Tod auf den Gleisen - Elisa Scheer - E-Book

Tod auf den Gleisen E-Book

Elisa Scheer

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Beschreibung

Neu in Leisenberg, ist Dorothea schockiert, als eine Kollegin spurlos verschwindet und schließlich tot aufgefunden wird. Die ganze Schule trauert – wirklich die ganze? Und hängt das mit der alkoholgetränkten Leiche auf den Bahngleisen zusammen? Kannten sich die beiden Opfer? Oder ist das alles nur Zufall? Gemeinsam mit einigen Kollegen, zum Beispiel Katja Herzberger und dem süßen – und ebenso neuen – Carlos unterstützt (und nervt) sie die Kripo, um den Fall aufzuklären.

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Seitenzahl: 537

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Imprint

Tod auf den Gleisen. Kriminalroman

Elisa Scheer published by: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de Copyright: © 2016 Elisa Scheer

Dienstag, 09.10.2012

„Und, hast du dich schon ein bisschen eingewöhnt?“

Doro sah von den Zetteln auf, die sie gerade sortierte, und lächelte Hilde Suttner an. „Ja, danke. Ich finde es richtig nett hier. Hätte ich zugegebenermaßen so am ersten Tag nicht gedacht.“

Hilde lachte. „Ja, das war schon übel. Aber daran gewöhnt man sich - irgendwas geht am ersten Tag immer schief. So viel auf einmal allerdings hatten wir noch nie.“

„Bist du schon so lange hier an der Schule?“

Hilde zuckte die Achseln. „Das ist jetzt mein siebtes Jahr hier. Und da hier ziemliche Fluktuation herrscht, gehöre ich damit wohl schon zu den alten Hasen.“

„Wieso denn Fluktuation? Ich meine, hier ist es doch echt okay. Wenn ich da an meine Seminarschule denke… und die Einsatzschule erst… dagegen ist es hier echt toll. Also, nicht nur relativ gesehen!“, fügte sie hastig hinzu, als ihr klar wurde, wie zweifelhaft dieses Kompliment klingen musste.

„Ich glaube, das hat mit der Qualität einer Schule gar nicht so viel zu tun“, antwortete Hilde nachdenklich und setzte sich nun doch zu Doro an den unordentlichen Mitteltisch. „Oder was meinst du, Luise?“

Die Angesprochene, die gerade vorbeieilte, hielt inne, lächelte und setzte sich ebenfalls. Doro grüßte sie etwas eingeschüchtert. Luise Wintrich war immerhin eine Mitarbeiterin der Schulleitung. Sozusagen ein großes Tier. Hilde Suttner als Oberstufenkoordinatorin eigentlich auch, überlegte sie.

„Stimmt schon“, sagte jetzt Luise, der Hilde das Problem mittlerweile erklärt hatte. „Von zehn Leuten, die wir zu Schuljahrsbeginn neu kriegen, sind sieben Frauen. Klar, typischer Frauenberuf. Von denen lassen sich zwei nach einem Jahr in den Bayerischen Wald, nach Unterfranken oder ins Berchtesgadener Land versetzen oder wo eben ihr Liebster eine gut dotierte Stelle hat. Drei werden schwanger; einer der Männer wird Vater und nimmt Erziehungsurlaub, ein anderer ist Quereinsteiger und fassungslos, dass seine Kundschaft nicht begierig lauscht, sondern keinen Bock hat und Blödsinn macht. Bleiben also zwei Frauen und ein Mann. Im Folgejahr kriegen wir wieder zehn und das Spiel beginnt von vorne.“

„Und dann ist einer von den dreien, die bleiben würden, eine mobile Reserve und wird nach einem halben Jahr abgezogen“, fügte Hilde pessimistisch hinzu.

„Dazu kommen noch die, die nach drei Wochen einen Nervenzusammenbruch haben, die, die so wenig auf dem Kasten haben, dass man sie in der Oberstufe nicht einsetzen kann, und die, die mit den völlig falschen Fächern zu uns kommen.“ Die Wintrich lachte auf. „Aber dieser erste Schultag war so richtig klasse. Der reinste Slapstick!“

Doro erinnerte sich. Sie war pünktlich am so genannten „nullten Schultag“ vormittags gekommen, um ihr Postfach auszuräumen, ihren Stundenplan zu studieren und sich, falls nötig, die passenden Bücher zu holen. Schon um zehn Uhr morgens herrschte heilloses Gedränge in der Eingangshalle, denn dort hingen die Klassenlisten aus, und anscheinend war bei denen etwas schief gelaufen – jedenfalls war das Sekretariat voller empörter Eltern, die festgestellt hatten, dass ihre süßen Kleinen nicht mit ihren Grundschulfreunden in einer Klasse gelandet waren, „obwohl Sie uns das ausdrücklich zugesichert hatten!“

Die Sekretärin, die für die Klassenlisten zuständig war, schluchzte in ein Stück Küchenkrepp, die anderen versuchten, sie zu trösten und gleichzeitig den Eltern zu versichern, es müsse sich um einen Computerfehler handeln, die aushängenden Listen seien völlig falsch, aber bis morgen sei alles wieder in Ordnung. Als Doro sich bescheiden zu Wort meldete und um einen Schlüssel für Klassenzimmer und Lehrerzimmer bat, wurde sie mit „Jetzt nicht!“ rüde abgebürstet.

Sie versuchte es nach einigen Minuten der Verblüffung noch einmal, und jetzt hieß es: „Sie sehen doch, dass wir zu tun haben! Wer sind Sie überhaupt?“

„Dorothea Fiedler. Deutsch, Geschichte, Geographie“, gab sie artig Auskunft.

„Nie gehört“, murrte die Sekretärin, die noch am wenigsten mit der Tröstung der Weinenden beschäftigt war.

„Vielleicht könnten Sie mal nachsehen?“ Dorothea hörte selbst, dass ihr Ton eine Nuance schärfer geworden war, aber diese Reaktion hatte sie nun doch nicht erwartet – haltloses Gekreische: „Lassen Sie mich bloß mit Ihrem blöden Schlüssel in Ruhe, wir haben hier weiß Gott Wichtigeres zu tun, wir arbeiten uns hier zuschanden und keiner dankt es uns. Und jetzt machen Sie, dass Sie hier rauskommen, aber ein bisschen dalli!“

Doro stand noch mit offenem Mund da, als sich im Hintergrund eine Tür öffnete. „Aber Frau Gschwandner, was ist denn los? So kenne ich Sie ja gar nicht!“

Frau Gschwandner starrte den Chef an und brach prompt in Tränen aus. Jetzt heulten schon zwei, und zwar ziemlich lautstark. Dazu protestierten immer noch jede Menge erboste Mütter, und Doro sah Dr. Eisler ratlos an. „Ich weiß es auch nicht… ich bin wohl in einem ungünstigen Moment gekommen? Eigentlich wollte ich bloß einen Schlüssel, sonst kann ich ja nicht ins Lehrerzimmer…“

Dr. Eisler grinste, griff an der schniefenden Frau Gschwandner vorbei in eine Schublade, wühlte in einer Kiste herum und förderte einen Schlüssel zutage, den er Doro zusammen mit einer Unterschriftenliste präsentierte. „Bitte quittieren!“

Doro unterschrieb und lächelte den Schulleiter versuchsweise an. „Im Notfall kämen Sie hier wohl auch alleine zurecht?“ Er erwiderte das Grinsen, aber Frau Gschwandner unterbrach ihr Schnüffeln und maß Doro mit entrüstetem Blick. Die wünschte hastig noch einen schönen Tag und machte, dass sie aus dem Sekretariat kam.

„Ja…“, sagte sie jetzt, „Frau Gschwandner damals… total durch den Wind.“

„Und dann sagen im letzten Moment zwei Leute ab und wir müssen bis zur Konferenz Klassen neu zuteilen und die Stundenpläne ändern. Und natürlich sind die schlechter als die alten und das Gemecker geht los…“

„Ich hab nicht gemeckert!“, protestierte Doro. „Ja, weil Sie sich Ihren alten Plan ja noch gar nicht richtig angeschaut hatten.“

„Ich meckere auch sonst nicht“, beharrte Doro und versuchte, würdevoll dreinzuschauen.

„Die Mendel kriegt einen hysterischen Anfall, weil sie die 9 d am Hacken hat, und sie mag doch keine Neunten, die sind immer so frech…“, erinnerte sich die Wintrich und grinste bei dem Gedanken.

„Die Steinleitner regt sich auf, weil eine Schülerin in der Eingangshalle ein fast durchsichtiges T-Shirt anhat, und will in der Konferenz mal wieder über feste Bekleidungsvorschriften diskutieren lassen…“

„Der alte Beierlein vom Personalrat verlangt die Zusage, dass ein ganzes Jahr auf Extraveranstaltungen und Mehrarbeit verzichtet wird…“

„Im Lehrerzimmer wird die Luft immer schlechter und niemand weiß, wo der Schlüssel für die Fenster ist…“

„Die Konferenz dauert sechs Stunden, weil jeder Quatsch bis zum Gehtnichtmehr diskutiert werden muss…“ Doro lachte. „Lieber Gott, in was für einem Irrenhaus bin ich denn hier gelandet, hab ich gedacht. Und jetzt gefällt es mir richtig gut. War einfach ein Scheißtag damals.“

„Hoffentlich. Aber im Prinzip ist es hier wirklich okay, und es gibt auch nette Leute hier.“

„Ich finde eigentlich alle sehr nett“, bekannte Doro, und die Wintrich lachte. „Na, ein paar sind schon strange – aber die meisten sind tatsächlich in Ordnung. Himmel, ich hab in zehn Minuten eine Besprechung! Bis bald mal!“

Während sie auf den Ausgang des Lehrerzimmers zusteuerte, fiel Hilde Suttner ein, dass sie sich einige renitente Oberstüfler ins Büro bestellt hatte, und Doro erinnerte sich erschrocken daran, dass sie gleich Unterricht hatte, eine Doppelstunde in ihrem Deutschkurs. Naja, Maria Stuart war nun kein großes Problem, und die Schüler waren im Allgemeinen sehr eifrig, was das Interpretieren betraf. Auch mit verteilten Rollen lesen taten sie sehr gerne, wenn sie auch manchmal eher durch Eifer als durch Können glänzten. Über die Mitarbeit - und die Anwesenheit – konnte sie bis jetzt jedenfalls nicht jammern, egal, wie sehr die Suttner sich über dieses Thema beklagte. Aber noch waren die alle ja auch nicht volljährig, also mussten ihre Eltern sie entschuldigen…

Doro packte ein, was sie für den Kurs brauchte, und stapelte alle anderen Mappen und Bücher säuberlich an ihrem Platz auf. Viel Bewegungsfreiheit hatte man hier nicht, dieses Lehrerzimmer war für etwa sechzig Kollegen gedacht und damit gut um 50 % überbelegt. Etwa in der Größe eines DIN A 3 – Blatts durfte man sich ausbreiten. Wie zwei Käfighennen, dachte Doro, während sie ihre Tasche kontrollierte. Ja, alles drin.

