Die Nacht kennt keine Schatten - Olaf Hauke - E-Book

Die Nacht kennt keine Schatten E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Julia ist fort - dieses Mal für immer! Der Urlaub, den Stefan für beide geplant hatte, brachte sie einander nicht näher. Stefan fasst einen Entschluss: Er braucht Abstand, will sich zurückziehen. Er muss sich neu ordnen, braucht Ruhe und einen freien Kopf. Doch mit eben dieser Ruhe ist es schnell vorbei, als er auf den verrückten Ray trifft, der in der Gegend unterwegs ist und als eine Art missglückter Kopfgeldjäger eine in Leder gekleidete Räuberin jagt, die nach ihren Überfällen auf einem Motorrad flüchtet. Stefan will von diesem Unsinn nichts hören, bis sie vor ihm steht - ganz in Leder gekleidet, eine Waffe in der Hand, die auf sein Herz zielt. Sie lässt ihn leben, ergreift die Flucht. Am nächsten Tag weiß Stefan nicht, ob er geträumt oder die Szene wirklich erlebt hat. Also macht er sich auf die Suche nach der Wahrheit … bis Julia wieder auftaucht, ganz anders, als er es erwartet hat.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Ende

Die Nacht kennt keine Schatten

Olaf Hauke

2023

Copyright 2023

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

T. 01575-8897019

Cover:

[email protected]

Prolog

Endlich war er eingeschlafen. Tatjana zögerte einen Moment, doch der Geruch in dem kleinen, engen Schlafzimmer war zu erdrückend. Sie trat ans Fenster und kippte es zunächst an, ehe sie mit einer entschlossenen Geste beide Flügel weit aufriss.

Der Geruch nach Alkohol und Erbrochenem mischte sich mit der frischen Luft, die von draußen in den Raum strömte. Sie holte einige Male tief Luft. Eigentlich sollte sie diese Geste entspannen, doch sie spürte, wie ihre Hände zu zittern begannen.

Nein, auch wenn es Geräusche gab, die in das Schlafzimmer drangen, sie würden nicht in der Lage sein, ihn zu wecken, er würde die nächsten Stunden fest schlafen. Und das war auch gut, denn sie würde eine Weile brauchen, bis sie ihren Plan in die Tat umgesetzt hatte.

Tatjana ging an den Kleiderschrank, entkleidete sich bis auf die Unterwäsche. Dann zog sie trotz der Wärme die eng sitzende Lederhose an, danach ein einfaches Top. Es würde ohnehin unter der schweren Motorrad-Jacke verschwinden. Sie griff unter den kleinen Stapel mit der Unterwäsche und zog die Pistole heraus.

Sie sah wirklich täuschend echt aus, dachte sie noch, schloss den Schrank, baute sich vor dem Spiegel auf und brachte die Waffe in Anschlag. Dabei zeigten ihre Augen keinerlei Emotion. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, als sei alles Leben aus ihr gewichen. Es ging nur darum, diesen einen Nachmittag zu funktionieren.

Beim Verlassen des Schlafzimmers warf sie einen letzten Blick auf ihren Mann, auf das, was von ihm übrig geblieben war nach den Jahren, die er damit verbracht hatte, Flaschen zu leeren.

Vielleicht war es besser, den Plan zu vergessen, einfach ein paar Sachen zu packen und das Weite zu suchen. Noch gehörte die Maschine ihr.

Sie ging nach unten, dachte nicht weiter darüber nach. Die Mechanik ihres Handelns hatte jede Alternative in ihrem Kopf ausgelöscht. Sie griff sich den schwarzen Rucksack, den man mit einem Zug an der Schnur öffnen und schließen konnte. Jede Sekunde würde zählen, trotzdem durfte sie nicht den Anflug von Hektik zeigen.

Sie musste so cool sein wie damals in ihrer Jugend, als sie immer wieder in den Tabakladen gegangen und Zeitschriften geklaut hatte, weil ihr das Geld gefehlt hatte. Die anderen hatte man erwischt, sie war stets davongekommen.

Doch heute ging es nicht um die neuesten Taten ihrer Schlager-Helden aus einer längst vergangenen Zeit, heute ging es um mehr, um ihre Zukunft, ihr Leben.

