, wegen des Geldes. Dabei steckte ein Vermögen in der Idee. Was glaubst du, was die Leute, die I AM KING erfunden haben, abgesahnt haben? Die konnten sich danach zur Ruhe setzen!“
„I am King? Worum geht´s da?“
„Na, um so ein Mittelalterspiel. Du bist der König, sammelst Truppen, eroberst Land, baust Städte, all so was. Wird sehr gerne gespielt. Man kann auch haufenweise Zusatzfeatures kaufen, das bringt dann nochmal Geld, aber ordentlich. Sag mal, hast du nicht so was in der Art studiert?“
Josie lachte. „Ja, mittelalterliche Geschichte ist mein Spezialgebiet. Vor allem Leisenberg, die Situation der Kirche im Mittelalter und die Anfänge der Habsburger. Ich fürchte, das ist alles viel zu unspektakulär für irgendein Spiel. Sollte euer Spiel auch so ein Pseudo-Geschichts-Kram sein?“
„Nein. Naja, nicht direkt. Ach, egal – hast du Lust zu tanzen?“
Josie hatte eigentlich keine Lust, aber ihre Eltern wären glücklich und später, wenn es wieder mal Ärger wegen ihrer uncharmanten Art gab, konnte sie immerhin sagen: „Was wollt ihr eigentlich, ich hab sogar getanzt!“
Also nickte sie und ließ sich auf die Tanzfläche führen. Einen Walzer, einen Foxtrott und eine Rumba schafften sie zusammen, dann schleppte Chris sie an die Bar. Josie folgte ihm leicht verwundert: Jetzt hatte er doch wohl lange genug den Kavalier gegeben, warum seilte er sich nicht ab?
„Champagner?“
„Gerne. Ich bin ja nicht mit dem Auto da.“
Gott, das klang sogar in ihren eigenen Ohren spießig!
Chris grinste und schwang sich auf einen Barhocker. Sie setzte sich daneben, nahm das Glas Champagner entgegen und nippte anerkennend.
„Ey, Chris, wie geht´s?“ Jemand schlug ihm so heftig auf die Schulter, dass er sich an seinem Champagner verschluckte.
Josie erkannte den Übeltäter und verdrehte im Stillen die Augen: Florian Brandeis. Flo, die Nervensäge. Den kannte sie noch aus dem Deutsch-Grundkurs: reich, dämlich, immer zu peinlichen bis verletzenden Scherzen aufgelegt.
„Was machst‘n hier so ganz alleine? Los, komm mit – Torben und ich wollen wohin, wo deutlich mehr los ist.“
„Ich bin nicht alleine hier, du Stoffel“, antwortete Chris und wischte sich die Champagnertropfen vom Smoking.
„Was – wieso? Ach nee, sag bloß? Du bist doch die – wie war doch gleich dein Name – warst du nicht auch auf dem Leo? So´ne Streberin?“
„Ganz recht“, lächelte Josie ihn – wie sie hoffte – tödlich an.
„Und, was machst du hier ausgerechnet mit Chris? Hast du keinen eigenen Alten?“
„Das klingt ja, als sei Chris dein Alter“, konnte Josie sich nicht mehr bezähmen, und Chris prustete vor Entsetzen noch mehr in sein Glas. „Da sei Gott vor!“, keuchte er schließlich. „Flo, lass mich in Frieden, ich will nicht mit dir und Torben saufen gehen. Hinterher ist einem immer drei Tage schlecht. Dazu ist mir meine Zeit zu schade.“
„Als ob du mit deiner Zeit etwas Besseres anfangen könntest – was gibt es denn Wichtigeres als Spaß? Los jetzt!“
„Hau ab, du Depp“, fauchte Chris und schob Flo weg. Der trollte sich murrend: „Langweilige Spaßbremse!“
„Als ob es aufregende Spaßbremsen gäbe“, konnte Josie sich nicht verkneifen, noch bevor Flo außer Hörweite war.
Chris kicherte.
