Nachbarschaft mit kleinen Fehlern - Elisa Scheer - E-Book

Nachbarschaft mit kleinen Fehlern E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Amelie zieht in ihre schöne (und günstige) neue Wohnung. Alles wäre so schön, wenn nicht diese selbtsamen Leute in dem Laden im Erdgeschoss wären, die ihr unterstellen, sie sei unentspannt, ihre Seele (wahlweise: ihre Mitte) leide und sie brauche dringend ein entsprechende Therapie. Sie reagiert darauf zunehmend aggressiv und dann fällt eine der "Dienerinnen" in dieser Sekte aus einem Flurfenster im dritten Stock - Selbstmord? Oder etwas anderes? Die Kripo, ohnehin schon mit einem anderen Fall von (vorgetäuschtem) Selbstmord befasst, schaltet sich ein; Anne Malzahn, Katrin Kramer und Ben Hollerbach vermuten, dass beide Taten zusammenhängen - und andere rätselhafte Vorfälle möglicherweise auch. Amelie und ihr alter Schulfreund Fritz unterstützen die Polizei nach Kräften und staunen am Ende wie alle anderen über die überraschende Auflösung...

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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Alles frei erfunden!

1 Mittwoch

Das Haus war wirklich schön, stellte Amelie fest, als sie mit zwei Schlüsseln und dem Mietvertrag auf die Straße trat – diese satte Farbe der Fassade! Kaisergelb nannte man das, hatte der Vermieter erklärt. Auch der etwas behäbige Baustil gefiel ihr – das Haus wirkte solide und gemütlich zugleich mit den dicken Mauern, den Loggien, den gemauerten Müllhäuschen und dem wilden Wein an der Seite.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, hatte der Vermieter gesagt, als sie nach dem Baujahr gefragt hatte. Sie wusste nicht recht, ob man das gut finden durfte – als studierte Germanistin hatte man sofort Bilder von unterdrückter Arbeiterklasse und konservativ-erstarrtem Bürgertum im Kopf, von expressionistischen jungen Dichtern, die sich von einem Krieg endlich ein Sprengen der Fesseln und Konventionen erhofft hatten. Sie seufzte kurz – wer von ihnen hatte auch nur das erste Kriegsjahr überlebt?

Das spielte aber jetzt keine Rolle! Das Haus war schön, die Wohnung hatte genau die richtige Größe, die Miete war bezahlbar und obendrein konnte man in diesen Zeiten ohnehin froh sein, eine Wohnung zu finden. Sie hätte schon als Schülerin die Hundertmark- und später Fünfzigeuroscheine von Weihnachten gut anlegen sollen, dann hätte sie jetzt vielleicht ein kleines Vermögen und könnte sich etwas kaufen… aber wollte sie das überhaupt? Sie wusste doch noch gar nicht, was sie langfristig einmal machen wollte! Eigentlich armselig für dreißig Jahre…

Vielleicht aber hatte man das mittlerweile so? Das sollte sie nachher einmal durchdenken…

Sie durchquerte die Hofeinfahrt und betrachtete sich die Hinterfassade: genauso gelb, genauso solide – und hier gab es Balkone, die wahrscheinlich viel ruhiger waren, aber der Blick auf Garagen und einen Haufen Fahrräder war eher uninteressant. Sie hatte einen Balkon zur Straße hin und konnte den Drogeriemarkt, den Bäcker, den Schreibwarenladen (oh, mit einem Paketsymbol! Sehr praktisch!) und die Ecke zum Wupperweg überblicken. Naja, da gab es ein, zwei Läden (unter anderem einen SB-Waschsalon) und dann lange Häuserreihen im Stil der frühen Fünfziger. Was hatte es wohl vor dem Krieg dort gegeben? Wiesen oder ältere Häuser, die im Krieg zerstört worden waren?

Okay, Hinterhof in Ordnung. Und wer wohnte hier sonst noch? In jedem Stockwerk gab es eine kleine Zweizimmerwohnung wie ihre im zweiten Stock und daneben eine Wohnung mit drei Zimmern. Fast schon großbürgerlich… aber vielleicht gab es hier ja auch Kinder?

Sie studierte die Klingelschilder, aber natürlich sagten ihr die Namen noch nichts. Im Erdgeschoss gab es links eine Reinigung mit dem schönen Namen „Wäschebutler“, rechts etwas, das „Silver Centre“ hieß. Worum es sich da handelte, war nicht ersichtlich, denn hinter den beiden Fenstern gab es diesen hässlichen Sichtschutz aus senkrechten Textilstreifen. Und hinter der Tür sah man eine Art hellgrauen Stoff. Passend zu „Silver“?

Wahrscheinlich eine Vermögensverwaltung oder sowas, „Silver“ klang doch wertvoll?

„Was machen Sie denn da?“

Amelie drehte sich um und stand vor einem alten Herrn, sogar mit Hut.

„Ich schaue mir nur an, wer hier wohnt, warum?“

„Vulgäre Neugierde!“, schnaubte der Alte.

„Ich wohne hier, also darf ich doch mal schauen, wer meine neuen Nachbarn sind?“

„Sie wohnen nicht hier, das wüsste ich! Lügen Sie nicht so unverschämt!“

„Doch, das tue ich, aber zugegebenermaßen erst seit heute. Ich habe die Wohnung gerade gemietet.“

„Unmöglich, es ist doch gar niemand ausgezogen?“

„Offenbar doch, zweiter Stock links?“

„Da wohnt Fräulein von Holnbeck!“

Amelie kicherte unwillkürlich. „Fräulein?“

„Wie nennen Sie denn eine unverheiratete Dame?“

„Frau! Es macht eine Frau doch nicht kleiner, wenn sie keinen Mann hat! Fräulein ist ein sehr veralteter Begriff. Seit praktisch fünfzig Jahren veraltet, übrigens.“

„Ach, woher wollen Sie das denn wissen?“

Das Gespräch erschien ihr allmählich etwas surreal.

„Ich bin Germanistin.“

„Eine Studentin!“, stöhnte der Alte auf. „Dann haben wir jetzt täglich solche Demos? Und das Haus riecht nach Hasch?“

Amelie seufzte. „Mir scheint, Herr - ?, Sie haben seit den Siebzigern keine Studenten mehr gesehen?“

„Greifenklau. Johann Greif von Greifenklau.“

„Toller Name“, fand Amelie. „Ist der echt?“

„Unverschämtheit!“ Der Alte schloss die Haustür auf und stapfte die Treppe hinauf. Amelie studierte weiter die Namensschilder: tatsächlich, Greifenklau! Wie aus einem alten Trivialroman… Immerhin war er nicht ihr direkter Nachbar, das war ein Paar, wenigstens standen da zwei Namen, Benisch und Mitterlehner. Okay, es konnte auch eine kleine Wohngemeinschaft sein. Darüber musste der alte Greifenklau sich nicht aufregen? Eine Kommune?

