Auf Leben und Tod - Elisa Scheer - E-Book

Auf Leben und Tod E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Marie trifft im Prinzenpark zufällig einen jungen Vater, der sein noch sehr kleines Baby nicht beruhigen kann. Sie hilft ihm und begegnet ihm in der Folge mehrfach, wobei er sich zunehmend als Vertreter merkwürdiger Ideen entpuppt und Marie auf die Nerven zu gehen beginnt. Auch seine Aussagen, wo sich die zugehörige junge Mutter aufhält sind, unklar und widersprüchlich. Er wird nicht nur ihr, sondern auch den Geschwistern seiner Frau immer verdächtiger und schließlich greift auch die Polizei ein, während Marie sich zunehmend in Klein-Gretchen verliebt - und ein bisschen auch in Gretchens Onkel Steffen. Am Ende klären Liz Zimmerl, Max Korka und als Chef Felix Marquart den Fall auf und Marie hat nicht nur einen erfolgreichen Roman geschrieben, sondern auch eine kleine Familie gewonnen.

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Seitenzahl: 313

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Elisa Scheer

Auf Leben und Tod

Kriminalroman

Alles frei erfunden!

Imprint

Auf Leben und Tod. Kriminalroman

Elisa Scheer

Published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.deCopyright: © 2020 R. John 85540 Haar

Cover: privat

ISBN 978-3-752953-75-6

1 - Tag 1

Diese Geschichte war wirklich höherer Blödsinn, fand Marie, als sie sich das bisher Geschriebene mutlos durchlas. Schwachsinn, eindeutig! Und was war die Heldin überhaupt für eine weinerliche Kuh?

Auch wenn man Geschichten für Frauenzeitschriften schrieb (ziemlich dämliche Frauenzeitschriften obendrein, aber man konnte es sich ja wohl kaum aussuchen), musste man nicht so unfeministisch schreiben. Blödes Wort, das gab´s doch gar nicht?

Also etwas feministischer! Diese Laura sollte noch mehr Interessen haben als bloß die Suche nach einem, der sie wegheiratete. Und der Typ, den sie im Auge hatte, sollte vielleicht der Falsche sein, dieser blöde Macho! Dieser andere war viel überzeugender.

Aber zu kritisch durfte sie auch nicht schreiben, denn kritische Frauen kauften sich solche Käseblätter – reines Umfeld für Kosmetikwerbung, wenn nicht sogar für Schönheits-OPs – doch gar nicht mehr. Sie musste also diskret verpacken, was sie den Leserinnen mitgeben wollte. Sie besserte die ersten Abschnitte aus, veränderte die Berufe, um nicht klischeehafter zu sein als unbedingt notwendig, und ließ ihre Laura etwas weniger verzagt auftreten. Einmal hatte sie dem Macho schon gehörig herausgegeben und festgestellt, dass der andere gar nicht so doof war.

Sie kritzelte die nächsten Handlungsschritte auf einen Zettel, denn für den Moment hatte sie von Laura und den beiden Kerlen wirklich genug, außerdem musste sie jetzt bald zur Arbeit. Zu ihrer richtigen Arbeit.

Bei Gothing.

Aber dass sie dort nur Teilzeit machte, kam ihr einerseits durchaus zupass – den ganzen Tag dort herumzuhetzen wie Sonja und Lina, das würde sie dann doch nicht aushalten. Andererseits war mehr als Teilzeit gar nicht drin, denn auch ein Traditionsladen wie die Universitätsbuchhandlung litt durchaus unter der Digitalisierung. Zu dritt kamen sie da locker zurecht und auch den nominellen Geschäftsführer brauchten sie eigentlich nicht, Lina schaffte das locker alleine.

Na gut, dann sollte sie wohl mal diese wunderbar bequemen Sneakers suchen, damit sie fünf Stunden herumstehen, herumlaufen, beraten und kassieren konnte. Hoffentlich kauften heute die Leute die Bücher auch und lasen sie nicht nur an, um sie später im Internet zu kaufen!

Bei E-Books war das ja noch zu verstehen, aber bei Print-Büchern, die im Regal vorrätig waren?

Immerhin hatte Lina dafür gesorgt, dass sie ein großes Angebot an Hörbüchern hatten, die recht gerne genommen wurden.

Und Marie selbst hatte an dem großen Regal mit Unterhaltungsliteratur ein Plakat angebracht, das darauf hinwies, dass Bücher im Netz nicht billiger waren als in der Buchhandlung. Manche schienen das nämlich tatsächlich zu glauben!

Um Amazon Marketplace ein bisschen Konkurrenz zu machen, hatten sie auch eine kleine Stöberecke mit gebrauchten Büchern eingerichtet – nur gut erhaltenen, natürlich. Ansonsten musste man eben zur Lesefabrik oder zum Tafelladen gehen.

Immerhin kamen sie so noch besser zurecht als so manche Konkurrenz, überlegte sie auf dem Weg in die Katharinenstraße. Sonja und Lina waren schon da und diskutierten über ein Plakat, auf dem stand „Herbst ist Wellness“.

„Oh super, dann kann ich ja gehen!“, freute sich Sonja, die ihre Tochter von der Tagesmutter abholen musste. „Lina, dann kann Marie dir das Plakat aufhängen helfen!“

„Sieht gut aus“, fand Marie, die das hinterlegte Herbstbild betrachtete – ein Spazierweg durch einen Buchenwald. Man roch förmlich die gute Luft! „Da hätte ich jetzt auch Lust drauf.“

Lina grinste. „Genau die richtige Reaktion. Kannst du mal hier auf die Leiter steigen? Dann reiche ich dir die Aufhängungen.“

Sobald das Bild hing – so hoch, dass niemand sich den Kopf an der unteren Kante anschlagen konnte, aber nicht so hoch, dass man es nicht mehr richtig erkennen konnte – stellten sie einen sattgelben Holzwürfel darunter und stapelten Bücher auf: Neben einem Überblick über verschiedene Entspannungstechniken, Bänden über Achtsamkeit sich selbst gegenüber, über Minimalismus und über Work-Life-Balance, über Farbsauna, Ölbäder, heiße Steine und verschiedene Massagetechniken gab es auch noch einen Stapel großformatiger Bildbände mit wunderbaren Herbstbildern.

