Lockdownmord - Elisa Scheer - E-Book

Lockdownmord E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Ein hervorragender Historiker kurz vor der Habilitation wird im Durchhaus der Peutingergasse ermordet aufgefunden. Die Historische Fakultät in toto ist geschockt, mit Ausnahme von Hans Lermann, der genau genommen aber gar kein Fakultätsmitglied ist - denn er habilitiert sich nicht, weil er glaubt, das nicht nötig zu haben, und gibt auch keine Kurse, weil ihm das unter seiner Würde zu sein erscheint. Statt dessen schreibt er triviale Biografien über vorgeblich "große Männer", nicht sehr wissenschaftlich, aber, wie sogar seine entnervte Exfreundin Carina Bercks zugeben muss, gut geschrieben. Der Tote hatte offenbar überhaupt keine Feinde - oder doch? Die Kripo Leisenberg verzweifelt schier, weil niemand ein Motiv zu haben scheint und beiläufige Hinweise bei Befragungen in immer wieder neue Sackgassen führen; Carina verzweifelt ebenfalls, weil Hans nicht zur Kenntnis nimmt, dass sie Schluss gemacht hat, und verlangt, sie müsse sich um seine Wohnung und seine Wäsche kümmern, denn ihm als Wissenschaftler sei so etwas schließlich nicht zuzumuten; ihre drei recht seltsamen Geschwister sind nicht viel besser. Schließlich führt eine der Sackgassen auf verschiedenen Umwegen doch noch zur Lösung und Carina hat eine deutlich bessere, da gleichberechtigte Beziehung gefunden - soweit das im Lockdown im Frühsommer 2020 überhaupt möglich ist.

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Seitenzahl: 321

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Alles ist frei erfunden!

1

Langsam nervte es, immer zu Hause zu sitzen! Sie hatte die Zeit zwar schon gut genutzt und nicht nur ihre Verwaltungsaufgaben im Home Office pünktlich erledigt – Freilinger hatte das allen Angestellten bei Immomax sofort freigestellt, anders als viele andere Arbeitgeber –, sondern auch diese Zwergenbude mal so richtig auf Vordermann gebracht.

Sie sah sich seufzend um. Als sie die Wohnung ergattert hatte, war sie so glücklich gewesen – Uninähe, in einem der putzigen Durchhäuser, wo es so viele lustige Geschäfte gab, und dann die witzige Farbwahl mit den bunten Fensterrahmen und den kontrastfarbigen Fensterriegeln und Türklinken, voll die poppigen Siebziger! Aber damals hatte sie ja auch noch studiert…

Und jetzt gefiel ihr zwar die Gegend – nun ja – aber die Wohnung war schon verdammt klein. Keine dreißig Quadratmeter, da war sie sicher…

Eigentlich sollten dreißig – gut, eher fünfundzwanzig – Quadratmeter für eine Person aber doch ausreichen? Und einen Kellerverschlag hatte sie doch auch noch, zwei mal drei Meter oder so etwa… dann waren es ja sogar mehr als dreißig!

Hans machte natürlich immer wieder blöde Witze über den „Karnickelstall“, aber immerhin war ihre Wohnung sauber und gepflegt – und seine vier Riesenzimmer (Altbau obendrein) hätte er ruhig mal putzen können, aber dafür hatte Mr. Oberwichtig ja niemals Zeit. Du weißt doch gar nicht, was Forschung bedeutet, das war sein Lieblingsargument. Als hätte sie gerade mal einen schwachen Quali geschafft und nicht einen Master in Betriebswirtschaft, Schwerpunkt Immobilienwirtschaft.

Wohnungen verticken kann ja wohl jeder… und überhaupt, Eigentumswohnungen, damit nimmt man doch bloß den armen Leuten die Wohnungen weg!

Hans hatte schon einen rechten Drang zum Dummschwätzertum!

Das war sie andererseits aber gewöhnt. Für sie war diese Pandemie direkt ein Gottesgeschenk, denn Celina und Julian hatten wegen ihrer Kinder schreckliche Angst vor einer Infektion und sich Carinas Besuche verbeten, wenn sie nicht gerade einen Babysitter brauchten. Natürlich trug Carina brav überall eine Maske, blieb im Homeoffice und kam außer zum Besorgen der allernötigsten Lebensmittel nie unter Leute, aber man wusste ja nie, nicht wahr? Und sicher gab es in der schrecklichen Altstadt viel mehr von diesen Viren als im beschaulichen Waldstetten oder Kirchfelden.

Alle drei waren blöd und übergriffig – nur weil sie die Jüngste war? Weil sie alle dachten, sie habe nichts zu tun, dann könne sie ja auch dies und das für die anderen erledigen?

Carina und Julian hatten die Hosen voll und sahen den Untergang des Abendlandes heraufziehen, Florian – noch blöder! – behauptete dagegen, es handle sich um eine ganz normale Grippe, die da oben wollten den Hype nur dazu nutzen, alle Grundrechte abzuschaffen. Einmal hatte sie versucht, ihm das Prinzip der Notstandsgesetze und den Unterschied zwischen Menschen- und Bürgerrechten zu erklären: dreifacher Hohn: „Woher willst ausgerechnet du das denn wissen?“

„Ich hab in Geschichte Abi gemacht“, hatte sie beleidigt geantwortet, aber die anderen hatten nur abgewunken. Blödes Volk.

Die Kinder waren ja ganz nett, aber nicht gerade gut erzogen – und vor allem Celina war immer nur am Jammern, über die Schulschließungen, über den Druck auf die Kinder, über die Medien, über die stressigen Zeiten… Du hast es gut, du hast ja nichts zu tun. Grober Fehler!

Außerdem hatte sie weiß Gott genug zu tun – sie arbeitete ganz normal Vollzeit bei Immomax, was recht unproblematisch war, da Max Freilinger schon länger alle Abläufe digitalisiert hatte. Natürlich musste man trotzdem alles auch ausdrucken und irgendwann mal abheften, aber das hatte ja wohl Zeit, Max, der praktisch als einziger im Büro saß, lud vorläufig alles in die Cloud hoch, die Immomax bei einem zuverlässigen deutschen Anbieter hatte. Nicht, dass irgendwelche Amis unsere Verträge lesen und uns dann wegen irgendwelchem Scheiß verklagen wollen, hatte er augenzwinkernd erklärt.