Tatjana ging in den Keller und holte den weißen Helm mit dem glänzenden, das Licht reflektierenden Visier aus dem Versteck. Ihr Mann war ewig nicht mehr hier unten gewesen. Mit einem traurigen Blick streifte sie die Hanteln und die Bank, auf der er immer trainiert hatte, damals, als er noch gelebt hatte.

Sie nahm die Lederjacke, die hier unten in dem Spind hing, streifte sie über. Es würde warm werden in der Kleidung, aber das war nicht zu ändern. Sie zog den Reißverschluss der Jacke bis unter den Hals, schloss die beiden Druckknöpfe und verließ dann das Haus über den hinteren Ausgang.

Niemand war zu sehen, aber seit letztem Jahr gab es hier sowieso noch wenig Leben. Sie schob das Motorrad hinter den Zaun, holte das Werkzeug heraus und schraubte die falschen Kennzeichen an. Die musste sie nach der Flucht sofort entsorgen. Dann würde sie das Bike bei der Versicherung abstellen, damit hier morgen kein Gerichtsvollzieher auftauchte. Sie wusste genau, wo sie sich anschließend umziehen konnte.

Ihr Blick wanderte nach oben zu dem offenen Fenster. Fast hoffte sie, seinen Kopf dort auftauchen zu sehen, damit er etwas rief, was sie zurückhielt. Doch alles blieb still in der Hitze des Nachmittags. Erst als sie sich den Starter drückt und der Motor mit einem dumpfen Gluckern ansprang, der dann in das vertraute Röhren überging, schien die Straße zu erwachen.

Tatjana klappte das Visier auf und bestieg das Motorrad, dann gab sie Gas. Nein, jetzt gab es kein Zurück mehr für sie. Hart biss sie die Zähne zusammen. Nichts durfte schiefgehen, ihr Plan musste ablaufen wie ein Uhrwerk.

Kapitel 1

Endlich war es still im Haus. Die letzte Tür hatte ihren Weg ins Schloss gefunden, die Scherben ihren Weg auf den Küchenboden. Irgendwo hörte Stefan noch ein leises Brummen, von dem er nicht wusste, woher es kam. Erst später begriff er, dass die Lampe, deren Schirm mitsamt der Birne zerschlagen worden war, noch Strom in sich führte, der nun ins Leere lief, da das Glas sich ebenfalls im Wohnzimmer verteilt hatte wie ein feiner Nebel.

Stefan merkte, wie die Anspannung langsam seinen Körper verließ. Noch immer zitterten seine Arme, auch die Beine bekam er nur schwer unter Kontrolle. Bei jedem Schritt durch das schweigende Haus hatte er den Eindruck, als würden sie am Boden kleben bleiben.

Im Wohnzimmer hatte es die Vitrine und die beiden Bilder an der Wand erwischt. Die Scherben hingen zum größten Teil noch in den Rahmen, aber eine von ihnen hatten eines der Gemälde mit einem sauberen Schnitt mit einem Messer fein säuberlich in der Mitte durchtrennt.

Vorsichtig zog Stefan mit spitzen Fingern die mächtige Scherbe aus dem Rahmen und legte sie behutsam auf den Boden, als hätte er Angst, sie würde zerbrechen.

Das Bild zeigte einen verschwommenen Kopf, der aus einzelnen Farbtupfern zusammengesetzt war, ähnlich einem Puzzle, das einen surrealen Umriss bildete. Stefan hatte den Maler, dem er das Bild seinerzeit abgekauft hatte, gut gekannt. Hinter dem Kopf war eine Art grauer Schatten gemalt worden, der nun wie durch einen abstrakten Schnitt vom Schädel getrennt worden war. Julia hatte in ihrem rohen Gewaltausbruch beinahe ein neues Kunstwerk geschaffen, ohne dass sie es gewollt oder geahnt hätte.

Stefan spürte, wie langsam die Kraft aus seinen Beinen wich. Er sah in den Sessel, doch auch hier funkelten kleinere Scherben wie roh aus dem Boden geschlagene Diamanten und schienen in ihrer unschuldigen Schönheit auf ihn zu lauern. Mit schweren Schritten ging er zurück in die Küche und versuchte den beiden aufgerissenen Schränken keine größere Beachtung zu schenken.

Schwer ließ er sich am Tisch unter dem Fenster nieder. Die von Julia so verachteten Zigaretten lagen in der Ecke hinter dem Vorhang, zusammen mit dem kleinen Aschenbecher für unterwegs und einem Feuerzeug.