„Bildbände kann man schlecht als E-Book kaufen“, freute Lina sich, „da kommen die Bilder gar nicht mehr gut raus. Und vielleicht denken manche ja auch schon über Weihnachtsgeschenke nach?“

„Im September? Ich weiß nicht. Jetzt ärgern sich doch alle noch über Spekulatius im Supermarkt!“

Zwei Kunden blieben vor dem Herbst-Tisch stehen und betrachteten die Stapel nachdenklich, dann griff sich einer die Work-Life-Balance und die andere die Achtsamkeit und beide strebten zur Kasse. Marie schlüpfte hinter den Tresen und kassierte ab.

Als der Laden wieder einmal leer war, diskutierten sie, ob man die Studienbücher, Einführungen, Techniken und ähnliche Erstsemesterlektüren, noch einmal nachbestellen sollte, denn dieser Tisch war schon sehr abgegrast.

Ferdi, der Geschäftsführer, rief aus dem Büro: „Klar nachbestellen! Das Semester hat noch nicht mal angefangen!“

„Ja doch!“, rief Lina zurück.

Dafür, dass angeblich alle Welt nur noch digital las oder Bücher im Netz kaufte, war der Laden die meiste Zeit heute eigentlich recht gut besucht, stellten sie gegen Abend fest: Sehr ordentlicher Umsatz!

„Wir hängen noch zwei Bilder auf“, schlug Marie vor. „Die Schlange in der Post und auf der anderen Seite eine von uns, die einer Kundin freundlich zwei, drei Bücher an der Kasse überreicht.“

„Super, das machen wir! Und die Packstation am Fuggerplatz ist doch auch so pannenanfällig, das hab ich schon öfter gehört!“

„Dann schaue ich morgen Vormittag mal unauffällig zur Post. Da spielen die meisten in der Warteschlange mit dem Handy herum, da kann man auch ein schönes Foto machen. Leute von hinten, natürlich, wegen Datenschutz.“

„Wie brav wir in den letzten Jahren geworden sind! Ich weiß noch, als ich meinen Daniel kennengelernt habe, haben wir zwar viel weniger mit dem Handy rumgespielt, aber auch viel weniger auf Datenschutz und Mülltrennung geachtet“, sinnierte Lina.

„Dafür hat es hier seitdem keinen Mord mehr gegeben. Ist doch auch schon was! Ich möchte ja nicht mit sowas zu tun haben müssen…“

Lina kicherte. „Ja, gut – aber ich hab mich ja hauptsächlich eingemischt, weil ich dachte, die Bullen kriegen nix gebacken. Und zunehmend, um den einen zu ärgern. Und das war dann der Daniel…“

„Männer ärgern macht aber auch wirklich Spaß“, stimmte Marie zu. Insgeheim überlegte sie, ob der Macho in ihrer Geschichte nicht einfach ein Betrüger – und der andere deckte das auf? Und Laura fiel sowieso nicht auf die Gaunermasche herein, sondern half dem Ermittler? Privatdetektiv? Super, das würde sie nachher machen! Nochmal darüber nachdenken…

Kurz vor sieben rechneten sie schon einmal ab, räumten den Laden ordentlich auf und riefen Ferdi, der seine Diebe-Abschreckung in die Schaufenster packte und schließlich alles narrensicher abschloss.

„Was machst du jetzt?“, fragte Marie.

„Ich hole Alex und Sina von der Nachmittagsbetreuung ab. Nicki ist sicher noch in der Uni und Daniel noch in der Kanzlei. Und du? Eine neue Kurzgeschichte?“

„Klar. Die wollen doch immer drei Stück pro Woche! Zwei hab ich schon, die dritte muss am Freitag geschickt werden. Manchmal ist das schon lästig, aber jede Woche netto vierhundertfünfzig Euro… das nimmt man schon mit.“

„Nicht schlecht. Da würde ich auch Teilzeit machen…“

„Naja, Ferdi hat mir ja auch nicht mehr als zwanzig Stunden angeboten!“

„Der alte Pessimist! Soll ich mal mit Petersen sprechen?“

„Ach, lass nur, eigentlich passt es mir so recht gut. Wenn ich nicht gerade in einer dieser Geschichten festhänge…“

„Na, dann mal ab an den Schreibtisch! Bis morgen!“

Draußen schien gerade noch eine etwas blässliche Frühherbstsonne und Marie merkte jetzt erst, dass sie heute noch kaum frische Luft genossen hatte. Erst am Laptop gesessen, dann Bus gefahren, dann zwischen Büchern herumgelaufen – und auch neue Bücher waren staubig! – und jetzt gleich wieder heim? No, Sir!

Sie würde ein wenig durch den Prinzenpark schlendern und dann eben mit dem anderen Bus nach Mönchberg zurückfahren. Und einkaufen sollte sie auch, der Kühlschrank war praktisch leer.

Die Bäume im Prinzenpark waren schon ziemlich verfärbt, stellte sie fest – das war wohl dieser heiße, trockene Sommer gewesen. Da waren die Bäume bestimmt Anfang Oktober schon fast kahl…

Aber die Herbstsonne war schon schön – und um diese Zeit auch nicht mehr allzu heiß. Sie war absolut nicht die einzige, die so dachte, die Bänke den Hauptweg entlang bis hin zur Isabellenbrücke waren durchweg noch gut besetzt. Vor allem ältere Herrschaften, Mütter mit Kinderwagen, Väter mit Kinderwagen, auf den Wegen Jugendliche auf Inlinern oder Longboards, zumeist von den Fußgängern beschimpft.

Und ganz hinten der Biergarten konnte sich wohl auch nicht über Besuchermangel beklagen!