Und dann gab es ja auch noch Hans, der sie gerne zu niederen Diensten heranzog, was besorgen, was bügeln, Knöpfe annähen. Vieles hatte sie ihm schon abgewöhnt, aber das hatte die Beziehung nicht unbedingt verbessert. Und wenn sie es recht bedachte, war ihr das auch ziemlich egal. Hans war ein eingebildeter Macho, der sich noch obendrein für den Shooting Star der Neueren Geschichte an der UL hielt. Carina schätzte das als völlig übertrieben ein, aber was galt ihre Meinung denn schon? Da war Hans nicht besser als ihre grässlichen Geschwister, die ihm übrigens alles zu glauben schienen.

Jetzt saß sie hier schon eine gute Stunde und tat sich sinnlos leid! Sie musste etwas ändern, anstatt sich als Opfer zu fühlen!

Hans konnte seine Riesenwohnung ab sofort ganz alleine putzen – oder im Dreck ersticken, das war ihr doch egal.

Und hier musste sich auch etwas ändern!

Sie sah sich um, alles war aufgeräumt und geputzt, da konnte man nicht meckern, aber es sah so voll aus – drei Regale voller Bücher, DVDs, Musik-CDs.

Du lieber Himmel, CDs? Sie hatte gar keinen CD-Player mehr - das Zeug kam weg, ganz klar!

In den Schubladen unter dem Bettsofa fand sie etliche Tüten und auch größere Pappschachteln, die stabil wirkten. Bloß diese bescheuerten Blumenmuster! Hier oben hatten die nichts zu suchen.

Die größte Kiste (rosa Röschen!) war leer. Gut, bis  auf einige Zettel, deren Bedeutung ihr nicht mehr klar wurde, außerdem waren die von 2017. Und ein Spitzentaschentuch – woher kam das bloß? Unhygienisch und affig. Naja, mitwaschen und dann ab ins Sozialkaufhaus!

Sie klopfte das Rosenscheusal aus und schichtete sämtliche CDs  hinein. Platz war noch genug… DVDs?

Sie zählte sie überschlägig – 54 Stück? Und was davon schaute sie sich wirklich an? Sie fand zehn erklärtermaßen doofe Filme (ab ins Sozialkaufhaus) und fast zwanzig, die sie vorläufig nicht mehr brauchte, die konnten auch noch in diese Kellerkiste. Damit war die Kiste voll; sie beschriftete sie mit Hilfe eines Post-its und stellte sie dann vor die Wohnungstür. Der gefühlt einen Quadratmeter große Flur war damit praktisch unpassierbar.

Nach einer weiteren spannenden Stunde hatte sie auch noch eine Riesentasche voller Bücher aussortiert, die man spenden konnte, und eine Papiertüte mit den Büchern, die eindeutig Schwachsinn waren. Oder total veraltet – das galt vor allem für Softwarehandbücher.

Weitere Tüten füllten den Flur – aber immerhin war jetzt eins der Regale so gut wie leer! Bevor sie die Wohnungstür nicht mehr öffnen konnte, sollte sie die Tüten und die Kiste fürs Sozialkaufhaus mal in den Kofferraum schaffen. Und den Schwachsinn in die Papiertonne!

Als sie erschöpft und zerzaust zurückkam, sank sie erst einmal auf ihren Schreibtischsessel – der Schreibtisch war die einzige Oase der Perfektion in diesem vollgestopften Kabuff. Das leere Regal musste nun eigentlich in den Keller, aber der war doch ohnehin schon voll! Schrecklich.

Doch, sie würde es noch hinunterschaffen und zwei große Müllsäcke mitnehmen – und eine Tasche, falls sie etwas Spendenswertes fand. Kaum vorstellbar…

Immerhin war das Regal zwar groß, aber relativ leicht. Sie wuchtete es auf ihre Sackkarre, die aus unerfindlichen Gründen in der Wohnung stand, wo sie rein gar nichts verloren hatte und auch nur Platz wegnahm, und schob die Karre dann in den Aufzug.

Mit etwas Herumräumen und auch einiger Gewalt passte das Regal noch in den kleinen Verschlag. Ein zweites musste eigentlich auch noch gehen – später. Oder morgen. Morgen war immerhin Samstag…

Oben sah es kaum besser aus, aber jetzt würde sie erst einmal Max schreiben, ob er noch einen Auftrag für sie hatte – vielleicht nachher noch eine Konferenz?

Im Postfach war nur eine handschriftliche Notiz, gescannt, mit der Bitte, den Text zu tippen und in die Immomax-Cloud zu speichern. Das tat sie gleich.

Die blassgelben Fensterrahmen mit den hellorange lackierten Fenstergriffen sahen eigentlich recht gut aus. Die Möbel waren weiß, zwei Regale, ein Kleiderschrank, ein Schreibtisch, ein schmales Bett. Wenn nichts herumläge, sähe die Wohnung vielleicht doch ganz nett aus. Minimalismus! Und den Vorhang vor der Kochecke sollte sie eben mal zuziehen… Nein, erst mal abspülen und die winzige Arbeitsplatte schrubben.

Und den Müll wegtragen.

Bevor sie aktiv werden konnte, läutete das Telefon. Sie nahm das Gespräch an, ohne auf die Nummer zu schauen: „Max? Liegt noch was an?“

„Was? Wer ist Max?“

Hans natürlich, Mist.

„Max ist mein Chef. Ich hab noch Home-Office und es ist erst halb vier.“

„Home-Office?“

Wie so ein dämliches Echo.

„Das heißt, ich erledige die Abrechnungen und was sonst so anliegt, zu Hause und lade die Dokumente in die Immomax-Cloud hoch. Max sitzt alleine im Büro, druckt den Kram aus und kuvertiert ihn.“

„Aha.“ Das bedeutete: Interessiert mich nicht.

„Kommst du morgen mal vorbei?“

„Wozu?“, fragte Carina misstrauisch.

„Was ist das für eine Frage?“

„Eine berechtigte. Soll ich aufräumen, putzen, waschen, deine Kopien sortieren?“

„Kopien nicht, aber sonst – ja, das wäre echt nett von dir…“

„Dann komme ich nicht. Ich bring lieber meine eigene Wohnung auf Vordermann. Und den Keller. Deine Wohnung ist dein Job.“

„Wir könnten danach essen gehen“, lockte er.

