An einem kühlen Morgen im April - Olaf Hauke - E-Book

An einem kühlen Morgen im April E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Mitten im Stau auf der Autobahn wird Carina im wahrsten Sinne des Wortes nicht nur von den anderen Autos, sondern von ihrer eigenen Erinnerung ausgebremst. Plötzlich versagen ihre Nerven, ihr Leben ist mit einem Schlag an einem Punkt angekommen, an dem keine Weiterfahrt mehr möglich ist. Wie eine dunkle Welle bricht alles über ihr zusammen und zertrümmert ihr Leben. Das Schicksal führt sie zurück in ihr Elternhaus, aber die Dunkelheit, die sie all die Jahre als Bild von dort im Herzen trug, scheint sich nicht zu bewahrheiten. Erst als es fast zu spät ist, begreift sie, dass man ihr versucht, eine hinterhältige Falle zu stellen. Und ausgerechnet in dieser Situation verliert sie ihr Herz an einen Mann, der in wenigen Tagen eine Andere zum Altar führen wird. Alles, was sie von zu Hause mitnimmt, ist ein altes, hässliches Bild. Doch dann dreht sich der Wind und lässt die Lügen, die man um sie herum aufgebaut hat, wie Seifenblasen zerplatzen. Was hat Bestand, was wird vergehen?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Ende

An einem kühlen Morgen im April

Olaf Hauke

2023

Copyright 2023

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover: Kamots - pixabay

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

Am Nachmittag hörte es endlich auf zu regnen. Der April zeigte sich heute von seiner kühlen Seite. Carina hatte bereits die ersten dreihundert Kilometer ihrer Strecke quer durch Deutschland hinter sich gebracht. Die Scheibenwischer hinterließen einen milchigen Film aus Gummi auf der Windschutzscheibe, mit einem genervten Augenrollen stellte sie sie ab.

Zwischen den grauen Wolken erschien die Sonne und verwandelte die Fahrbahn vor ihr in ein schimmerndes, goldenes Meer, auf dem man kaum noch eine Markierung oder ein anderes Fahrzeug erkennen konnte.

Carina setzte den Blinker und wechselte von der Überholspur auf die rechte Fahrbahn, verlangsamte das Tempo. Links zog ein schwerer, schwarzer BMW an ihr vorbei, wütend spritzte hinter ihm das Wasser der Fahrbahn auf. Charlotte betätigte noch einmal die Wischer, wenigstens wurde die Sicht klarer.

Sie verfluchte sich für ihre Idee, die beiden Aufträge so kurz hintereinander angenommen zu haben. Der Bankier wohnte am anderen Ende Deutschlands, sie würde noch mindestens drei Stunden brauchen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte. Anschließend musste sie ins Hotel einchecken, ihn anrufen und noch alles Nötige für die kommenden beiden Tage und das gemeinsame Training besprechen. Hoffentlich fand sie wenigstens Zeit, eine Kleinigkeit zu essen, schon jetzt meldete sich ihr Magen mit einem wütenden Knurren. Aber es war eine andere Welt, auf die sie treffen würde. Das brachte neue Kunden, das brachte Umsatz.

Immerhin hatte sie das Gefühl, dass sie gut vorankam. Seit den letzten Kilometern schien es so, als wären weniger Lastwagen unterwegs, die die rechte Spur blockierten und sich von Zeit zu Zeit anschickten, einander zu überholen wobei sie einen langen Rückstau hinter sich in Kauf nahmen. Sie passierte die nächste Ausfahrt, ihr Blick vermied jeden Kontakt mit dem Schriftzug. Nein, das war eine Ewigkeit her, seit die Giraffe dort unterwegs gewesen war. Es war lediglich ein weiteres Schild auf einer weiteren Autobahn.

Wieder und wieder ging sie im Geist ihren Terminkalender durch. Warum hatte sie seit einigen Wochen ständig das Gefühl, als würde sie wichtige Dinge vergessen? Dieser Gedanke erzeugte eine ständige Unruhe in ihrem Körper. Mittlerweile war sie so weit, dass sie sich alle möglichen Dinge aufschrieb. Aber auch dadurch wurde die Unsicherheit, die sich in jeden Tag bohrte, nicht besser.

War es nicht ihr Traum gewesen, allein und nur sich selbst verantwortlich zu sein? Sie hatte ihren Job gekündigt, nachdem sie sich von Sascha getrennt hatte.

Alle hatten sie ausgelacht, entweder hinter ihrem Rücken oder ganz offen in ihr Gesicht. Wo waren ihre alten Freundinnen heute?

Sie hatte sich durchgebissen, ganz ohne Unterstützung, nur auf sich allein gestellt. Und nach zwei düsteren Jahren, an deren Ende sie schon aufgeben wollte, hatte sich plötzlich der Erfolg eingestellt. Aus heutiger Sicht erschien es ihr wie ein Wunder, wie ein leuchtender Zufall. Aber es war kein Zufall, es war eine Mischung aus Glück und harter Arbeit gewesen. Aber der Mann hatte seinen Rollstuhl tatsächlich verlassen, gestützt auf seinen eisernen Willen und ihr Training.