Aus einem der Kinderwagen quäkte es nachdrücklich heraus; der zugehörige Vater wirkte leicht ratlos und warf ihr einen mitleidheischenden Blick zu. Also verlangsamte sie ihren Schritt und stellte fest: „Da muss sich aber jemand beschweren!“

„Ich weiß gar nicht, was sie wieder hat!“, klagte der Vater. „Ich habe sie vorhin erst gewickelt, gefüttert ist sie auch, was will sie nur?“

Marie spähte in den Kinderwagen. Gott, wie niedlich – und noch so klein! „Wie alt ist sie denn?“

„Sieben Wochen. Haben Sie Kinder?“

„Nein, aber meine beiden Geschwister. Drei Nichten, ein Neffe. Vermutlich hat Ihre Kleine Blähungen.“

„Blähungen?“ Das klang ja völlig ahnungslos! Passte der heute zum allerersten Mal auf seine Tochter auf? „Hat Ihnen das noch niemand gesagt?“

„Nein.“ Das hörte sich abweisend an. Marie zuckte die Achseln, aber da fragte er doch: „Was kann man dagegen tun? Und ist das gefährlich?“

Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und spähte wieder in den Kinderwagen. Das Baby war vor Zorn krebsrot im Gesicht und krähte aus Leibeskräften.

„Gefährlich nicht, aber es ist schmerzhaft. Es dauert eben, bis sich die Verdauung auf die Außenwelt umgestellt hat. Nach drei Monaten lässt das im Allgemeinen stark nach. Bei den Zwerglein in meiner Familie war es jedenfalls so.“

„Mögen Sie keine Kinder?“

„Wie bitte? Wie kommen Sie denn darauf?“

„Weil Sie Zwerglein gesagt haben. Finden Sie das nicht abwertend?“

„Nein, eigentlich nicht.“ Wie war der denn drauf?

„Sie sollten Kinder sagen.“

„Danke für die Aufklärung. Das liefert aber keine Informationen über die Altersstufe.“

„Warum auch? Kinder sind Kinder.“

„Das finde ich jetzt wieder abwertend. Möchten Sie, wenn Sie schon fast in die Schule gehen oder sogar schon fast im Gymmi sind, mit einem Säugling gleichgesetzt werden?“ Sie funkelte ihn an.

Er lächelte melancholisch. „Wenn Gretchen in die Schule muss… schreckliche Vorstellung.“

„Ja, bestimmt. Wenn Sie ihr gleich diese negative Einstellung vermitteln?“

„Gretchen soll so lange spielen dürfen, wie sie will…“

„Mit wem denn, wenn alle anderen in der Schule sind? Und die irrsten Geschichten davon erzählen? Auch wenn die Hälfte davon gar nicht wahr ist.“

„Kinder lügen doch nicht?!“

„Doch, natürlich. Sie übertreiben, sie erfinden – sehr kreativ zumeist – sie sehen Dinge völlig anders als Eltern oder Lehrer. Das ist doch ganz normal und nicht negativ zu bewerten.“

„Sie haben vielleicht Ideen…“

Marie gab einen unwilligen Laut von sich. „Soll ich jetzt mal schauen, ob ich Ihr Gretchen etwas beruhigen kann?“

„Wenn Sie glauben, Sie können das?“

Er sah sie an, als habe er das Na bitte, hab ich ja gleich gesagt schon auf den Lippen. Marie hob die Kleine vorsichtig aus dem Wagen und bettete sie zunächst an ihre Schulter. Gretchen war einen Moment verdutzt, krähte dann aber wieder los.

Marie begann, den kleinen Rücken zu reiben und dabei langsam etwas tiefer zu gleiten. Das Weinen wurde leiser und verstummte schließlich, dafür entfuhr dem winzigen Mädchen ein gut hörbarer Pups.

Marie lachte. „Jetzt ist er raus, Gretchen, gell? Jetzt geht´s dir besser.“

Der Vater staunte. „Und deshalb musste sie so schreien?“

„Was hätte sie denn sonst tun sollen? Ihr Weinen hieß doch bloß Papa, ich hab Bauchweh, mach das weg!“

„Wie – wegmachen?“

„Sie kann doch noch nichts selbst machen, also muss der Papa alles regeln! Den Hunger wegmachen, die volle Windel, die Langeweile, das Gegrummel im Darm. Passen Sie heute zum ersten Mal auf Ihre Tochter auf?“, fragte sie nun doch noch einmal.

„Was meinen Sie damit?“ Was für ein begriffsstutziger Mensch! Hübsch war er, und das Baby war zauberhaft, wie es jetzt an ihrem Hals schnorchelte, aber sie konnte nur denken Armes Gretchen, dein Papa ist nicht der Hellste…

„Warum? Es könnte doch sein, dass heute der erste Tag Ihrer Erziehungszeit ist und Sie Ihre Frau nicht fragen können, weil die ab heute wieder arbeitet?“

„Äh – ja, so ähnlich. Das mit den Blähungen hat sie mir so nicht erklärt.“

„Also, wenn Ihre Tochter nach dem Fläschchen wieder weint, nehmen Sie sie auf und reiben ihr den Rücken, dann lässt der Druck nach. Und achten Sie darauf, dass sie nicht zu hastig trinkt, dabei verschluckt sie sonst zuviel Luft.“

Sie legte das mittlerweile schlafende Baby wieder in den Kinderwagen und erhob sich. „Dann noch einen schönen Abend!“

Merkwürdiger Mensch, überlegte sie auf ihrem weiteren Weg. Und wenn Gretchen ihre Tochter wäre, hätte sie einen so unbedarften Freund/Ehemann auf jeden Fall besser gebrieft, bevor sie ihm das Baby anvertraut hätte. Konnte der nicht wenigstens über Whatsapp nachfragen?

Armes Gretchen. Niedlich war sie wirklich, auch zornrot und mit offenem (zahnlosem) Mund. Ob sie wohl schon lächeln konnte? Wie war das bei ihren Neffenund Nichten gewesen?

Eigentlich war sie auch im besten Alter, so ein Bündelchen in die Welt zu setzen… Na, etwas mehr Geld sollte sie bis dahin noch ansammeln. Die Wohnung weiter abzahlen.

Und vielleicht mal einen richtigen Roman schreiben? Das brachte vielleicht mehr als lumpige hundertfünfzig ein. Diese eine mit dem SM-Softporno hatte sich doch dumm und dämlich verdient… Unter einem anderen Pseudonym? Vielleicht noch mit einem düsteren Zauberer?

Blödsinn, Fifty Shades und Harry Potter konnte man nicht koppeln. Total verschiedene Zielgruppen.