Bis vor einer Stunde wäre es ihm streng untersagt gewesen, sich hier eine Zigarette anzuzünden, doch der Sturm hatte dieses Verbot mit sich gerissen. Stefan ließ das Feuerzeug aufschnappen, entzündete behutsam die Spitze der Zigarette und hörte ein leises Knistern, als der trockene Tabak Feuer fing und aufglühte.

Der Rauch suchte sich seinen Weg durch den Raum, tanzte in Richtung Decke und blieb dort schwer für einen Moment hängen, ehe er sich verflüchtigte. In einer mechanischen Geste griff Stefan nach dem Fenster und zog es auf.

Julia war fort, dieses Mal für immer. Ganz langsam sickerte dieser Gedanke in sein Bewusstsein. Im Gegensatz zu früher hatte sie dieses Mal nicht nur eine Reisetasche, sondern zwei Koffer bei sich, die sie hinter sich hergezogen hatte. Er sah sie noch, wie sie wütend in der Haustür gestanden und in übersteigerter Wut versucht hatte, beide Koffer gleichzeitig durch den Ausgang zu bekommen.

Drei oder vier Mal hatte sie die Koffer gegen den Türrahmen geknallt, vielleicht in der Hoffnung, dass dieser endlich nachgab und das ganze, von ihr zuletzt so gehasste Haus, wie ein Kartenhaus in sich zusammenstürzen lassen würde.

Doch der Stahl und der Beton hatten der Wut seiner Frau standgehalten. Stefan nahm einen Zug an seiner Zigarette und blies den Rauch hinaus in die warme Sommernacht. War sie überhaupt noch seine Frau, waren die beiden ein Paar?

Stefan lehnte sich zurück und schob die Hände in den Nacken. So konnte er zumindest seitlich einen Blick in den sternenlosen Himmel werfen.

Der Urlaub hatte sie also nicht wieder einander nähergebracht, ging es ihm durch den Kopf. Im Grunde genommen hatte er das bereits gewusst, als er ihren Blick gesehen hatte, nachdem ihnen die junge Frau vom Hotel das Zimmer aufgesperrt hatte.

„Was sollen wir hier eine Woche machen?” hatte sie ihn mit einer Stimme gefragt, die die Antwort bereits in sich getragen hatte.

Es waren so ziemlich die längsten sieben Tage seines Lebens geworden, angefüllt mit Sticheleien und Augen, die ständig auf der Suche waren nach etwas, was der Mund anschließend kritisieren oder bloßstellen konnte.

Sie waren alle an die Reihe gekommen: die anderen Gäste, die Angestellten, die Umgebung, die Wärme – fein säuberlich seziert und abgehakt, als hätte sie noch vor ihrer Ankunft eine Liste geschrieben, die sie nun, Punkt für Punkt abgearbeitet hatte.

Insofern war die Woche nicht umsonst gewesen, sie hatte auch Stefan Klarheit gebracht. Er hatte es nur nicht in Worte, schon gar nicht in solche Taten gefasst.

Doch war das ein Grund, wieder in diesen Jähzorn zu verfallen, von dem er geglaubt hatte, dass er längst überwunden wäre?

Hatte sie nicht einmal gesagt, sie könne die Stille nicht ertragen? Das hatte sie vor wenigen Minuten eindrucksvoll bewiesen. Dabei hatten ihr das Haus und seine Lage zunächst gefallen. Aber das bedeutet bei Julia nicht viel.

Stefan drückte die Zigarette aus und erhob sich. Obwohl es schon spät war, fühlte er keinen Funken Müdigkeit in sich. Wie hätte er nach diesem Abend auch schlafen können?

Für einen Moment stand er ratlos vor dem Hängeschrank. Eine der Türen hing nur noch an einem Scharnier, das obere war herausgebrochen. Er war hinzugekommen, als sie daran gerissen hatte. Daraufhin hatte sie die Tür losgelassen und mit einem Dreh ihres ausgestreckten Armes einen Stapel der Teller aus dem Schrank befördert.

Stefan sah die Scherben und entschloss sich, zunächst einmal in den Abstellraum unter der Treppe zu gehen, um einige der dicken, blauen Beutel zu holen. Das zerbrochene Geschirr konnte er nur noch entsorgen.