Der Auftrag für die Schweizer Bankiers war wie ein Türöffner gewesen, er hatte ihren Namen, ihr Ein-Frau-Unternehmen plötzlich bekannt gemacht. Eine einzelne Empfehlung, ein Lächeln, das Foto eines Händedrucks hatten dafür ausgereicht. Es stand für Erfolg und Seriosität.

Noch heute konnte Carina nicht verhindern, dass der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht huschte, wenn sie an Emil Siegmann dachte, das vielleicht bekannteste Gesicht in der Schweizer Bankenwelt. Und dieser Mann hatte sich nicht nur persönlich bei ihr bedankt, er hatte zugestimmt, dass sie das, eigentlich zufällig bei dem Händedruck entstandene, Foto für sich verwenden durfte: der Mann, seine Trainerin, der Rollstuhl im Hintergrund.

Diese Dankbarkeit war der Grund dafür gewesen, dass sie den heutigen Auftrag angenommen und die weite Anfahrt in Kauf genommen hatte. Sonst hätte sie ein Online-Training angeboten. Daran hätte sie weniger verdient, aber auch keine Zeit investieren müssen wie diese verdammte Fahrerei. Aber hier zählten auch die Hände, die sie schütteln konnte, Fotos für ihre Accounts in den Sozialen Medien.

Vor ihr verlangsamte ein LKW seine Fahrt. Einige Male leuchteten rot die Bremslichter auf. Carina sah in den Seitenspiegel, doch von links kamen einige schwere Limousinen herangerauscht, so dass sie es nicht riskieren wollte, den schweren Truck zu überholen. Sie war von jeher eine vorsichtige Fahrerin, hatte in den letzten Jahren einige Sicherheits-Trainings absolviert und wusste, dass die wahre Kunst des Fahrens nicht in der Geschwindigkeit lag. Das glaubten nur die Idioten, die dachten, sie könnten einen Wagen beherrschen, weil sie ihn sich leisten konnten. Es war zu ihrem Lebensmotto geworden: Wenn du dich unsicher fühlst, unternimm etwas dagegen, werde nicht zum Opfer.

Jetzt wurde der Verkehr auch auf der linken Fahrspur dichter, die Autos konnten kaum noch überholen. Carina sah auf den Tacho, sie fuhr nur noch sechzig Stundenkilometer.

Immer kommt ein Stau, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen kann, dachte sie. Aber gab es überhaupt eine sinnvolle Zeit für die Tatsache, dass der Verkehr stockte?

Die Bremslichter des LKWs leuchteten noch einmal energisch und verärgert auf, dann ließ der Fahrer das schwere Gefährt ausrollen. Auch auf dem linken Streifen schien nichts mehr zu gehen. Carina sah, wie der Fahrer eines kleinen Sportflitzers in einer sinnlosen Geste wütend auf sein Lenkrad einschlug. Auch das würde ihn keinen Meter weiterbringen.

Carina atmete tief durch. Es machte keinen Sinn, wenn sie sich aufregte. Allerdings konnte sie nicht verhindern, dass sich ihre Finger unmerklich fester um das Lenkrad klammerten. Die Abfahrt hatte sie zum Glück längst hinter sich gelassen.

Sie presste die Lippen zusammen und drückte den Kopf in die Nackenstütze, so, als würde sie im nächsten Moment beschleunigen und an all den Fahrzeugen vor ihr vorbeiziehen. Die Plane des Lastwagens vor ihr versperrte die Sicht auf das mögliche Ausmaß des Staus. Und links neben ihr standen PKWs, deren Fahrer genauso ratlos aussahen wie sie vermutlich selbst gerade blickte.

Sie riskierte einen Seitenblick auf das Mobiltelefon und konnte erkennen, dass sich der Straßenabschnitt, auf dem sie sich gerade befand, orange auf dem Display färbte. Das System fand und markierte den Stau. Das nutzte ihr jetzt auch nichts mehr. Aber wäre sie tatsächlich abgefahren, wenn sie vorher von dem Stau gewusst hätte?

In den Windungen ihres Gehirns jagten sich die Schritte, die der heutige Tag noch mit sich bringen würde, wie in einer endlosen Schleife.

Ihre Unruhe, die sich einfach nicht abschütteln ließ, begann, in ihren Körper zu fressen. „Mein Gott“, sagte sie halblaut in das Schweigen des Wagens, „du kannst es nicht ändern. Früher oder später wird es schon weitergehen.“

Aber ihre Hände begannen, ein Eigenleben zu führen. Sie war nicht mehr in der Lage, den Krampf ihrer Finger um das weiche Plastik des Lenkrads mit ihrer Willenskraft zu lösen. Was geschieht da, ging es ihr durch den Kopf. Sie schmeckte mit einem Mal Blut im Mund und begriff, dass sie sich gerade vor innerer Anspannung auf die Zunge gebissen hatte.