Lieber so eine Mädelsgeschichte mit vielen verrückten Lovern. Da konnte sie selbst reichlich Erinnerungen verwerten, sie hatte schon etliche Frösche geküsst. Und am Ende zurück zum einzig vernünftigen Liebhaber? Hm. Beim nächsten Mann wird alles anders grüßte von ferne.

Gab es denn überhaupt eine Story, die noch keiner verbraucht hatte? Wahrscheinlich war alles schon weg, man konnte es bestenfalls noch anders erzählen.

Zum Beispiel diese endlosen Gestörter-Milliardär-trifft-naive-Jungfrau-Stories mal umdrehen! Armer Mann und reiche Frau…

Nein, klappte nicht. Die Leserinnen wollten davon träumen, einen Milliardär einzufangen, auch wenn er dann die Peitsche schwang. Davon, sich selbst Milliarden zu erarbeiten, träumten sie bestimmt nicht, vor allem, wenn sie in der Realität einen Job hatten, mit dem man so gar nicht reich werden konnte. Eskapismus, das war der Fachbegriff für den Reiz dieser Kitschtexte, genau. War das Germanistikstudium doch nicht ganz umsonst gewesen! Außerdem schaffte es Distanz zum eigenen Geschreibsel.

Also, zurück zur doofen Laura! Und wenn der schöne Macho sich als Betrüger entpuppte, so was wie ein Loverboy oder ein ganz klassischer Heiratsschwindler? Und der angeblich so lahme Konkurrent bringt ihn zur Strecke – als Bulle? Ist dann gar nicht so lahm, verhaut den Bösen?

Nicht zu viel Schlägerei, die Zielgruppe war doch wohl eher romantisch geprägt. Okay, der Bösewicht beleidigt Laura und der Gute tritt ritterlich für sie ein – zack!

Ja, das war sehr schön! Hoffentlich konnte sie sich das auch merken, bis sie wieder vor dem Rechner saß… aber das konnte flott gehen. Und mehr als zehn Seiten wollten die sowieso nicht haben, da konnte sie sich gleich ein paar Plots für nächste Woche überlegen…

Sie saß schon im Bus, als ihr eine super Idee kam: Warum nicht den jungen Vater produktiv verarbeiten? Natürlich nicht als die reale Jammerliese, sondern:

(1) Tapferer alleinerziehender Vater wird von zwei Frauen umschwärmt. Die eine liebt das Kind wirklich, die andere tut nur so, weil sie auf den Vater scharf ist. Typ böse Stiefmutter… Kaukasischer Kreidekreis?

(2) Armes edles Mädchen bekommt ein Kind von einem Prinzen, der es ihr wegnehmen will. Gute Freundin und ihr Bruder stehen ihr bei. Prinz von bösen Eltern angestiftet – daraus ließ sich etwas machen! Yellow Press…

Tipp an die Redaktion: Doku-Reihe über die unehelichen Kinder diverser Kronenträger. Da waren doch gleich wieder ein paar Seiten gefüllt…

(3) Vater ist fies zum Kind, Mutter mischt sich nicht ein (hängt dauernd am Handy usw.), Streitereien, andere Frau bekehrt den Vater mit der Zeit, Mutter wird noch nachlässiger, verlässt ihn, er kann das Gör behalten…) Wirrer Blödsinn- wie jetzt?

Naja… mal sehen. Aber das arme Kind – wollte das einer lesen? Andererseits: mit Hinweisen auf Jugendämter, Beratungsstellen, Schutzorganisationen wie Arche oder so ähnlich? Information der Öffentlichkeit?

So etwas vielleicht an eine etwas weniger auf Heile Welt gebürstete Zeitschrift?

Und für die folgende Woche mal wieder ein paar vornehme Heiratskandidaten – oder Promis? Schauspieler verliebt sich in Fan? Sowas war auch beliebt. Hoppla, Assisiplatz!

Sie sprang aus dem Bus, holte auf dem Weg in den Minoritenweg noch schnell ein paar Bananen, eine Salatgurke, eine kleine Tüte gemischte Nüsse und einen Joghurt. Alles andere reizte sie nicht.

Dieser komische junge Vater! Ob der das kleine Gretchen überhaupt richtig fütterte und wickelte? Die arme Frau, wahrscheinlich war sie bei der Arbeit ganz unkonzentriert, weil sie immer überlegen musste, welchen Quatsch er jetzt wieder machte. Ließ er das Baby womöglich fallen? Oder schüttelte es, natürlich in bester Absicht?

Sie lüftete die Wohnung und legte die Einkäufe in die kleine Küche, dann fuhr sie ihren Laptop hoch, saß aber dann erst einmal untätig davor. Warum beschäftigte das Baby sie so sehr? War sie denn wirklich reif für ein eigenes Kind? Hörte sie diese alberne biologische Uhr klingeln?

Unsinn! Aber wenn sie sich hier so umsah… die Wohnung war klein, aber immerhin gab es drei Zimmer. Und für ihre Schreiberei, die sie ja auch mit Baby machen konnte, brauchte sie eigentlich nicht mehr als eine Unterlage für ihr Notebook. Dann konnte sie aus dem ohnehin kaum genutzten Arbeitszimmer doch auch ein Kinderzimmer…

Schluss jetzt, das war ja schon eine fixe Idee!

Also los! Sie scrollte ein wenig tiefer und schrieb ihr Grundkonzept noch einmal auf, dann setzte sie den Cursor knapp darüber und begann noch einmal ganz von vorn.

Laura und der Ermittler (Franz - wir bleiben bodenständig!) befehden sich aufs Schönste und haben beide einen Riesenspaß dabei, während sie ihm hilft, eine Gruppe von Loverboys unschädlich zu machen.

Marie tippte wie besessen, fügte ab und an eine der alten Szenen ein, wenn sie passte und zu schade zum Wegwerfen war, tippte dann weiter und las sich schließlich die mittlerweile fünf Seiten hoch zufrieden durch. Ja, das hatte was!

Und jetzt gab es eine Banane und einen Joghurt!

2

Wieso ging dieses alberne Weib denn nicht dran? Wütend warf Elke ihr Telefon zwischen die Sofakissen und erhob sich nicht ohne Mühe.