„Hans, engagier halt mal eine Putzfrau! Drei Stunden zu zwanzig Euro pro Stunde wirst du dir ja wohl leisten können. Ich putze doch nicht drei Stunden eine fremde Wohnung und lass mich dann mit einem Hamburger abspeisen!“

„Sechzig Euro? In der Woche? Spinnst du?“

„So sind eben die Tarife… ja, dann musst du´s wohl selbst machen. Das ist nicht so schwer, meist steht die Anleitung hinten auf den Flaschen. Nimm ein Microfasertuch, damit kannst du nichts falsch machen.“

„Was ist das?“

„Lieber Himmel, die bunten Tücher in deiner Putzschublade, die so ein bisschen wie Frottee aussehen! Frohes Schaffen…“ Damit tippte sie auf den roten Button.

Unglaublich! Hielt Hans sie für seine Gratis-Putzfrau?

Er musste mit seinen historischen Schinken doch recht ordentlich verdienen – und nach seinen Worten war er auf dem besten Weg zur Privatdozentur, weil er ja so viel besser – und auch bekannter – war als seine Konkurrent*innen. Carina war sich nicht ganz sicher, ob das stimmte, denn soweit sie wusste, hatte er sich nie habilitiert. Nachfragen dazu wich er immer aus.

Früher – also vor knapp zwei Jahren, länger waren sie ja noch gar nicht zusammen – hatte Hans auch einmal nach ihrer Meinung gefragt, über Politik diskutiert, war mit ihr spazieren gegangen, sie hatten Museen besucht, waren ins Kino gegangen…. gut, COVID-19 hatte vieles davon unmöglich gemacht, aber dass sie nur noch kommen sollte, um hinter ihm herzuräumen? Komm doch mal vorbei, ich hab keine gebügelten Hemden mehr und das Bad ist so dreckig… da hatte sie eigentlich kein Interesse mehr.

Hans war klug und sah gut aus, wie ein Professor, aber es fehlte ihm an sozialen Kompetenzen, fand Carina. Und eigentlich war er auch ein blöder Macho, wenn er glaubte, putzen müssten immer die Frauen. Nein, so ging es auf jeden Fall nicht weiter! Wenn er wenigstens selbst putzte, hatte sie doch ihrer Nachfolgerin einen Gefallen getan. Er fand bestimmt bald wieder eine – solange er darauf achtete, nicht zu viel Blödsinn zu quatschen.

Oh, eine Nachricht von Max?

Max wünschte ein schönes Wochenende und nein, er habe keine weiteren Aufträge, sie habe ja alles erledigt, vielen Dank.

Max war wirklich ein netter Kerl – und der Verwaltungskram bei Immomax machte auch Spaß. Da hatte sie schon Glück gehabt…

Wenn Max aber jetzt nichts mehr für sie zu tun hatte, würde sie sich den Keller weiter vornehmen! Müllsäcke lagen ja schon unten.

Nach zwei Stunden war sie wieder oben, nachdem sie einen Müllsack mit lauter völlig sinnlosem und ziemlich vergammelten Kram gefüllt und den in eine der Restmülltonnen geschmettert hatte. Gutes Gefühl! Für das Sozialkaufhaus hatte sie nur einige Schüsseln entdeckt, die gespült werden mussten.

Morgen würde sie sich den nächsten Müllsack vornehmen, dann den Estrich ausfegen und das Regal an die richtige Stelle schaffen… schön!

Wie konnte sie ihr Leben noch verschönern?

Wohnung – in Arbeit.

Hans – schon fast verabschiedet. Ob er das allerdings schon verstanden hatte?

Geschwister – ein echtes Problem. Gott sei Dank gab es Corona… eigentlich pervers! Immerhin kamen sie nie, schon gar nicht unangemeldet, bei ihr vorbei: Diese Zwergenwohnung verursacht uns Beklemmungen.

Stattdessen wurde sie in vornehme Gegenden zitiert, wo Celina, Julian und Florian wohnten. Woher hatten die eigentlich das Geld für ihre Riesenscheunen? Reich geheiratet oder mehr geerbt? Das konnte sie sich eigentlich ganz gut vorstellen. Celina mit drei Kindern, Julian mit zwei Kindern, Florian ohne Kinder, aber mit einem beruhigend konservativen Weltbild – das waren Kinder nach den Herzen ihrer Eltern gewesen; dass die Jüngste dauernd widersprach und dann auch noch BWL studierte… dabei weiß man doch, dass Frauen gar nichts von Wirtschaft verstehen können, viel zu gefühlsduselig!

Carina hatte nicht widersprochen, wozu auch, sondern nur gesagt Wie ihr meint…

Und keine Kinder! Reproduktive Pflichten nicht erfüllt!

Da hatte sie schon mal gefragt, warum Florian das durfte und sie nicht. Der arbeitet ja so fleißig fand sie nicht wirklich überzeugend: Arbeite ich vielleicht nicht fleißig?

Ach, du mit deinem Tippsenjob! Du verdienst ja kaum was – und dafür haben wir dich studieren lassen?

Was hieß denn lassen? Bezahlt hatten sie es nicht, zu erlauben hatten sie nichts. Außerdem verdiente sie recht ordentlich, aber warum den Gehaltszettel vorzeigen? Das ging die gar nichts an!

Plan: totstellen, solange es irgend ging. Vielleicht vergaßen sie sie ja?

Träum weiter, Carina…

Sie könnte natürlich schön weit wegziehen – aber darauf hatte sie gar keine Lust, sie mochte die Unigegend und die Altstadt und sie mochte ihre Arbeit bei Immomax. Da waren alle nett und gescheit und keiner redete im Jahr so viel Blödsinn wie Florian an einem Tag!

Warum sie dauernd den Kontakt suchten, hatte sie noch nie verstanden, sie hielten sie für egoistisch, dumm und armselig und mochten sie ganz offensichtlich nicht. Wozu also den Kontakt pflegen? War sie so etwas wie eine Negativfolie, vor der die anderen sich umso strahlender gebärdeten? Gut, wenn sie das brauchten… dann mussten sie es aber doch ganz schön nötig haben?

Sie würde diese Bande selten treffen, so selten wie denkbar, ohne den Kontakt förmlich abzubrechen, und dabei freundlich-distanziert bleiben und möglichst wenig über sich selbst aussagen.