„Reiß dich zusammen“, stieß sie hervor. Aber die Bilder dessen, was sie alles noch erledigen musste, wuchsen sich zu einem Strom aus, den sie nicht aufhalten konnte. Sie hatte das Gefühl, als wäre sie in einen Fluss gefallen und drohte zu ertrinken. Giraffen können nicht schwimmen.

Das Lenkrad, an das sie sich klammerte, war mit einem Mal das rettende Floß, das verhinderte, dass sie ertrinken würde. Vor ihr tanzten die roten Lichter der Bremsleuchten auf und ab. Der Regen hatte wiedereingesetzt, dicke Tropfen schlugen auf die Scheibe, verzerrten die Sicht nach draußen, mischten sich mit den milchigen Schlieren.

Carinas Körper ruckte nach vorne, der Sicherheitsgurt riss sie zurück, hinderte sie daran, sich frei zu bewegen. Je stärker sie nach vorne zog, umso härter spannte sich der Gurt quer über ihrer Brust.

Wo waren sie alle hin, die Menschen, die sie kannte? Sie würde ewig in diesem Fahrzeug bleiben, vergessen von der Welt, eingesperrt, ertrunken in einer Flut von Erinnerungen und Terminen.

Sie war allein, weil die Welt sie hasste. Wie hatte sie Sascha damals genannt? Eine eigenbrötlerische Giraffe, die alles besser wusste, die unfähig war, ihre Gefühle auszudrücken.

Ihre Oberarme begannen zu verkrampfen, ein harter Schmerz zog bis in ihre Schultern. Sie hörte den Motor immer lauter tuckern, das Geräusch mischte sich in das Rauschen des stärker werdenden Regens. Jedes Geräusch goss sich wie Säure über ihre Nerven und zerfraß sie mit einem langsamen Zischen.

Carina fühlte, wie sich Schweiß in ihrem Gesicht sammelte, wie die Tropfen langsam an ihren Augen vorbeiliefen. Die Brust schmerzte, sie bekam kaum noch Luft. Hinter ihr zuckte ein Blitz auf, der Hintermann hatte die Lichthupe betätigt. Der LKW vor ihr hatte sich langsam wieder in Bewegung gesetzt. Carina drückte das Gaspedal ganz mechanisch, aber der Wagen bockte. Die Handbremse, schoss es ihr durch den Kopf, aber sie war nicht in der Lage, die Hände vom Lenker zu lösen.

Mit einer Kraftanstrengung, die ein Stechen in ihrer Brust auslöste, schaffte sie es, das Lenkrad zu drehen, der Wagen rollte zentimeterweise und mit röhrendem Motor gegen den Widerstand der Handbremse auf den Standstreifen. Hinter ihr zuckte wieder ein Lichtblitz auf, jemand schien wie wild auf seine Hupe einzuschlagen. Carinas Mund öffnete sich, doch kein Schrei drang aus ihrer Kehle. Mittlerweile hatte sich jeder Muskel in ihrem Körper verkrampft, der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen, ließ die Umgebung verschwimmen.

Sie spürte einen Widerstand, als die rechte Frontseite ihres Fahrzeugs auf die Leitplanke stieß, ihr Fuß zuckte vom Gas, der Motor erstarb mit einem dumpfen Protest. Neben ihr lief der Verkehr langsam weiter. Mit einem plötzlichen Ruck konnte sich Carina vom Lenkrad lösen. Wie erstarrt saß sie da, schweißgebadet und zitternd. Sie verlor jedes Gefühl für ihre Umgebung, für die Zeit, die sie hier stand und mit leeren Augen durch die Scheibe in den Regen und den Verkehr starrte.

Was zum Teufel war mit ihr geschehen? Noch vor einer Sekunde war sie eine klar denkende, gesunde, erfolgreiche, sportliche Frau gewesen. Und nun? Wieder tauchten Bilder von Terminen auf, von Gesichtern, die wie aus einem Nebel der Vergangenheit herausbrachen und auf sie einstürmten. Aber da war nichts, da konnte nichts sein, da durfte nichts sein!

Sie hörte ein Pochen, ein hartes, kaltes Geräusch, das von der linken Seite kam. Mechanisch ruckte ihr Kopf herum, sie starrte in ein Gesicht, nass vom Regen, sah die Ansätze einer gelben Weste, einer Uniform. Der Mann schlug mit der flachen Hand auf die Scheibe, starrte sie an, als wolle er sie hypnotisieren. Seine Lippen formten unhörbare Worte.

Im nächsten Moment öffnete sich mit einem eigenartig schmatzenden Geräusch die Tür, der Mann tauchte mit einem Schwall Regen vor ihr auf, griff ihr an die Schulter.

„Alles in Ordnung?“ hörte sie eine dumpfe, tiefe Stimme, aber sie begriff nicht den Sinn hinter der Frage.