Auf dem Weg zum Fenster fischte sie noch eine Marzipanpraline aus der offenen Schachtel und lutschte ohne echte Befriedigung. Verdarb ihr Lisa jetzt schon den Geschmack an den feinen Pralinés? Dass könnte ihr so passen – erst die Predigten über Übergewicht, Krankheiten und frühen Tod, dann diffuse Ängste schüren? Sollte ihr das den Appetit vermiesen?

Machte Lisa das mit Steffen genauso? Gut, wieder zurück aufs Sofa und ran ans Telefon! Steffen meldete sich, hatte aber von Lisa auch nichts gehört. „Nun lass sie doch, sie arbeitet seit heute wieder! Sie hat einen arbeitslosen Mann, ein Baby und einen schwierigen Job, da muss sie doch nicht dauernd mit uns konferieren. Elke, du bist nicht unsere Mutter! Wovor hast du denn eigentlich Angst?“

„Ich weiß doch selbst, dass das albern ist“, verteidigte sie sich, „aber das Baby ist doch auch noch so winzig, und ob Leo wirklich mit Klein-Gretchen zurechtkommt…?“

„Ja gut, das kann man sich schon fragen. Aber dann ruf doch lieber Leo an und frag ihn, ob er Hilfe brauchen kann! Was hat es für einen Zweck, jetzt die arme Lisa wuschig zu machen?“

„Hast ja Recht…“

Sie nahm sich noch eine Praline und versuchte es dann bei Leo, der etwas gehetzt klang. „Was gibt´s denn, ich wollte Gretchen gerade wickeln! Lisa ist noch nicht da.“

„Ich wollte nur fragen, ob du gut zurechtkommst“, erklärte Elke leicht beleidigt.

„Ich weiß, wie man ein Baby wickelt! Es steht hinten drauf!“

„Auf dem Baby??“

„Auf der Windelpackung! War´s das?“

Elke verabschiedete sich, ohne wirklich beruhigt zu sein. Aber viele Väter mussten wohl erst einmal lernen, mit ihrem Nachwuchs umzugehen…

Sie hatte doch schließlich auch ein eigenes Leben!

Was für ein Leben schon, dachte sie sich ärgerlich, wieder auf dem Sofa sitzend und nach der nächsten Marzipanpraline greifend. Super, das war eine mit einer Zuckermandel obendrauf!

Sie hatte einen Beruf, gut. Sie verdiente auch ordentlich, ebenfalls gut. Die Wohnung war klein, aber hübsch und trug auch erfreulich wenig zu ihrem Carbon Footprint bei. Sie besuchte ab und zu die Eltern, wozu Steffen und Lisa im Allgemeinen wenig Lust verspürten. Nachvollziehbar, fand auch Elke. Immer dieses trübsinnige Gegrummel! Und was die Kinder machten, war grundsätzlich vollkommen falsch. Steffen hätte längst heiraten und wenigstens einen Sohn produzieren sollen, damit der Familienname weiterlebte. Warum musste Hanke eigentlich unbedingt erhalten werden? So hießen doch noch mehr Leute – und wenn die Hankeschen Gene aus dem Genpool der Welt verschwanden, war es doch auch kein Problem. Ihr jedenfalls war es egal.

Lisa war ihrer reproduktiven Pflicht schon nachgekommen, was Mama und Papa anerkannten, aber: nur ein Mädchen? Da musste sie aber noch mit einem Stammhalter nachlegen! Und sich vor allem wie eine richtige Frau um die Kinder kümmern!

Familienvorstellungen wie aus den Dreißigern, murrte Elke in sich hinein.

Und sie selbst hatte ohnehin versagt, mit achtunddreißig war der Zug ja wohl abgefahren. Einmal hatte Mutti vorgeschlagen, ob sie nicht wenigstens, bevor es endgültig zu spät war, notfalls unehelich…?

„Ach? Soll ich dem Führer ein Kind schenken?“, hatte Elke gefragt.

Mutti hatte sich etwas gewunden und dann gemurmelt, dass damals doch nicht alles schlecht gewesen war.

Daraufhin war Elke sehr plötzlich aufgebrochen.

Und das Schlimmste war, dass Leo manchmal ähnlich klang. Glaubte er den Quatsch eigentlich wirklich oder wollte er sich nur bei den alten Hankes einschleimen? Aber wozu? Dass er keinen Job hatte, war doch erst neuesten Datums – und vielleicht ganz nützlich, solange er sich um das Baby kümmern sollte.

Wollte er das überhaupt? Dazu hatte Lisa sich nie so deutlich geäußert.

Und nach dem, was Leo gelegentlich von sich gegeben hatte, war Kinder großzuziehen wohl eher Frauensache.

Warum war er eigentlich rausgeflogen? Oder war die Firma eingegangen? Sie wusste ja gar nicht, wo er gearbeitet hatte! Im Geiste machte sie sich eine Notiz: Unbedingt Lisa fragen! Ja, wie denn?

Aber bestand ihr Lebenszweck nur darin, sich um Lisa und Steffen zu sorgen? Und sich über ihre schon recht anstrengenden Eltern zu ärgern?

Nein!

Jetzt würde sie endlich einmal etwas für sich tun! Nur: Was?

3 – Tag 2

Marie hatte Laura zwischen zwei Männern und noch eine Geschichte abgeschickt und war recht zufrieden mit sich: Bis nächsten Freitag nur noch zwei Stories – und sie hatte aus der langen Liste von Entwürfen, die zwischen GENIAL! Und SCHWACHSINN! schwankten, schon zwei Ideen ausgesucht und sich zu einer genauere Gedanken gemacht:

Frau ist schwanger, der Typ hat kein Interesse, also bricht sie den Kontakt ab und will das Kleine alleine großziehen. Sozialmärchen? Dazu musste sie die Lebensbedingungen so auswählen, dass die Frau das auch hinkriegen konnte, ohne bei Hartz 4 zu landen. Sollte sie Freiberuflerin sein? Oder einen Job haben, wo man das Baby mitbringen konnte? Zum Beispiel Hausbesuche als IT-Spezialistin machen? Da konnte man doch wohl eine Babyschale mitbringen, während man ein Netzwerk einrichtete? Vorläufig wenigstens. Langfristig musste natürlich ein besserer Kerl her, Geschichten ohne ein konventionelles Happyend gingen gar nicht. Nicht in dieser Art Zeitschriften!