Der Vermieter hatte doch gesagt, er werde sich um ein neues Klingelschild kümmern, oder?

Wieso wohnte der alte Zausel denn nicht auf der Burg Greifenklau? Gab´s die überhaupt?

Ach, egal. Sie würde jetzt nach Hause fahren, in ihr altes Zuhause, und ihren Krempel einsammeln und ihn hierherschleppen. Morgen wollten Benni und Rieke ihr ja mit den großen Teilen helfen, Rieke hatte schließlich einen Transporter, da passten die paar Sachen schon hinein.

2 Mittwoch

Anja Benisch teilte ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Topf, in dem sie Karottenbrei erwärmte, und dem Laufställchen im Wohnzimmer, in dem Luca rhythmisch zwei Kunststoff-Bauklötze gegeneinanderschlug.

Luca war ein Schatz; sie eilte hinüber und beugte sich über das Laufstallgitter. „Na, mein Süßer? Baust du schön?“

Er strahlte sie an. „Mama…!“

Sie strich ihm über die Wange, was er tatsächlich mit „Ei, ei“ kommentierte, und kehrte zum Karottenbrei zurück. Die Temperatur passte, wie sie rasch überprüfte; sie rührte noch einen kleinen Klecks Sahne für den Geschmack ein und füllte den Brei in einen vorgewärmten Napf.

Als sie Luca auf dem Schoß hatte, überkam sie wieder dieses Glücksgefühl, das sie jedesmal empfand, wenn sie seinen warmen kleinen Körper im Arm hatte.

Ein Kind zu haben… ein eigenes Kind: Was konnte es Schöneres geben? Luca drehte sich um und schaute zu ihr auf: „Mama…?“

„Ja, mein Liebling. Jetzt gibt es einen leckeren Brei!“

Er sperrte sofort sein Mäulchen auf, offenbar verstand er schon das Wort „Brei“, auch wenn er noch nicht allzu viel sprechen konnte; außer Mama, Papa, will! und Arm! hatte er noch nichts zu bieten, aber er war doch erst gerade einmal neun Monate alt. Immerhin stand er manchmal schon im Laufställchen, wenn er nicht gerade mit seinem Spielzeug beschäftigt war. War er nicht ein kluger kleiner Kerl?

Er verputzte auch den ganzen Brei, ohne ungebührlich viel in die Gegend zu prusten, ließ sich ohne Protest das Gesicht abwischen, freute sich über eine frische Windel und ließ sich dann zum Mittagsschlaf ins Bett legen.

Mutter sein war herrlich, fand Anja. Und Bastian dachte das gleiche, ein leidenschaftlicher Vater! Glücklicher konnte man nicht sein…

o

Roswitha eilte an ihren Spion: Wer lief denn um diese Zeit im Treppenhaus herum? Der Greif war in seiner Wohnung und kam erfahrungsgemäß so bald nicht mehr heraus, die Benisch spielte mit ihrem kleinen Schreihals, die Schmalzl war in der Arbeit – sie hatte sie heute Morgen im Vorbeigehen an der Kasse im Drogeriemarkt gesehen.

Die alte Holnbeck war ins Betreute Wohnen umgezogen – Zeit war´s gewesen, man musste ja schon fürchten, dass sie irgendwas auf dem Herd vergaß und das ganze Haus in Brand steckte!

Ziemlich jung, die Neue. Mit mehreren Reisetaschen beladen. Hatte wohl kein Geld für ein Umzugsunternehmen. Ob die wohl laute Musik spielte? Das war hier ein ruhiges Haus!

Na, abwarten, der Greif würde sich schon rechtzeitig aufmandeln, da musste sie selbst sich gar nicht sofort einmischen! Der mandelte sich schließlich wegen jedem Schmarrn auf, der alte – naja.

Außerdem waren alle im Haus harmlos, wenn man sie mit den Spinnern drunten im Erdgeschoss verglich, in ihren trübseligen, farblosen Kutten und mit ihrer komischen fernöstlichen Musik. Ob die schwarze Messen feierten? Zu blöd, dass die immer diesen Sichtschutz am Fenster hatten…

o

Amelie hatte sämtliche Bücher und Ordner in der Wohnung ausgepackt, ihren Putzkram in der Küche aufgestapelt und dann ihre Taschen wieder eingesammelt, um die nächste Ladung zu holen.

Viel war es eigentlich gar nicht mehr, in einem WG-Zimmer sammelte man nicht gar so viel Wohlstandsmüll an. Etwas Geschirr, in Frotteetücher gewickelt, ein Wäschegestell, ihren Kosmetikkram, zwei Töpfe, zwei Reisetaschen mit all ihren Klamotten und ihrem Bettzeug und als letztes ihren grauen Klappsessel, den man zu einem verdammt schmalen Bett ausklappen konnte.

Sie schnaufte ordentlich, als sie alles nach oben geschleift hatte, und sah sich dann etwas unentschlossen um.

Erst mal was essen, beschloss sie in einem Anfall von Unlust. Der Bäcker war ja gleich gegenüber!

Mit einer Leberkässemmel, einer winzigen (und umso teureren) Flasche Diet Coke und zwei Brezen kam sie zurück, zog einen Teller aus den Frotteetüchern und aß erst einmal, während sie sich umsah. Der Vermieter hatte offensichtlich weißeln lassen, der Mosaikparkettboden war alt, aber gut gepflegt und an der Decke im Wohnzimmer hing noch eine Lampe – nicht ganz ihr Geschmack, aber erträglich. Unauffällig.

Trotzdem – sobald sie fertig gegessen hatte, sollte sie etwas Putzzeug besorgen, denn in der WG hatten sie das Allernötigste gemeinsam benutzt und ab und zu einen Euro ins Putzschwein geworfen.

