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Im Grunde sind wir alle so schrecklich satt. Die einzige Angst, die uns noch bleibt, ist die Furcht vor der Leere. Selbst an der Kasse im Supermarkt fürchten wir die wenigen Sekunden des Stillstands. Und wenn man wie ich nicht einmal finanzielle Sorgen kennt, was bleibt dann? Der Traum der meisten Menschen wandelt sich schnell zu einem Albtraum, wenn man das Leben nicht beherrscht und sich nur an Oberflächlichkeiten berauscht. Ich glaube, das war der Grund, warum mein Geist danach schrie, diese letzte Erfahrung bei vollem Bewusstsein zu machen. Ich schwamm hinaus ins Meer bis mir die Kräfte versagen sollten, damit ich dieses endgültige Erleben fühlen konnte. Und dann kam sie, platzte in ihrer Unverschämtheit und in ihrer ganzen Lebenskraft mitten hinein in meine Sehnsucht und zeigte mir, wie wertvoll jeder Atemzug sein kann. Bis heute weiß ich nicht, warum mir das Meer genommen hat, was es mir kurz zuvor gegeben hatte. Ich fühle sie noch immer, diese Energie, diese Sehnsucht. Wahrscheinlich werde ich sie nie überwinden. Dabei ist alles so einfach: Mann trifft Frau, Mann verliebt sich in Frau, Mann verliert Frau. Liebesgeschichten könnten so verflucht simpel sein, wenn dieser Zustand, den wir Leben nennen, sich nicht ständig in sie einmischen würde. Damals wollte ich nicht wirklich sterben, nur der Leere entfliehen. Was werde ich mit der neu gewonnenen Kraft anfangen, nun, da sie fort ist?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Ende
In uns die Stille des Meeres
Olaf Hauke
2016/25
Copyright 2016/25 by Olaf Hauke
Olaf Hauke
Greifswalder Weg 14
37083 Göttingen
T. 01575-8897019
Cover Shutterstock
Originaltitel aus 2016 „Bis das Meer uns die Stille bringt“
Ich liebe Models.
Ich weiß, dass man in der heutigen Zeit sofort erklären muss, dass man auch gerne ein paar Pfund mehr an einer Frau mag, dass es auf die inneren Werte ankommt, dass es wichtig ist, dass eine Frau klug, wortgewandt und gebildet ist.
Ich muss ehrlich zugeben: Bei mir ist es nicht so. Ich finde es schrecklich, wenn ein Ansatz von Fett wabbelig und sinnlos über den Slip quillt, wenn der Bauch nicht fest und straff ist, wenn die Oberschenkel wie zwei Mühlsteine aneinander reiben. All das stößt mich ab, ich finde es unerotisch und sogar ein bisschen eklig.
Rebecca ist halb Deutsche, halb Afrikanerin. Ich muss zugeben, sie hat mir irgendwann erzählt, woher ihre Mutter genau stammt, aber ich habe es vergessen. Ich muss es mir auch nicht merken, niemand wird mich je im Leben danach fragen.
Sie ist eins achtzig groß, hat diese herrlichen, großen dunklen Augen und diese wahnsinnig vollen Lippen, die nicht mal der Spritze irgendeines Arztes entstammen. Und sie hat einen wahnsinnig flachen Bauch, dazu diese kleinen, fantastisch festen Brüste, die genau in eine Hand passen.
Alle Welt behauptet immer, dass Männer auf riesige Brüste stehen würden, es ist so ein beliebtes Klischee. Im Grunde gilt das nur für Typen, die sich mit billigen Pornos aufgeilen bei Streifen, die so erotisch sind wie die Ausstellung eines Kaninchenzüchter-Vereines. Richtige Männer mit Geschmack mögen schlanke Frauen mit Brüsten, die zu dieser Figur passen. Und Frauen, deren Oberschenkel einen gesunden Abstand zueinander zeigen. Und die nicht laufen, als würden sie mit einer Karawane durch die Wüste ziehen, sondern die Füße schwungvoll und erotisch voreinander setzen.
Ich bin mit Rebecca jetzt schon einige Monate zusammen, und sie gefällt mir noch immer ausnehmend gut.