Zufrieden kam sie nach der Doppelstunde zurück: Interessante Diskussionen über den Streit der beiden Königinnen, über das Verhältnis der Dramenfigur zur realen Mary Stuart, über das Konzept der schönen Seele und ihr Verhältnis zu den Ideen der Aufklärung. Guter Kurs. In der Zehnten mussten die – zum Teil wenigstens – einen exzellenten Unterricht genossen haben.

Sie setzte sich wieder, um erneut umzupacken, denn in der fünften Stunde stand die Neunte in Deutsch auf dem Programm – Geheimnisse effektvollen Argumentierens, Rückgabe einiger Übungsaufsätze (die nur mäßig gelungen waren).

Danach aß sie den einen von zwei Äpfeln, die sie für heute eingepackt hatte, und sah sich müßig um. Ziemlich viel Betrieb im Lehrerzimmer für die vierte Stunde. Waren irgendwelche Klassen nicht im Haus?

Hilde Suttner heftete etwas ans Informationsbrett für die Oberstufe. Doro betrachtete ihren Rücken in dem rehfarbenen Tweedblazer. Schickes Teil. Und die schmale braune Stoffhose passte genauso gut dazu wie die darunter gerade noch erkennbaren rehbraunen Stiefeletten.

Die Suttner war immer sehr gut gestylt. Die Wintrich auch, fiel Doro ein. Und die Herzberger. Ob die drei zusammen shoppen gingen? Alle drei groß, schlank, elegant und immer so – naja, so englisch gekleidet?

Sie sah etwas mutlos an sich herab: Jeans, wenn auch ordentliche, irgendwelche Loafers. Passten braune Schuhe eigentlich zu dunkelblauen Jeans? Hätte sie nicht doch besser die schwarzen…?

Und das weiß-blau karierte Flanellhemd – war das zu lässig? Hätte sie es vielleicht etwas sorgfältiger bügeln sollen?

Sie sah sich um. Die anderen trugen alles Mögliche, meist Jeans und Blusen/Hemden/Sweatshirts. Manche sahen wirklich ganz schön ungepflegt aus…

Die Herzberger kramte in ihrem Fach. Die war auch nett. Und ebenfalls in schönen Klamotten, grauer Blazer und grau/schwarz/weinrot karierte Hose. Wenn sie sich mal umdrehen würde, könnte man auch sehen, ob sie eine passende dunkelrote Bluse dazu trägt, überlegte Doro.

An seinem Platz neben der Tür zur Teeküche saß der Ederer. Der sollte sich wirklich mal die Haare waschen - und sie sich nicht so klätschig in die Stirn kämmen! Sah aus wie ein Depp. Und der wild gemusterte Pulli war scheußlich. Glaubte er, sowas machte schlank?

„Frau Fiedler?“

Doro sah, aus ihren Styling-Betrachtungen gerissen, alarmiert hoch. „Ja? Oh, guten Morgen, Frau – Echterding, nicht?“

Die Fachbetreuerin für Geschichte und Sozialkunde grinste kurz. „Sehr gut! So fix war ich mit Namen seinerzeit nicht. Ich fürchte, in der Fachsitzung am Freitag werden Sie das Protokoll schreiben müssen. Schlimm?“

„Ach wo. Ich bin von den Seminarsitzungen her ja noch gut im Training. Kein Problem. Huch, was ist jetzt los?“

Am linken Eingang gab es Getümmel, Bücher fielen zu Boden und ein voller Leitzordner wurde ins Lehrerzimmer geschleudert. „Ich bring sie um!“, kreischte eine Stimme. Wer war das denn?

„Die Mendel, die blöde Nuss“, stellte Frau Echterding mit müder Stimme fest. „Was hat sie denn jetzt wieder? Hat es jemand gewagt, ihr Arbeit aufzutragen? Gott behüte gar eine Vertretungsstunde?“ Doro unterdrückte ein Kichern. „Ist die so krass drauf?“

„Noch schlimmer. Manchmal ist es schon tragisch, dass man Beamte nicht so einfach feuern kann. Kaum sind wir die Merz endlich los, rastet die Mendel aus. Dabei ist die seit Jahren schon hier, die müsste doch Routine haben?“

„Was hast du denn?“, fragte eine sanfte Stimme, die Doro in all dem Gewühl nicht richtig zuordnen konnte. „Die Wintrich hat meine Abrechnung nicht genehmigt!“

„Abrechnung? Warst du auf Studienfahrt oder was? Fortbildung?“

„Blödsinn, wozu denn! Nee, meine Büroartikel!“

„Die kann man einreichen? Das wusste ich ja gar nicht!“

„Kann man auch gar nicht“, warf die Echterding ein. „Es sei denn, man hat was für die Schule gekauft.“

„Was mischen Sie sich ein?“, fuhr die Mendel sie an. „Und Sie da, grinsen Sie nicht so dämlich!“ Doro versuchte vergeblich, ihr Gesicht in teilnahmsvolle Falten zu legen.

„Was hast du denn gekauft?“, wollte die sanfte Stimme wissen. Ach so, die Steinleitner. Gutmensch durch und durch, jedenfalls kam es Doro so vor. Und schrecklich bieder. Fast schon eine Karikatur.

„Na, Schreibblöcke. Und Stifte.“

„Für die Schule? Also, für die Materialvorräte?“

„Was? Wie käme ich dazu? Für mich natürlich!“

„Warum soll die Schule das dann bezahlen?“, wollte eine Männerstimme wissen. Wer war das jetzt wieder? So groß war die Schule auch wieder nicht, aber bis man hier mal das ganze Kollegium auf dem Schirm hatte…

Doro erspähte zwischen all den anderen Köpfen ein paar dunkle Löckchen. Ach so, dieser Spanischtyp. Putz oder Pütz oder wie auch immer.

„Sind Sie bescheuert oder was? Ich brauch den Krempel doch bloß für die Schule! Müsste ich nicht hier schuften, bräuchte ich doch keine Schreibwaren!“

„Also, wer hier bescheuert ist… Den Kram können Sie von der Steuer absetzen, aber mehr nicht. Wie kommen Sie bloß auf diese abwegige Idee?“

„Werden Sie nicht unverschämt, ja?“

„Sie haben mich zuerst als bescheuert bezeichnet!“

Ein Fauchen, Getümmel – und der Chef: „Was ist hier los? Herr Pütz, haben Sie sich verletzt?“

„Ich mich nicht. Frau Mendel hat mir ihre Krallen ins Gesicht geschlagen.“

Dr. Eisler seufzte. „Frau Mendel, was ist denn seit Neuestem mit Ihnen los? Sie waren doch bisher eine zuverlässige Kraft? Bitte kommen Sie mit.“

Sie folgte dem Chef laut murrend nach draußen.

Doro sah die Echterding ratlos an:  „Hat die einen an der Waffel? Warum sollte die Schule ihren Krempel bezahlen? Ich dachte ja erst, vielleicht Burnout – aber das geht doch wohl weit darüber hinaus!“

„ Sie haben ganz Recht. In den letzten Wochen hat sie wirklich mit allen Krach angefangen – das muss tatsächlich ein ernsthaftes psychisches Problem sein. Sie streitet mit all ihren Klassen, mit dem Chef, mit dem Finanzamt…“

„Steuern zahlt sie also auch nicht?“

„Ich glaube, Sie wollte ihre Supermarktrechnungen absetzen, sie hat mal über so etwas Ähnliches schwadroniert.“

„Wäre bei solchem Realitätsverlust nicht langsam die Geschlossene anzuraten?“

„Zu ihrem eigenen Schutz, meinen Sie? Das halte ich für eine sehr gute Idee.“

Pütz, mit seidenweicher Stimme und perfide lächelnd. Der hatte ein niedliches Grübchen neben dem Mundwinkel. Und er wirkte irgendwie hinterfotzig. Denk nicht „irgendwie“, tadelte Doro sich selbst – einmal Deutschlehrer, immer Deutschlehrer. Auf der Wange hatte er eine ziemliche Schramme.

„Das sollten Sie vielleicht desinfizieren“, schlug sie ihm vor.

Pütz lachte. „Falls die Mendel tollwütig ist? Wäre natürlich auch eine Erklärung… Aber ich hatte eher das Gefühl, dass sie ordentlich einen sitzen hatte.“

„Lassen Sie sich im Sekretariat verarzten, dann wissen die auch gleich Bescheid und der Vorfall ist dokumentiert“, riet die Echterding. „Eines Tages legt noch jemand die Mendel um, wenn sie so weiter macht. Das ist jetzt die dritte Spinnerin in ebenso vielen Jahren – Zöllner, Merz, Mendel. Ich hätte die Mendel aber, wie gesagt, für stabiler gehalten.“

„Vielleicht hat sie schlimme Klassen?“, schlug Doro vor.