Was machten die wohl in diesem Silver Centre? Sie warf, während sie darauf wartete, die Straße in Richtung Drogeriemarkt überqueren zu können, einen Blick auf die abweisende Fensterfront. Vielleicht krumme Geldgeschäfte? So sah es jedenfalls aus…

Im Drogeriemarkt suchte sie länger, bis sie ein ökologisches Universalputzmittel gefunden hatte, dazu einige Microfaserlappen und einen Bodenwischer. Ob sie Parkettpolitur brauchte, musste sie ja jetzt noch nicht entscheiden! Sie stand schon an der Kasse an, als eine junge Frau in wallendem Schwarz in den Laden kam und sich etwas ratlos umsah. War das eine Nonne? Sie schaute noch, als die Kassiererin sie auffordernd ansah, sich dann drehte und „So eine schon wieder“, murmelte.

„Ist das eine Nonne?“, fragte Amelie also, während sie ihre Einkäufe aufs Band legte.

„Nonne? Ach wo! Das sind bloß so g´spinnerte Leut´ von da drüben.“ Sie wies auf Amelies Haus.

„Spinner? Dieses komische Silver Centre? Ich dachte, das wäre so was wie eine Bank? Die haben doch die Fenster abgedeckt, das sieht irgendwie geheimnistuerisch aus“, antwortete Amelie, während sie ihre Beute einpackte und der Kassiererin einen Zwanziger reichte.

„Denk ich mir auch immer. Wer weiß, was die da drin treiben… Schwarze Messen vielleicht?“

„Huch!“, machte Amelie. „Glauben Sie echt?“

„Weiß man´s? Sieben dreiunddreißig zurück, danke schön…“

Amelie stand schon in der Tür, als die Frau in der schwarzen, bodenlangen Kutte an die Kasse kam und eine Seife der Hausmarke aufs Kassenband legte.

Ganz schön asketisch, fand sie und kehrte in ihre Wohnung zurück, wo sie erst einmal alle Fächer der Küchenschränke auswischte – nicht allzu gründlich, denn sie hatten ohnehin recht sauber gewirkt. Den neuen Bodenwischer weihte sie im Bad und in der Küche ein und fuhr, als der Microfaserbezug bereits etwas trockener war, auch über das Parkett in Schlafzimmer und Wohnzimmer.

Wirklich eine nette Wohnung – klein, aber hübsch. Die Küche ohne Waschmaschine, aber entweder gab es eine Waschküche im Keller oder sie würde den SB-Waschsalon frequentieren. Das Bad hatte nur eine Duschkabine, aber Baden hielt Amelie ohnehin für unökologisch. Diese Wohnung würde es ihr ermöglichen, besser auf Nachhaltigkeit zu achten, als es in der WG möglich war, wo man sich dann bloß in endlose Streitereien verstrickte – Wer hatte den Müll nicht richtig getrennt? Wer hatte diese Plastiktüte eingeschleppt? Waren Kaffeekapseln einen ökologische Sauerei?

Jetzt hatte sie endlich Ruhe und Frieden!

Die Küchenschränke waren trocken und der Boden glänzte auch nicht mehr nass, also konnte sie das Geschirr einräumen und ihr Besteck der obersten Schublade anvertrauen. Der Putzkram kam unter die Spüle, der Aufnehmer des Schrubbers wurde sorgfältig ausgespült und zum Trocknen über den Wasserhahn gehängt. Wie ordentlich sie heute war! Ob das in der neuen Wohnung etwas länger anhielt als in der WG und diesem Winzappartement an der Kirchfeldener Landstraße? Sie kicherte in sich hinein, als sie sich erinnerte, wie grandios sie dort im Chaos versunken war. Nein, hier würde es anders werden – schon deshalb, weil sie ihren ganzen Plunder vor dem Umzug bestimmt halbiert hatte.

Naja, immer noch genug Schotter… bis jetzt hatte sie nach einem Umzug immer noch eine Menge wegwerfen können.

Aber jetzt machte sie das Ganze doch mit System, mit dem Entrümpelbuch von Lea Sarow. Minimalismus war schließlich der Trend der Zeit!

Die Küche wies auch einen Hochschrank auf, der innen blitzblank war und sieben völlig leere Fächer aufwies. Bis sie morgen ihren Kleiderschrank aufbauen konnte, würde sie hier ihre Klamotten schön sortiert aufbewahren, dann verknitterten sie nicht. Übermorgen musste sie schließlich wieder arbeiten und in der Literaturagentur konnte sie nicht wie eine Pennerin aufschlagen.

Also schleifte sie die beiden Reisetaschen in die Küche und ging an die Arbeit. Zwei schwarze Hosen, eine aus Samt, zwei graue Hosen, eine aus Cord, eine in Pink. Das gab ein ordentliches Häufchen. Daneben drei Strickjacken (schwarz, grau, rosa), darüber zehn dazu passende T-Shirts und eine Kiste mit Unterwäsche und Strümpfen, die kaum in das Fach passen wollte. Die vier Blazer (pink, schwarz, dunkelgrau, hellgrau) hängte sie an die Küchentür, die Blusen an die Schlafzimmer- und an die Badezimmertür.

Das Bettzeug warf sie auf den Klappsessel, die Kosmetika kamen ins Bad. Nicht schlecht für die erste Runde, fand sie.

Oh, Handtücher und die anderen beiden Bettbezüge und die Laken dazu! Im Küchenschrank war noch viel Platz…

Schließlich war mit Ausnahme der Bücher, der Ordner aus dem Studium und dem Kram für den Ess-/Schreibtisch alles aus dem Weg geräumt und Amelie sah sich zufrieden um. Schrank, Regale, Tisch und Bett konnten morgen kommen!

Sollte sie sich bei allen Nachbarn vorstellen? Oder warten, bis sie sie zufällig im Treppenhaus traf? Auf diese komischen Leute aus dem Silver Centre war sie sowieso nicht scharf… sie würde warten, ob sie sie im Treppenhaus traf! Bei diesem Greifenklau hatte sie ja wohl eh schon verschissen…

Na, morgen!

3 Donnerstag

Um acht stand sie wieder in ihrem alten WG-Zimmer, nahm die Bretter aus den Regalen, steckte die Haltestifte ein, zerlegte den Schrank, soweit sie das alleine fertigbrachte, und stopfte die letzten herumliegenden Kleinigkeiten in eine Tragetasche. Auf dem Gang wurde es lauter, dann läutete es. Basti und Rieke? Nein, eine fremde Stimme – oh, das musste diese Neue sein, ihre Nachmieterin, Inge? Inga?