Ich zeige mich gerne mit ihr, liebe die Blicke, die sie auf sich zieht mit ihren wiegenden Hüften und ihren Haaren, die sie bis auf wenige Zentimeter abrasiert hat.
Es verleiht ihr eine unglaubliche Sinnlichkeit, eine leicht dunkle Erotik und hebt sie aus der Masse der anderen Models deutlich ab.
Es lässt sie sogar klug erscheinen. Wobei ich nicht mal sagen kann, ob sie dumm ist, ich denke, ich habe es bisher nicht herausfinden wollen.
Ich glaube, sie hat sogar irgendeinen Schulabschluss und einen Beruf gelernt, so genau habe ich nie nachgefragt. Ein Blick auf ihren herrlichen Po, leicht gerundet, schmal, sehr fest, erklärt, dass sich niemand für ihre Bildung interessiert. Sie drängt sie einem allerdings auch nicht gerade auf.
„Mario?“
Sie ruft aus dem anderen Raum unserer Suite in dem kleinen Strand-Hotel auf Ibiza. „Denkst du, ich kann das Trägertopp von Sander heute Abend tragen?“
Sie kichert dabei, sie kann alles tragen, das weiß sie genau.
Ich löse mich von meinem Notebook, wo ich gerade einen letzten Blick auf die Bilder geworfen habe, die wir wenige Stunden zuvor in der kleinen Bucht geschossen haben. Ich liebe die Sonnenuntergänge hier, jedermann liebt die Sonnenuntergänge auf Ibiza. Ich werde noch ein paar kleine Bearbeitungen vornehmen müssen, im Grunde genommen sind sie perfekt geworden – kein Wunder bei einer perfekten Frau und einer perfekten Kulisse.
„Du weißt schon, dass Sander das Label ist, bei dem Guiseppe früher gearbeitet hat, oder?“ Ich muss lachen, sie ist wirklich eine kleine Hexe.
„Nur weil wir heute Abend auf seiner Yacht sind, heißt das noch lange nicht, dass ich den schwulen Wichser nicht hasse“, entgegnet sie kichernd und dreht sich noch einmal vor dem Spiegel. Sie trägt nur das Top, das ihr knapp bis zum Bauchnabel reicht. Ich sehe das kleine, rosafarbene Schimmern zwischen ihren schmalen Oberschenkeln.
Ich gehe zu ihr und sehe dabei hinaus aus dem hohen, nur durch einen dünnen Vorhang verdeckten Fenster. Dort draußen liegt der kleine, nierenförmig geschwungene Pool, an dem man sich tagsüber trifft.
Kaum jemand der Gäste hier geht tatsächlich zum Strand, es sei denn, man ist dort verabredet, um weiter hoch in die Stadt zu gehen oder in eine Bar einzukehren.
Der Strand ist für Touristen, die mit Kindern, die wie Hunde ständig im Sand graben müssen, dort Sonnenschirme in die Erde rammen wie Astronauten Flaggen auf fremden Planeten.
„Du bist immer noch sauer auf ihn, weil er dir damals den Job nicht gegeben hat“, sage ich mit einem Schmunzeln.
„Ich wäre das perfekte Gesicht für La Barca gewesen – aber ich habe eben nicht so am Schwanz gelutscht bei seinem Bankier wie die schöne Isabell.“ Rebecca kichert wieder. Es klingt derart übertrieben sorgenfrei, dass nicht einmal sie selbst es glaubt, ihre Augen blieben ernst und schimmern beleidigt.
„Man sagt, sie sei ziemlich fett geworden seit damals“, bemerke ich, um ihre Laune wieder zu heben. Im Gegensatz zu ihr kann ich es mir nicht leisten, dort heute Abend einen Streit vom Zaun zu brechen. Sie kann ruhig das Top eines anderen Designers tragen, das sorgt sogar für Aufmerksamkeit und Gesprächsstoff. Ansonsten muss sie ihre Klappe halten, es geht für mich immerhin um die Aufträge für die kommende Saison.
Im nächsten Jahr werde ich fünfundvierzig, für mich ist es Pflicht, mich mit einem jungen, attraktiven Model sehen zu lassen.
Sie kann etwas zickig sein, es reicht, wenn sie bis drei zählen kann, es ist akzeptabel, wenn sie einen kleinen Skandal provoziert. Sie darf dort auf der Party weder mit einem anderen vögeln noch den Gastgeber grob beleidigen.