Er fand noch ein Paar der schweren Gartenhandschuhe, die ihn vor Verletzungen schützen würden, begann dann jedoch nicht in der Küche, sondern im Wohnzimmer mit seiner nächtlichen Aktion, zumindest die gröbsten Schäden zu beseitigen.

Schnell begriff er, dass Julias Zerstörungswut gar nicht so ungeplant und ziellos gewesen war, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Nein, sie schien ein sicheres Auge dafür gehabt zu haben, was ihm durch ihre Zerstörung am meisten wehtun würde.

Die Bilder holte er vorsichtig aus dem Rahmen, man konnte sie vermutlich restaurieren und wieder neu spannen. Doch die Ikonen waren unwiederbringlich verloren, das wurde ihm schnell klar. Sie waren nicht sonderlich wertvoll, daher würde sich kaum jemand finden, der sie zu einem vernünftigen Preis wieder in ihren alten Zustand versetzen würde.

Als sie ihren Weg in den blauen Sack fanden, spürte Stefan zum ersten Mal das unaufhaltsame Aufsteigen der Tränen. Sein Blick verschwamm, die Umgebung schien zu schwanken.

Er zog die Handschuhe aus und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Natürlich war es nicht ihr erster Streit gewesen, natürlich hatte sich Julia auch in der Vergangenheit manches Mal nicht wirklich beherrschen können und einzelne Dinge zerschlagen oder durch die Gegend geschmissen.

Doch nie zuvor hatte sie mit einer solchen Wut und derart gezielt gehandelt. Die Erkenntnis, dass er sie vermutlich nie wiedersehen würde, sickerte langsam in sein Bewusstsein.

Stefans Blick wanderte langsam durch das Wohnzimmer. Warum hatte sie all das mit einem Mal gehasst? Das Leben hier schien eine lange unterdrückte Wut in ihr zum Ausbruch gebracht zu haben, wie er sie nicht verstand. Ein riesiges Loch tat sich vor ihm auf und drohte, ihn einfach zu verschlingen.

Kapitel 2

„Die Luft ist auf jeden Fall völlig anders als in der Stadt. Ich freue mich auf den Frühling!”

Julia lachte leise und setzte den Karton mitten in dem leeren Raum ab. Schnaufend ließ sie sich nieder und wischte sich den Schweiß aus der Stirn. Sie schob die zu langen Arme ihres Pullovers ein Stück nach oben und betrachtete ihre Hände.

„Einen Nagel hat es auf jeden Fall erwischt”, stellte sie betrübt fest.

Stefan spürte ein hartes Ziehen im Rücken, als er seinen Karton durch die Tür wuchtete. Als er ihren kritischen Blick sah, riss er sich zusammen und schaffte es, die sperrige Pappe durch den Flur ins künftige Wohnzimmer zu wuchten und erst neben ihr aufzugeben.

„Das kommt ins Bad”, stellte sie mit einem Blick auf den großen, blauen Klebepunkt fest. Das Lachen hatte ihr Gesicht verlassen.

„Ich weiß”, schnaufte Stefan und rang nach Luft. „Aber ich brauche einen Moment.”

Sie verzog die Lippen, nickte nur und erhob sich wieder.

„Du solltest das Rauchen und die Süßigkeiten lassen”, stellte sie mit einer eigentümlichen Mischung aus Schroffheit und Zärtlichkeit in der Stimme fest. Dann ging sie zurück zum Wagen, um die nächste Kiste zu holen.

Stefan biss die Zähne zusammen, versuchte, nicht aus dem Rücken, sondern mit Hilfe der Knie zu heben, was gründlich misslang. Ein kleiner, fieser Stich wanderte durch seinen linken Oberschenkel.

Er war der festen Überzeugung, dass das neue Haus ihre Beziehung retten würde. Hatte Julia nicht ständig vom Leben auf dem Lande geschwärmt, solange sie die Wohnung in der Stadt bewohnt hatten? Wie hieß dieses Paar, bei denen sie zu Gast gewesen waren? Nach eigenen Worten hatte sich Julia sofort in den Wintergarten verliebt.