Genau. Unangreifbar. Würde das die anderen ärgern – oder bemerkten sie es wohl gar nicht?

Und waren sie diese Denkleistung eigentlich wert? Sie hätte in der Zeit eigentlich schon unten ausfegen und das Regal an die richtige Stelle bringen können!

Nein, morgen Vormittag konnte man Spenden im Sozialkaufhaus im Dortmunder Weg abgeben, dafür sollte sie hier oben noch ausmisten, auch in der sogenannten Küche. Einiges war ja schon im Kofferraum, aber Küchenkram und Kleider konnten gewiss auch noch weg!

So, und das machte sie jetzt, ohne weiter über die bucklige Verwandtschaft nachzudenken, das führte doch eh nirgendwohin.

Die Schüsseln aus dem Keller wurden mit viel Schaum praktisch neuwertig – und sie brauchte sie doch sowieso nicht, sie hatte immer noch zwei andere.

Sie grinste, während sie die beiden schmalen Oberschränke durchforstete, denn sie kannte mindestens sechs andere Frauen, die ihre Wohnungen regelmäßig durchforsteten, um nur noch Wichtiges und Nötiges zu beherbergen. Minimalismus lag voll im Trend.

Männer machten so etwas eher nicht, so schien es ihr. Wenigstens Hans – nein, über den dachte sie jetzt ganz bestimmt NICHT mehr nach, wozu dennauch!

Frauen sind Wegschmeißerinnen, Männer sind Aufheber – war das ein albernes Klischee oder war da was dran?

Diese dämlichen Pastateller! Die hatte Celina ihr mal ungefragt in die Hand gedrückt: Sowas muss man heute haben! Wozu denn? Sie hatte noch vier Suppenteller, aus denen sie – wenn überhaupt – Spaghetti mit Pesto zu essen pflegte. Die Extrateller hatten ein albernes Bild eines Spaghettiberges auf dem Innenboden, waren sehr schwer und in den italienischen Nationalfarben gehalten. Doof. Sie hatte lieber einfache weiße Teller. Also spülte sie die Pastateller sorgfältig ab und wickelte sie in zwei ziemlich neue und ganz saubere Handtücher, die ebenfalls italienische Motive aufwiesen. Sollte sie damit vortäuschen, eine Trattoria zu betreiben? Albern!

Wozu zwei Nudelsiebe? Das eine hatte außerdem zu große Löcher… sie polierte es auf Hochglanz und klebte dann ein Post-it hinein Achtung, nicht für Spaghetti geeignet!

Einige Zeit später hatte sie noch diverses Küchengerät aussortiert, eine gläserne Schüssel zur Verbannung verurteilt (riesig, hübsch, aber schwer zu spülen und für nichts geeignet) und fast alle Kaffeebecher für geschmacklos und überflüssig erklärt. Nur die drei blassgelben mit einem dunkelblauen Rand durften bleiben und landeten in einem Fach des kleinen Regals zwischen den beiden Oberschränken.

Ja, sah gut aus. Morgen würde sie den Kühlschrank mal so richtig gründlich putzen und das Spülbecken und den schmalen Herd auf Hochglanz polieren.

Jetzt kam die Tasche mit dem Küchenkram auch noch in den Kofferraum; danach hatte sie doch eigentlich frei?

Mochte ja sein, aber sie war so aufgedreht, dass sie wieder in den Keller eilte, den Besen in der Hand, und dort den Estrich an der rechten Trennwand sorgfältig ausfegte. Der Kellergang wies dankenswerterweise einen  Gully auf und sie fegte das Häuflein Brösel und Staub ohne großartige Gewissensbisse in diesen Gully. Brösel waren doch wohl wasserlöslich? Und was in den  Gully lief, galt doch wohl als Brauchwasser und wurde ohnehin gereinigt, hatte sie das nicht mal irgendwo gelesen?

Der Gully war ja wohl dafür da, eine Überschwemmung hintanzuhalten, falls jemand hier unten eine Waschmaschine aufgestellt hatte. Merkwürdiger Grund, gab es hier unten überhaupt Wasseranschlüsse?

Kopfschüttelnd rückte sie das Regal an die perfekte Stelle (ein zweites könnte noch daneben passen), prüfte, ob es fest stand – tat es – und schichtete die Bücher hinein, die sie oben als vorübergehend unwichtig aussortiert hatte.

Und was lag hier noch herum? Unglaublicher Mist, stellte sie schnell fest, zum Teil war es noch Zeug, dass sie als Kind in Henting schon besessen hatte. Verblichenes und zum Teil zerbrochenes Spielzeug, das sie zügig in eine weitere Mülltüte warf. Ach ja, ein altes Tagebuch (Mama ist so gemein - Schon wieder eine Fünf in Physik -  Warum habe ich Pickel und ein Kilo zugenommen? – Ob der süße Marco wohl auf die Party nächste Woche kommt?)… Nein, das konnte weg, mit dem Gesabbel ihres jüngeren Ichs konnte sie nichts mehr anfangen.

Schließlich sah der Keller eigentlich gar nicht so schlecht aus, nachdem sie den übervollen Müllsack in die Tonne gestopft hatte.

Nur gut, dass Hans ihr nie etwas geschenkt hatte; da hätte sie nicht gewusst: Wegschmeißen? Aufheben, falls er´s zurückverlangte? Der Typ wäre er tatsächlich, musste sie zugeben. Sie grinste etwas bitter vor sich hin: Weil sie ihren Job nicht gemacht hatte, nämlich seine Riesenwohnung in Schuss gehalten, fand er das wirklich ganz angemessen, bestimmt!

„Guten Abend!“

Sie sah vor dem Lift leicht verdutzt auf und erwiderte den Gruß eines unbekannten Nachbarn. War es ein Nachbar? Bei den vielen winzigen Wohnungen konnte man das nicht wissen…

Er stieg mit ihr in den Aufzug und runzelte die Stirn, als er ihren mehr als misstrauischen Blick bemerkte. Im vierten Stock stieg er mit ihr aus und sie blieb erst einmal stehen und tat, als bekomme sie ihren Schlüssel nicht aus der Jeanstasche. Er bog in den anderen Seitengang ein und schüttelte noch gut sichtbar den Kopf.