Rebecca allerdings ist lange genug im Geschäft, um die Regeln zu kennen und brav zu befolgen. „Wir könnten ein wenig später kommen“, sagt sie und kommt direkt auf mich zu. Ihre schlanken Finger schieben sich mit einer leichten Drehung zwischen meine Beine.
Ich sehe in ihre dunklen Augen, ihr Mund ist leicht geöffnet, sie riecht verführerisch nach einem leichten Hauch Parfüm, gepaart mit körpereigenem Duft. Fast noch schlimmer als dicke Frauen sind solche, die nicht wissen, wie man ein Eau de Toilette benutzt und riechen, als hätten sie in dem Zeug gebadet.
„Er hasst Unpünktlichkeit. Ich glaube, dein Top reicht aus, um ihm den Abend zu verderben.“ Ich drehe mich mit einem leichten Lächeln aus ihrer Umklammerung, sehe in der Bewegung mein Gesicht im Spiegel. Eigenartig, ich lasse eine Gelegenheit aus, mit Rebecca Sex zu haben? Mir ist selbst nicht ganz klar, wes-halb ich das mache.
Sie scheint meine Überlegung nicht zu bemerken, dreht sich mit einem Achsel-zucken weg und greift sich ein Höschen vom Bett. Ich liebe diese weißen, zarten Höschen, die sich wie eine zarte Haut über ihre Scham und ihren Hintern legen.
„Du hast wahrscheinlich recht, man sollte es nie übertreiben. Wenn Isabell tatsächlich aufgegangen ist wie ein Hefeteig, dann wird er vielleicht bald wieder auf der Suche sein.“ Dieses Mal kicherte sie nicht, sie lachte leise und siegessicher. Vermutlich wird sie die Wahl ihres Tops jetzt noch einmal überdenken.
Als meine Mutter davon erfuhr, dass ich mich für meinen Beruf in Mario Casota umbenannte, dachte ich, sie trifft der Schlag. „Was ist falsch an Wladimir Ilschicz? Schämst du dich für uns?“
Natürlich taucht in meiner Biographie mit keinem Wort auf, dass ich aus Kasachstan stamme. Mit blieb das Schicksal gnädig, man sieht mir den Russen nicht an. Gut, es gibt selbst Schlagersängerinnen, die zu dieser Herkunft stehen. Selbst die haben an ihrem Namen gedreht. Und als Fotograf, der vor allem für Modemagazine arbeitet, kommt man mit Wladimir nicht weiter. Sollte ich eines Tages einmal einen Auftrag für Fotos von Traktoren bekommen, werde ich mich auf meinen ursprünglichen Namen besinnen. Bis dahin bleibt es bei Mario.
„Ich liebe Ibiza“, lacht Rebecca und schiebt einen Arm aus dem halb heruntergelassenen Seitenfenster des Taxis. Ich sitze neben ihr und starre auf die vorbei-ziehende, nächtliche Landschaft der Insel. Aus dem Radio dringt leise spanischer Pop ins Fahrzeuginnere.
Der Taxifahrer, ein kräftiger, nach Schweiß riechender Mann irgendwo um die Vierzig, starrt immer wieder in den Rückspiegel, um Rebecca zu betrachten. Ja, denke ich, mit dem, was du hier in einem Monat verdienst, könntest du sie vermutlich nicht mal einen Tag bei Laune halten.
Warum müssen schöne Frauen immer nur so teuer sein? Na ja, die Antwort liegt wahrscheinlich bereits in der Frage. Eine hundert-Kilo-Frau muss wenigstens freundlich sein, um sich einen Mann zu angeln, eine Frau wie Rebecca kann sich jedes Benehmen, jede Arroganz erlauben, sie wird trotzdem von Männern um-schwärmt werden.
Verrückt, ich muss heute ständig über Figuren und Gewichte nachdenken. Möglicherweise liegt das einfach daran, weil ich in den letzten Wochen einige Kilo zugenommen habe. Als ich mit einem Bekannten darüber sprach, erntete ich nur ein Achselzucken: Das ist bei Männern in unserem Alter nun mal so.