Sie schaute in den Flur – tatsächlich; Inga und ein recht gutaussehender Mann trugen richtige Umzugskisten herein und stapelten sie im Flur auf. Inga sah auf: „Du bist noch gar nicht weg?“

„Meine Freunde kommen um neun und helfen mir mit den großen Stücken, der Rest ist schon drüben“, antwortete Amelie unwirsch. „Ich dachte, wir hätten neun ausgemacht?“

„Ich dachte, wir könnten schon früher kommen. Das Zimmer ist aber schon geputzt?“

„Durchsaugen kann ich erst, wenn Bett und Schrank draußen sind, ansonsten ist geputzt. Ich kann die beiden Regale nach draußen tun, aber dann kommt niemand mehr durch den Flur.“

Glücklicherweise kam Beate aus dem Bad und bat Inga und ihren Macker, doch bitte den Rest im Treppenhaus eng an die Wand zu stellen. „Ihr steigt doch auch nicht in den Bus, bevor die anderen Leute ausgestiegen sind?“

„Ich muss zur Arbeit“, grummelte der Mann, der sich nicht mal vorgestellt oder wenigstens die anderen begrüßt hatte. „Wie lange dauert das denn noch?“

„Hab ich doch gerade gesagt, meine Freunde kommen um neun. Jetzt ist es zwanzig nach acht. Taschenrechner ist leider schon drüben.“

„Ganz schön pampig.“

„Wie man in den Wald hineinruft… ich kann nichts dafür, dass ihr zu früh dran seid. Hättet ihr vorher gefragt, hätte ich vielleicht Basti und Rieke auch vorverlegen können.“ Amelie zerrte das erste Regal in den Flur und alles andere, soweit sie konnte, zur Tür, so dass sie den Bereich am Fenster schon einmal absaugen konnte.

„So, Sie könnten die Kisten schon mal vors Fenster stellen.“

„Wozu? Dann ist es drinnen doch dunkel?“

Sie rollte deutlich mit den Augen. „Da hängt doch eine Lampe! Und wenn Sie die Kisten reintragen, ist hier draußen wieder mehr Platz, also könnte ich noch mehr von meinem Kram in den Flur stellen und wieder ein Stück saugen. Sie haben es doch so eilig!“

Der Typ murmelte etwas von Studenten und eh nichts zu tun und keine Struktur.

„Was heißt hier keine Struktur? Wir hatten neun Uhr vereinbart, was kann denn ich dafür, wenn Sie zu früh auftauchen!“

Diese Inga wirkte etwas peinlich berührt, aber Amelie hatte jetzt keine Lust, zu überlegen, was genau ihr peinlich war, das WG-Zimmer oder ihr Macker. Sie wenigstens machte sich daran, Kiste für Kiste ins Zimmer zu tragen; im Gegenzug zog Amelie das zweite Regal nach draußen und wuchtete das Bett schon mal auf die Seite. Zu zweit mit Inga schaffte sie auch das Bett nach draußen – und da tauchten auch schon Bastian und Rieke auf und übernahmen das Bett. Inga blöder Begleiter murmelte nach einem Blick auf Rieke etwas von Mannweib und Amelie verkniff es sich mit Mühe, Inga zu fragen, woher sie diesen Deppen bloß hatte.

Im Handumdrehen waren sie zurück und zerlegten den Schrank zu zweit in seine Einzelteile. Amelie saugte den Rest. „Also bitte schön! Das Fenster ist geputzt, der Boden ist gesaugt, und die Wände hab ich erst letztes Jahr gestrichen.“

„Das sollte man eigentlich beim Mieterwechsel machen“, moserte Ingas komischer Freund.

„Nein, muss man nicht“, fand Rieke, einen Stapel Schrankbretter lässig unter dem Arm, „Amelie hat beim Einzug gestrichen und letztes Jahr nochmal, das reicht ja wohl.“ Sie musterte die zierliche, blonde Inga etwas abschätzig und fuhr fort: „Wenn du rosa Wände und Einhörner willst, musst du selbst zur Rolle greifen.“

Inga kicherte. „Also, zehn bin ich nun schon länger nicht mehr. Das Zimmer ist völlig okay.“ Sie stellte weitere Kisten vor das Fenster und sah ihren Begleiter auffordernd an.

„Was ist?“, fragte er.

„Die Möbel müssen noch rauf“, erinnerte sie ihn.

In Anwesenheit von Beate übergab Amelie die Schlüssel und wünschte ihrer Nachmieterin dann viel Glück im neuen Heim.

Im Dortmunder Weg mussten sie halb auf dem Bürgersteig parken, was natürlich den Greifenklau, der überwachend aus dem Fenster hing, schon wieder aufregte.

„Noch will ja hier keiner vorbei!“, rief Amelie unwirsch nach oben. „Und wenn wir jetzt keine Zeit verplempern müssen, sind wir auch gleich wieder fertig!“

Sie schnappte sich einige Regalbretter und eilte nach oben, um die Tür aufzusperren. Einige Momente später schwankten ihre Freunde mit dem Bett herein und stellten es weisungsgemäß ins Schlafzimmer; Amelie hatte, um das Parkett zu schonen, kaum Filzgleiter unter die Beine geklebt, als auch schon die ersten Schrankteile und ein Stuhl auftauchten.

Sie arbeiteten etwa eine halbe Stunde lang, dann stand alles oben, sogar so etwa an der richtigen Stelle, und der Schrankkorpus war perfekt zusammengesetzt, besser als zuvor, als Amelie den alten Schrank alleine hatte aufbauen müssen.

Amelie umarmte beide und lud sie zum Essen ein; Rieke wünschte sich den Kaiserpalast, aber lieber erst abends. Bastian grinste. „Ich glaube auch nicht, dass die Frühstück anbieten. Es ist gerade mal zwanzig vor zehn! Komm, wir bringen den Transporter weg, ich muss noch ein Referat machen.“

Rieke musste auch zur Arbeit, also winkte Amelie ihnen dankbar nach und wandte sich zurück zur Haustür. Greifenklau hing immer noch - oder schon wieder - aus dem Fenster und sie gestikulierte mit weit ausgebreiteten Armen, um zu zeigen, dass doch wohl alles fristgerecht verräumt worden war.

Greifenklau knallte entrüstet sein Fenster zu; Amelie grinste und eilte nach oben, wo sie sich erst einmal ratlos umsah: Wo sollte sie denn da anfangen?

Außerdem brauchte sie jetzt wohl ein Sofa, wo doch das Bett im anderen Zimmer stand… nicht so eilig, zunächst konnte sie ja den Klappsessel verwenden!

Wo kamen die Regale hin?

Also platzierte sie erst einmal den Klappsessel und überlegte.

Hm… das Sofa dann etwa hierhin, die Regale an die nächste Wand, für eventuelles Binge Watching? Es gab ja wirklich tolle Serien zurzeit!