Sie sah ihm kurz nach, schloss dann ganz schnell ihre Wohnungstür auf, huschte hinein und versperrte sie von innen wieder. Er war entweder in 421 oder 423 verschwunden, schön weit weg von 408. Der dachte jetzt bestimmt, sie habe einen Schuss, sei paranoid oder so etwas. Wenn schon!

Aber vielleicht schaute sie doch zu viele True Crime-Sendungen? Nicht jeder Mann, der mit einem im Lift fuhr, zückte doch sofort ein Messer!

Ja, aber manche eben schon, stritt sie mit sich selbst. Hauptsache, die anderen Mieter dachten nicht irgendwann, dass die Tussi aus 408 einen Schlag hatte.

War das so wichtig? Sie kannte ohnehin niemanden im Haus näher; mit einigen Frauen tauschte sie ab und zu ein „Guten Abend!“, das war schon alles.

Außerdem war jetzt praktisch Abend, Freitagabend – und sie hatte nichts vor. Dann machte sie sich eben einen Fernsehabend, mit einem schlicht gestrickten Krimi und einer Tafel Mandelschokolade.

Für ein eigenes Sofa war hier kein Platz, also galt es einfach als Sofa, wenn sie auf der Decke lag. Unter der Decke bedeutete: Bett. War das nicht schön minimalistisch, wenn man es genau betrachtete?

Kaum hatte sie sich mit Fernbedienung und Schokolade auf der Decke zurechtgekuschelt, klingelte ihr Handy.

Verflixt! Jetzt war es bestimmt nicht mehr Max, der war ein menschlicher Chef und nervte nicht freitags um halb acht. Also rappelte sie sich wieder auf und angelte das Handy vom Tisch. Äh – Hans. Schicksalsergeben nahm sie das Gespräch an.

Hans hielt ihr einen kurzen Vortrag über ungefälliges Benehmen und brach erst ab, als sie ins Telefon kicherte. „Du solltest das ernst nehmen!“

„Nee, wirklich nicht. Du bist nie gefällig – und ich soll dein Dienstmädchen spielen? Wie käme ich dazu?“

„Ich hab ja auch etwas Wichtigeres zu tun, vor allem mit der Biographie von Lueger. Damit werde ich garantiert eine Professur bekommen.“

„Ach ja? Der Lueger, der gesagt hat Wer ein Jud ist, bestimme ich? Von dem gibt es doch garantiert schon haufenweise Biographien, alleine schon, weil er Hitlers Wien so stark geprägt hat. Meinst du echt, da findest du genügend Neues für eine Habilitation?“

„Wieso Habilitation?“

„Ich wüsste nicht, dass man ohne Habilschrift eine Dozentur bekommen kann. Müsstest du eigentlich auch wissen.“

„Ach komm, was weißt du denn!“

„Und das finde ich auch ungefällig, diese herablassende Art von dir. Glaubst du, ich habe nicht studiert?“

„Das bisschen Mieten abrechnen? Sei nicht albern!“

„Ach, jetzt weiß ich, warum du dich damals für mich interessiert hast. Du hast gedacht: Die ist doof genug, die glaubt mir alles und putzt noch dankbar hinter  mir her. Tut mir leid, falsch gedacht!“

„Aber ich kann sowas nicht!“, quengelte er.

„Das ist doch nicht mein Problem? Wie gesagt: Putzservice, das Internet ist voll davon.“

„Du bist echt ungefällig!“

„Du wiederholst dich, Hans. Ich bin nur zu ungefälligen Menschen ungefällig. Und als letztes noch einen guten Rat: Frag doch mal in der Uni beim Prüfungsamt nach, ob du wirklich ohne Habilschrift eine Dozentur bekommen wirst!“

„Wieso als letztes?“

„Weil es aus ist. Ruf mich nicht mehr an.“

Daraufhin legte er auf. Gut so! Ob sie ihn jetzt los war? Hatte sie nicht schon mehrmals gesagt, dass sie keine Lust mehr hatte, sich ausgenutzt und wie ein kleines Depperle behandelt zu fühlen? Aber das hatte der Idiot ja gar nicht kopiert: Bist du nicht mein liebes kleines Depperle? Du kannst das alles doch viel besser… Das Beste war gewesen: Sag mal, du hast doch Abitur, oder? Möchtest du nicht doch noch studieren und vielleicht – naja, nichts Wissenschaftliches, aber doch was Besseres machen? Damals hätte sie wirklich Lust gehabt, ihm seine professorale Hornbrille von der Nase zu schlagen!

Außerdem glaubte er, Frauen könnten ohnehin nicht wissenschaftlich arbeiten, wie er ihr ausführlichst auseinandergesetzt hatte, weil er sich über seine Konkurrentin, „die Keiler“ aufregen musste. Die hatte nämlich über Migration im 20. Jahrhundert promoviert und forschte nun auch auf diesem Gebiet weiter. Carina hatte frevelhafterweise gefunden, das sei doch ein sehr interessantes und auch wichtiges und aktuelles Thema. Hans natürlich: Das sei absolut nicht interessant, Geschichte werde doch bekanntermaßen von großen Persönlichkeiten gemacht, deshalb sei die Biographie die ideale Form der historischen Betätigung.

„Forschung kann man das ja dann auch kaum nennen“, hatte Carina gemurmelt.

„Du bist renitent! Das kommt dir nicht zu!“

„Liebes Hänschen, wenn du dich von deinen veralteten Vorstellungen mal befreien könntest, wärst du gewiss glücklicher – und du könntest auf dem Stand der heutigen Forschung arbeiten!“ Daraufhin hatte er nur noch stumm seine Wohnungstür aufgehalten.

Carina grinste bei der Erinnerung. Hans war zweiundvierzig und benahm sich, als sei er mindestens doppelt so alt! Offenbar sah er sich eher als Privatgelehrter; dazu passte auch die Wohnung, vier riesige Zimmer, mit Büchern vollgestopft. Ästhetisch reizvoll (vom Staub einmal abgesehen), aber Platz fressend und schon arg analog…

Die Tatsache, dass sie fast alles digital aufbewahrte und auch Bücher lieber auf dem Reader las, hatte ihn zuerst stark befremdet, dann hatte er es als unwissenschaftlich abgetan und schließlich erfolgreich verdrängt.

All diese Gedanken, so überflüssig sie waren, trieben sie von ihrem Schreibtisch wieder hoch und vor die letzten zwei Regale.