Vermutlich hat mich die Bemerkung nur deshalb so getroffen, weil sie so beiläufig, so endgültig aus seinem Mund tropfte. Ich sehe noch, wie er danach zu seinem Angeber-Cocktail griff, bei dem man vor Früchten keinen Geschmack mehr hatte, und in die Sonne grinste.
Männer in unserem Alter! Was sollte das schon heißen? War Vierzig nicht das neue Dreißig?
Ich sehe Rebeccas Silhouette, die sich versonnen in einem imaginären Rhythmus bewegt. Ich werde heute Nacht mit dieser bildschönen Frau schlafen, sie wird sich unter mir winden, sich auf mich setzen, mich reiten und dabei all die kleinen, schmutzigen Dinge sagen, die mich so erregen.
Der Taxifahrer dagegen wird nach einer durchfahrenen Nacht zu seiner dicken Frau mit Damenbart und Cellulite zurückkehren, wenn er überhaupt eine Frau hat. Das sind die Fakten des Lebens, so sehen sie aus, so und nicht anders.
Ich greife Rebecca in ihren weichen, schlanken Nacken, ziehe sie zu mir heran und küsse sie gierig auf den Mund. Sie lässt es sich gefallen, ich spüre ihre Zunge, fühle die eigene Lust wachsen. Ihr Kopf drückt sich fester in meinen Schoß.
„Soll ich dir einen blasen?“ flüstert sie aus dem Dunkel heraus. Beiläufig erhasche ich einen Blick auf das schwitzende Gesicht des Taxifahrers. Seine Augen zucken, natürlich weiß er, was Rebecca mir soeben angeboten hat, auch wenn sie auf Deutsch gesprochen hat.
Endlich fühle ich mich dem Mann überlegen, die Rangordnung ist wiederhergestellt. Ich habe keine Lust, ihm eine Show zu bieten, die ihn durch seine Fantasie über die nächsten Tage retten wird.
Rebecca richtet sich wieder auf, fährt sich mit ihren langen, schlanken, silber-farben lackierten Fingern über den fast kahlen Schädel. Sie sieht meinen Blick, der sich in den Nacken des Fahrers gebohrt hat. „Weshalb hast du keinen Mietwagen?“ mault sie.
Ich werde ihr kaum erklären, was ein angemessener Mietwagen auf Ibiza kostet. „Für die paar Fahrten brauchen wir wirklich kein Auto“, brumme ich und merke, wie müde und lustlos ich dabei klinge. Ich brauche dringend etwas, um meine Stimmung aufzuhellen.
„Ihr dreckigen Schweine!“ Juliane lacht auf, wirft den Kopf in den Nacken und rast über das gesamte Deck der Yacht. Viele der Gäste sehen ihr nicht mal hinterher, natürlich weiß jeder, was nun kommen wird.
Rocco folgt ihr mit hechelnder Zunge wie ein läufiger Hund. Er sieht gut aus in seinen engen Jeans und dem weißen Hemd. Wie nennt er sich gleich? Schauspieler? Ich habe schon ein paar Mal überlegt, mir ist nie ein Film eingefallen, bei dem er mitgespielt hat.
Es soll angeblich, wenn man dem Internet glauben kann, einige Werbespots geben, sie haben mich zu wenig interessiert, um sie mir anzuschauen.
Sie haben alle längst die beiden kleineren Boote mit dem Schatten gesehen. Guiseppe hat ihnen bestimmt einen Tipp gegeben. Schließlich soll über seine Party in den nächsten Tagen berichtet werden – eine Party, die so langweilig ist wie die Geburtstagsfeiern bei meinen Eltern. Nur konnte man sich von dort wegstehlen und im Gebüsch mit der Tochter der Nachbarn knutschen. Was wohl aus Eva geworden ist?
Für einen Moment sitze ich wieder eingezwängt zwischen all den lauten und schwitzenden Verwandten am Kaffeetisch und starre gelangweilt auf das gute Porzellan, das nur bei diesen Gelegenheiten auf den Tisch gestellt wurde. Ich zähle die Sekunden, die der kleine Zeiger der goldenen Uhr auf der Anrichte gegenüber vorgibt. Und ich fühle die aufkeimende Erregung bei dem Gedanken an Eva, die schmale Blondine mit der hellen Haut.