Und sie hatte ohne Zögern zugestimmt, als Stefan ihr von dem Fund des Maklers berichtet hatte. Die Bilder hatten sie regelrecht ins Schwärmen gebracht, sie hatte sie immer wieder ihren Bekannten wie eine Trophäe auf dem Smartphone gezeigt. Auch bei der Besichtigung war alles glattgegangen, sie hatte Gefallen an der Nähe zum Wald gefunden.

Die Tatsache, dass es ein wenig abseits der Stadt lag, hatte sie, wie Stefan befürchtet hatte, nicht nur nicht gestört, es hatte sie regelrecht beflügelt.

„Manchmal”, hatte sie auf der Rückfahrt zufrieden festgestellt, „braucht man einfach Abstand zu den Menschen und dem ganzen Trubel.”

Er hatte ihre Bemerkung nicht wirklich verstanden, aber auch nicht weiter nachgefragt.

Stefan wuchtete die Kiste mit letzter Kraft in das Badezimmer. Ein leichter Schwindel erfasste ihn, er setzte sich auf den Rand der Wanne. Für einen Moment wurde ihm bewusst, wie viele Kisten in dem Lieferwagen noch darauf warteten, ins Haus getragen zu werden.

Warum hatte er sich darauf eingelassen, diese verfluchten Kisten selbst schleppen zu wollen? Immerhin hatte das Umzugsunternehmen die meisten der Möbel aufgestellt. Er war handwerklich alles andere als begabt und hätte es kaum ertragen, die schweren Schränke alleine aufzustellen, während Julia in seinem Rücken heimlich oder ganz offen über ihn gelacht hätte.

Er wischte sich den Schweiß aus der Stirn, stemmte sich auf die Oberschenkel und schwang sich in die Höhe. Seine Beine schmerzten jetzt bereits, aber er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.

Julia war dabei, irgendwelche Bücher in den Schrank zu räumen. Sie sah in ihrer engen Jeans und dem karierten Hemd, dass sie dekorativ unter den Brüsten zusammengeknotet hatte, fantastisch aus. Die langen, braunen Haare hatte sie zu einem lässigen Pferdeschwanz gebunden und mit einem hellen Tuch um die Stirn gesichert. Im Gegensatz zu ihm zeigte sie keinerlei Ermüdungserscheinungen, aber sie war auch trainierter als er, es war ihr Job, fit zu sein und gut auszusehen.

„Du siehst aus, als könntest du eine Pause vertragen”, sagte sie. Er hatte keine Ahnung, ob sie es fürsorglich oder abfällig meinte.

„Ach, ein wenig Schweiß hat noch niemandem geschadet”, erwiderte er und versuchte, dabei möglichst lässig zu klingen. Er zog die Schultern nach hinten unten und richtete sich auf.

„Soll ich die Kiste im Bad erst ausräumen?” fragte er und stellte sich vor, dass es einfacher war, einzelne Kosmetika zu verteilen anstatt schwere Kisten zu wuchten. Ein wenig setzte er seine Hoffnung auf Alex, der versprochen hatte, nach seiner Arbeit noch vorbei zu schauen. Aber den Worten seines Bekannten war wenig zu trauen, immerhin war er Anwalt.

„Nein, lass es, das mache ich selbst”, stellte sie mit einem Flöten fest, legte die Bücher beiseite und ging an ihm vorbei. Dabei verströmte sie ihren typischen, leichten Sommerduft nach Zitrone mit einem kleinen Hauch Minze.

Die Kampagne für das Parfüm war ihr bisher größter Job. Schon übermorgen würde sie für eine Woche nach Hamburg gehen für irgendeinen Spot oder Fotos. Stefan musste gestehen, dass er es vergessen hatte und lieber nicht nachfragte. Julia konnte sehr nachtragend sein, wenn man Dinge vergaß, die sie vermutlich in aller Ausführlichkeit erzählt hatte, so dass er während der Schilderung irgendwann den Faden verloren hatte.

Stefan blieb nichts, als mit einem Lächeln ihren flüchtigen Kuss entgegen zu nehmen und sich dann zurück nach draußen zu dem Lieferwagen zu quälen. Er hätte dringend eine Pause gebraucht, aber obwohl er sich nun unbeobachtet fühlte, riss er sich zusammen.

Die nächste Kiste entpuppte sich als erstaunlich leicht, beinhaltete irgendwelche Decken oder Küchenutensilien. Stefan hatte für den Moment vergessen, wofür der rote Kleber stand. Zum Glück sah er die Kiste mit dem roten Aufkleber im Flur stehen und begriff, wohin er seine Last stellen musste.