Hatte er sich so sehr verändert? Josie staunte im Stillen. Chris, Flo, Max und Torben – da war doch früher einer so blöd gewesen wie der andere. Diese Nasen mit achtzehn: Golfcabrio, Markenklamotten, Haargel, Fitness, Golfspiel – und hirnlose Blondinen als Groupies.
„Dann seid ihr gar nicht mehr befreundet?“, fragte sie betont beiläufig nach.
„Ach, das schläft so langsam ein. Flo ist immer noch so wie kurz vor dem Abi, und man wächst da doch langsam raus.“ Er grinste schief. „Aber Max ist ganz okay, und auch Torben ist weniger infantil. Der ist sogar verteufelt schlau. Aber das kann eine angehende Professorin natürlich nicht beeindrucken.“
„Och, wenn jemand wirklich gescheit ist… oder meinst du mit schlau, dass er windige Geschäfte macht? Das fände ich dann weniger toll.“
„Weiß ich nicht so genau. Mit dem Spiel hat er jedenfalls nichts zu tun… das heißt – nein, ich bin mir sicher, dass Kai ihn gar nicht kennt. Und Torben ist eher in der Finanzbranche zugange.“ Er seufzte. „Verdammt, wo könnte Kai nur stecken…?“
„Hat er keine Verwandten – Eltern, Freundin, Ehefrau? Irgendwer muss doch wissen, wo er sich rumtreibt? Was ist mit seiner Wohnung?“
Chris sah sie nicht ohne Anerkennung an. „Gute Idee. Morgen versuche ich da was rauszukriegen… immerhin, ich hab über zweihunderttausend da reingesteckt, und so dicke hat mein Vater es im Moment auch nicht, deshalb ist er auch ganz schön sauer auf mich.“ Er wies mit dem Kinn in die Ecke, in der sich die beiden Väter angeregt und die Mütter etwas gezwungen unterhielten.
Jetzt war es an Josie, zu seufzen. „Warum macht Mama das bloß?“
„Wieso, was macht sie denn?“ Chris betrachtete die Elterngruppe ohne allzu großes Interesse. „Sie unterhält sich doch bloß mit meiner Mutter?“
„Unterhalten? Sie schleimt sich ein! Offenbar ist es ihr größter Wunsch, von deiner Mutter gesellschaftlich anerkannt zu werden – warum auch immer. Und dafür, glaube ich, würde sie so ungefähr alles tun.“
„Bei Mama? Warum das denn? Ich meine, natürlich habe ich meine Mama lieb, irgendwie – aber sie kann schon ganz schön nerven, und besonders schlau ist sie nicht, dafür ganz hübsch arrogant. Warum will deine Mutter ihre Anerkennung?“
Josie warf ihm einen nachsichtigen Blick zu. „Deine Mutter ist sowas wie die Königin von Waldstetten.“
Chris verschluckte sich wieder an seinem Champagner, und Josie schlug ihm kräftig auf den Rücken. „Wieder okay?“
„Königin von Waldstetten?“, krächzte er, sobald er wieder sprechen konnte. „Josie, also wirklich! Da hat sie ja ein feines Königreich. Fast schon ein Imperium. Wie viele Untertanen sind das gleich wieder? Und wie viele davon haben noch nie etwas von ihr gehört?“
„Weiß ich doch selbst. Aber Leute wie Mama denken eben in diesen Kategorien. Sie liest auch Klatschzeitschriften und überlegt, ob sie für so ein Hütchen, wie es alle bei Kates Hochzeit getragen haben, zu alt ist oder ob ihr das gut stehen würde.“
„Während dir diese Frage voll am Arsch vorbei geht, schon klar. Äh – welche Kate?“
„Mein Gott, Kate Middleton. Beziehungsweise jetzt Cambridge. Prince William, schon mal gehört?“
„Ach so, der. Und die. Ja, klar. Finde ich jetzt nicht so fesselnd.“
Josie lachte. „Sag bloß, in deiner Clique gibt es keine Mädels, die danach gieren, zu einer solchen Hochzeit eingeladen zu werden? Immerhin gäbe es ja noch Prince Harry zu heiraten?“
„Ist das der Suffkopp mit der Nazi-Uniform? Wer will den schon heiraten?“
„Jemand, der gerne Prinzessin werden möchte? Oh Gott, warum reden wir über solchen Quatsch?“
„Frage ich mich auch. Magst du noch mal tanzen?“
„Ja, okay. Jedenfalls, ich glaube, Mama ist total glücklich, dass deine Mutter sich heute herabgelassen hat, mit ihr zu reden.“
„Stimmt.“ Chris rutschte von seinem Barhocker und reichte Josie die Hand, während er die Elterngruppe musterte. „Meine Eltern sind heute ungewöhnlich jovial. Papa auch – aber die beiden haben sicher was zu reden. Investitionen oder so.“
„Und die Damen reden über Charity und Kunst.“
„Weiberkram“, fand Chris und nahm Josie vorschriftsmäßig in die Arme. Nochmal eine Rumba, freute sich Josie. Die hatte sie am liebsten. Und falls Mama herschaute, musste sie doch wirklich zufrieden sein – die dröge Josie tanzte! Und hatte sich bestimmt eine halbe Stunde ernsthaft mit einem richtigen Mann unterhalten! Vielleicht war sie doch noch eines Tages unter die Haube zu bringen?