Hier auf der Yacht, die etliche Millionen kostet, gibt es nur gutes Geschirr, keine Anrichte und keine altmodische Uhr mit vergoldeten Ziffern – und wenn, dann wären sie tatsächlich aus Gold.
Das Kreischen nimmt an Intensität zu, schließlich hört man das Klatschen der Körper ins Meer. Gleichzeitig kommt Bewegung in die Schatten auf den Booten unweit der Yacht, darauf haben sie gewartet. Hier an Bord interessiert es niemanden sonderlich, alles ist zu satt, zu voll, zu gelangweilt.
Vor zwanzig Jahren in seinen Anfängen hat Guiseppe noch Koks genommen und dazu diesen billigen Wodka gesoffen, heute ernährt er sich vegan und hat auf dem Boot einen eigenen Fitness-Raum eingerichtet. Die ständigen Operationen haben Spuren in seinem Gesicht hinterlassen, er wirkt starr und aufgeschwemmt. Bis heute Abend habe ich nicht gewusst, dass man sich Muskeln in den Bauch implantieren lassen kann. Es hat mich weder sonderlich erschüttert noch interessiert.
Ja, Guiseppe ist inzwischen gezähmt, dafür aber auch so kreativ wie das Angebot der Kaufhauskette, für die seine Designer inzwischen arbeiten und dabei wirken wie eine Horde schwuler Beamter, die sich heimlich auf Helene Fischer-Konzerte schleichen während sie davon schwadronieren, wie cool es auf dem Neo-Cumbia-Festival gewesen wäre.
„Guiseppe ist pleite.“ Ich drehe mich um, das Gesicht des Mannes ist für mich neu. Er gehört zu den Emps, zu den Emporkömmlingen, der mit Sicherheit irgendein zumindest im Moment lukratives Geschäft betreibt, dessen Erträge es ihm ermöglichen, sich auf so eine Party einzukaufen. Vermutlich findet er es sogar spannend hier.
Ich mag diese Menschen nicht sonderlich, aber sie sind der Motor, der diesen Verein am Laufen hält. Mit ziemlicher Sicherheit hat er recht, Guiseppe hat noch nie mit Geld umgehen können. Er war schon mehrfach pleite, wurde von Modehäusern oder privaten Investoren gesponsert, insofern ist die Geschichte keine echte Neuigkeit.
Man darf es sich mit Emps nicht verderben, denn man weiß nie, in welchen Geschäften sie ihr Geld haben. Hinter ihren gestylten, verkrampften Gesichtern können sich gute Verdienstmöglichkeiten verbergen. Und ich selbst könnte eine Finanzspritze gut gebrauchen.
„Das war er schon öfter“, antworte ich in einem etwas gelangweilten Ton, der den Emp jedoch nicht davon abhalten soll, weiterzureden. Namen und Telefon-nummern können wichtig sein.
„Dieses Mal ist es ernst. Das Boot ist schon so gut wie verkauft, ebenso die Finca. Du weißt ja auch, weshalb.“ Ein süffisantes Grinsen läuft über sein Gesicht, das wie das eines Frettchens geformt ist. Geld, jede Pore seines Körpers schwitzt Münzen und Scheine aus. Ja, er ist nicht nur im Genuss des Reichtums, sondern auch voll des Wissens, dass er es besitzt und seine Macht genießen kann.
Ich hasse dieses Duzen von fremden Menschen, dieses scheinheilige so tun, als ob wir alle Brüder und Schwestern wären. Es ist so geheuchelt, dass ich mich manches Mal übergeben könnte, vor allem in Situationen wie diesen.
„Nein, ich habe keine Ahnung.“ Ich stelle fest, dass es mir schwerfällt, diese Worte über die Lippen zu bringen, es hilft nichts, ich habe nicht mal den Hauch einer Vorstellung, wovon der Mann spricht.
Oh, unser kleiner Emp genießt sein Wissen. Er dreht sich ein wenig, greift zu den Häppchen, die auf dem schmalen Büfett neben ihm aufgebaut sind und nimmt sich einen grünlich schimmernden Klumpen, den er in einen schwarzen Dip taucht, ehe er ihn mit spitzen Fingern in den Mund schiebt. Dabei lacht er ein wenig albern.