Sie traten an den Generalplan.

„ 7a, 9 d, 10 a, 10 c, 10 d“, las die Echterding vor. „Bis auf die 9 d ganz okay.“

„Also ich finde die 9 d auch ganz brauchbar. Bis jetzt sind sie jedenfalls ziemlich brav und eifrig. Deswegen würde ich bestimmt nicht austicken“, protestierte Doro. „Und warum sollte jemand diese arme Irre umbringen? Wenn natürlich jemand anders die Leiche wäre, könnte ich mir vorstellen, dass sie´s war, in einem Wutanfall…“

„Sie meinen, diese Ausbrüche sind doch eher erheiternd?“ Pütz kräuselte den Mundwinkel. „Nein“, fuhr Doro ihn ärgerlich an, „so lustig finde ich es auch nicht, wenn jemand ein Rad ab hat. Aber warum sollte das in jemandem die Mordlust wecken?“

„In mir schon“, sagte Hilde, die sich von hinten genähert hatte. „Jede Schulaufgabenaufsicht, jede Vertretung in diesem Jahr: stundenlange sinnlose Debatten. Ich würde sie am liebsten gar nicht mehr einsetzen, aber ich glaube, genau das will sie ja. Und warum sollten die anderen mehr arbeiten, nur weil sie sich überlastet fühlt? Objektiv ist das doch Blödsinn!“

Dagegen war nichts zu sagen, auch wenn Doro noch etwas mehr Mitleid aufbringen konnte – aber sie musste ja auch nicht um die Mendel herum organisieren!

Sie sah auf die Uhr und sammelte ihren Kram ein – auf zur 9 d! Und danach den Geschichtskurs – das deutsch-französische Verhältnis. Warum dieser dämliche Arminius seit neuestem in Geschichte so breitgetreten wurde, hatte sie auch noch nicht verstanden – aber bitte! Sie unterrichtete, was gewünscht wurde.

Danach zwei Freistunden und dann die Doppelstunde W-Seminar: Verkehrssysteme weltweit. Nächste Woche hätten sie da eine Exkursion nach München, um das U-und S-Bahn-System zu studieren. Der Kurs hatte schon gemault, warum nicht zu London Transport oder zur Pariser Métro, ein ganz Kesser hatte die Moskauer U-Bahn vorgeschlagen.

„Jaja“, hatte Doro gespottet, „so schaut ihr aus. Moskauer U-Bahn, aber wehe, es kostet was und wir sind nicht spätestens um drei wieder hier, weil ihr da Handballtraining habt. Als Thema für die Seminararbeit könnt ihr das alles gerne nehmen, recherchiert halt im Internet.“

„Auf Russisch?“, hatte der Frechdachs gestöhnt. „Aber nach Moskau fahren wollen!“, hatte sich Doro nicht verkneifen können, und alles hatte gelacht.

Auch heute machte das Seminar viel Spaß und die Teilnehmer/innen zuckten nicht einmal besonders zusammen, als sie sie an die Kurzarbeit in zwei Wochen erinnerte.

Gegen fünf kam sie nach Hause, schwer bepackt mit ihrer Schultasche und einer vollen Supermarkttüte (neue Äpfel, Salat, Joghurts, tiefgefrorenes Obst, Sojaflocken, Eier, fettarmer Käse, Waschpulver, mehrere Gemüsemischungen). Sie verräumte alles in Gefrierfach und Kühlschrank und sah sich dann unzufrieden um.

So schlecht war die Wohnung nicht, aber bis jetzt hatte sie es noch nicht geschafft, sich vernünftig einzurichten. In den Herbstferien sollte sich mal einen Kleiderschrank und ein paar Regale kaufen. Und einen rückenfreundlicheren Schreibtischstuhl. Nur mit ihrem alten Bettsofa, dem wackligen Tisch und den beiden Klappstühlen – und vielen Kisten als Schrankersatz – war das wirklich kein Leben, gerade dass sie schlafen, duschen und korrigieren konnte!

Und wenn sie sich hier zu Schuljahrsanfang nicht nur notdürftigst eingerichtet hätte, wüsste sie auch, wo sich der IKEA-Katalog herumtrieb.

Na, zur Not gab´s immer noch das Internet. Aber erst musste sie die Stunden von morgen vorbereiten. Und den Salat anmachen. Und endlich mal was waschen. Das am besten zuerst!

Sie kippte ihren Wäschekorb um, sortierte eine Maschine voll blauen Kram aus, Jeans, Hemden, ein besseres Sweatshirt, Socken, Handtücher, Unterwäsche (ganz brav im Wäschesäckchen), fischte zwei Euro aus dem Geldbeutel und klemmte sich den Waschpulverkarton unter den Arm. So gerüstet trabte sie nach unten in die Waschküche, wo die Maschine glücklicherweise frei war. Hastig trug sie sich in die Liste an der Wand ein, stopfte alles samt Pulver in die Maschine, knallte die Fronttür zu, warf die zwei Euro ein und startete.

Wieder was erledigt!

Wie das wohl diese schicken Mädels machten? Ließen die waschen? Aber auch wenn sie geringfügig wichtiger waren als Doro, die Anfängerin – für eine Zofe reichte das garantiert nicht.

Zofe, so´n Quatsch. Die waren wohl einfach gut organisiert. Andererseits gab es total souveräne Leute, und bei denen zu Hause sah es aus wie bei Hempels unterm Sofa. Na, die Behausungen von Wintrich, Suttner, Herzberger würde sie ja doch nie zu sehen kriegen, also war es schiere Zeitverschwendung, darüber nachzudenken, beschloss sie, während sie die Treppen wieder hinaufstieg.

Sie hatte eine eigene Wohnung, die es bitter nötig hatte.

Und wie!

Wie immer, wenn sie die Tür aufschloss, überfiel sie tiefes Missbehagen. Schlecht geschnitten war das Appartement nicht, fast quadratisch, Bad und Miniküche Platz sparend untergebracht – aber ohne richtige Möbel? Und überall halb ausgepackte Kisten, in denen sie im Allgemeinen nichts fand.

Wo sollte sie langfristig ihren Tisch und die Regale hinstellen? Die Wand zwischen Küche und Fenster bot sich an, überlegte sie. Besser als die andere Wand, die zwischen Bad und Balkon. Da stand ja auch schon das olle Bettsofa. Ein neues Bett wäre auch nicht übel… bevor sie sich ein Rückenleiden holte?

Und Schränke… der Durchgang zwischen Bad und Küche, der Quasiflur, war immerhin zwei Meter breit. Eins vierzig reichte doch auch, oder? Dann konnte man an die Küchenwand, die ja glatt war, auch einen zwei Meter breiten Schrank stellen.

Ganz schön teuer würde das werden. Und sie hatte noch kein Gehalt bekommen – Kunststück, nach knapp sechs Wochen war das auch nicht zu erwarten. Na, musste das Sparbuch herhalten. Spätestens Weihnachten, hatten erfahrenere Kollegen ihr versprochen, würde der Rubel wohl rollen.

Wollte sie auf Dauer hier bleiben? Ein bisschen schäbig war das Haus. War die ganze Gegend. Aber auf eine doch undefinierbar sympathische Art…

Außerdem waren 550 Euro für 36 qm wirklich nicht teuer, und die Lage war günstig, wenn man nicht gerade auf „gute Gegend“ Wert legte. An der Ecke hielt ein Bus, der in zehn Minuten zum Markt fuhr; von dort waren es kaum fünf Minuten zur Schule. An der gleichen Ecke gab es einen Supermarkt, einen Drogeriemarkt (einen anständigen!), einen Schreibwarenladen mit günstigen Angeboten und einer kleinen Buchabteilung und eine Apotheke; eine Ecke weiter fand man einen Jeansladen (naja, zum Schaufenstergucken reichte es), einen Pizzaservice und einen Obst- und Gemüseladen. Und rundherum eigentlich immer einen Parkplatz für ihre ziemlich schrottreife Kiste. Was wollte man mehr?

Eigentlich konnte man es hier ganz gut aushalten, also konnte sie die Wohnung auch mal fertig möblieren.

Was hatte sie denn jetzt morgen? 9 d in Deutsch und Geschichte, den Deutschkurs der Q 11, eine Doppelstunde Deutsch in der Achten und den Geschichtskurs der Zwölften. Ganz schön viel wieder. Aber nach Mittwoch ließ der Stress immer etwas nach. In der Neunten sollte sie mal ein Geschichtsex schreiben, gleich in der ersten Stunde. Schreck in der Morgenstunde!

Sie bastelte eine Angabe, dachte dann erst daran, nachzusehen, ob die nicht zufällig morgen eine Schulaufgabe schrieben (nein, alles erst nach Allerheiligen), holte die Wäsche nach oben und hängte sie auf, aß ihren Salat und machte sich an die Vorbereitung der übrigen Stunden. Als sie fertig war und alles in ihrer Tasche verstaut hatte, war es Viertel nach neun.

Verflixt, unter der Woche kam man wirklich zu gar nichts!

Wie machten das die anderen? Oder hatten die einfach mehr Übung und mussten nicht mehr so viel vorbereiten? Hatten vielleicht auch nicht drei Deutschklassen und demzufolge nicht dauernd irgendwelche Übungsaufsätze am Bein?

Oder weniger Nachmittagsunterricht? Aber sie selbst hatte eigentlich auch nur einen langen Nachmittag – nämlich heute. Sie musste eben lernen, Haushaltskram nicht auch noch auf diesen Tag zu legen.

Außerdem war Viertel nach neun auch nicht so spät; sie konnte wirklich noch eine von den stabilen kleinen Bücherkisten auspacken und so an der Wand platzieren, dass sie als Regalfach dienen konnte.