Kapitel 2

„Man kann doch nicht einfach so mitten auf der Autobahn einen Nervenzusammenbruch haben!“

Der Arzt verzog die schmalen Lippen. Er sah sie an, als wäre sie ein wenig begriffsstutzig.

„Doch, Frau Brinkmann, das ist sehr wohl möglich. Der Zustand, in dem Sie sich befanden, wohl immer noch befinden, lässt kaum einen anderen Schluss zu. Natürlich können wir nach dem derzeitigen Stand der Untersuchungen auch eine andere, rein körperliche Ursache, noch nicht ausschließen.“

Carina stützte sich auf die Ellenbogen und stemmte sich leicht im Bett hoch.

Wie sie in die Klinik gekommen war, daran konnte sie sich nur bruchstückhaft erinnern. Sie fühlte, wie man sie auf eine Liege mit Rollen befördert hatte, wie die Stimme einer jüngeren Frau, zu der sie kein Gesicht hatte, auf sie einredete.

Sie sah die Decke eines Rettungswagens, spürte, wie sie zitterte, weil ihr so schrecklich kalt gewesen war. Außerdem war ihre Kehle wie ausgetrocknet gewesen.

Und jetzt lag sie hier, mitten im Nirgendwo. Ihr Kopf hämmerte, aber niemand schien ihr etwas gegen die bohrenden Schmerzen geben zu wollen.

Wenigstens hatte jemand daran gedacht, den kleinen Koffer vom Rücksitz ihres Autos zu nehmen, den sie eigentlich für ihren nächsten Auftrag und nicht für die Klinik gepackt hatte.

„Hören Sie, die in Freiburg warten auf mich, ich bin für einen Gesundheitskurs gebucht. Und die Leute, die dort warten, buchen nicht bei der örtlichen Volkshochschule.“

Die Erkenntnis zuckte ganz plötzlich durch ihren schmerzenden Kopf.

Es war unmöglich, dass sie hier im Bett lag, geradezu lächerlich, ein absurder, dumpfer Albtraum. Aber möglicherweise war es tatsächlich nur ein Traum.

Aber konnte man in einem solchen Traum einen Schädel haben, durch den ein Güterzug fuhr?

„Hören Sie, ich muss so schnell wie möglich weiter nach Freiburg. Mir geht es gut, geben Sie mir einfach ein oder zwei Aspirin, ein Glas Wasser. Ich esse anschließend eine Banane, dann ist alles wieder im grünen Bereich.“

Carina schwang die Beine aus dem Bett.

Zu ihrer Überraschung machte der Mann keinerlei Anstalten, sie aufzuhalten. Er verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete sie durch die Gläser seiner kleinen, runden Brille.

Carina sah sich um.

Das Krankenzimmer wirkte kahl und weiß, das Bett neben ihr war verwaist, der Bezug glattgezogen und irgendwie lauernd. Direkt zwischen den Betten hing ein großes, braunes Holzkreuz an der Wand. In der Ecke stand ein mit Plastik gepolsterter Besucherstuhl.

Sie kam auf die Beine, wirkte schon wieder etwas sicherer.

„Wissen Sie, ich bin für die Fitness gebucht. Ich bin so eine Art One-woman-show, ich kann mir einen Ausfall nicht erlauben.“

Sie bemühte sich, den Schmerz und den Schwindel so gut es ging zu ignorieren und machte einen Schritt in Richtung des kleinen Flurs, der in einer großen Tür mündete. Im gleichen Augenblick versagten ihr die Beine den Dienst, knickten einfach weg.

Sie wollte noch etwas sagen, reagieren. Sie hatte immer schnell reagiert, war in allen Trainingseinheiten unter den Top-Fünf mit der besten Reaktionszeit gewesen. Doch jetzt hatte sie nicht den Hauch einer Chance.

Der Mann war viel untrainierter als sie, aber er fing sie mit einem geschickten Griff auf, vermutlich hatte er bereits gewusst, was geschehen würde. Sekunden später lag sie im Bett. „Das darf doch nicht wahr sein“, stieß sie hervor. Ihre Beine brannten wie Feuer.

Der Mann lächelte nicht triumphierend, er nickte lediglich verständnisvoll.

„Sie sollten den Vorfall nicht auf die leichte Schulter nehmen“, stellte er lapidar fest und reichte Carina einen kleinen Becher mit etwas Wasser, dazu eine verpackte Tablette.

„Nehmen Sie die und gönnen Sie sich etwas Ruhe.“

„Scherzkeks“, entfuhr es Carina.

Sie nahm die Tablette und spülte sie mit Wasser herunter.

„Wo bin ich hier überhaupt?“ fragte sie und legte den Kopf vorsichtig wie eine zerbrechliche Porzellan-Figur zurück auf das Kissen. Ihr Blick wanderte zum Fenster. Es schien nicht aufhören wollen zu regnen.

Was für ein beschissener April!