Gut, die Regale also hier an die Wand…

Als alle Bücher, Ordner und Filme einsortiert waren, sah sie auf die Uhr. Halb zwei, gar nicht so schlecht.

Genau, sie würde jetzt ihre Klamotten in den Schrank sortieren und sich danach vielleicht zu IKEA aufmachen. Ein Sofa – das musste sie aber liefern lassen. Oder so ein leichtes, womöglich mit Schlaffunktion?

Dann hätte sie hier Betten für vier Personen, dabei wollte doch eh nie jemand bei ihr übernachten!

Obwohl, jetzt hatte sie ja eine richtige Wohnung, hier musste man sich morgens nicht von den Mitbewohnern misstrauisch anschauen lassen. Andererseits kannte sie überhaupt niemanden, der lieber hier schlafen wollte als bei sich zu Hause! Schließlich war Leisenberg ein besseres Kaff und Leute von außerhalb kannte sie doch gar nicht.

Was für sinnlose Gedanken sie sich gerade machte – auch wenn das schönste und leichteste Sofa ausklappbar war, musste sie es doch nicht ausklappen, oder? Der Schlafsessel war hellgrau. Wenn das Sofa dunkelgrau wäre – ein paar Kissen in Gelb?

Die Regale und der große Tisch waren aus Kiefernholz, passte Gelb dazu? Kiefer und grau – Kissen in Schwarzweiß? In Orange? In Rosa? Uäh, keinesfalls rosa. Das ließ sie wieder an Inga mit dem albernen Freund denken. Ob die wohl schon fertig eingerichtet war?

Was ging es sie an!

Zweimal schwarzweiß und zweimal – gelb! Basta. Orange war viel zu sehr Siebziger Jahre. Mama hatte noch haufenweise Küchengeräte in Orange, unter anderem einen Küchenquirl von Neckermann, einer Marke, von der Amelie noch nie etwas gehört hatte.

Also kein Orange, sondern ein einigermaßen helles Gelb, nicht gerade dotterfarben!

Und sonst?

Eigentlich reichte das für heute. Heute war Donnerstag, morgen würde sie wieder arbeiten und am Samstag konnte sie wirklich mal zu Ikea fahren, wenn es notwendig war. Keinen Schotter anhäufen!

Und was war jetzt in dieser Kiste?

Sofakissen! Gelb, blau, rot, grün. Die hatten auf ihrem Bett gelegen, auf der grauen Tagesdecke.

Die Tagesdecke fand sich auch in der Kiste, sie wanderte umgehend gefaltet in den Schlafzimmerschrank. Dann brauchte sie nachher zwar neue Bezüge, aber eigentlich keine Kissen mehr.

Auf ihren kleinen Balkon zur Straße hinaus schien noch die Nachmittagssonne, also zog sie die quietschbunten Bezüge ab – auch noch aus grobem Cord, was hatte sie sich nur dabei gedacht? – undschleppte einen ihrer Stühle auf den Balkon, um die Kissen darauf in der Sonne auszulegen.

Gut so! In der Kiste fanden sich noch einige Bücher, die sie irgendwie in die Regale stopfte, ihre Teekanne, in Geschirrtücher gewickelt (intelligentes und übersichtliches Packen sah anders aus) und eine gelb-weiß gestreifte Schachtel, in der sich Spielkarten, Würfel und vier Teelichthalter befanden.

Schachtel ins Regal, Teekanne in die Küche, Geschirrtücher gefaltet in einen Küchenschrank, eins davon an den Haken neben der Spüle, Kiste zusammengefaltet in den Flur.

Flur! Der war bis auf einen Packen gefalteter Kisten noch ganz leer – Kunststück, bis jetzt hatte sie solche Haken gehabt, die man oben über die Tür hängte – aber auf die Innenseite!

Wenn sie an IKEA dachte, verlor sie schon wieder die Lust. Ach, sie würde jetzt eine Pause machen, ein wenig einkaufen und mal sehen, ob es nicht nette Geschäfte hier in der Gegend gab. Wenn sie vom Dortmunder Weg nach Norden ging, kam dann nicht die Düsseldorfer Straße? Oder sollte sie zuerst einmal den Wupperweginspizieren?

Am besten beides.

Sie befestigte das Frotteeband um ihren Pferdeschwanz wieder richtig, griff sich Tasche, Geld und Schlüssel und verließ ihr neues Heim. Vielleicht sollte sie auch einmal schauen, welcher Kellerverschlag der ihre war?

Genau, das kam zuerst! Sie sprang die zwei Treppen hinunter, merkte sich vor, dass sie ein ordentliches Schildchen für Briefkasten, Klingelschild und Wohnungstür machen musste, und lief die Kellertreppe, die nicht ganz so schön mit graugesprenkeltem Stein ausgelegt war, etwas vorsichtiger hinunter. Hm… ein warmer quadratischer Raum mit nacktem Estrich, im Hintergrund eine graue Stahltür und ansonsten rundherum Kellerverschläge – und zwei standen offen. In einem von ihnen räumte jemand herum und sie trat näher. Eine Frau in mittleren Jahren, vielleicht fünfzig, sammelte Kram in eine Mülltüte.

„Hallo?“

Die Frau drehte sich um. „Grüß Gott?“

„Ja, Grüß Gott. Ich bin Amelie Preuß und hab die Wohnung von der Frau Holnbeck gemietet.“

„Ach, die san Sie? Sie san erst gestern Morgen eingezogen, gell?“

„Stimmt. Und jetzt weiß ich gar nicht, welcher Keller meiner ist… ich tippe mal auf den neben Ihrem, weil er offensteht?“

„Gut geraten. Ham´S den Greifenklau schon kennengelernt?“

„Oh ja. Er denkt, ich sei Studentin und würde hier dauernd demonstrieren und kiffen. In ganz altmodischen Worten.“

Die Frau kicherte und streckte die Hand aus. „Roswitha Hörl. Der Greifenklau ist harmlos, aber schon recht - naja – alt. Und was tun Sie beruflich?“

„Ich arbeite in einer Literaturagentur.“

„Was macht man da denn?“

„Wir beraten Schriftsteller und suchen den richtigen Verlag für sie.“

„Ja, können´S denn des?“

„Schon. Ich hab Germanistik studiert. Macht viel Spaß, aber heute hab ich frei, wegen des Umzugs.“

Frau Hörl nickte. „Sie werden ein Schloss brauchen, gell? Richtung Düsseldorfer gibt´s einen kleinen Haushaltswarenladen.“