Sie sollte wirklich einmal etwas Anspruchsvolleres schreiben. Aber sie wusste gar nicht, ob sie das überhaupt konnte – und wann sollte sie die Zeit dafür finden?

Drei Geschichten pro Woche, das band schon fast ihre ganze Zeit! Und jetzt sollte sie mit der jungen Mutter anfangen, anstatt über mehr als vage Pläne nachzudenken.

Sie schaffte drei Seiten, auf denen Carola? Carla? Cora? Carina? – Carina war gut, also Carina liebevoll mit ihrer kleinen Tochter umging und sich recht gut mit einem Nachbarn verstand. Dann packte sie Klein-Lotte in die Babywippe und brach zu mehreren Kunden auf, bei denen die Rechner verrücktspielten.

Lotte mault halblaut und kaut auf einem Brezenstück herum, während die Mama Netzwerkverbindungen überprüft, Verkabelungen optimiert und neue Geräte anschließt und mit den passenden Treibern versieht. Einmal muss sie sogar ein wenig Excel-Nachhilfe geben… Lotte ist ganz brav.

Marie las sich das bisher Geschriebene zufrieden durch und überlegte, ob der Nachbar der Mann der Wahl sein konnte oder ob sie einen Konkurrenten einführen sollte – nach drei Seiten war gerade noch Zeit dafür!

Besser noch einen, oder?

Ja. Etwas jünger, moderner und einer, der auch mal auf Lotte aufpassen wollte. Und ein bisschen frech konnte er auch sein. Gut, der nächste Kunde mit seinem Start-up, bei dem das Firmennetz den Geist aufgegeben hatte und der außerdem keine anständige Firewall hatte, sollte sich mit ein paar flotten Sprüchen für sie und für Lottchen interessieren.

Das entwickelte sie noch ein Stück weiter, dann reichte es ihr wieder und sie musste ohnehin zu Gothing. Heute hatte auch noch Sonja frei und Lina, sie und diese Aushilfe Isabel mussten so zurechtkommen. Isabel war nicht die hellste Kerze auf der Torte, aber immerhin willig…

Andererseits war Anfang September noch kein so großer Andrang, was das neue Semester betraf. Urlaubsziele waren wohl kein Thema mehr, also konnten sie weiter umbauen. Diese Themeninseln hatte Lina sich vor etlichen Jahren ausgedacht, wahrscheinlich, um sich von dem Mord an ihrer Kollegin abzulenken. Und weil Gothing ja zu XP gehörte, hatte sich dann auch der XP-Chef, Petersen, dafür interessiert und immer mehr Anteil an Gothing genommen. Wenn sie heute etwas wollten, neue Software oder so, war das im Allgemeinen gar kein Problem.

Sie lehnte die Wange an das kühle Busfenster und plante. Studieninformationen – diese wunderbaren „Einführung ins Studium der/des…“- Bände in kleinen Stapeln, vielleicht in einem Remittendentisch, den Rücken nach oben. Und ab und zu mal schauen, ob ein Fach schon wieder fehlte…

Übersichten, Literaturgeschichten, Sachwörterbücher – nicht jeder kam mit besten Voraussetzungen aus der Schule…

Zeitmanagement! Angeblich lernten die Leute das ja jetzt auch in der Schule, aber bei manchen funktionierte es noch nicht so recht. Na, bei richtig Erwachsenen auch noch nicht unbedingt – sie kannte da Leute…

Hm. War sie selbst ein Musterbeispiel für Selbstmanagement? Wusste sie denn wirklich, was sie machen wollte? Ein Teilzeitjob und doofe Kurzgeschichten, war das ihr Traum? Kurzgeschichten für Mädels, die ernsthaft Frauenzeitschriften lasen - und nicht gerade sowas wie Emma! Eher die mit Promis, Royals, Superwimperntuschen und jeder Woche zwei neuen Wunderdiäten. Sollte man eigentlich gar nicht unterstützen, das war ja fast wie Dealen! Dealen mit Hilfsmitteln zur Realitätsflucht!

Sie stieg aus und lief die Katharinenstraße entlang bis zu Gothing, wo Lina bereits sinnend den Tisch mitten im Raum betrachtete und Isabel untätig herumstand. Kunden waren keine zu sehen.

Marie schlug den Remittendentisch vor, über den sie im Bus schon nachgedacht hatte, und Lina lobte die Idee. Sie arrangierten alle Nachschlagewerke und Einführungen so, dass es eine Lust sein musste, einen großen Stapel zur Kasse zu tragen, und fügten Zeitmanagement, Tipps zum Schreiben wissenschaftlicher Arbeiten und zur Recherche im Netz hinzu.

Dann grinste Lina so breit, wie nur sie es konnte. „Ich hab ja noch was, das können wir jetzt vielleicht mal brauchen.“

Sie eilte ins Büro, das zugleich auch eine Art unstrukturiertes Lager darstellte, und kam mit einem merkwürdigen Napf zurück, den sie so auf den Tisch setzte, dass er die anderen Texte etwas überragte.

„Schaut aus wie ein Wok“, stellte Marie fest.

„War er auch mal. Hat sich nicht bewährt, die Beschichtung war schlecht. Da haben wir ihn himmelblau angemalt und Blumen hineingefüllt, aber dafür hat er sich auch nicht geeignet.“

„Und was willst du jetzt damit machen?“

„Siehst du gleich!“

Sie nahm aus jedem Stapel Semesterlektüren einige Exemplare und warf sie dann in den Wok, wo das Gelb der Heftchen gut zum Hellblau des Metalls passte.

Marie zog das Blatt „Halber Preis!“ aus dem Texthalter, der vom Rand des Tischs aufragte. „Ich schreibe etwas Neues – Blau auf Blassgelb? Das neue Semester kommt! Na, oder so ähnlich?“

„Nein, genauso, das passt gut.“

Marie eilte ins Büro und kam schnell mit dem Blatt zur neuen Installation zurück. Lina fädelte das Blatt ein und betrachtete sich das Werk wohlgefällig.