Gute Idee, fand sie, als sie das ausprobiert hatte, und machte gleich mit den nächsten Bücherkisten weiter. Wenn man in die untersten Kisten Leitzordner stellte, wurde die Sache auch gleich noch stabiler! Und schließlich blieb eine leere Kiste übrig, obwohl alle Bücher ordentlich arrangiert waren.

Diese leere Kiste stellte Doro neben ihr Sofa und warf sämtliche Unterwäsche hinein, die sie in den übrigen Kisten finden konnte. Sobald der frisch gewaschene Kram trocken war, wäre sie auf jeden Fall wieder gut ausgerüstet.

Aber auf die Dauer war das alles kein Zustand. Sie schaute doch noch schnell im Internet nach, was es bei IKEA und im Baumarkt an Regalsystemen gab. Ach, im Baumarkt hatten sie das System „Lasse“ (wollten die IKEA Kunden abjagen mit diesem pseudoskandinavischen Getue?), massives Buchenholz, leiterartige Seitenteile in verschiedenen Höhen, Bretter in verschiedenen Längen, Stützkreuze aus Metall. Ziemlich günstig. Und wenn sie morgen doch mal mit dem Auto in die Schule fuhr und sich ein paar solcher Teile ins Auto lud? Dann brauchte sie eigentlich vorläufig nur noch einen anständigen Tisch und einen Rollcontainer für ihren Schreibwarenkrempel. Buche passte auch genau zu dem verblüffend anständigen Parkett in der Wohnung. Das Bettsofa ging eigentlich noch, beschloss sie. Schließlich war sie nicht Krösus.

Hoch zufrieden schrieb sie sich auf, was sie wollte, fuhr den Rechner wieder herunter und verzog sich nach einer kurzen Bügelaktion ins Bett.

Mittwoch, 10.10.2012

Der Schultag verlief deutlich weniger aufregend als der Dienstag – die Neunte jammerte nur verhalten, als Doro das Ex auspackte, der Rest arbeitete recht ordentlich mit, und Dramen im Lehrerzimmer gab es auch nicht – oder Doro verpasste die spannenden Momente, weil sie kaum Freistunden hatte. Ausnahme: Trattner, der sich anscheinend für Gottes Geschenk an die Weiber hielt, baggerte Katja Herzberger an, die ihn ziemlich kurz abfertigte. Doro freute sich – sie kannte Trattner kaum, aber sie fand ihn affig, die Solariumsbräune, das Goldkettchen, die blendend weißen Zähne, den leichten Tiroler Zungenschlag, den knalltürkis und lila gemusterten Trainingsanzug und die Tatsache, dass er Luis hieß wie der olle Trenker. Außerdem hegte sie wie viele Kollegen das beliebte Vorurteil, dass es bei Lehrern für Sport und Englisch wohl zu mehr Wissenschaft nicht gereicht habe.

Von diesem kurzen Intermezzo abgesehen konnte Doro höchstens den Kleidungsstil der Kollegen studieren und ihre Nutzanwendungen daraus ziehen.

Richtig schick waren wirklich nur die drei Mädels, dieser Pütz (Harris-Tweed!), der Chef, dann die Körner, die es zumindest versuchte (ab und ein schwarzer Blazer zu grauen Jeans) und die Echterding, die aber eher Kostüme zu favorisieren schien. Auch nicht schlecht. Und wirklich schöne Schuhe. Der Rest bevorzugte eben Jeans oder ausgebeulte Cordhosen und dazu Hemden oder Pullis, wobei die Pullis gerne abscheulich gemustert waren. Doro, die heute eine schwarze Hose und eine schwarz-weiß gemusterte Bluse trug, fand sich damit schon relativ schick. Einen Blazer hatte sie irgendwo sicher auch noch. Der graue Pfeffer-und-Salz musste doch in einer Kiste sein – oder hatte sie den noch in München weggeschmissen?

Sie seufzte. Es wurde wirklich Zeit für vernünftige Möbel! Vielleicht hatte sie die absolute Karrierekleidung in irgendeiner Kiste und lief hier herum wie ein Bürolehrling?

Ach Quatsch! Wenn sie Klamotten hätte wie die drei Grazien, dann wüsste sie das aber. Der Pfeffer-und-Salz-Blazer war schon das Höchste der Gefühle. Wenn es ihn noch gab, hieß das.

Und mit Superklamotten wurde man hier doch auch nicht schneller befördert. Sie überlegte, ob die hysterische Mendel im Nadelstreifenkostüm einen besseren Eindruck machen würde, und kicherte vor sich hin: Die würde wohl höchstens finden, dass der Staat ihr Arbeitskleidung zu stellen hätte…

Aber solche Gedanken waren ja eigentlich die reinste Zeitverschwendung – sie hätte schon mit dem Ex anfangen können, aber jetzt war die Freistunde praktisch vorbei, und nach den nächsten beiden Stunden konnte sie nach Hause – halt, nein, erst zum Baumarkt. Wenigstens ein Regal – und das Ex!

Schlechte Planung, tadelte sie sich selbst und raffte ihren Kram zusammen – Geschichte 12 und Deutsch 9.

Als sie durch die Tür in den Trakt der Oberstufe eilte, stieß sie mit einer Kollegin zusammen und entschuldigte sich verlegen. „Macht nichts“, antwortete die. „Ist ja nichts passiert. Sie sind Frau Fiedler, nicht?“

„Ja… aber ich weiß jetzt gerade nicht…“ Wie sollte man sich auch in so kurzer Zeit fast hundert Kollegen merken?

„Woher auch? Ich bin Petra Bittl. Sport, Spanisch, Französisch. Gefällt´s Ihnen bei uns?“

„Doch, ja. Viel besser als an den Schulen während des Referendariats. Ein so sympathisches Kollegium! Aber ich muss jetzt leider…“ Frau Bittl lächelte verständnisvoll, während Doro die Treppe hinauf eilte und im linken Gang verschwand.

Hier waren echt alle so nett, geradezu paradiesisch! Auch der Kurs war reizend. Zum ersten waren von sechsundzwanzig Leuten schon vierundzwanzig da, als sie eintrat, und die fehlenden zwei kamen unmittelbar nach ihr in den Raum gestürzt und entschuldigten sich atemlos, obwohl es kaum geläutet hatte. Ob das so blieb? Zum zweiten hatten sie sogar Geschichtsbücher dabei, so dass Quellenarbeit möglich war, und arbeiteten auch eifrig mit. Doro lobte sie entsprechend, stellte am Ende noch einige Verständnisfragen und beschloss, nächstes Mal ein Ex mit einer kleinen Auswahl genau dieser Fragen zu schreiben. Wenn alle so gut aufgepasst hatten, musste da doch ein Schnitt von 15,00 herauskommen?

Die Neunte fragte natürlich sofort, ob sie das Ex schon korrigiert habe, und Doro seufzte. „Leute, wann denn? Wenn ich ganz toll bin, kriegt ihr sie in der nächsten Geschichtsstunde wieder – also am Montag.“

Lange Gesichter, aber mit der Aufforderung, in Gruppen nach Argumenten für einen Kleiderzuschuss zum Taschengeld zu suchen, lenkte sie sie ab. Sie suchten und trugen hinterher begeistert vor, wollten aber nicht so recht einsehen, dass das Argument „Dann kann ich mir mal echt coole Sachen kaufen, mit eurem peinlichen Kram werde ich ja doch bloß gemobbt“ ganz schlechte Verkaufe war. Dass man Eltern in der Argumentation etwas entgegenkommen musste, war ihnen noch schwer zu vermitteln, aber sie bemühten sich und jammerten auch nicht allzu laut, als die Hausaufgabe gestellt wurde: Ein überzeugendes Argument korrekt auszuformulieren, mit Behauptung, Begründung, Beweis und Zusammenfassung. „Schickt es mir als Mail-Attachment, dann füge ich alles zu einem Blatt zusammen und wir können schauen, was schon funktioniert und was noch nicht.“

In diesem Moment läutete es, und nach kurzem lautem Aufräumen trampelten alle in die Freiheit. Doro sah ihnen nach. Nette Bande. Noch ein bisschen hormongesteuert, aber schon ziemlich vernünftig.

Die einzige echt lästige Klasse war diese Siebte, bei denen sie Geographie hatte. Aber die konnten eigentlich auch nichts dafür, die waren eben mitten in der Pubertät. So, und jetzt würde sie ihren übrigen Kram einsammeln und sich zum Baumarkt aufmachen. Außerdem knurrte ihr der Magen.

Im Lehrerzimmer war nicht mehr viel los, um kurz vor drei vielleicht auch nicht so erstaunlich. Merkwürdigerweise saß die Mendel in einer Ecke und schniefte. Das Schniefen wunderte Doro weniger, aber wieso war diese wehleidige Weib überhaupt noch da? Ließ die nicht spätestens um eins den Hammer fallen? War Nachmittagsunterricht nicht eine perfide Idee des KM, um speziell sie auszubeuten?

Neben der Mendel saß diese brave Steinleitner und murmelte Beruhigendes. Die Steinleitner sah aus, als gebe sie Handarbeiten, fand Doro, dabei waren ihre Fächer Deutsch und Französisch. Mitte dreißig, die Haare ordentlich aufgesteckt, Jackenkleider aus Jersey in gedeckten Farben (oder biedere Twinsets), keinerlei Make-up. Man konnte sie sich richtig vorstellen, wie sie den Kreuzstich an einem Stück überdimensionalen Stramins demonstrierte. Aber immerhin war es nett von ihr, dass sie versuchte, die dämliche Mendel vom Ausrasten abzuhalten.

In der nächsten Ecke saßen Trattner und Pütz und ignorierten sich nach Kräften.

„Für heute erlöst?“, fragte Pütz sie und Doro nickte. „Haken dran und ab nach Hause.“ Trattner schaute neidisch. Tja – mit Sport hing man noch länger hier herum, aber dafür war er ja wohl auch nicht um Viertel vor acht hier angetreten. Außerdem: Augen auf bei der Fächerwahl!