Natürlich nicht mit so einem wie Chris Collnhausen – der wäre Mama zufolge unerreichbar und Josie fand ihn ganz nett, so als alten Schulkameraden, aber doch wirklich nicht weiter ernstzunehmen. Aber er tanzte wirklich gut, vielleicht kein Wunder für so einen kleinen Playboy.
„Wieso bist du eigentlich alleine hier?“, fragte sie ihn.
Er runzelte die Stirn. „Was? Wie meinst du das?“
„Na, ich hätte mir vorstellen können, dass du mit deiner Freundin hierher kommst. Oder findet die solche Bälle blöd?“
„Weil du auch mit deinem Freund da bist oder was?“
„Wieso, ich hab doch gar keinen?“
„Vielleicht bin ich auch solo?“
„Ernsthaft? Hat Mama nicht mal was gesagt von einem Model oder so? Ich sollte wirklich besser aufpassen, was sie so erzählt… ach, egal.“
Er schwenkte sie herum. „Du meinst Tatiana? Mit der gehe ich bloß ab und an mal aus.“
„Ja, aber sie wäre doch genau die richtige, um diesen Ball zu schmücken. Du weißt schon, für die Lokalpresse – Seine Krönung erfuhr der glanzvolle Scheuerlein-Ball durch die Anwesenheit des international bekannten Models Tatiana – wie noch?“
„Areno.“ Er grinste auf sie herab. „Irgendwas stört bei dieser hymnischen Beschreibung.“
Josie kicherte. „Scheuerlein – das passt gar nicht. Schon bitter…“
„Du bist ein böses Weib, Josie. Aber wenn ich mich recht erinnere, warst du schon in der Schule so eine Hexe.“
Die Rumba verklang, und das Orchester stimmte einen absoluten Oldie an – Nights in White Satin.
„Ein Schieber“, stellte Chris überflüssigerweise fest. „Warum nicht?“
Josie hatte keine rechte Lust, wusste aber nicht, wie sie sich weigern sollte, ohne zickig zu wirken, also ergab sie sich in ihr Schicksal.
Immerhin hatte Chris die richtige Größe, konnte tanzen, duftete angenehm und fühlte sich gut an, fest und kräftig.
Er hatte außer Fitness wohl auch nicht viel zu tun. Da sein Geschäftspartner ihm durchgegangen war, hatte er beruflich im Moment wohl keinen allzu großen Stress. Da blieb Zeit fürs Training, für das Model, fürs Golfspielen und seinen Sportflitzer.