„Guiseppe wird nicht mehr lange unter uns weilen“, stellt er fest, schmatzt und verzieht das Gesicht. Mit der Schärfe hat er offensichtlich nicht gerechnet.
Ich bin kein Freund von dem Mann, ich merke, wie ich innerlich verkrampfe. Es liegt vielleicht nicht mal an der Nachricht selbst, es liegt an der widerlichen Art, wie sie mir überbracht wird.
„Wie meinst du das?“
„Tumor im Endstadium, die Leber ist schon weg.“ Der Emp macht eine Handbewegung, als würde er sich ein Staubkorn von der Fingerkuppe schnipsen. „Deshalb bekommt er ja auch keine Aufträge mehr seit die Geschichte die Runde macht.“
Ich erinnere mich, dass Guiseppe nur ein Glas Wasser in der Hand hielt, ich hielt es für eine seiner Spinnereien in Bezug auf seine Ernährung. Mir schwirren einige Fragen gleichzeitig im Kopf herum, mein Gegenüber schiebt sich bereits die nächste grüne Kugel in den Mund.
Er hat sich an die Schärfe gewöhnt.
Ich hole zweimal tief Luft, um mir meine Überraschung und mein Entsetzen nicht anmerken zu lassen. Dann suche ich nach irgendwelchen dämlichen Floskeln, auf die mein Gegenüber dümmlich einsteigt.
Komm, fort von hier, schreit alles in mir, fort von diesem Ort, der von einer Sekunde zur anderen zu einer Beerdigung geworden ist. Ich bilde mir sogar ein, die feuchte Erde zu riechen, die auf den Sarg fallen wird. Ich sehe die Trauergäste, die weiß tragen und lachen. Meine Hand sucht einen Tisch, ich muss mich festhalten, um nicht zu stürzen. Es klingt komisch, seine Worte haben etwas in mir zerbrochen.
Ich liebe Spaziergänge am frühen Morgen auf der Promenade. Die Cafés und Hotels schlafen noch, nur die Leuchtreklamen dämmern in blassen Farben. Auf den aufgestellten Tafeln, auf denen die Wirte ihre besonderen Angebote mit weißer Kreide schreiben, haben sich Tautropfen gebildet. Die Luft hat sich wieder entspannt nach der Wärme und der Aufgeregtheit des Tages, sie ist mild und legt sich wie ein beruhigender Film auf die Seele.
Rebecca summt leise vor sich hin, ihre Schritte wirken leicht, träumerisch. Sie hat sich bei mir eingehakt, plaudert immer wieder über die Outfits der Gäste, ich kann mich nicht auf ihre Worte konzentrieren. Mein Blick wandert über das Wasser, ich sehe die kleinen, blitzenden, weißen Schaumkronen der Wellen, die sich am Strand verlieren und im Sand ertrinken.
Ich sehe Guiseppe, wie er laut lacht, den engagierten Disc-Jockey anfeuert, mit einem jungen Latino flirtet, der so enge Hosen trägt, dass selbst ich ein wenig scharf wurde – und ich bin weit entfernt davon, schwul zu werden, obwohl es schon einige Angebote in diese Richtung gab, was durchaus meiner Eitelkeit schmeichelte.
Und dabei ist dieser Mann innerlich schon völlig verfault, er kann die Stunden zählen, die ihm noch bleiben. Und was kommt danach? Ich kann es selbst nicht erklären, weshalb dieser Gedanke einen solchen unangenehmen Druck in meiner Brust verursacht.
Instinktiv frage ich mich, wo er wohnen mag, wenn seine Finca verkauft wurde. Gastfreundschaft ist ein großes Wort, das man hier ständig im Munde führt. Gelebt wird es, nach meiner Erfahrung, weniger.
„Und, hast du einen Auftrag ergattert von diesem Typ, der wie ein Wiesel aus-sah?“ Rebecca kichert in die verschwindende Nacht. Ich sehe ihre makellos weißen Zähne in der Dunkelheit blitzen. Auch sie sah das Geld in seiner Gestalt, kein Zweifel. Wie gesagt, sie ist nicht erst seit gestern in der In-Crowd.
„Ja, das heißt, wir werden in den nächsten Tagen noch telefonieren.“ Ich muss unbewusst auflachen. „Er wollte deine Telefonnummer.