„Die anderen Kisten mit den Büchern müssen als nächstes rein!”

Julia kaute auf einem Müsli-Riegel herum. Sie wirkte tatsächlich, als wäre sie gerade aus der Dusche gekommen. Stefan hatte es vergessen, aber sie hatte ihm irgendwann mal etwas von dauerhaftem Make-up erklärt. Oder lag es schlicht an der Tatsache, dass er die schweren Kisten stemmte?

„Ich muss erst mal was trinken”, brachte er mit müder Stimme hervor. Er war einfach nicht trainiert genug für diese Art der dauerhaften, körperlichen Belastung.

Julia rollte lediglich mit den Augen und drehte sich weg, eine der höchsten Formen ihrer Bestrafung.

„Ich mache mich jetzt auf den Weg in die Wohnung”, sagte sie mit abschätziger Stimme, steckte das Papier des Riegels in die enge Tasche ihrer Jeans und suchte nach den Wagenschlüsseln. Sie winkte noch einmal, spitzte die Lippen. „Du machst das schon. Ich bin noch ganz kurz bei Hannah!”

Er hob den Daumen und fand gleichzeitig, dass die Geste reichlich albern wirkte.

Stefan suchte sich eine ruhige Ecke bis er die Bremslichter ihres kleinen Sportwagens sah und zog sein Mobiltelefon heraus. Er wählte die Nummer, die er schon längst hätte anrufen sollen. Ein Blick in den Fond des Lieferwagens hätte für eine Antwort und eine Erklärung gereicht.

Die Männer waren nicht billig, aber sie kamen aus der Nähe und waren sofort verfügbar. Er würde ihnen das Geld bar geben, dazu ein sattes Trinkgeld, das würde die Sache beschleunigen.

Inzwischen kannte Stefan die Verabredungen von Julia, wobei er in diesem Fall davon ausging, dass sie sich vor dem Ausladen und Einräumen drücken wollte, es jedoch nie im Leben zugegeben hätte.

Stefan blinzelte in die Sonne, die, gleich einem Zeichen, zwischen einigen schweren Wolken hervorbrach und ihre wärmenden Strahlen gen Erde schickte. Er holte eine Zigarette aus seinem Versteck und zündete sie an. Diese halbe Stunde würde er seine müden Muskeln schonen um dann mit den Männern den Wagen zu leeren.

Er hoffte inständig, dass Julia nicht vor ihrer Zeit zurückkehrte, auch wenn es lächerlich erschien. Er war ein erwachsener und gutverdienender Mann und jederzeit in der Lage, sich Hilfe zu engagieren. Zumindest redete er sich das ein, während sein Blick immer wieder unsicher die Einfahrt hinunterwanderte.

Kapitel 3

Mit der gesunden Hand angelte sich Stefan den Verbandskasten aus dem Verschlag. Er klemmte ihn sich unter den Arm und trug ihn so in die Küche, wo er ihn geschickt mit der gesunden Hand öffnete. Dann entfernte er vorsichtig das Küchenpapier von der Schnittwunde, hielt die verletzte Hand unter fließendes, kaltes Wasser um das Blut und einige Fetzen Papier abzuspülen.

Stefan nahm ein Stück blutstillende Watte und legte es behutsam über die Wunde, die bereits wieder zu bluten anfing.

Mit einem Pflaster befestigte er ein Ende des Verbands, um ihn dann zwischen Daumen und Zeigefinger zu wickeln und so die Watte zu sichern. Schließlich hatte er es geschafft. Seine Hand schmerzte nicht, aber sein Daumen fühlte sich ein wenig taub an. Hoffentlich hatte er keine Sehne verletzt, ging es ihm durch den Kopf.

Er hatte einen scharfen Splitter vorsichtig aus eine der Rahmen heben wollen, um den Rahmen auf diese Weise zu retten. Unklugerweise hatte er dabei seine Handschuhe nicht wieder angezogen, die Rache folgte auf dem Fuß.

Wenn Stefan aufsah, konnte er die blutige Spur sehen, die er auf dem Weg vom Wohnzimmer in die Küche hinterlassen hatte. Wieder etwas, um das er sich würde kümmern müssen. Doch inzwischen war es weit nach Mitternacht, er spürte, wie die Müdigkeit mehr und mehr Besitz von ihm ergriff. Zudem hatte er nur noch eine gesunde Hand.