Sie stopfte ihre übrigen Mappen und Bücher in die Tasche, wünschte allseits einen schönen Restnachmittag und entfloh, bevor sich die Mendel womöglich noch verarscht fühlte. Merkwürdig, dass sie offenbar erst seit diesem Jahr so durchdrehte. Und für Wegheiraten und Kinderkriegen war sie wohl schon zu alt.

Doro parkte vor dem Baumarkt und eilte die Gänge entlang. Wo hatten die hier die Regale? Und wie schwer waren die wohl? Ihr ältlicher Kleinwagen fasste nicht unbegrenzt viel, aber notfalls würde sie eben täglich hier vorbeischauen.

Vor den Regalen traf sie Maja Körner, die letztes Jahr am Mariengymnasium angefangen hatte. „Aha, willst du auch mal Ordnung in die Bude bringen?“, begrüßte diese sie. Doro nickte. „Ich hab die Wohnung ja erst seit ein paar Wochen, und immerzu aus Kisten leben…“

„Schöne Wohnung?“

„Och – ja. Ein Zimmer halt. In Selling. Aber ganz in Ordnung, finde ich. Gute Infrastruktur.“

„Selling ist nicht schlecht, da hast du Recht. Haufenweise normale Läden und an jeder Ecke eine Bushaltestelle.“

„Normale Läden?“

„Solche, die man brauchen kann“, erläuterte Maja. „Lebensmittel, Klamotten, Schreibwaren, Apotheke… An der Uni gibt´s praktisch nur noch Cafés und Copyshops, was soll einem das, wenn man mit dem Studium fertig ist? Und in der Altstadt… schick schon, aber Designerklamotten braucht man ja auch nicht täglich!“ Doro lachte. „Stimmt. Obwohl, das Schaufenstergucken macht bei Designerklamotten natürlich mehr Spaß.“

„Auf der Suche nach schicken Blazern…“ Maja seufzte.

„Woher weißt du?“

„Luise, Hilde und Katja haben schon eine starke Vorbildfunktion, findest du nicht?“

„Doch… vor allem, wenn man manche andere danebenhält…“

„Den fettigen Ederer… oder die Trautenwolf?“

„Trautenwolf… ist das diese Dicke?“

„Ja. Mit der Figur ist es wohl echt schwierig, sich gut anzuziehen… Größe 56 ist das bestimmt.“

„Aber dafür kann sie ja wohl nichts… ich meine, wer so viel Speck angesammelt hat, hat doch bestimmt irgendein gesundheitliches Problem, eine Stoffwechselstörung oder so was?“

„Meinst du?“

„Weiß ich nicht, ich denke mir das halt so… Aber an dieser Schule laufen eigentlich viele recht gut gekleidet rum. An meiner Seminarschule hatte nicht mal der Chef einen Anzug an, sondern Cordhosen und ganz unglaubliche Pullis. Die hat ihm seine Alte offenbar selbst gestrickt. Und soo eine Wampe!“ Sie deutete das mit einer entsprechenden Geste an, und Maja lachte. „Wie der Ederer, das alte Ferkel! Die Trautenwolf ist immerhin Kult bei den Schülern, die hat einen wahnsinnig trockenen Humor. Ich hab bloß Angst, dass sie eines Tages tot umfällt – die muss doch unglaubliche Werte haben. Und rauchen tut sie auch noch, wie ein Schlot!“

„Was? Huch, wo kann man denn am Mariengymnasium rauchen? Etwa vor der Tür, mit den Schülern? Geht ja gar nicht!“

„Entweder dort, aber das hat wirklich was von Anbiederung. Oder um die Ecke im Georgenweg, da ist so eine ganz kleine Anlage. Da hängen die Kollegen dann gerne herum.“

„Zur Freude der Anwohner?“

„Genau. Und, was willst du hier kaufen?“

Doro erzählte, ließ sich beraten und schleifte schließlich mit Maja zusammen die Bauteile für zwei Regale zur Kasse. Soviel würde in ihr Auto passen, hatten sie beschlossen. Und ein ganz hohes und ein fast ganz hohes Regal, das müsste doch ein guter Anfang für eine interessant gestaltete Regalwand sein?

Leider verabschiedete sich Maja schon auf dem Parkplatz, also musste Doro den Kram alleine nach oben schleppen. Gut, dann war für heute die Fitness abgehakt!

Oben zog sie den klapprigen Tisch von der Wand, saugte den Boden an der Wand entlang sorgfältigst ab, räumte auch alle Bücherkisten aus der Nähe weg und ging an die Arbeit. Die hohen Regale außen, dann nach innen absinkend bis zum Tisch, hatten sie sich überlegt.

Sie begann mit dem ganz hohen Regal an der Wand zur Küche, fröhlich die Songs aus dem Radio mitpfeifend. Schwierig war das nicht – oberstes und unterstes Brett mit den Seitenleitern verschrauben, Stützkreuz anschrauben, alles korrekt aufstellen, übrige Bretter an den richtigen Stellen einhängen, alles säubern, um das Sägemehl zu entfernen, die Schrauben noch einmal nachziehen…

Maja war nett, fand sie. Alle waren nett, außer dem dämlichen Trattner, diesem eitlen Affen, und natürlich der hysterischen Mendel.

Mit diesem Ederer hatte sie noch nie ein Wort gewechselt – und mit einer Menge anderer aus dem Kollegium auch nicht. Bestimmt brauchte sie ein Jahr, bis sie alle kannte. Und bei einigen von den Referendaren lohnte es sich wahrscheinlich auch gar nicht. Bis sie deren Namen drauf hatte, kehrten sie an die Seminarschule zurück oder wechselten an eine andere Einsatzschule.

So, das erste Regal stand!

Ein bisschen korrigieren?

Nein, erst das zweite Regal. Das Ex hatte wirklich Zeit bis Montag. Das Regal, dann beide schön einräumen, einige leere Kisten in den Keller, den Unterricht für morgen vorbereiten – und dann korrigieren. Wenn sie dann noch Lust hatte, hieß das!

Konnte es eigentlich sein, dass es an dieser Schule so harmonisch zuging? Sie kannte ja nur zwei andere Schulen, aber dort waren Cliquenbildung und richtig giftige Zänkereien im Lehrerzimmer gang und gäbe gewesen, die Kollegen hängten sich gegenseitig beim Schulleiter hin und da, wo sie im Zweigschuleinsatz gewesen war, hatte die Chefin das auch ausgenutzt – divide et impera, offensichtlich. Und hier war alles Friede, Freude, Eierkuchen?

Wahrscheinlich blickte sie nur noch nicht richtig durch, überlegte sie, während sie das zweite Regal fertig aufbaute und es mit dem ersten verband. Probehalber rüttelte sie an der Konstruktion: stabil. Vor allem, wenn sie jetzt noch ihre Ordner ins unterste Fach stellte.

Das Einräumen war ein Genuss – plötzlich war ihr ganzer Schulkrempel übersichtlich untergebracht und sie fand beim Leeren der letzten Kisten noch Klarsichthüllen, Eckspanner und den Klebestift, den sie letzte Woche vergeblich gesucht hatte. Und die Bücher waren auch alle wieder da!

Sie faltete die überflüssigen Kisten zusammen und lehnte sie im Flur an die Wand. Was jetzt?

Vorbereiten.

Ach nein, später. Neben dem Bett konnte sie doch zwei Kisten als Regalersatz aufbauen und ihre Pullis und T-Shirts darin stapeln… vielleicht tauchte dabei ja auch der ominöse Blazer wieder auf?

Die einzige Zimtzicke, die an die Schulen aus der Referendarzeit erinnerte, war die Mendel. Aber die hatte dafür schon krass einen an der Waffel, fand Doro, während sie ungeahnte Schätze aus einer Kleiderkiste holte, alles auf dem Bett aufstapelte, die Deckflächen nach innen drückte und die Kiste mit dem Boden zur Wand und der Öffnung nach vorne neben dem Bett platzierte. Burnout reichte da wirklich nicht – vielleicht ein Schicksalsschlag? Oder ein Gehirntumor? Oder ein Suchtproblem?

Dass der Mendel nicht wirklich mal einer eins überzog? Musste es da nicht manche dauernd im Handgelenk jucken, bei dem dummen Geschwätz? Oder dachten sich Leute wie Hilde Suttner dann doch nur Leck mich und fragten andere, ob sie eine Aufsicht übernehmen könnten?

Unfair wäre das aber wirklich – so käme die Mendel völlig ohne Arbeit davon! Man müsste sie in eine Situation bringen, wo Dr. Eisler nicht mehr anders konnte als ein Disziplinarverfahren einzuleiten… Also, wenn sie eine Möglichkeit sah, jemandem wie Luise Wintrich dabei zu helfen, dann würde sie es auch tun – aber hallo!

Sie arrangierte die Bücher noch etwas besser, faltete ihre beiden Strickjacken ordentlich, platzierte noch eine zweite stabile Kiste auf der ersten und faltete ihre paar Jeans – die dunkelblauen, die grauen, die braunen, die roten Cordjeans, die rehbraunen Chinos. Gar nicht so übel, fand sie.

Das reichte für heute! Sie schleifte die übrigen Kisten in den Keller – der war bei Gelegenheit auch mal fällig! – und setzte sich unlustig an den provisorischen Schreibtisch. Abendessen? Erst mal planen und ein bisschen vorbereiten, es war ja erst halb sechs. Morgen hatte sie sowieso bloß drei Stunden. Und Sprechstunde! Also fuhr sie ihren Rechner hoch, trug die Noten von dieser Woche ein, druckte die aktuellen Klassenlisten aus und packte sie in die Sprechstundenmappe. Immer das erste, was die Eltern wissen wollten: Wie steht er/sie denn jetzt? Sie nahm sich nun doch das Ex vor und blätterte ein bisschen darin herum. Okay, die erste Frage!