„Im St. Augustin-Hospital in Speyer“, sagte der Arzt und sah sie nachdenklich an. „Sagt Ihnen wahrscheinlich nicht viel, sie wohnen ja in Hannover.“

„Sehr witzig“, sagte sie humorlos. „Ich bin hier ganz in der Nähe geboren und aufgewachsen, habe viele Jahre gebraucht, um dem Nest zu entkommen.“

„Speyer?“

„Nein, das war die große, unerreichbare Stadt für die Leute aus unserem Dorf. Es war ein kleines Nest.“ Sie rieb sich über die Stirn, die sich seltsam taub anfühlte. Die Schmerzen ließen tatsächlich etwas nach. „Ich war ziemlich erleichtert, als ich wegzog – keine guten Erinnerungen.“ Carina fühlte eine kleine Gänsehaut auf den Oberarmen. Und nun hatte das Schicksal sie ausgerechnet hier stranden lassen. Sie erinnerte sich wieder, wie sie kurz vor dem Stau die erste Abfahrt nach Speyer gesehen und sich dabei ihr Herz zusammengekrampft hatte.

„Was ist mit meinem Wagen?“ fragte sie, auch um sich von den Bildern abzulenken, die in ihrem Kopf wuchsen.

„Wurde abgeschleppt, er steht hier irgendwo auf einem Werkstatt-Hof.“

Der Wagen schien ihn nicht sonderlich zu interessieren. „Sie kommen also aus der Nähe?“ griff er den Faden ihrer Erinnerung wieder auf. Er hatte eine merkwürdig weiche Stimme, die trotzdem forderte.

„Ich wohne hier schon viele Jahre nicht mehr“, sagte Carina und presste die Lippen so fest aufeinander, dass der Mediziner nickte und einen Rückzieher machte.

„Ich gebe Ihnen Ihr Telefon und Ihren Computer, dann können Sie Ihre Termine für die nächsten Tage canceln“, meinte er lakonisch.

„Sie arbeiten als Fitness-Trainerin?“

Carina nickte.

„Sie sollten einige Tage einplanen, bis Sie wieder auf den Beinen sind.“

Carina wollte widersprechen, aber ihr kurzer Ausflug durch das Zimmer war ihr noch in bester Erinnerung. „Was fehlt mir denn nun?“ fragte sie und spürte im gleichen Moment, wie sehr sie diese doch sehr naheliegende Frage gefürchtet hatte.

„Das“, kam die gedehnte Antwort, „werden wir in den nächsten Tagen herausfinden. Ich habe da allerdings eine Ahnung.“

Ehe Carina weiterfragen konnte, drehte er sich um und verließ das Zimmer.

„Scheiße“, stieß Carina hervor. Ihre Gedanken wanderten wieder zu ihren Terminen, ihren Vorhaben.

Doch die Tablette, die ihr der Arzt gegeben hatte, begann weiter zu wirken.

Ehe sie es merkte, war sie eingeschlafen.

Kapitel 3

„Nein, körperlich sind Sie absolut fit. Auch die Blutwerte sind völlig im Rahmen. Wie fühlen Sie sich?“

Zwei Tage war Carina jetzt in der Klinik. Noch immer machte ihr die Umgebung Angst. Sie hatte sich leicht stabilisiert, schaffte es, über den Flur zu laufen. Aber sobald sie die Automatik-Tür am Ende des Ganges erreichte, überkam sie eine völlige Erschöpfung, wie sie sie bisher höchstens nach einem harten Work-Out empfunden hatte. Sie zwang sich, noch einige Schritte zu machen, doch dann musste sie umkehren und sich völlig erledigt aufs Bett fallen lassen.

Was stimmte nicht mit ihr? Sie hatte gestern so oft Blut gespendet, dass sie davon ausging, dass unmöglich auch nur ein Tropfen davon in ihren Adern fließen konnte. Immerhin schaffte sie es, zumindest bei jeder Mahlzeit einige Bissen zu essen. Bis vor zwei Tagen hatte sie einen riesigen Appetit gehabt, was man ihr, bedingt durch den vielen Sport, nicht angesehen hatte. Allerdings hatte sie immer genau kontrolliert, was sie in welchen Mengen gegessen hatte.

Immerhin hatte sie es geschafft, aus den Terminen zu kommen, ohne sich zu ruinieren. Siegmanns Name und Foto zogen noch immer. Sie hatte einen Verkehrsunfall als Ursache für die Absage angegeben. Eine freundliche Assistentin hatte zum Chef der Firma durchgestellt, der hatte sich mit seinem charmanten Akzent überaus besorgt gezeigt und ihr alles Gute gewünscht, „von Herzen“, wie er gesagt hatte.

Vermutlich würde sie die Sache einige lukrative Jobs, aber nicht gleich die Karriere kosten. Sie hatte in den letzten fünf oder sechs Jahren kaum einen Tag frei gehabt, selten mal ein komplettes Wochenende. Ein wenig kam es ihr vor, als wäre sie auf einen Schlag aus ihrem Hamsterrad gefallen. Nun hockte sie vor dem drehenden, roten Rad aus Plastik und beobachtete überrascht, dass es sich noch weiterdrehte, während sie auf dem Boden lag und sich den Kopf rieb.