Julia hatte sich nicht gemeldet. Insgeheim hatte er es gehofft, immer wieder einen Blick auf sein Handy geworfen, doch alles blieb still.

Die Hand fing an zu ziehen. Stefan legte den Kopf in den Nacken, die Stille fing an, auf ihn zu drücken wie eine zu schwere Decke, die über dem Kopf liegt und beginnt, das Atmen schwer zu werden zu lassen.

Stefan quälte sich auf die Beine, ging ins Schlafzimmer, das er seit dem Beginn des Sturmes nicht betreten hatte. Auf den ersten Blick wirkte es wie immer. Julia hatte einige Schubladen aufgerissen, anscheinend etliche Kleidungsstücke eingepackt und sie offengelassen.

Es sah so aus, als würde ihm die Kommode rechts neben den Betten die Zähne zeigen und ihn verhöhnen wollen. Mechanisch schloss Stefan den Schrank und schob die Laden zurück, der Raum sah aus wie immer. Die Seite mit Julias Bett war unberührt, auch ihre Sammlung an Kissen hatte sie zurückgelassen. Nur die beiden kleinen Stoffhunde, ein Geschenk von einem bekannten Mode-Designer, waren verschwunden.

Ja, zweifellos war ihr der Abschied dieses Mal ernst. Es war nicht mal die massive Verwüstung, die sie in ihrer Wut hinterlassen hatte, es war die Art ihrer Schritte gewesen, wie sie über den Flur gehallt waren. Sie hatte die Tür nicht ins Schloss fliegen lassen, sie hatte sie fast behutsam hinter sich geschlossen.

Stefan quälte sich aus seinen Schuhen, der Hose und dem Hemd. Ohne noch einmal ins Bad zu gehen, ließ er sich auf sein Kissen sinken und schloss die Augen. So gut es ging versuchte er, seine Hand zu schonen.

Er war sich sicher, keinen Schlaf zu finden, doch irgendwann schreckte er hoch. Ein heller Strahl Morgensonne traf vom Fenster auf die obere Kante des Schrankes und reflektierte von dort wie ein langgezogener Scheinwerfer. Stefan starrte für einen Moment verwirrt in das Licht.

Ich habe nur geträumt, dachte er und zuckte hoch. Im gleichen Moment zog ein scharfer Schmerz durch seine Hand und beendete jede Chance darauf, dass es sich tatsächlich nur um einen Traum gehandelt hatte.

In der Nacht war der Verband durchgeblutet, auch auf dem Laken hatte sich ein kleiner, kreisrunder Fleck gebildet. Stefan erhob sich und hörte gleichzeitig das Brummen eines Motors, der den Weg zum Haus hinaufkam.

Um sein Haus herum gab es nur zwei weitere Anwesen, ein leerstehendes Haus hinter dem Rasen und, direkt am Fuße des Wanderweges auf der gegenüber liegenden Straßenseite ein zweites Haus, das von einem älteren Ehepaar als eine Art Ferienwohnung benutzt wurde. Insofern war es relativ wahrscheinlich, dass der Fahrer zu ihm wollte.

Am Geräusch des Motors erkannte Stefan sofort, dass es unmöglich Julia sein konnte, die aus irgendeinem Grund doch den Weg zu ihm zurückfand. Er erhob sich, sah aus dem Fenster auf die Straße und erkannte einen weißen Geländewagen, der in langsamem Tempo näherkam, etwas überflüssigerweise den Blinker setzte und dann direkt hinter Stefans Wagen zum Halten kam.

Erst jetzt sah Stefan, dass Julia sich, wofür auch immer, auch an seinem Wagen gerächt hatte. Der lange Kratzer deutete auf einen Schlüssel hin, den sie nicht unter Kontrolle gehabt hatte.

Der Mann, der dem weißen Fahrzeug entstieg, sah aus wie eine Karikatur eines Mannes, der aus einem Indiana-Jones-Film gestiegen war. Er trug eine beige Hose mit aufgesetzten Taschen, Stiefel, ein kariertes Hemd, darüber eine Weste mit mindestens zehn weiteren Taschen. Auf dem Kopf hatte er einen breitkrempigen, ebenfalls beigen Hut, den er, kaum, dass er ausgestiegen war, in den Nacken schob, um sich den Schweiß aus dem Gesicht zu wischen.