„Tatiana ist außerdem zurzeit zu Hause in Brasilien“, murmelte Chris in ihr Ohr. Der warme Atem an ihrer Wange machte sie direkt nervös. Sie straffte sich innerlich und versuchte, sich auf die Schritte zu konzentrieren – aber da nicht viel zu schreiten war bei diesem Klammerblues, war sie nicht übermäßig abgelenkt. Okay, tanzen konnte man mit ihm – aber geschäftlich war Chris doch ein ziemliches Huhn… zweihunderttausend, und dann kannte er noch nicht einmal den dritten Partner? Was, wenn die anderen beiden wirklich einfach abgehauen waren? Der alte Collnhausen war zu Recht sauer auf seinen Sohn, fand sie. Bestimmt konnte der den Verlust wegstecken, aber so eine Summe tat schon auch weh…
„Eigentlich finde ich den Ball ja jetzt doch ganz okay“, raunte Chris in ihr Ohr. Sie lachte leise. „Ja, immerhin haben wir uns ganz nett unterhalten und müssen nicht ewig verkrampft bei unseren Eltern herumstehen.“
Aus einer Ecke ertönte teeniehaftes Quieken, Josie reckte den Kopf. „Aha, Horri und Tessa sausen dahinten herum. Machen bestimmt Blödsinn.“
„Wenn schon, haben wir mit siebzehn ja auch. Übrigens ist Horri absolut scheußlich – könnt ihr nicht Hortense zu ihr sagen?“
„Das macht Mama ja. Jede Silbe einzeln, wenn Horri sie geärgert hat. Wir wetten immer. Wenn sie beim Freitagabenddinner fünfmal Hor-ten-se zusammenbringt, kriegt sie von mir fünf Euro. Es sei denn, ich schaffe mindestens genauso viele Jo-se-phi-ne. Mama ist leicht zu empören.“
„Man muss nur die gute Gesellschaft für einen Haufen Idioten erklären?“
„Das könnte für einen Doppelausruf reichen.“
Chris kicherte und drehte sie so, dass er seine Eltern im Blick hatte.
„Komisch“, sagte er dann, „was sind die denn jetzt dermaßen gut gelaunt? Sie schauen her – Mama winkt sogar! Das macht mir jetzt direkt Angst.“
Jetzt kicherte Josie. „Unser Kinder-Grundmisstrauen. Was könnten die bloß vorhaben?“
„Keinen Schimmer. Ach komm, tanzen wir einfach und genießen den Abend, egal, was die Alten aushecken.“
Der Ball war wirklich besser gewesen als erwartet, zog Josie am nächsten Montag Bilanz. Mit Chris war es ganz lustig gewesen, seine blöden Freunde hatten nicht weiter gestört, seine Eltern waren regelrecht nett zu ihr gewesen, warum auch immer, und ihre eigenen Eltern hatten direkt dankbar gewirkt.
Vielleicht war die alte Collnhausen so dankbar, dass sie mit ihrem Sohn getanzt hatte, dass sie jetzt höflich zu Mama war – und Mama sich endlich bei Hofe akzeptiert fühlte?
In Waldstetten herrschten wirklich Verhältnisse wie am Kaiserhof anno 1900. Wenigstens fast.
Aber der Beitrag für die Festschrift zum Siebzigsten von Professor Brömmer war jetzt wichtiger. Josie las ihn noch zweimal Korrektur, besserte zwei Anmerkungen aus, froh, dass Janne heute nicht da war und hier Ruhe herrschte, schrieb den Schluss noch einmal um und schickte die Datei dann an die Unidruckerei, die alles zusammenfügen und repräsentativ drucken und binden lassen würde.
Sie räumte ihren Schreibtisch auf, korrigierte die Rechercheversuche ihrer Methodikübung und schrieb ein wenig an ihrer neuesten Veröffentlichung weiter.
Je länger die Liste der Veröffentlichungen, desto besser die Chancen im Uni-Betrieb.
In der Mailbox fand sie eine Anfrage des Mariengymnasiums: Ob sie bei einem Studieninformationstag im Juni das Fach Geschichte vorstellen wollte?
Hübsche Idee. Sie schickte eine etwas allgemein gehaltene Zusage zurück und schrieb weiter.
Für ihre Habilschrift sollte sie auch mal wieder etwas tun. Sie fischte sich aus den Kopienstapeln auf der Ablage hinter dem Schreibtisch die Unterlagen für das nächste Kapitel heraus und stopfte sie in ihre Tasche – für heute Abend.