„Ich fühle mich völlig erledigt, absolut ausgebrannt“, sagte sie ehrlich und war erschreckt über ihre eigenen Worte. Das konnte unmöglich sie gesagt haben, die ständig dabei war, die Welt aufs Neue herauszufordern.

„Ich denke auch, dass Ihr Leiden keine körperlichen Ursachen hat, Frau Brinkmann“, stimmte der Mediziner zu. Neben ihm stand eine Schwester mit unbeweglicher Miene und starrte auf einen Zettel.

„Sie konnten also nichts feststellen und meinen, dass ich mir nur einbilde, nicht laufen zu können?“ Carina spürte, wie eine heiße Welle der Wut in ihr hochstieg. Schon gestern hatte eine ältere Schwester, die ihr das Essen gebracht hatte, etwas in dieser Art angedeutet.

„Nein, das ist eine falsche Frage. Wenn es so wäre, brauchten sie nur aufzustehen, sich zu konzentrieren und wieder ihr Leben aufzunehmen. Aber das ist nicht möglich. Ich glaube kaum, dass Sie freiwillig hier liegen, oder?“

Zum ersten Mal sah sie in den Mundwinkeln des Mannes ein kleines Lächeln.

„Aber die Tatsache, dass Sie es nicht können – und das ist eine Tatsache, keine Einbildung – hat keine körperliche Erklärung.“

„Und was ist es dann?“

„Ihr Leiden ist psychosomatisch.“

„Mein Kopf spinnt?“

Carina hatte so spontan reagiert, dass selbst die Schwester den Anflug eines Schmunzelns zeigte. Der Arzt überlegte einen Moment.

„Irgendwie schon, ja. Aber machen Sie sich von dem Gedanken frei, dass Sie es steuern oder kontrollieren können. Ich habe den Eindruck, dass Sie normalerweise sehr wohl in der Lage sind, Ihr Leben in den Griff zu bekommen. Und es gibt nichts, was sich diesem Griff entziehen könnte. Aber jetzt hat eine Situation aus Erschöpfung, verbunden mit einem Ereignis von außen, sie quasi aus der Bahn geworfen.“

„Und was kann ich tun, um wieder in die Bahn zurückzukommen?“

„Das ist nicht mein Fachgebiet, ganz ehrlich. Ich werde Sie noch ein oder zwei Tage hierbehalten, dann kann ich Ihnen eine Überweisung ausstellen. Was Sie daraus machen, liegt in Ihrer eigenen Verantwortung.“

„Ich soll in eine psychiatrische Klinik?“

Carina fühlte sich mit einem Schlag leer. Was geschah hier mit ihr? Noch vor drei Tagen hatte sie in der herrlichen Frühlingssonne in einem Hotel in Kiel eine ganze Woche mit einer Gruppe von Freizeitsportlern trainiert. Sie sah vor ihrem geistigen Auge die Terrasse mit dem fantastischen Ausblick, konnte die kühle, frische Morgenluft auf ihren Unterarmen spüren, sah den Atem, als sie in der Früh ihre erste Runde mit den Frühaufstehern gedreht hatte.

Jetzt lag sie hier, war offenbar ein seelisches Wrack, das kaum in der Lage war, über den Flur eines Krankenhauses laufen zu können – und nicht, weil ein schrecklicher Unfall oder eine heimtückische Krankheit sie ausbremsten, sondern einzig, weil ihr Kopf sich weigerte, weiterhin ihren Körper zu steuern. Es konnte unmöglich an dem Autobahnschild gelegen haben, das war blanker Unsinn.

„Das liegt ganz allein in Ihrem Ermessen“, sagte der Arzt ein wenig gestelzt. Er wirkte dabei ein klein wenig so, als sei ihm die Formulierung unangenehm. „Wenn Sie es möchten, können wir Ihnen gerne unterstützend zur Seite stehen.“ Er warf einen Seitenblick auf die Schwester, die, ohne hochzusehen, nickte.

„Und was ist die Alternative?“

Der Arzt hob die schmächtigen Schultern. „Die Alternative ist, dass wir Sie morgen oder übermorgen, je nachdem, entlassen. Sie wären dann auf sich allein gestellt und müssten schauen, inwieweit Sie stabil genug sind, wieder Ihren Alltag zu finden.“

Er nickte ihr noch einmal zu, drehte sich mit einem leisen Quietschen seiner Gummisohlen um und verschwand samt stummer Begleitung aus dem Zimmer.

„Er hat gar nicht mal so Unrecht“, murmelte Carina und starrte an die weiße Decke ihres Krankenlagers. „Ich habe anscheinend meinen Alltag verloren und muss mich nun auf die Suche begeben, um ihn wiederzufinden.“

Sie versuchte, jeden Zweifel zu ignorieren, dass ihr das in den nächsten Tagen gelingen würde.