Marie bat Isabel, ihr zu helfen, und gemeinsam bauten sie den anderen Thementisch ab, denn „Schöne Ferien!“ war ja nun wirklich nicht mehr aktuell. Isabelle trug brav die Bildbände weg und sortierte sie wieder richtig ein, Marie säuberte den Tisch und schob ihn dann ins Büro.

Buchhandlung machte Spaß, das konnte sie nicht leugnen. Das Schreiben machte aber auch Spaß, also hatte sie doch alles richtig gemacht? Nur von diesem Extremkitsch musste sie sich langsam entfernen. Und einen netten Mann könnte sie auch mal wieder vertragen, natürlich nicht auf Dauer…

„Sollten wir nicht auch mal die Schaufenster überprüfen?“

Ja, das fand Lina auch.

Isabel, die schon wieder unbeschäftigt an einem Regal lehnte (ohne zu sehen, dass darin einige Bücher umgefallen waren!), musste die Bücher herausreichen und dann das Fenster aussaugen.

„Verschossen“, murrte Lina. „Naja, halber Preis… sagt Ferdi auch immer.“

„Wo ist der heute eigentlich?“

„Hilft seiner Tochter beim Umzug. Wetten, morgen hat er einen Hexenschuss?“

Marie kicherte, als sie sich den im rechten Winkel, eine Hand ins Kreuz gepresst, herumschleichenden Ferdi vorstellte.

Immerhin kamen jetzt auch mal Kunden! Nicht viele, aber immerhin, eine Handvoll Krimis, zwei Studieneinführungen, ein paar Hörbücher, tatsächlich noch einige DVDs…

„Meinst du, DVDs wird man noch lange produzieren?“, fragte sie Lina danach. „Die Filme gibt´s doch alle auch bei Streamingdiensten?“

„Naja, schon, aber je ausgefallener, desto nein, gell? Ich hab schon ab und zu nach besonderen Filmen gesucht und sie nirgendwo gefunden. Und gerade gute Blu-Rays mit super Auflösung und vielen Sprachversionen, das ist schon was anderes als bloß auf Netflix klicken – oder wie auch immer. Solange wir nicht erkennbar auf unseren Filmen sitzenbleiben, sollten wir dabeibleiben,denke ich.“

Stimmte wohl, überlegte Marie. „Und wenn wir die auch ein bisschen in den Vordergrund rücken? Die Tage werden ja wieder kürzer, man sitzt mehr auf dem Sofa – Krimiklassiker? Haben wir da was da?“

„Marie, du machst mir Konkurrenz, sehr gut! Wir haben eine ganze Menge im Lager. Und wenn wir den kleinen Tisch da drüben hinstellen, finden die Leute auch gleich das Regal mit weiteren Bänden. Kannst du mal schauen, ob du im Netz ein Bild findest, wo Leute gierig fernsehen und sich dabei Chips in den Mund stopfen?“

„Mach ich. Aber dann kaufen die Leute hier eine DVD und bestellen sich den Rest im Netz.“

„Na und? Eine DVD ist besser als keine. Und sie können ja auch bei uns bestellen und das Zeug morgen abholen. Müssen sie schon wieder nicht zu Hause bleiben oder dauernd die Sendungsverfolgung anklicken. Das ist doch auch lästig.“

„Kauft ihr gar nichts online?“, fragte Isabel, die gerade einen vereinsamten Kunden abgefertigt hatte.

„Doch“, sagte Marie. „Klamotten, zum Teil. Und E-Books. Die sparen so schön Platz.“

„Klamotten“, sagte auch Lina. „Geht schneller. Also, Schuhe nicht, obwohl Schuhe kaufen mit Kindern echt keinen Spaß macht, da muss Daniel dann mit.“

„Meine Mutter war mal mit meiner Schwester in München. Und da gab´s einen Schuhladen mit einer Rutschbahn im Laden. Die Anne war gar nicht mehr aus dem Laden zu bringen!“

Von wenigen Kunden unterbrochen, bastelten sie den Krimiklassiker-Tisch fertig, garniert mit einem passenden Bild, auf dem mehrere Personen auf einem Sofa saßen, Popcorn futterten und gebannt auf einen Bildschirm starrten.

Marie stellte fest, dass sie selbst Lust gehabt hätte, sich den einen oder anderen Edgar Wallace, Dr. Mabuse oder auch einen Tatort-Klassiker zuzulegen. Na, vielleicht vor dem Wochenende!

Als sie schließen konnten, war zwar der Laden frisch dekoriert, aber die Tageseinnahmen waren eher peinlich.

„Macht nichts“, verfügte Lina, „Freitag und Samstag kommen doch immer weniger Leute. Und wenn das Semester beginnt, ist die Bude wieder rappelvoll. Studienbücher kauft man lieber analog, Digitales lässt sich so schlecht weiterverkaufen. Was macht ihr jetzt?“

Isabel wollte „auf die Piste“, Lina selbst würde mit ihren Kindern essen und später vielleicht mit ihrem Mann noch irgendwo ein Eis essen gehen, Marie überlegte. „Ich glaube, ich gehe durch den Park zum Bus und dann besuche ich meine Eltern. Da kriege ich bestimmt etwas Gutes zu essen. Zum Kochen bin ich heute zu faul.“

Sie schlenderte auf dem Heimweg gemütlich durch den Park, bewunderte die rückseitige Fassade der Universität, wie sie durch die noch einigermaßen dicht belaubten Parkbäume schimmerte, fand, dass der zartrosa Anstrich der Uni gut zu Gesicht stand, und genoss den etwas blässlichen Sonnenschein. Besonders wärmen konnte er nicht mehr – wahrscheinlich waren deshalb heute viel weniger Parkbänke besetzt.

Ach, und schon wieder ein Kinderwagen!

Nein, eine Frau schob ihn leicht hin und her. Ob das Gretchens Mutter war? Sie konnte ja auch mal frei haben? Teilzeit? Aber der Kinderwagen sah doch ganz anders aus als beim letzten Mal?

Das war einfach eine ganz andere Familie.

Und außerdem ging Gretchen sie rein gar nichts an, auch wenn sie so kleine Babys schon niedlich fand. Aber warum lief sie dann schon wieder durch den Park? Genau genommen gab es auch in der Katharinenstraße frische Luft. Naja, fast. Da fuhren schon viele Autos. Trotzdem – sie überlegte, ob sie nicht hier entlangtrottete, um den hilflosen Vater und sein gnatziges Gretchen wieder zu sehen.