Und morgen würde sie das Ludwigskroner Herzogsarchiv aufsuchen, dort musste es einige entscheidende Quellen geben.
Für heute reichte es ihr – sie hatte nur noch eine Stunde Sprechstunde, für die sich niemand in die Liste an ihrer Tür eingetragen hatte, aber sie beschloss, trotzdem bis ein Uhr zu warten.
Arbeiten mochte sie nicht mehr, also ging sie ins Internet und schaute sich zunächst an, wie das Spiel I am King aussah.
Kopfschüttelnd las sie sich die Regeln und die durchwegs hymnischen Beurteilungen durch und studierte das reiche Angebot an kostenpflichtigen Zusatzfeatures, mit dem man wahrscheinlich den Kindern das Taschengeld abknöpfte. Mit solchem Kram wollte Chris Geld verdienen?
Und Josie hatte nicht das Gefühl, dass er von solchen Spielen besonders viel verstand – er wollte wohl bloß der Finanzier sein. Das hatte er allerdings nicht gerade geschickt angestellt.
Was gab es denn über die Collnhausens im Netz zu lesen?
Immerhin lieferte Google jede Menge Einträge. Bestimmt waren sowohl Chris als auch Tessa bei Facebook zugange, aber Josie hatte sich darum bisher gedrückt.
Über den Vater berichteten vor allem Wirtschaftsdienste und die Online-Ausgaben diverser Business-Magazine. Günther von Collnhausen saß so ungefähr in jedem erreichbaren Aufsichtsrat und schien nach dem, was Josie ohne viel Sachkenntnis aus den Artikeln folgerte, von dem zu leben, was er für diese Tätigkeiten erhielt. Da konnte man das Vermögen schonen… Er war Mitglied in der Mittelstandsvereinigung und in der Local Agenda, was Josie nun doch als rechter Balanceakt erschien – die beiden Gruppierungen waren sich im Allgemeinen nicht freundlich gesonnen und sparten nicht mit Verunglimpfungen der jeweils anderen Vereinigung als „vorgestrig“ oder „aktionistisch.“
Papa war, soweit Josie informiert war, nur in der Local Agenda aktiv, zusammen mit Dominic Christen, Frederic Petersen, Jakob Hamm und verschiedenen anderen. Jüngere Firmeninhaber und Manager, die sich für schlanke Strukturen und sozial verträgliche Reformen einsetzten und immer nach neuen Ideen suchten.
Papa hatte ja auch keine ganz gerade Biographie – er hatte nach einem eher
mäßigen Abitur eine Banklehre absolviert, mit einer Finanzverwaltungssoftware viel Geld verdient, das Programm für ein Vermögen an ein einschlägiges Unternehmen verkauft und sich mit dem Erlös in verschiedene andere Unternehmen eingekauft. Da er auch dort ein Tüftler und Hobbyinformatiker blieb, entwickelte er auch weiterhin Verbesserungen, unter anderem eine sehr praktische Steuerungssoftware für Autowaschanlagen.
Josie grinste vor sich hin. Mit seinem Abizeugnis konnte Papa seine Töchter nicht beeindrucken, mit seinem Erfindungsgeist aber schon. Außerdem war er durch sein kluges Vorgehen steinreich geworden und ließ seine Kinder an diesem Reichtum auch gerne teilhaben.
Nur Josie zeigte nach seinem Geschmack zu wenig Interesse an einem Leben in Saus und Braus. Aber Papa protzte eigentlich nicht, überlegte Josie und trank den mittlerweile kalt gewordenen Kaffee aus. Bäh.
Naja, ein bisschen. Das größte verfügbare Auto musste es schon sein – und das Haus in Waldstetten war auch ein gewaltiger Bau. Aber alt und daher geschmackvoll. Und Mamas Schmuck und Pelze, ihr Porsche, ihre teuren Hobbies…
Sie wollte doch den ollen Collnhausen googeln und nicht über Papa nachdenken!