Nach der Hälfte verlor sie etwas die Lust. Lieber dachte sie sich ein neues Ex für morgen im Deutschkurs aus, wenn die schon so brav mitgearbeitet hatten!

Das ging flotter; zufrieden zog sie die fertige Angabe aus dem Drucker und tütete sie ein. Halb sieben… gut, etwas Gemüse, ein hartes Ei und eine kleine Scheibe Vollkornbrot. Abends wenig Kohlenhydrate, das war ihr in Fleisch und Blut übergegangen, und so war es auch nicht schwer, die Figur zu halten. Schwierig war es eher, während des Schultags das Essen nicht ganz zu vergessen.

Und danach lief sie am besten eine halbe Stunde durch die rührend altmodischen Innenhöfe, die es hier in Selling überall gab.

Während sie an Teppichklopfstangen und Garagenhöfen vorbeijoggte, überlegte sie weiter, ob sie das Kollegium eigentlich richtig einschätzte. Eigentlich war es mit ihrer Menschenkenntnis ja nicht arg weit her – immer schon hatte sie gestaunt, wenn ihr jemand erzählt hatte, wer es angeblich mit wem trieb…

Gab es am Mariengymnasium eigentlich Pärchen? Sie musste wirklich mal versuchen, auf so etwas zu achten!

Dieser Trattner war offenbar hinter Katja Herzberger her, aber die zeigte wenig Interesse. Ob die Mendel verheiratet war? Vielleicht ging der Alte fremd und sie war deshalb so durchgeknallt und fühlte sich von der ganzen Welt verfolgt?

Wahrscheinlich waren die meisten anderen brav und bieder verheiratet. Wintrich und Suttner waren bestimmt auch schon vergeben, die sahen ja auch schon so toll aus…

Obwohl, die Wintrich war so der Inbegriff der Karrierefrau. Und ein bisschen kaltschnäuzig. Klasse, aber hatten Männer vor solchen Frauen nicht Angst?

Vor ihr hatte noch nie einer Angst gehabt. So erfolgreich war sie eben nicht! Deswegen war sie aber trotzdem schon länger solo.

Huch, die Boutique in der Düsseldorfer Straße machte Räumungsverkauf? Gaben die auf? Wieso das denn - viel wichtiger: Gab´s da Schnäppchen? Doro drehte bei und spähte in die Schaufenster.

Ach, die hatten immer noch auf? Um die Zeit ging doch in dieser braven Gegend niemand mehr einkaufen, da saßen doch alle beim Abendessen? Oder schon vor den Fernsehnachrichten.

Sie trat ein und wurde von einem Ständer mit Blazern magisch angezogen. Die meisten waren riesig, Größe 46 und mehr, aber sie fand auch einige 38er. Der braune Tweedblazer war schön… nur 49 Euro? Gekauft! Und der beige-blau karierte? Scheußliche Knöpfe. Aber der camelfarbene Boucléblazer war tadellos. Sie schlüpfte hastig in beide – sie saßen auch gut. Und diese graue Flanellhose, ach, auch 38? Und von 129 auf 24 Euro runtergesetzt? Da musste man doch mal ganz schnell in die Kabine…

Perfekt!

Sie freute sich, dass sie die Karte dabeihatte, zahlte und joggte mit einer riesigen Papptüte nach Hause zurück.

Nein, da hatte das blöde Ex jetzt leider Pech gehabt: Jetzt musste sie ihre Neuerwerbungen aufhängen. Und das Pfeffer-und-Salz-Ding suchen.

Wohin aufhängen? Verflixt, sie brauchte einen Kleiderschrank! Sie wusste genau, wo er stehen sollte (gleich nachher ausmessen) – schließlich konnte ja nicht alles an ihren dürftigen zwei Türklinken baumeln.

Sie packte vergnügt aus, hängte so viel an die Türklinken wie irgend möglich, wühlte nach dem Blazer – und fand vergessene Schuhe, die dunkelbraune Strickjacke mit der Kaschmirbeimischung, zwei Seidentücher, eins mit Liberty-Blümchen und eins mit den üblichen Pferdemotiven, die beide verflixt muffig rochen, weichte sie schnell mit einem ohnehin schrecklichen Shampoorest im Waschbecken ein und suchte dann weiter.

Mehrere schöne Holzkleiderbügel (aufheben, für den neuen Kleiderschrank!), auch einige grottige Drahtbügel (ab in den Müll), ein Paar Winterstiefel – ach, die grauen, die so teuflisch kniffen – ein Fall für den Container. Ganz unten in der Kiste fand sie den Blazer, unglaublich verknüllt und an den Ärmelkanten arg angeschmuddelt. Okay, der kam morgen in die Reinigung. Und dann würde sie nach einem Kleiderschrank Ausschau halten.

Der Gedanke, Schrankteile auf einem wackligen Leihgepäckträger zu transportieren (womöglich auf der Autobahn zu verlieren und in den Verkehrsmeldungen vorzukommen – was könnte peinlicher sein?), sie dann die Treppen hoch zu schleifen und mühsam zusammenzubauen, rief tiefe Unlust bei ihr hervor. Wie teuer war es wohl, sich so was liefern und aufbauen zu lassen?

Ein bisschen Ex noch!

Sie machte die erste Aufgabe fertig, notierte die erzielten Bewertungseinheiten, nahm die zweite Aufgabe in Angriff (was manche Leutchen aus einer Quelle an Unsinn herauslasen!), ließ sich durch den Kopf gehen, wie morgen die Stunden in Deutsch 9, Geschichte 11 und Geographie 11 aussehen sollten, packte die Tasche und gönnte sich eine längere Überlegung, was sie morgen anziehen  sollte, um mit den Ladies mitzuhalten. Sie fand sich zwar selbst reichlich albern, aber dennoch musterte sie ausgiebig, was an ihren Türklinken hing.

Den braunen Tweedblazer, beschloss sie dann. Dazu die helleren Jeans und ein hellbraunes T-Shirt. Kein Seidentuch, das wäre dann wohl doch zuviel des Guten.

Schuhe?

Nein, erst die zweite Aufgabe fertigmachen!

Danach stellte sie eine dritte leere Kiste als Regalersatz auf – gut, dass sie vorhin mehrere gefaltete Kisten übersehen hatte! – und sammelte darin alle Schuhe. Auch die braunen Loafers fielen ihr in die Hände. Genau richtig! Nur putzen musste sie sie noch – und wo zum Henker war das Schuhputzzeug?

Immer noch stapelten sich fünf Kisten an der Wand – aber die räumte sie jetzt nicht mehr vollständig aus. Sie konnte aber doch die Finger nicht davon lassen, sah sie flüchtig durch und zog einige Dinge dabei heraus – eine rosa Strickjacke (mal sehen, wozu die noch passte), ein Paar nagelneuer karierter Socken, zwei Bücher, die gut zu ihrem Unterricht passten und gleich ins Regal kamen – und wenigstens einen Schnellglanzschwamm für die Schuhe.

Sie fuhr damit über die Schuhe für morgen und war von ihrer Umsicht tief befriedigt. Damit konnte sie jetzt mit gutem Gewissen ins Bett gehen und diesen Krimi weiterschmökern: Hoffentlich tauchte nicht noch eine kopflose Leiche auf…

Donnerstag, 11.10.2012

Wenn man nur drei Stunden Unterricht hatte, blieb viel Zeit, die Unterströmungen im Kollegium zu studieren. Doro hatte zwar immer noch den Verdacht, dass sie wenig Spürsinn für solche Strömungen hatte, aber sie wollte es doch wenigstens versuchen.

Zunächst passierte wenig – die einen kamen, die anderen gingen, manche räumten ihre Taschen ein, aus und um, andere kramten in ihren Fächern, kopierten, suchten nach Anschauungsmaterial, beschimpften die Kaffeemaschine oder lasen die Anschläge. Die Mendel kam auch vorbei und warf Doro einen giftigen Blick zu. „Was machen Sie denn schon wieder hier?“

Doro lächelte süß. „Ich arbeite hier. Schon vergessen?“

„Na, Sie wohnen ja wohl in der Schule, was? Wie kann man sich bloß so ausnutzen lassen! Das werden Sie eines Tages noch übel bereuen, ich spreche aus Erfahrung!“

Etwas schärfer als vorhin entgegnete Doro: „Also, mir macht meine Arbeit Spaß und ich mache sie ordentlich. Schließlich werde ich ja auch ordentlich bezahlt. Sie nicht?“

Die Mendel schnaufte wütend, warf einen Stuhl um, der im Weg stand, und rauschte davon. Doro überlegte, ob sie den Stuhl aufstellen sollte, und entschied sich dagegen. Wenn jemand fragte, würde sie sagen, dass es die Mendel gewesen war!

Petze, Petze, ging in´n Laden…

Wenn schon. Die dusslige Kuh verdiente es ja wohl auch nicht besser!

Nach der Deutschstunde in der 9 d legte sie sich wieder auf die Lauer, während sie in ihrer Tasche kramte, auch mal ein bisschen in ihrem Schränkchen herumräumte und ihr Postfach leerte.

Nichts Interessantes. Ein neues Geographiebuch war im Umlauf, man konnte ein Gratis-Prüfexemplar bestellen, was Doro natürlich tat, ein Zettelchen, dass in der 9 d die Matheschulaufgabe auf nächste Woche Freitag verschoben war (schnell aufschreiben, aber sie plante da kein Ex), neue Kurslisten, wahrscheinlich von Hilde Suttner, und ein Zettel, dass man dringend Olivenöl und selbst geschleuderten Honig bestellen sollte. Bei der Lichwitz.

Doro warf den Zettel weg, drehte sich um und stand vor der Lichwitz.

„Warum werfen Sie das weg? Ich hab´s Ihnen doch extra ins Fach gelegt!“

„Warum denn?“

„Damit Sie was bestellen können!“

„Ich mag keinen Honig und kaufe Olivenöl beim Händler meines Vertrauens.“ Klang gut, nicht?