Sie sortierte sorgfältig die vorhandenen Bücher, fand noch etwa zwanzig Stück, die zumindest in das Kellerregal umziehen konnten, und ordnete alles so ein, dass es besonders übersichtlich wirkte. Kein Regalfach war ganz voll, also konnte sie ihre hellgrauen Pappschachteln dort unterbringen und morgen vielleicht sämtlichen Kleinkram damit übersichtlich verräumen. Und alle Schachten schön beschriften! Und alles andere sollte leer sein, soweit möglich. Min Tang, hieß das nicht so? Sollte das nicht auch entspannend wirken? Feng-Shui… leider wusste sie darüber so gut wie gar nichts, nur, was in diversen Entrümpelungsratgebern gestanden hatte.

Aber das Gefühl von Ruhe und Entspannung wäre auf jeden Fall die Mühe wert!

Vergnügt pfeifend suchte sie die Schachteln zusammen beäugte mäßig begeistert das Sammelsurium in manchen Kästen, unter anderem Ü-Eier-Figuren, die garantiert nichts wert waren, angebrauchte Taschentuchpäckchen (aufbrauchen!), einige Perlen von einer wohl einmal zerrissenen Kette, einen Puzzlestein, auf dem etwas Himmel und ein Zweig vor einem weißen Wölkchen zu erkennen waren. Sie hatte doch bloß noch digitale Puzzles!

Einen rätselhaften Schlüssel sollte sie behalten, aber der Rest konnte komplett in den Müll. Sie klopfte die Kisten sorgfältig über der Mülltüte aus und reihte sie dann nebeneinander auf dem Tisch auf.

Eine solche Struktur, solche Ordnung: Wetten, Hans hatte so etwas nicht? Das war wohl in den Siebzigern noch nicht üblich? Da war Hans allerdings noch nicht einmal geplant gewesen… Sie grinste, während sie ihre paar Schreibwaren, einige CD-ROMs, sämtliche Ladekabel plus Adapter und sonstigen IT-Kram und zum Schluss alles, was sonst noch so herumlag, einsortierte und passende Schildchen sauber beschriftete.

Jetzt sahen die beiden Regale richtig gut aus!

Sie rückte den alten Fernsehsessel an die richtige Stelle, wischte das alte gelbe PVC ordentlich auf, räumte alle herumliegenden Klamotten in den Schrank zurück oder in den Wäschekorb und schaute sich zufrieden um. Wirklich, das Zimmerchen sah jetzt direkt größer aus.

Vier Zimmer voller toter Bäume, haha! Nicht mit ihr!

Wenn sie am Schreibtisch saß, wirkte das Zimmer noch größer. Geradezu großzügig! Zufrieden schaute sie ins Firmennetz: Hatte Max noch etwas geschickt?

Tatsächlich, mehrere Aufträge mit dem deutlichen Hinweis, sie bitte erst am Montag zu bearbeiten und bis dahin das Wochenende zu genießen.

Naja, was sollte sie schon großartig machen? Alles Spannende war ja geschlossen!

Okay, einkaufen konnte sie, wenn nicht alles Elementare von Hamsterern aufgekauft worden war, wie Klopapier und Nudeln. Was brauchte sie denn? Knäckebrot, Obst, Eier, zwei Gemüsemischungen aus der Tiefkühltruhe…

Dann sollte sie auch mal waschen und natürlich zum Sozialkaufhaus schauen, um den Kofferraum leer zu machen.

Guter Plan.

2

Der Absatz war perfekt gelungen, fand er, als er ihn zweimal durchgelesen hatte. Wirklich, man konnte sich das Wien um 1900 richtig gut vorstellen! Das musste einfach ein  Bestseller werden, die Leute liebten doch Geschichte, es gab ja ganze Fernsehsender, die nichts als historische Dokumentationen brachten!

Da musste die Uni doch dankbar sein? Das brachte doch Studenten für die Historische Fakultät? Dieses Mal klappte es bestimmt!

Und was Carina da einzuwenden hatte… die hatte doch keine Ahnung von akademischen Strukturen! Keiler und Orenburg mit ihren faden Lehrveranstaltungen entsprachen doch gar nicht dem Zeitgeschmack, Geschichte musste farbig präsentiert werden!

Abbildungen brauchte er auch noch, vor allem von der Ringstraßen-Pracht und im Kontrast dazu die Straßen in der Leopoldstadt… da musste er mal nach Wien fahren und die passenden Lizenzen erwerben. Fotos von heute konnte er dabei gleich selbst machen.

Hach, Wien…

Wenn er es recht bedachte, hatte er Hunger. Vielleicht ein Schnitzel mit Pommes frites? Petersilienkartoffeln  wären natürlich stilechter, aber die mochte er weniger.

Hm. Carina war zickig, die würde nicht kommen und ihm etwas zu essen machen, nicht heute. Was sie eigentlich wollte,  verstand er auch nicht. Er war doch Akademiker! Mein Freund ist an der Uni, ein richtiger Doktor – war das nichts? Für eine Sachbearbeiterin bei einer Hausverwaltung?

Wenigstens putzen hätte sie letzte Woche können – wie es hier schon wieder aussah! Hatte er wenigstens noch sauberes Geschirr? Missvergnügt schaute er in den Oberschrank: nur noch Suppenteller? Ach, Carina!

Sollte er sich ein Brot auf – oder besser: in einem Suppenteller schmieren? Oder überlegen, wo er Schnitzel, Pommes Frites und einen gemischten Salat herbekommen konnte? Das Florian fiel ihm ein, oder der Wittelsbacher Hof. Die würden an einem Freitagabend doch nicht nur Goldbarschfilet und Kartoffelsalat auf der Karte haben?

Das war eine gute Idee! Er machte sich umgehend mit seinem knurrenden  Magen auf den Weg. Wie lange würde Carina jetzt wohl schmollen, anstatt dankbar zu sein? Frauen waren schon seltsam… so unlogisch, nur ihren Gefühlen ausgeliefert…

Das Florian hatte kein Schnitzel auf der Karte und es war, wie ein Blick durchs Fenster zeigte, auch proppenvoll.

Der Wittelsbacher Hof hatte Schnitzel, sogar echtes, aus Kalbfleisch, mit Pommes frites und Salat. Kostete aber gut zwanzig Euro… hm. Ach, aus Schwein gab´s das auch, 13 Euro. Das genügte doch wohl?