Jede Menge Einträge, die meisten eher langweilig, denn Günther von Collnhausen ließ sich offenbar liebend gerne interviewen, gab dann aber nur Belanglosigkeiten von sich, über Standortfragen, den Rohstoff Geist, Leistungsträger, gute Tradition, die Bedeutung des Mittelstands, die Gefahren der Globalisierung… alles wohlabgewogen und so neutral gehalten, dass man beim Lesen herzhaft gähnen musste.
„Schwätzer“, murmelte Josie folglich und klickte weiter. Ah, hier! Huch? Finanzkrise bei Collnhausen… na, wahrscheinlich die übliche Mischung aus Mutmaßungen und Übertreibungen. Wie bei der Frage, ob Kate womöglich Drillinge erwartete, in Monaco eine Scheidung ins Haus stand und die spanische Kornprinzessin magersüchtig war. Sowohl uninteressant als auch komplett gelogen.
Sie vertiefte sich in den Artikel. Nein, der war immerhin von Engelmann Investment Letters. Die waren eigentlich gut, Josie hatte in zwei von Engelmanns Fonds investiert und konnte sich über die Performance nicht beklagen.
Dann musste an den Spekulationen wenigstens eine Kleinigkeit dran sein… Aha: unglückliche Investitionen, ein erfolgloses Engagement in – nein, nicht in amerikanischen Schrottimmobilien, so doof war Collnhausen wirklich nicht – aber in Containerschiffe. Ach Gott, viel klüger war das aber auch nicht! Der Artikel spekulierte entsprechend, was Collnhausen wohl zu diesem eher verzweifelten Investment getrieben haben konnte. Schrumpfte das Vermögen? War der Lebensstil zu aufwendig? Hatte der Sohn Kapital verplempert?
Aha, Christopher sollte an allem schuld sein? Aber er hatte am Freitag doch gesagt, er habe mit dieser Game-Schnapsidee zweihunderttausend in den Sand gesetzt – das klang zwar toll, war aber für Männer wie Papa oder Collnhausen doch nur ein Taschengeld. Deshalb konnte Collnhausen wohl kaum in die Bredouille geraten sein.
Ob Tessa deswegen kein Pferd haben durfte?
Mehr wusste der Artikel auch nicht.
Als nächstes fand sie Geldverbrennung bei LEP. Ach ja, das dämliche Leiß-Einkaufs-Center. Eine Kopie der überall vorhandenen Arcaden, aber zwischen Henting und Zolling angesiedelt, wo wohl eher die falsche Klientel lebte.
Josie hatte das Konzept von vorneherein verfehlt gefunden. Man konnte dort kaum parken und kam mit öffentlichen Verkehrsmitteln schlecht hin, weil man erst zur Zollinger MiniCity musste und von dort aus dann mit einem selten fahrenden Bus das LEP ansteuern konnte. Teenies, die solche Malls eigentlich liebten, fanden offenbar die Szenerie um den Markt in der Altstadt immer noch aufregender – im LEP waren auch eher wenige Läden überhaupt aktiv, viele Ketten hatten den Standort von vorneherein abgelehnt. Und die großen Technikmärkte waren im Begriff, wieder aufzugeben, eben weil man dort nicht parken konnte.
Verständlich, Josie hätte auch keine Lust gehabt, sich einen großen neuen Fernseher zu kaufen und den dann mit Bus, U-Bahn und wieder Bus (oder zu Fuß) zu transportieren.
Aha, Collnhausen hatte in ein Parkhaus beim LEP investiert. Keine blöde Idee, überlegte Josie, das hätte eins der großen Standortprobleme gelöst. Leider waren die Anwohner dagegen gewesen und hatten erfolgreich geklagt. Damit hatte Collnhausen tatsächlich ein ordentliches Sümmchen verloren und im Gegenzug ein nutzloses Grundstück am Bein.
Aber konnte das den König von Waldstetten wirklich in den Ruin treiben? Vielleicht sollte sie sich nachher dieses LEP mal anschauen, um die Situation besser beurteilen zu können.
Sie fand noch einen Artikel mit der reißerischen Überschrift