„Frau Lichwitz, würden Sie bitte aufhören, Ihren Privathandel den Kollegen aufzudrängen?“ Hui, die Wintrich konnte sich ganz schön kalt anhören!

„Aufdrängen? Da macht man jungen, unerfahrenen Leuten ein freundliches Angebot und muss sich dann so was anhören? Frechheit!“

Die Lichwitz rauschte davon, die Wintrich sah ihr kopfschüttelnd nach. „Die mit ihrem Pseudo-Biokram. Natürlich muss man das Zeug nicht kaufen.“

„Tu ich auch nicht, ich mag so Zeug gar nicht. Und was heißt hier eigentlich jung und unerfahren? Man könnte meinen, ich sei noch zu blöd, mich vernünftig zu ernähren. Das ist eigentlich die viel größere Frechheit!“

Die Wintrich lachte. „Weiß Gott. Obwohl es hier viele gibt, die wohl nichts von vernünftiger Ernährung verstehen. Schau bloß mal, was hier für ein Mist in der großen Pause konsumiert wird! Was anderes – wir können uns doch wirklich duzen, oder? Ich glaube, ich hab´s eben eh schon gemacht. Luise.“

„Dorothea. Doro.“ Sie schüttelten sich feierlich die Hand und lachten etwas verlegen. „Frau Wintrich!“ Neben Luise tauchte eine kleine, etwas verkniffen wirkende Frau in den Fünfzigern auf.

„Frau Uhl?“ Luise versuchte offenbar, nicht allzu genervt zu wirken.

„Frau Wintrich, ich klage ja wirklich sehr ungern, aber jetzt muss ich mich wirklich beschweren!“

Was ist denn jetzt schon wieder? Doro fand, diese Reaktion könne man Luise am Gesicht ablesen, und verbiss sich mühsam ein Kichern.

„Ich kann so nicht arbeiten! Sie wissen genau – oder vielleicht wissen Sie es auch nicht – wie viel Konzentration Deutschkorrekturen erfordern! Und dann werden hier dauernd Gespräche geführt! Wie soll man so arbeiten?“

Während sie sich ereiferte, warf sie Doro einen Blick zu, als habe die hier absichtlich ruhestörenden Lärm verursacht.

„Frau Uhl“, begann Luise, und man hörte, dass sie sich nur mühsam beherrschte, „dem entnehme ich (a), dass Sie glauben, ich korrigiere unkonzentriert und schlampig. Das muss ich mir verbitten. Und (b) wissen Sie doch, dass nebenan ein Silentiumraum ist. Dort kann man in aller Ruhe arbeiten. Der Hauptraum ist nicht als Arbeitsraum gedacht.“

Über den ersten Punkt ging die Uhl souverän hinweg.

„Nebenan kann ich nicht arbeiten!“

„Ach nein? Dort ist es totenstill!“

„Also, erstens stehen dort zwei Rechner!“

„Ja, und? Außer leisem Klicken verursachen die auch keine Geräusche. Die Lautsprecher sind deaktiviert.“

„Aber der Elektrosmog!“

„Das ist doch Unsinn. Außerdem ist der Raum sogar klimatisiert. Alle freien Radikale werden auf der Stelle abgesaugt.“

„Machen Sie sich über mich lustig?“

„Würde ich nie wagen. Der Raum ist wirklich ungefährlich. Und zweitens?“

„Was?“

„Sie hatten noch einen zweiten Grund?“

„Was? Ach so – ja. Nebenan kriegt man doch nichts mit!“

„Frau Uhl, beides können Sie nicht haben. Wenn Sie hier alles mitkriegen wollen, müssen Sie auch die entsprechenden Geräusche dulden. Entscheiden Sie sich. Aber hier gibt es kein Redeverbot.“ Die Uhl trollte sich ärgerlich, und Luise verdrehte kurz die Augen zum Himmel, fuhr sich durch die dunklen Locken, grinste und sagte: „Ich muss dann mal wieder…“

„Himmel, ich auch gleich! Dass Freistunden immer so schnell vorbei sind?“

Der Geographiekurs war lustlos und schlecht vorbereitet. Doro bemühte sich vergeblich, sie mitzureißen, und fragte schließlich gereizt: „Was habt ihr heute bloß? So kenne ich euch ja gar nicht!“

„Ach, Frau Fiedler, wir schreiben nachher ein Mathe-Ex…“

„Alle? Seid ihr alle im gleichen Mathekurs?“

„Nein… aber die Suttner hat was angedeutet -“

„Frau Suttner. Soviel Zeit muss sein.“

„Frau Wintrich, Frau Körner, Herr Liegnitzer und Herr Meidlinger. Die haben sich alle abgesprochen, ist das nicht eine Gemeinheit?“

„Mir kommen die Tränen. Na, aber wenn ihr schon Bescheid wisst, dann seid ihr doch sicher gut vorbereitet. Besser kann´s doch gar nicht kommen?“

„Aber wir können das doch nicht!“

„Ach nein? Was macht ihr denn gerade?“

„Ableiten“, äußerte Verena aus der ersten Reihe voller Ekel. „Wozu das gut sein soll, weiß hier auch keiner.“ Doro verdrehte die Augen. „Leute, mit der Haltung kommt ihr aber in der Oberstufe nicht weit.“

„Sie klingen schon wie die – äh, wie Frau Suttner.“

„Die hat ja auch ganz Recht. Also, welche Ableitungsregeln solltet ihr draufhaben?“

„Potenzregel!“, rief Max von ganz hinten.

„Babykram“, äußerte Doro verächtlich und griff zur Kreide. Der Kurs folgte ihrer knappen Erklärung und den zwei Beispielen atemlos.

„Woher können Sie so was? Geben Sie auch Mathe?“

„Gotteswillen, nein! Leute, ich hab Abitur. Und ab und zu mal aufgepasst. Und ein gutes Gedächtnis. Was ist mit der Produktregel?“

Binnen zehn Minuten hatte sie alle Regeln vorgestellt und betrachtete ihren Kurs missvergnügt. „Wisst ihr, ich habe echte Schwierigkeiten, zu glauben, dass eure Mathelehrer euch das nicht schon mehrfach erklärt und mit euch geübt haben. Passt ihr eigentlich nicht auf? Macht ihr keine Hausaufgaben?“

„In der Oberstufe muss man doch keine Hausaufgaben mehr machen!“, erklärte Susi, die vorne neben dem Fenster saß und sich offenbar auch jetzt keine Notizen gemacht hatte.

„Wie kommst du denn auf den Blödsinn?“

„Hat die Frau Suttner gesagt!“

„Quatsch, du dumme Nuss!“, rief Annika quer durchs Zimmer. „Sie hat gesagt, das ist unsere Sache, sie kontrolliert bei erwachsenen Leuten nicht die Haushefte. Aber sie bespricht die Hausaufgaben doch!“

„Eben“, kommentierte Doro. „Also, wer in der Oberstufe keine Hausaufgaben macht – und bzw. oder sich nichts notiert, liebe Susi, der wird hier nicht alt. Besser gesagt, er oder sie wird hier alt und grau, bis er oder sie endlich mal ein ganz schlechtes Abitur hat oder ganz ohne rausfliegt. Glaubt ihr eigentlich, wir können euch die Fähigkeiten, die ihr später braucht, anhexen?“

„Fähigkeiten? Wozu brauchen wir den Kram denn?“

Doro fand ohnehin, dass Susi in der Oberstufe fehl am Platz war. Dumm und faul – ach nein, das hieß überfordert und ungenügender Arbeitseinsatz. Und jede zweite Stunde fehlte sie obendrein. Das konnte nichts Rechtes werden!

„Zunächst mal, liebe Susi – und das gilt auch für alle anderen, die damit noch Probleme haben – die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren. Zu überlegen, was man erreichen will, was man dafür tun muss, wann welche Aufgaben anstehen und wie man sich selbst motiviert. Dass man nicht immer Lust hat zu arbeiten, ist schließlich ganz normal.“

„To-do-Liste!”, krähte jemand.

„Ja, zum Beispiel. Dann die Fähigkeit, Problemlösungsstrategien zu entwickeln. Logisch zu denken. Naturwissenschaftliche Sachverhalte graphisch darzustellen. Die Verbindungen zwischen Mathematik und Naturwissenschaften zu erkennen. Seine Erkenntnisse in korrekter Fachsprache darzustellen. In verschiedenen Sprachen, wenn möglich, aber mindestens in Deutsch und Englisch. Reicht das fürs Erste?“ Susi nickte ermattet.

„Okay, ich gebe euch für alle Regeln noch ein paar Beispiele, die probiert ihr jetzt mal schnell, und dann machen wir mit Entwicklungsländern weiter.“

Sie schrieb ein paar geeignete Funktionen an die Tafel und lehnte sich ans Fenster, während fast alle eifrig rechneten. Susi schaute, als würde sie am liebsten in der Nase bohren, schrieb dann pro forma zwei Zeilen und schaute wieder in die Luft.

Doro trat neben sie und murmelte: „Susi, bist du sicher, dass du in der Oberstufe richtig bist? Willst du dich nicht mal beraten lassen, bei Frau Zirngiebel zum Beispiel? Oder bei Frau Suttner? Vielleicht würde dir etwas anderes ja viel mehr Freude machen?“

„Weiß nicht“, murrte Susi leise. „Ja, vielleicht.“

Als sich Unruhe breit machte, schrieb Doro schnell die Lösungen neben die Aufgaben. „So, habt ihr´s richtig? Fünf Minuten könnt ihr das noch kontrollieren, dann machen wir mit Geo weiter.“

Von wegen! Erst mussten sie ausführlich vergleichen, dann mussten sie noch ausführlicher Fragen stellen und sich schließlich ganz besonders ausführlich bedanken. In die Danksagungen hinein läutete es. Doro grinste mäßig zufrieden. „Leute, wenn ihr so arg Zeit schindet, helfe ich euch so bald nicht mehr!“

„Och, Frau Fiedler, wir sind doch soo dankbar! Ehrlich, das war keine Absicht!“

„Ja, ja.“ Verlogene Bande! „Aber macht in Zukunft wenigstens eure Mathehausaufgaben – sonst steht ihr gleich wieder vor dem Nichts.“

Sie packte den unbenutzten Geographiekram ein, wünschte einen schönen Tag und kehrte ins Lehrerzimmer zurück.