Kapitel 4

Japsend fiel Carina zurück ins Bett, unschlüssig, ob sie sich ärgern oder freuen sollte. Ihre Beine hatten sie nicht nur über den Flur, sondern bis zu den Fahrstühlen gebracht. Sie hatte es sogar geschafft, sich mit dem Kleingeld in der Tasche einen Erdnuss-Riegel aus dem Automaten zu ziehen.

Dabei waren Süßwaren in ihrem Speiseplan nicht vorgesehen.

Aber welches Gesetz, nach dem sie lebte, hatte derzeit schon Gültigkeit?

Carina war ein ungeheuer systematischer Mensch. Alles war planbar, alles an seinem Ort, alles hatte seine strategische Bedeutung.

Mit dieser Akribie hatte sie auch für jeden ihrer Kunden einen speziellen Trainingsplan ausgearbeitet, an den man sich streng zu halten hatte.

Jahrelang hatte diese strenge Disziplin ihr Leben beherrscht, nein, nicht nur beherrscht, sondern diktiert, vorgeschrieben, aber auch erfolgreich gemeistert.

Mehr und mehr kam sie zu der Überzeugung, dass es kein Zufall war, ausgerechnet hier gelandet zu sein. Es war eine Art von Schicksal gewesen.

Irgendjemand, irgendeine Macht, hatte diese Tage von langer Hand vorbereitet. Dabei war sie weder gläubig oder abergläubisch.

Für sie gab es zwei Möglichkeiten. Sie konnte sich ihrem Schicksal ergeben, zurücklehnen und die Augen schließen. Wie hätte ihre Mutter so schön gesagt?

„Das Beste daraus machen!“

Dann würde sie sich einweisen lassen in irgendeine Klinik. Vermutlich würde man sie mit Medikamenten vollpumpen und wochenlang dortbehalten, immer wieder sinnlose Gespräche über ihre Kindheit führen. Sollte sie anschließend wieder fit genug für ihr Leben sein, wäre ihre Selbstständigkeit längst den Bach hinuntergegangen. Die Kunden hätten sich eine andere Trainerin gesucht, die Werbeanzeigen in den Sozialen Medien wären veraltet, sie müsste ganz von vorne anfangen.

Hätte sie dazu die Kraft?

Oder sie könnte die Zeit, die ihr hier noch blieb, für sich nutzen. Sie könnte immer wieder aufstehen und sich ein neues Ziel setzen.

Aus ihrem Fenster hatte sie eine kleine Gartenanlage gesehen mit einem Teich, einigen ineinander verschachtelten Wegen, kleinen Hecken und mehreren Bänken.

Sie könnte versuchen, dorthin zu kommen und jeden dieser Wege zumindest einmal zu laufen.

Entschlossen riss sie den Erdnussriegel auf und biss hinein. Sie wartete einen Moment, konzentrierte sich und schwang dann erneut die Beine aus dem Bett. Niemand machte ihr Vorschriften, nicht einmal ihr eigener Schädel.

Nachdem sich die automatische Tür der Station hinter ihr geschlossen hatte, musste sie kurz innehalten. Wütend starrte sie auf ihre Beine herunter.

Alle Muskeln waren noch da, wenn auch ein wenig untrainierter durch die letzten Tage. Aber sie mussten doch hungrig sein, auf die nächste Bewegung lauern.

Carina fluchte wenig damenhaft und befahl ihren verfluchten Beinen, ihr endlich wieder zu gehorchen. Doch da war nach wie vor dieses eigenartig leere Gefühl, als würde jemand die Sohlen ihrer Schuhe mit Leim an den Boden kleben.

Carina blickte durch den Raum. Am anderen Ende befanden sich die beiden Türen für die Fahrstühle. Eine von ihnen war deutlich breiter, vermutlich für Betten, die man von einer Etage auf eine andere transportieren wollte. Links in der Ecke standen ein Getränke-Automat und ein zweiter für Süßkram.

Hinter ihr tauchte eine Schwester auf, einige Akten in der Hand.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie freundlich.

Carina schüttelte entschlossen den Kopf.

„Nein, da muss ich selbst durch“, stieß sie hervor und riss ihren Fuß förmlich in die Höhe.

Er war nicht am Boden festgeklebt, es war lediglich ein Gefühl, eine Vorstellung gewesen.

„Warten Sie, ich kann … ah, der Fahrstuhl kommt ohnehin gerade!“

Die Schwester, eine Frau in den Vierzigern mit kurzen, dunkelblonden Haaren und einer mächtigen Nase, lächelte noch einmal freundlich.

Auch Carina hatte die kleine Glocke gehört, die ankündigte, dass sich gleich die Schiebetüren auf der gegenüberliegenden Seite öffnen würden. Bis dahin musste sie ihr Ziel erreichen.

Konzentrier dich auf dein Ziel, wie du dich all die Jahre auf deine Ziele konzentriert hast. Sie schaffte zwei Schritte weiter hinaus in den Flur, dann glitten die Fahrstuhltüren auseinander. Aus dem Hintergrund sah sie den Schatten eines Besuchers treten und straffte instinktiv ihre Haltung.