„Super. Ich wollte eh grad schauen, was es hier alles gibt. Lokal einkaufen, gell?“

„Lokal? Wollen Sie essen gehen?“

„Nein, das hab ich jetzt nicht gemeint. Lokal nur im Sinne von „vor Ort“. Besser hier einkaufen als in der Stadt.“

„Gscheit. Na, viel Spaß dabei!“

„Und vielen Dank für den Tipp!“

Also, dann diesen Haushaltswarenladen zuerst! Unterwegs sah sie den Schreibwarenladen, der auch Poststelle und Paketshop zu bieten hatte, wenn man den Aufklebern an der Tür glauben konnte, ein recht spießiges Klamottengeschäft, das man getrost ignorieren konnte, und ein Handarbeitsparadies. Vielleicht irgendwann nicht uninteressant. Schließlich kam der Haushaltswarenladen in Sicht: unglaublich volle vier Schaufenster – der schien ja alles zu haben, was man sich nur vorstellen konnte!

Drinnen sah sie sich fasziniert um; schließlich eilte ein Verkäufer im traditionell grauen Kittel herbei und fragte nach ihren Wünschen.

„Ein Vorhängeschloss? Da haben wir eine schöne Auswahl!“

Tatsächlich, alle Größen, mehrere Farben, mit Schlüssel oder mit Zahlencode. Amelie nahm ein mittelgroßes in Dottergelb mit Schlüssel (sie konnte sich ihre sonstigen PINs und Passwörter ja schon kaum merken!) und kündigte an, sich noch ein bisschen umsehen zu wollen. Der Verkäufer reichte ihr ein Körbchen und legte den Blister mit dem Schloss hinein. „Dann viel Vergnügen!“

Faszinierend, was es hier alles gab – eher Kaufrausch als nachhaltiger Konsum.

Aber schauen musste sie doch.

Ofenhandschuhe! In Gelb und Grau? Die Küchenschränke waren schlicht weiß, dazu passte ja alles. Und wenn sie sich auf Schwarz, Weiß, Grau und Gelbtöne beschränkte, war das Wäschesortieren auch einfacher. Gut, und rosa Klamotten hatte sie natürlich auch.

Geschirrtücher? Oh, ein Dreierpack in Gelb-Grau gestreift, kariert und gezackt? Halbleinen, nicht ganz billig, aber mit Biosiegel, fair trade? Das Siegel kannte sie zwar nicht, aber die Handtücher waren so hübsch…

Ob die wohl auch Kissenbezüge hatten?

Tatsächlich, einen großen Drahtkorb voll, aber viele waren gruselig gemustert. Sie entdeckte einen witzigen in Schwarzweiß und einen in einem schönen zarten Gelbton. Den Rest würde sie wohl anderswo finden.

Einen Kochlöffel, einen Pfannenwender.

Das reichte erst einmal, also eilte sie zur Kasse.

In der Düsseldorfer Straße gab es auch einen Supermarkt, wo sie sich mit dem Nötigsten eindeckte und dann erst einmal alles nach Hause schleppte, den Kühlschrank putzte, zwei Kissen bezog und hübsch auf dem Klappsessel arrangierte und alles Übrige verräumte oder aufhängte.

Gut so - für den Beginn. Und der Fernseher war auch schon ans Kabel angeschlossen.

Bei IKEA brauchte sie nicht nur ein anständiges Sofa – der freie Platz schrie förmlich danach! – sondern auch ein, zwei Kellerregale. Irgendwas Leichtes. Das hätten die in dem Haushaltswarenladen vielleicht auch gehabt, aber ohne Auto? Am Samstag vielleicht; jetzt hatte sie keine Lust mehr.

Sie druckte sich die passenden Schildchen für den Briefkasten und die Wohnungstür und ein provisorisches für die Klingeltafel aus und friemelte sie in die Halterungen. Damit war sie doch angekommen, oder?

Eine Frau, jünger als die Frau Hörl aus dem Keller, schloss die Haustür auf, als Amelie noch mit der Briefkastentür kämpfte. „Wer sind Sie denn?“, fragte sie misstrauisch.

Amelie stellte sich artig vor und erfuhr, dass sie vor Frau Schmalzl stand. Sie musste lachen und Frau Schmalzl kniff sofort die Augen zusammen: „Was ist jetzt da so witzig?“

„Na, die Frau Hörl und Sie, Sie haben so schöne bayerischen Namen – und da komme ich und heiße Preuß, das passt eigentlich gar nicht, oder?“

Als Antwort erhielt sie nur einen vage zustimmenden Laut, dann stieg Frau Schmalzl, die ungefähr so alt sein musste wie sie selbst, aber viel schicker aufgemacht, entschlossen die Treppehinauf.

Dann kannte sie jetzt doch alle außer dem Paar neben ihrer Wohnung. Und wer wohnte über ihr im dritten Stock? Da fehlte draußen ein Klingelschild.

4 Donnerstag

„Und, sitzt du noch im Chaos?“, wollte Rieke wissen, als sie bereits die Speisekarte lasen, obwohl sie doch alle grundsätzlich immer dasselbe aßen.

„Nö, geht eigentlich schon. Möbel stehen, Kram ist verräumt. Komische Leute wohnen da, glaube ich.“

„Huch?“ Bastian sah von seiner Karte auf. „Wie – komisch?“

„Ach, so ein alter Hausl, der auf die Hausmoral schaut, jedenfalls wirkt er so. Und nach dem, was ich im Drogeriemarkt gehört habe, ist im Erdgeschoss eine Art Sekte drin.“

„Da, wo es wie ein Versicherungsbüro ausschaut?“

„Ja, genau. Eine von denen hab ich im Drogeriemarkt gesehen. Ganz in Schwarz in so einer Kutte – und sie hat nur ein Stück der allerbilligsten Seife gekauft. Vielleicht dürfen die nicht mehr – oder sie müssen alles Geld dem Guru geben?“

„Hat die das erzählt oder hast du das irgendwo gelesen?“ Bastian, der alte Skeptiker!

„Gelesen“, schnappte Amelie, „die sah mir nicht aus, als würde sie mit anderen Leuten reden. Ich nehme das Huhn in Hoisin-Sauce. Und vorher Gebackene Wan-Tans.“

„Müssen die nicht Leute auf der Straße anquatschen und Persönlichkeitstests anbieten? Bei denen man dann erfährt, dass man gefährliche Defizite hat und unbedingt Kurse bei – nee, das ist Scientology, oder? Ich will Ente süßsauer und eine große Frühlingsrolle“, verkündete Bastian.