Drin war es recht voll, aber er stieß tapfer die Tür auf und atmete genussreich den Essensduft ein. Nach dem Essen würde er ihn wohl als Essensmief empfinden…

Es gab immerhin noch einen Zweiertisch am Fenster, da würde sich ja wohl keiner dazusetzen wollen. Er bestellte ein Bier und erhielt die Karte – ja, das Schnitzel Wiener Art war schon das Richtige!

Wann würde er denn nach Wien fahren? Er zückte sein kleines Notizbuch und suchte sich geeignete Termine heraus. Schade, dass er jetzt nicht nachsehen konnte, wann die passenden Museen geöffnet hatten!

Er sah sich um: Die meisten unterhielten sich beim Essen, die, die alleine saßen, starrten nach unten, auf ihre albernen Telefone. Wahrscheinlich machte Carina das auch, die hatte so ein Smartphone oder wie das hieß. Carina hatte überhaupt keinen Sinn für Geschichte und Tradition! Das hatte er ihr auch schon einmal vorgeworfen, aber sie hatte nur geantwortet: „Ja klar, weil du ja auch mit der Kutsche zur Uni fährst? Was machst du da eigentlich immer, du hast doch gar keine Lehrveranstaltungen zu absolvieren?“

„Woher willst du das wissen?“

„Glaubst du, ich kann nicht ins Vorlesungsverzeichnis schauen?“

„Du kaufst dir das Ding, nur um mit nachzuspionieren?“

„Keine Sorge, das Geld wäre mir tatsächlich zu schade. Aber das Vorlesungsverzeichnis steht doch auch im Internet?“

„Internet, Internet“, hatte er gemurrt.

Carina hatte nur höhnisch gelacht und das Gespräch beendet.

„Ist da noch frei?“

Mist. Er sah auf und verdrehte unwillkürlich die Augen: Heinz Peter, sein zweiter Konkurrent!

„Ja“, brummte er. „Ist ja sonst nichts mehr frei…“

Orenburg grinste. „Stimmt. Macht ja nichts, oder? Wie geht´s deiner Arbeit?“

„Was meinst du?“

„Na, du habilitierst dich doch auch?“

„J-ja. Läuft ganz gut.“

„Schön. Meine auch. Kann sie nächstens vorlegen. Ich glaube, Ricarda ist auch schon fast durch. Gutes Gefühl. Na, dir fehlt ja wohl auch nicht mehr viel… worüber arbeitest du gleich wieder? Ein Weißbier, bitte! Und den Sauerbraten.“

„Karl Lueger“, murmelte Hans.

„Ach! Was gibt es da denn Neues herauszufinden? Ich wüsste da jetzt eigentlich nichts – aber du bist ja wohl eher der Fachmann…“

„Richtig. Man muss ihn vor dem Hintergrund des Zeitgeists in Wien sehen“, dozierte Hans knapp.

„Ja, natürlich… versteht sich. Hast du schon bestellt?“

„Schnitzel.“

„Na, das passt zum Thema, gell?“

Hans rang sich mühsam ein Lächeln ab. „Was würde zu deinem Schwerpunkt passen?“

„Die Rückkehr des Imperialismus? Ich wüsste nicht, wie man das in einem Essen darstellen könnte. Jedenfalls werde ich ja den Sauerbraten nehmen – und da sehe ich keinen Zusammenhang.“

„Ist bestimmt auch gut.“

„Hoffe ich doch.“

Schweigen breitete sich aus; sie musterten sich ohne große Sympathie und waren wohl beide erleichtert, als wenigstens das Schnitzel gebracht wurde. Orenburg wünschte höflich guten Appetit und zog dann sein Handy heraus, um nach Nachrichten zu suchen, während sein Konkurrent (Konkurrent? Haha) sich über das Schnitzel hermachte, als habe er seit Tagen nichts zu essen bekommen.

„Scheint zu schmecken“, stellte Orenburg schließlich fest. Lermann kaute und nickte, dann schluckte er herunter. „Meine Freundin kümmert sich ja nicht um mich!“

„Aha?“ Das sollte nicht einladend klingen, aber Lermann stürzte sich sofort in Erklärungen. Orenburg lauschte und schüttelte dann den Kopf: „Das verstehe ich jetzt nicht so ganz, warum muss denn deine Freundin für dich kochen? Kannst du das denn nicht selbst?“

„Ich??“

„Ja?“

„Nein. Ich kann das nicht selbst und ich habe Wichtigeres zu tun, immerhin arbeite ich ja wissenschaftlich!“

„Tun wir doch alle? Dem entnehme ich, dass deine Freundin bei dir und auf deine Kosten lebt und selbst nicht berufstätig ist?“

„Was?“

Orenburg beschränkte sich auf eine ungeduldige Geste und Lermann seufzte, schon reichlich Pommes auf der Gabel.

„Sie wohnt nicht bei mir und lebt schon gar nicht von mir – und sie arbeitet schon auch. Aber eben nicht wissenschaftlich!“

„Was macht sie denn?“

„Irgendwas bei einem Immobilienmakler. Buchhaltung oder so – glaube ich?“

„Genauer wolltest du das nicht wissen?“

„Wozu denn? Das ist nicht interessant und hat mit meinen Forschungsgebieten rein gar nichts zu tun.“

„Hm. Sie ist also eine Art Haushälterin? Oder Putzfrau? Und du bezahlst sie dafür?“

Sein Gegenüber verschluckte sich an den Pommes und hustete erbärmlich.

„B-bezahlen?“, japste er dann. „W-warum?“

„Na, mit Interesse hast du diese Forderungen ja wohl nicht ausgeglichen?“

Lermann starrte ihn an. „Was?“

In diesem Moment kam der Sauerbraten und Orenburgs Interesse verlagerte sich deutlich. Er aß weniger gierig als Lermann, aber mit Genuss. Er hatte ja auch ordentlich gefrühstückt…!

Lermann hatte Schnitzel und Pommes schon bis auf einige Brösel verspeist und machte sich mit weniger Begeisterung über den Salat her.

Keiner der beiden war an einer weiteren Unterhaltung interessiert; Lermann zahlte, sobald er aufgegessen hatte, und verabschiedete sich murmelnd; Orenburg nickte und aß weiter.

Lermann war ein unfassbarer Idiot, fand er. Und diese Freundin von ihm musste ja ein arges Hascherl sein, wenn sie sich so ausnutzen ließ.