Die große Pause zeichnete sich wie üblich durch unglaubliches Gewimmel aus – die Kollegen räumten herum, kochten Kaffee, aßen alles Mögliche (Luise hatte Recht, das meiste war Müll, nur Fett, Zucker und künstliche Zusatzstoffe) und versuchten nebenbei, den Schülerandrang an der Tür zu bewältigen, Informationen zu geben, allerlei Krempel allerlei Leuten ins Fach zu legen… Die anderen kopierten, korrigierten, ratschten, sortierten, suchten und fluchten vor sich hin.

Dieses Lehrerzimmer war effektiv zu klein, fand Doro. Das konnte natürlich auch daran liegen, dass die Nebenräume, der Rechnerraum, der Silentiumraum, die beiden kleinen Arbeitsgruppenräume so ungern genutzt wurden. Warum, wusste niemand. Vielleicht sollte man da mal eine Umfrage machen?

Allmählich beruhigte sich das Gewusel, die Pause näherte sich ihrem Ende. Doro kramte ihre Notenlisten heraus – vielleicht kamen ja Eltern?

Wenn nicht, könnte sie das Ex von gestern…

Mist, das lag zu Hause. Die Planung sollte sie wirklich noch optimieren!

Sie kramte in ihrer Tasche herum, in der Hoffnung, irgendetwas zu tun zu finden. Ihr Zeitplaner war aber die einzige magere Ausbeute. Sie amüsierte sich etwa neunzig Sekunden lang damit, das Erledigte mit Textmarker durchzustreichen, dann sah sie wieder auf.

Oh, schon deutlich leerer!

In der Ecke am Fenster saß Herbert Richling (Sport/Physik, wenn Doro die Lehrerliste richtig im Kopf hatte) und las Zeitung. Eine halbe Schlagzeile war sichtbar: ückelt auf Gle, aber Doro hatte keine rechte Lust, sich die dazu denkbaren Ergänzungen zu überlegen.

Der ältliche Querfurth strich durchs Zimmer, wie immer mit würgeengem Kragen, karierter Fliege, khakifarbenem Anzug und goldgefasster Brille eher altmodisch angetan. Offenbar hatte er nichts zu tun und suchte Kontakt.

Am Oberstufenbrett stand Trattner im raschelnden türkisblauen Trainingsanzug und studierte anscheinend den Schulaufgabenplan, in der nächsten Ecke saß Katja Herzberger und kramte in ihrer Tasche.

Einer in jeder Ecke, sozusagen. Zufall oder konnten sie sich alle nicht ausstehen? Über Richling und Querfurth wusste Doro noch nichts – aber dass die Herzberger mit Trattner nichts im Sinn hatte, war ihr schon längst aufgefallen.

Aus der Küche kam jetzt Pütz, dem die dunklen Löckchen heute besonders zerrauft in die Höhe standen, nippte an seinem Kaffeebecher und verzog angeekelt das Gesicht, dann stellte er sich zu Trattner. „Na, was gibt´s hier Neues?“

„Neues, wieso?“

„Na, niemand liest doch altbekannten Kram, oder?“

„Ich kann mir doch mal anschauen, wie die Schulaufgaben in der Oberstufe verteilt sind, oder?“

„Hat Frau Suttner gut gemacht, finde ich“, stellte Pütz fest. Eigentlich ein netter Kerl. „Naja“, meinte Trattner. So eine Pfeife aber auch!

„Wieso? Immer nur zwei pro Woche. Genügend Zeit, um in der Elften erstmal was durchzunehmen. Die Sprachen schön nahe vor den Ferien, damit man ausreichend Korrekturzeit hat – was passt Ihnen denn nicht? Haben Sie außer Sport überhaupt einen Kurs?“

„Meinen Sie, für wissenschaftlichen Unterricht langt´s bei mir nicht oder wie?“

„Bitte? Es hat doch nun mal nicht jeder jedes Jahr einen Kurs!“

Trattner brummelte. „Die Suttner maßt sich ganz schön was an, finde ich. Uns die Termine vorzuschreiben!“

„Also haben Sie doch einen Kurs? Wegen eines Sporttests müssten Sie sich ja nicht so aufregen, oder?“ Trattner schnaubte und wandte sich ab, um sich zu Querfurth vor dem Brett mit den Verlautbarungen der Schulleitung zu gesellen. Alles sehr interessant, fand Doro. Und Eltern ließen sich heute wohl ohnehin nicht blicken, dann konnte sie hier auch wie in einer Theaterloge sitzen.

Pütz zwinkerte ihr zu und kam näher. „Fühlt sich schnell auf den Schlips getreten, was?“, raunte er dann, als er nahe bei Doro stand.

„Wenn er einen umhätte, wäre er sicher auch so ekelhaft knalltürkis“, kommentierte Doro, bei der Trattner ihre bösesten Instinkte weckte.

„Manche Leute sind eben farbenblind. Da muss man Mitgefühl zeigen.“ Pütz schaute fromm und Doro lachte, wenn auch wider Willen.

„Aber warum man ihn nicht fragen darf, ob er überhaupt einen Kurs hat, wenn er schon am Schulaufgabenplan herummeckert, verstehe ich immer noch nicht“, meinte Pütz dann nachdenklich.

„Er hat keinen Kurs, außer Basketball in 11 und 12“, informierte Hilde Suttner, die gerade vorbeikam. „Ihr redet doch vom schönen Trattner, oder?“

Doro drehte sich erschrocken um, aber das Direktoratsbrett war glücklicherweise am anderen Ende des Raumes, eindeutig außer Hörweite.

„Stimmt. Was hat er denn dann zu meckern?“

„In Wahrheit ärgert er sich über seinen Stundenplan. Man hat ihm am Freitag sieben Stunden verpasst, sogar noch mittags einen Sportkurs, und jetzt kann er nicht am Donnerstag schon zum Skifahren abrauschen. Hatte er sich gewünscht.“

Doro prustete. „Ist ja ein dreister Wunsch! Freitags frei?“

Die Suttner nickte. „Und das bei Vollzeit! Manche trauen sich eben echt was.“

„Ab wann gibt es denn überhaupt einen freien Tag?“, wollte Doro wissen.

„Ich glaube, ab sechzehn Stunden oder drunter. Aber nicht so gerne Freitag oder Montag. Du hast Vollzeit, oder?“

Doro nickte. „Natürlich - keine Kinder, keine pflegebedürftigen Eltern -“

„Kein zartes Seelchen wie die Mendel“, ergänzte Pütz.

Die Suttner grinste. „Ihr seid schon richtig! Äh, sorry, ich duze euch hier einfach, schon die ganze Zeit. Machen wir´s richtig, ich bin die Hilde.“

Sie streckte die Hand aus. Doro schlug ein. „Dorothea. Doro.“

Pütz tat es ihr nach: „Carlos.“

„Carlos? Schick. Ein bisschen exotisch, nicht?“, fand Doro.

„Spanische Mutter, kölscher Vater“, war der kurze Kommentar.

„Also native speaker?“, fragte Hilde. „Mehr oder weniger. Obwohl ja mittlerweile der südamerikanische Akzent häufiger geworden ist…“

„Typisch!!“ Alle drehten sich um und schauten fragend zu Querfurth hoch, der vor ihnen stand. Seine Fliege zitterte vor Entrüstung.

„Was ist typisch?“, fragte Doro ehrlich interessiert. Hilde hatte die Stirn gerunzelt und Pütz grinste vor sich hin. „Diese – diese Zusammenrottung!“

„Laut Grundgesetz herrscht in diesem Lande Versammlungsfreiheit“, merkte Pütz mit sanfter Stimme an. Doro schaute fromm, Hilde verdrehte wenig diskret die Augen zum Himmel. „Dass Sie sich mit diesen – diesen… gemein machen, enttäuscht mich tief!“, fuhr Querfurth Pütz an.

„Diesen was?“, fragte Hilde scharf. „Ach, das ist doch allgemeine Tendenz – der Lehrerberuf verweiblicht doch immer mehr. Immer mehr Frauen, die Männer werden immer weiter verdrängt, niemand kümmert sich um die Jungen. Eine beklagenswerte Entwicklung!“

„Da muss ich ihnen Recht geben!“ Trattner war neben Querfurth aufgetaucht.

„Ach, Sie fühlen sich diskriminiert?“, erkundigte sich Pütz mit süßem Lächeln bei Trattner. Doro setzte ein Pokerface auf, Hilde schien zu überlegen, ob sie die beiden Kerle feuern lassen konnte.

„Was, ich? Wieso?“ Trattner schaute verständnislos. Dämlich auch noch!

„Na, wenn Sie finden, dass brutale Frauen die armen Männer verdrängen?“

„Sie sind unverschämt!“ Trattners Gesicht rötete sich zusehends.

„Wieso?“, erkundigte sich Doro freundlich. „Das hat doch Herr Querfurth gerade eben behauptet, und Sie haben ihm Recht gegeben - schon vergessen?“

Trattner machte eine wegwerfende Handbewegung, die Doro offenbar auf ihren Platz verweisen sollte, und Querfurth bellte los: „Sie sollten sich ja überhaupt ganz ruhig verhalten!“

„Warum das denn?“, wollte nun Hilde wissen. „Sollen Frauen den Mund halten und bewundernd dreinschauen, wenn Männer noch so bescheuerte Ansichten zum Besten geben?“

Das hätte sich Doro nun nicht getraut, aber sie lächelte Hilde dankbar an.