„Gebratene Nudeln mit acht Gemüsen und die scharfe Suppe.“ Rieke klappte die Karte zu und sah sich herausfordernd um. Bastian tat ihr wie immer den Gefallen: „Dass ausgerechnet so ein Kraftpaket wie du vegan isst?“

„Da siehst du´s eben, man braucht kein Fleisch, um Muskeln zu haben.“

„Und als nächstes kommen jetzt der Sojaanbau und die Umweltschäden dadurch. Leute, ihr seid manchmal wie Dinner for One, immer der gleiche Text. Ich sollte euch wohl Miss Sophy und James nennen…“

„Wenn es dir Spaß macht? Wer wohnt jetzt da noch außer den Gurus und dem alten Moralapostel? Sind da wirklich alle merkwürdig, Amy?“

„Weiß nicht. Im Keller war eine etwas ältere Frau, die scheint mir so der Typ Stiegnhausratsch´n zu sein.“

„So eine gibt´s doch in jedem Haus?“

„Bei uns nicht“, behauptete Bastian.

Amelie ignorierte das. „Und eine Blondgelockte wohnt im dritten Stock und hat so getan, als hätte ich mich eingeschlichen. Na gut, leicht übertrieben, vielleicht war sie nur ganz allgemein schlecht gelaunt. Ich kenne die doch alle noch gar nicht!“ Sie überlegte kurz. „Und ob ich die eigentlich alle genauer kennenlernen will, weiß ich auch noch nicht. Aber die Wohnung ist schon wirklich schön, vielen Dank nochmal für die Hilfe.“

„Danke hierfür“, antwortete Bastian, der verzückt die große, duftende Frühlingsrolle betrachtete, die man gerade vor ihn hingestellt hatte.

Rieke tauchte den Löffel in ihre Suppe und fragte, wie es denn mit IKEA-Besuchen aussah; Amelie erläuterte mit vollem Mund ihre Sofa-Überlegungen.

„Gibt´s da schon Vorhangschienen?“

„Ich glaube schon. Mal sehen, was gut hinpasst!“

Das Gespräch wandte sich schließlich anderen Themen zu, bis sie alle satt und ermattet um den Tisch saßen und wie immer überlegten, ob sie tatsächlich noch die gebackene Banane – nein, lieber doch nicht!

„Du kannst jetzt ja glatt vom Kaiserpalast zu Fuß nach Hause gehen“, stellte Rieke neidvoll fest. „Noch ein Vorteil! Und ganz ehrlich, die Leute in der WG waren schon auch komisch. Und viel näher dran.“

o

Ja, zu Fuß nach Hause zu gehen, das hatte was, stellte Amelie danach fest. Das Bahnhofsviertel wirkte zwar auf Uneingeweihte, Touristen (aber wer kam schon, um Leisenberg anzuschauen?) und schreckhafte Gemüter etwas zweifelhaft, war aber doch eher harmlos. Höchstens ein ganz schwacher Hauch Reeperbahn, wenn überhaupt!

Aus der Lessingquelle taumelte ein Gast, der mehrere Gläser zuviel konsumiert haben musste, aber bevor er zu Boden gehen und sich neben der ausgetretenen Stufe zum Eingang schlafen legen konnte, kamen zwei Kumpels hinterher und zerrten ihn wieder auf die Beine. „Geh, Ferdl, komm mit!“

Na, so hundertprozentig zurechnungsfähig schienen die auch nicht mehr zu sein… aber zu dritt würden sie es ja wohl schaffen… Amelie schlenderte weiter.

Zu Beginn des Dortmunder Wegs kam ihr wieder eine klösterliche Gestalt entgegen, aber jetzt war es ein Mann. In dunklem Grau. Und er hatte ein gutes Gesicht, wenn er sie auch giftig musterte, soweit mandas im trüben Licht der Straßenlaterne überhaupt erkennen konnte.

Wahrscheinlich hatten die sowas wie einen Zölibat und da waren ja Weibsbilder natürlich die Verführung pur…

Was konnten Frauen eigentlich dafür, dass Männer sich nicht zusammenreißen konnten? Amelie ärgerte sich, bis sie zu Hause ankam, eilte einigermaßen leise die Treppen hinauf und verschwand in ihrer Wohnung.

Das Bett musste sie noch beziehen, wenigstens ein Laken auf die Matratze…

Sobald das geschafft war, fiel sie zufrieden ins Bett. Morgen wieder Agentur… wenn schon, das machte doch auch Spaß!

5 Freitag

„Und, wie war dein Umzug?“, fragte Marco, einer ihrer beiden Kollegen und lümmelte sich gemütlich in seinen Schreibtischstuhl, wohl um Geschichten von Muskelkater, diversen Pannen und missgünstigen Nachbarn zu genießen.

Amelie lächelte breit. „Ganz problemlos. Ein schönes Haus.“

„Ein ganzes Haus??“

„Unsinn, wozu denn? Zwei Zimmer, Küche, Bad, Balkon. Reicht mir vollkommen.“

„Und wo ist dieses Miniaturkönigreich?“

„In Selling. Mehr Richtung Bahnhofsviertel.“

„Huch!“

„Du bist ein Affe, Marco“, kommentierte Amelie gleichmütig. „Voll das Prinzchen auf der Erbse. Von der Seite aus ist es ziemlich nah zur Altstadt, die Häuser sind alt und solide und die Mieten sind günstig. Was will ich mehr?“

„Eine gute Adresse und richtig Platz?“

„Mehr Platz? Wozu denn? Mein bisschen Kram war locker unterzubringen. Und eine gute Adresse? Damit sich gewisse Kollegen nicht erschrecken müssen? Dass du so ein Seelchen bist, ist doch nicht meine Schuld.“

„Ist der Marco mal wieder pikiert?“, erkundigte sich Sabine, die Dritte im Bunde. „Marco, du wolltest doch unseren esoterischen Dichter noch einmal bequatschen? Er sitzt schon in deiner Ecke und fühlt sich sichtlich unzureichend betreut!“

„Männo!“ Marco eilte davon; Amelie grinste Sabine zu, die vergnügt zwinkerte, und vertiefte sich dann wieder in das Manuskript von Luise van Roos. Es sah nicht schlecht aus – gut gebaute, sehr spannende Geschichte mit den (recht beliebten) Geheimnissen aus der Vergangenheit.