Hm… er kaute und schüttelte den Kopf. Ließ sie sich ja offensichtlich nicht, wenn sich der arme Lermann, dem Hungertod nahe, mit letzter Kraft in den Wittelsbacher Hof schleppen musste. Armer Bub…

Und ganz ehrlich – der habilitierte sich doch gar nicht, der schrieb doch bloß wieder so einen populären, irrelevanten Schmöker und glaubte, damit zum Star aufzusteigen? Professor wurde man so nicht, und das sollte er eigentlich wissen, bestenfalls konnte man bei passenden Dokus Kommentare beisteuern. Aber die meisten dieser Kommentatoren – er dachte zum Beispiel an den Militärhistoriker Sönke Neitzel – waren doch auch ordentliche Professoren?

Hans Lermann war ein Traumtänzer, basta!

3

Carina hatte gleich morgens ihren Kofferrauminhalt im Sozialkaufhaus abgeliefert, wo man alles erfreut entgegennahm und auch die zahlreichen Taschen gut brauchen konnte. Sie half noch beim Verräumen, plauderte mit den Leuten, die den Laden betrieben, und versprach, ihre Wohnung noch weiter zu durchforsten. „Den Kleiderschrank hatte ich noch gar nicht am Wickel, da könnte noch etwas gehen.“

„Das wäre ganz toll – Kleidung aus zweiter Hand ist ja auch viel nachhaltiger, gell?“

Im Unverpackt-Laden einige Häuser weiter besorgte sie sich ein festes Shampoo und kam sich sehr vorbildlich vor – weniger vorbildlich allerdings, als sie ganz kurz die Maske beiseiteschob, um den Duft zu erschnuppern: Doch, der gefiel ihr! Maske schnell wieder auf.

Noch ein paar Tomaten, eine Gurke und eine Karotte vom Gemüseladen wieder zwei Häuser weiter, dann konnte sie nach Hause fahren und ihre puristische Wohnung genießen.ause

Hoffentlich nervte Hans heute nicht schon wieder am Telefon!

Naja, puristisch? Sie sah sich zweifelnd um, als sie den Schlüssel auf die schmale Kommode im Flur gelegt hatte. Besser war´s, gut war´s noch nicht. Noch lange nicht!

Heute Mittag gab es den Salat – eine Dose Mais hatte sie auch noch; danach würde sie einen hübschen Spaziergang hier in der Gegendmachen, dann konnte Hans sie nicht belästigen. Wenn sie ihr Handy nicht mitnahm, hieß das.

Aber ohne Handy fühlte sie sich etwas unsicher. Sie würde es doch mitnehmen und einfach nicht drangehen, wenn sie Hans´ Nummer sah. Ihn einfach wegdrücken, vielleicht kapierte er das ja?

Sie sollte nicht immer so alberne Pläne machen, sondern am Wochenende einfach tun, wonach ihr gerade der Sinn stand! Plänemachen war Zeitverschwendung, sie hielt sich ja doch nicht dran…

Sie würde im Malerviertel spazieren gehen, genau! Da gab es auch ganz nette Läden. Carina, du dumme Nuss, du brauchst doch gar nichts! Und Platz für unnützen Krempel gibt es hier auch nicht!

Nach einem frustrierten Seufzer machte sie doch endlich ihr Bett und breitete die Tagesdecke darüber, damit es als Sofa definiert war. Schön… und Wochenende! Fernbedienung?

Würde sie sich diese Wohnung kaufen, wenn sie das Geld dafür hätte?

Hm. Klein war sie, nett war sie, fast fünfzig Jahre alt war sie leider auch schon. Aber die Lage! Besser konnte es doch gar nicht sein! Konnte es nicht eine modernere Wohnung in ungefähr der gleichen Größe geben, auch hier in der Altstadt? Die Läden hier in den Durchhäusern waren eigentlich nicht ideal, fand sie, zu viel Esoterik, zu wenig Nützliches. Und Nachhaltigkeit war in den Siebzigern wohl noch kein wichtiger Begriff gewesen… jedenfalls gab es da keinen Unverpacktladen, kein Second hand, nicht mal ein anständiges Reformhaus. Dafür wurden Heilsteine, Amulette, Kupferarmbänder und ähnlicher Kram, zumeist für teures Geld, angeboten. Und die Patrizierapotheke im Nachbar- Durchhaus hatte eine reiche Auswahl an Zuckerkügelchen…

Glaubte Celina nicht auch an diesen Mist?

Wie aufs Stichwort brummte ihr Handy.

Hans war es nicht – Flo. Kaum besser…

Er kaum grußlos zur Sache: “Celina braucht jemanden, der auf die Kinder aufpasst.“

„Ja, und?“

„Na komm, du hast doch nichts zu tun?“

„Sicher, und wenn die Kinder ihre Rotznasen an mir abwischen, krieg ich Corona – aber meine Gesundheit ist so irrelevant wie meine Arbeit und meine ganze Existenz?“

„Du bist eine egoistische Kuh! Und dieses Corona ist ja auch nicht mehr als ein popliger Schnupfen, da musst du nicht so rumzicken. Aber so bist du ja immer, wenn du mal was für die anderen tun sollst!“

„Erstens, du Vollhorst, sterben massenweise Leute an diesem popligen Schnupfen, schau mal nach Italien oder in die USA – und zweitens hat von euch noch nie jemand was für mich getan. Ihr fordert immer nur, macht deutlich, dass ich nur die Doofe bin, und gebt nie etwas zurück. Da hab ich keine Lust mehr drauf – und dieses alberne Gerede von wegen Schnupfen brauche ich auch nicht. Bastel dir einen Aluhut und halt die Klappe.“

Damit beendete sie das Gespräch.

Kannten Flo und Hans sich eigentlich? Die gleichen Idiotensprüche! Waren alle Kerle so dämlich? Julian war doch auch nicht anders?

Nein, Max war okay. Und die anderen bei Immomax auch.

Aber die Familie… und hatten die sie bei der Erbschaft nicht auch über den Tisch gezogen?

Flo und Celina wollten damals das Haus nicht verkaufen, wegen Erinnerungen, Pietät und überhaupt. Julian hatte nichts dagegen gehabt, sie selbst eigentlich auch nicht, denn sie hatte damals schon im Peutinger-Durchhaus gewohnt und sich ungemein schick gefunden.