Niemand sollte sie in ihrem Zustand sehen, wenn sie es irgendwie verhindern konnte.

Ihre Gedanken waren noch voll damit beschäftigt, die Türen des Fahrstuhls zu erreichen, bevor sie sich wieder schließen würden, als sie in der Bewegung stockte. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, was gerade geschehen war.

„Mutter“, kam es ihr fassungslos über die trockenen Lippen.

Die Besucherin, der sie zunächst nicht ins Gesicht geblickt hatte, kam direkt auf sie zu.

„Carina!“ Schon in der bloßen Aussprache ihres Namens schwang derart viel Pathos mit, dass es vermutlich wirklich ausgereicht hätte, sie hier in dem Flur des Krankenhauses am Boden festzunageln, dieses Mal nicht als bloße Vorstellung.

Mutter kam auf sie zu, sie war fast zwei Köpfe kleiner als sie.

Die letzten Jahre hatten sie alt werden lassen, in die Partien um den Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben. Sie trug einen schweren karierten Mantel mit einem passenden Hut, an dem eine grünlich schimmernde Feder saß. Die Sohlen der halbhohen, schwarzen Stiefel hinterließen dumpfe Geräusche auf dem gummierten Boden.

Carina war so geschockt, dass sie nicht einmal mehr den Mund aufbekam.

Sie konnte allerdings nicht verhindern, dass sich ihr Körper versteifte, als Mutter sie ungefragt und mit einer heftigen Bewegung umarmte.

Wie viele Jahre waren vergangen?

Carina schaffte es nicht, so schnell nachzuzählen.

„Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht, als mir Sven erzählte, dass du hier im Krankenhaus bist!“

„Sven?“ fragte Carina mit schwerer, belegter Stimme.

„Na, Anna arbeitet doch hier im Krankenhaus“, entgegnete Mutter mit einem Kopfschütteln. Sie trat einen Schritt zurück und starrte Carina mit einem seltsam verzückten Grinsen an, als hätte sie soeben eine Marien-Erscheinung gehabt.

„Ich habe gedacht, dass du viel schlechter aussiehst“, stellte sie fest. Vermutlich musste man, um zu Recht in einer Klinik zu landen, mindestens einen Gips und einen dicken Verband an sich tragen. Carina konnte mit Beidem nicht dienen.

„Anna?“

„Die sind doch verlobt, werden in ein paar Wochen heiraten – wenn endlich alles klar ist!“

Carina konnte mit dem Namen noch immer nichts anfangen. Sie hatte auch nicht die geringste Ahnung, was für wen klar sein sollte.

„Anna arbeitet doch hier in der Klinik.“ Mutter schickte einen schnellen Blick über den menschenleeren Flur. „In der Verwaltung natürlich“, schob sie hinterher.

Was genau daran natürlich zu sein schien, ließ sie offen. Auf jeden Fall war Anna, weshalb auch immer, über ihren Namen gestolpert und hatte, Datenschutz hin oder her, diese Neuigkeit sofort verbreitet, zuerst wohl zu Sven, ihrem Bruder, der dann umgehend Mutter informiert hatte.

Wohnte er noch immer zu Hause? Aber es war naheliegend, er würde den Hof übernehmen.

Daraufhin hatte sich Mutter in das Outfit einer Jägerin aus den fünfziger Jahren geworfen und war mit ihrer Kutsche, denn so sah sie aus, zu ihrer Tochter geeilt, die sie seit Jahren nicht gesehen hatte.

„Was ist passiert? Hattest du einen Unfall?“

Aber wenn diese Anna schon die Akte kannte, dann hatte sie dort lesen können, wie es um Carina stand. Und mit Sicherheit hatte sie mit diesem Wissen nicht hinter den Berg gehalten.

Doch Carina hielt den Mund geschlossen. Sollte sie gleich die Vorhalte aus dem Köcher ziehen?

War es nicht reichlich sinnlos, sich hier auf dem Flur einer Klinik zu streiten?

Immerhin war Mutter, nachdem sie gehört hatte, dass Carina hier im Krankenhaus lag, sofort zu ihr gekommen. Positiv denken, sogar in Bezug auf die eigene Familie!

„Ja, so etwas in der Art“, antwortete sie ausweichend.

Mutter trat einen Schritt zurück und musterte sie wie einen Schinken in der Auslage beim Metzger.

„Äußerlich scheint dir nichts zu fehlen“, stellte sie fest.

Carina begrub ihr Vorhaben, in den kleinen Park vor der Klinik zu gehen. Sie machte kehrt, die automatische Tür glitt lautlos vor ihr auf. Alles in ihr verkrampfte sich. Doch sie wäre lieber gestorben, als mehr Schwäche wie irgend nötig zu zeigen, nicht hier, nicht jetzt, um keinen Preis dieser verfluchten Welt.

Tapfer ignorierte sie die klebenden Füße.

Mutter hakte sich bei ihr ein.

---ENDE DER LESEPROBE---