Immerhin bezogen sich die Rückblicke nicht auf die Nazizeit, das war leider allmählich immer das Gleiche, sondern auf die unmittelbare Nachkriegszeit: Schwarzmarktgeschäfte, ein alter, nie aufgeklärter Mord, die Rattenlinie (oder ein ähnliches Netzwerk) und die Folgen für die Gegenwart. Komplex aufgebaut, ohne sich in zu vielen Nebenhandlungen zu verzetteln. Das konnte man gut weiterempfehlen!

Lektorieren konnten Winkler&Partner es ruhig selbst, aber sie würde jetzt einen Werbetext schreiben, der die Leute bei W&P sabbern lassen würde! Nicht mal die böse Katrin Horst konnte da meckern, die Kasparek und die Bensdorf erst recht nicht, die hatten genauso Sinn für Qualität. Bei denen zu arbeiten hätte ihr auch Spaß gemacht, aber LIT-Ag hatte dann doch das bessere Angebot gemacht.

Und sie hatten zum Teil schon interessante und bekannte Autoren im Programm, daneben aber immer ein offenes Ohr für neue Leute.

Jemandem zu sagen, dass sein Erstling leider nichts taugte, war natürlich bitter, aber man konnte mit dem enttäuschten Möchtegernautor auch an einem Text arbeiten, der wenigstens im Ansatz etwas taugte. Und gute Neuentdeckungen waren wirklich ein Fest!

Luise van Roos konnte es, eindeutig. Und ins Programm von W&P passte der Roman allemal, die hatten viel Sinn für Edelkrimis. Sie schrieb einen verlockenden Begleittext (ohne Spoiler, natürlich), las ihn befriedigt durch und zeigte ihn Sabine, die anerkennend nickte. „Ist die Story wirklich so gut?“

„Klasse. Komplex, aber nicht sinnlos verwickelt. Sehr gut geschrieben, interessante Charaktere und originelle Geheimnisse.“

„Ja, das hast du so ungefähr geschrieben. Und jetzt?“

„Ich möchte der van Roos vorschlagen, das Manuskript W&P zu geben, bei denen passt es gut ins Programm. Jetzt rufe ich sie mal an.“

„Mach das!“

Luise von Roos war begeistert und mit allem einverstanden; der Chef der Agentur, Niko Winter, lobte Amelie, bis sie lachte. „Na, W&P könnten immer noch ablehnen, oder?“

„Ist Ihnen das schon mal passiert?“

„In den drei Monaten, in denen ich hier arbeite? Nein, aber das kann ja alles noch kommen, oder?“

„Glaube ich nicht. Sie haben ein Händchen, das ist es!“

Amelie freute sich. Wenn das Manuskript angenommen würde, bekam LIT Ag zwölf Prozent der Verlagsreingewinns aus dem ersten Jahr nach der Veröffentlichung. Und davon gingen elf Prozent an die Agenturleitung und eins an die verantwortliche Agentin. Das konnten neben dem Gehalt ab und an ein paar tausend Euro sein. Okay, oder knapp hundert, wenn der Schmöker sich dann doch nicht verkaufte…

Dann schrieb sie eben selbst auf den wichtigen Seiten hymnische Rezensionen! Schließlich war die Geschichte gut!

So, und was hatte sie jetzt hier?

Eine Liebesgeschichte – er reich und verkorkst, sie arm und harmlos. Ach herrje! Gab es das nicht schon einmal – oder eher tausendmal?

Na, mal sehen, wann der Rohrstock zum Einsatz kam! Sie las weiter und machte sich Notizen. Die Frau konnte schon schreiben, aber die Story war gelinde gesagt ausgelutscht. Und wenn man schon London als Schauplatz wählte, sollte man sich dort ein wenig besser auskennen oder doch wenigstens ab und zu mal im Netz einen Stadtplan zu Rate ziehen!

Origineller wurde die Sache auch nicht, als sie weiterlas. Also, entweder entwickelte diese Frau noch eine persönliche Note oder sie konnte den Kram im Self Publishing rausbringen, gelesen wurde das Zeug ja schon.

Oder… welche Verlage waren denn für solchen seichten Kram bekannt? Da musste sie mal überlegen…

Sie las weiter, holte sich mittags einen Salat und eine Gesämestange im Supermarkt gegenüber, las wieder weiter und fand die etwas unelegant hineingequetschte Krimihandlung nicht wirklich überzeugend: Wieso verdächtigte diese unbedarfte Person nun plötzlich ihren reichen und fürsorglichen – und gar nicht so seltsamen – Liebhaber? Gut, er war ein bisschen älter als sie, aber das ließ sich ja mit einem Vaterkomplex erklären. Das musste diese Corinna Schönburg (wetten, so hieß die nicht wirklich?) aber noch deutlich überzeugender und raffinierter aufbauen!

Nun ja, je weiter sie las, desto eher änderte sich ihre Meinung von Totaler Schwachsinn! zu Kann man was draus machen, wird aber noch viel Arbeit. Und dann vielleicht den Chic-Verlag fragen? Den mit den kitschigen Titelbildern?

Das hielt Sabine auch für eine gute Idee, sofern sich der Roman im Endeffekt als nicht zu bescheuert erweisen sollte.

Marco war seinen Lyriker erst am frühen Nachmittag losgeworden und jammerte nun, der Kerl sei vollkommen beratungsresistent, er stelle sich offenbar vor, ein Verlag werde seine Gedichte in Seide gebunden herausbringen und ein Vermögen damit machen.

„Der soll erst einmal bei Poetry Slams mitmachen, Kleinigkeiten veröffentlichen, sich vielleicht eine Homepage zulegen. Möchtegern-Promis lesen seine Gedichte auf Youtube, all sowas.“

„Was passt ihm denn daran nicht?“

Marco schnaufte. „Seelenlose Technik. Goethe hätte nie…!“

„Quatsch, Goethe war zu seiner Zeit der totale Trendsetter. Allein schon, dass alle seine Fans sich genauso angezogen haben wie er!“, rief Amelie.

Sabine lachte. „Blauer Frack und gelbe Beinkleider. Die Werthertracht!“

„Was hat dein Dichter eigentlich studiert?“, wollte Amelie wissen. „Germanistik kann´s ja eigentlich nicht gewesen sein, oder?“

„Weiß ich gar nicht, Philosophie vielleicht? Jedenfalls schreibt er auf Papier. Mit der Hand.“

„Mit Gänsekiel?“, konnte Amelie sich nicht verkneifen. Sabine ging hohnlachend ab, Marco schniefte wehleidig.