Blödsinn, so interessant war er nun wirklich nicht gewesen! Außerdem war er ja gar nicht da. Besser so, wirklich.

Leider sah sie ihn einige Schritte später tatsächlich, er kam ihr mit dem Kinderwagen entgegen und lächelte schon von weitem.

Sie lächelte auch, etwas distanzierter, wie sie hoffte, und wollte mit einem Nicken an ihm vorbei.

„Heute ist Gretchen ganz friedlich“, sagte er in diesem Moment und jetzt wäre es unhöflich gewesen, einfach weiterzugehen.

„Keine Blähungen mehr?“, fragte sie also und warf einen kurzen Blick in den Wagen. Das Baby schlief.

„Manchmal schon noch, aber heute ist alles gut, sie ist ein richtiger Schatz.“ Er lächelte glücklich und Marie überlegte, dass er eigentlich doch recht nett aussah und sich als junger Vater vielleicht gar nicht so schlecht hielt. Also lächelte sie zurück. „Das freut mich zu hören. Sie ist ja auch wirklich niedlich!“

„Nicht wahr?“, antwortete er stolz.

„Und Sie machen jetzt also die Papamonate. Das finde ich gut. Es gibt ja immer noch Väter, die finden, so kleine Kinder gehörten zur Mutter – und außerdem sei ihre Karriere viel wichtiger und dürfe nicht unterbrochen werden.“

„Nun ja, das kann man ja auch wieder verstehen, oder? Schließlich muss man doch seine Familie ernähren, nicht?“

„Aber das tut jetzt ja wohl Ihre Frau, oder?“

Eine Frau mit Buggy kam vorbei, eifrig telefonierend und das Baby, das sie etwas ratlos anstarrte, vollkommen ignorierend.

Marie musterte sie mit finsterer Miene, der junge Vater nickte bei dem Anblick billigend.

„Sie finden das richtig?“, fragte Marie ärgerlich.

„Aber ja, natürlich? Eine junge Mutter, die ihr Kind spazieren fährt, das ist doch nett. Und sozusagen auch das Übliche, nicht?“

„Eine Mutter, die sich nicht mit dem Kind beschäftigt, sondern die ganze Zeit in ihr Handy quasselt? Das Kind hat ganz verwirrt gewirkt, so unbeachtet. Fehlt bloß noch, dass sie dabei raucht!“

„Ja, da mögen Sie Recht haben…“ Überzeugt klang das nicht, fand Marie, aber was ging es sie an. Sie kannte den Typen doch gar nicht!

„Ich heiße Leo Henning“, sagte er in diesem Moment und lächelte wie ein kleiner Bub. Etwas Jungenhaftes hatte er tatsächlich.

„Marie Gutzeit“, antwortete sie eher ungern. Nicht, dass sie sich da einen Stalker eingefangen hatte! Sofort tadelte sie sich – der Mann war doch ganz harmlos und war bis jetzt auch noch gar nicht lästig geworden! War dieses Misstrauen etwa schon eine Alterserscheinung? Mit einunddreißig?

Also lächelte sie freundlicher, als sie ursprünglich vorgehabt hatte. Dieser junge Vater, Leo, strahlte sie dankbar an.

Niedlich, unbestreitbar.

Sie schaffte es aber trotzdem, sich mit dem Hinweis auf eine Verabredung zu verabschieden.

„Verabredung? Sicher mit Ihrem Freund, nicht wahr?“

Das ging ja wohl doch zu weit. Und ihn gar nichts an!

„Ich besuche meine Eltern“, beschied sie ihn etwas von oben herab. „Also, man sieht sich.“

„Wann?“

„Irgendwann – wir sind doch beide gerne im Prinzenpark unterwegs?“

Damit eilte sie davon.

Nett, aber merkwürdig. Und was sollte das mit dem Freund? Der Typ war doch verheiratet? Oder sonstwie mit Gretchens Mutter zusammen, die jetzt für Mann und Kind arbeitete.

Immerhin aber offenbar eine recht fortschrittliche Beziehung mit Sinn für Rollenwechsel…

Lobenswert, das war unbestreitbar. Warum eigentlich war sie so kritisch? Wollte sie auf einen Heiligen warten? Wartete sie überhaupt? Wozu denn?

Kurz dachte sie, während sie in den Bus stieg, an das kleine Gretchen. Ja, sie hatte über ein Baby nachgedacht. Wohl auch so eine spontane Anwandlung – das musste man nicht weiter ernst nehmen. Am besten vermied sie jetzt eine Zeitlang den Prinzenpark, dann war das Problem schon wieder gelöst.

Sie lehnte die Wange an die kühle Busscheibe und starrte blicklos nach draußen, wo ohnehin nicht viel zu sehen war, denn die Scheibe war doch sehr lange nicht mehr geputzt worden.

Wieso eigentlich Problem? Ein harmloser und eigentlich nicht unattraktiver junger Mann und ein niedliches Baby – und im Hintergrund eine Ehefrau, die wohl einen gut dotierten Job hatte. Besser dotiert als seiner, vermutlich. Da war für sie doch ohnehin kein Platz mehr!

Sie stieg am Zollhausplatz aus und wartete auf den Bus nach Leiching Süd. Was Mama wohl gekocht hatte? Bei den Eltern zu essen hatte so etwas von Rückkehr in die Kindheit, eigentlich ganz nett, gerade, wenn es so unter der Woche stattfand.

Ob Anne und Robin auch vorbeischauten?

Schließlich kam endlich auch der Bus nach Süden und Marie stieg ein. Nein, die Eltern waren wirklich sehr in Ordnung und nur ganz selten etwas verstört durch Neuerungen wie Gendervielfalt, Digitalisierung oder Downsizing.

Sie waren auch wirklich herzlich, das merkte sie auch jetzt wieder, als sie an der leicht verwitterten Tür läutete und ihr Vater sie anstrahlte und sogleich fest in den Arm nahm. Auch Mama schaute aus der Küche, umarmte ihre Jüngste und schickte sie in das große Wohnzimmer, dort seien auch die anderen.