Stefan schätzte ihn auf vielleicht fünfzig Jahre, eher noch etwas älter. Er trug eine kleine, runde, randlose Brille und hatte unter dem Kinn einen sorgfältig gestutzten, weißen Ziegenbart.

Natürlich kannte Stefan wegen Julia und ihrem Beruf einige Leute, die so wirkten und auftraten, dass man sie ohne Probleme als exzentrisch bezeichnen konnte. Aber ein verhinderter Großwildjäger befand sich nicht darunter. Der Mann öffnete die hintere Tür des Wagens und Stefan erwartete, dass er im nächsten Moment eine Flinte hervorholte. Doch es war nur eine Flasche Wasser, aus der er einen kräftigen Schluck nahm.

Stefan zog sich zurück, als der Mann die Flasche wieder verschlossen hatte und sich dabei suchend umsah. Er warf einen missmutigen Blick auf seinen blutigen Verband. Derzeit hatte er wirklich andere Sorgen als einen Idioten, der aussah, als wolle er auf Elefantenjagd gehen oder erfundene archäologische Schätze ausgraben.

Nur wenige Sekunden später klingelte es an der Haustür. Stefan überlegte, dass er gestern Nacht die Rollos zwar nicht heruntergelassen, doch wenigstens die Türen verschlossen hatte. Insofern konnte er sich einfach tot stellen in der Hoffnung, dass der Mann an einem anderen Ort auf die Jagd gehen würde.

Er ging ins obere Bad, wechselte vorsichtig den Verband. Die Wunde machte alles andere als einen guten Eindruck. Außerdem pochte die Hand, was ebenfalls kein gutes Zeichen war. Wenn ein neuer Verband keine Abhilfe schaffte, würde Stefan nichts Anderes übrigbleiben, als zum Arzt zu gehen.

Er desinfizierte die Wunde, was höllisch brannte und ihm die Tränen in die Augen trieb. Vermutlich wendete er das Mittel völlig falsch an. Anschließend verband er sie so gut er es konnte und wusch sich das Gesicht. Als er das Badezimmer verließ, hörte Stefan erneut, dass die Klingel anschlug.

Offenbar hatte der Mann auf Safari nicht aufgegeben. Stefan merkte, wie der fehlende Schlaf, die Schmerzen in der Hand und das Chaos, das unten im Haus auf ihn warten würde, den Ärger gegen den Störenfried steigerten. Entschlossen warf er sich einen leichten Bademantel um die Schultern und ging nach unten.

Mit einem unwirschen Ruck riss er die Haustür auf und hatte eine scharfe Bemerkung auf der Zunge.

„Auf eine mögliche gute Nachbarschaft”, kam ihm der Jägersmann zuvor und bremste mit einem strahlenden Lächeln Stefans Wortschwall.

Kapitel 4

„Was?” Stefan glotzte ihn verblüfft an.

„Ich habe Sie doch nicht geweckt?” fragte der Mann ungläubig mit seiner tiefen, rauen, dunklen Stimme, die wirkte, als hätte er sie aus einem Werbespot geklaut.

Stefan klappte den Mund auf, doch ehe er antworten konnte, hatte der Mann schon weitergeredet.

„Sagen Sie, ich kam nicht umhin, das Klingelschild zu lesen. Julia Frankenberg, das ist Ihre Frau?”

„Ja, das ist meine Lebensgefährtin”, brummte Stefan unwillig, im Gedanken immer noch bei seinem verhinderten Wutausbruch.

„Aber nicht DIE Julia Frankenberg?”

Es war bisher zweimal vorgekommen, dass Männer an der Tür geklingelt und nach Julia gefragt hatten. Man kannte ihr Gesicht, aber ihr Name trat im Allgemeinen hinter ihrer Erscheinung zurück. Einige Male hatte Stefan sie zu größeren Veranstaltungen begleitet, es war jedes Mal anstrengend und langatmig gewesen. Doch die Veranstaltungen hatten nicht für größeres Interesse in der Allgemeinheit gesorgt.

Es konnte passieren, dass sie zusammen durch die Stadt liefen und angesprochen wurden, weil jemand ihr Gesicht erkannte. Aber dann fehlte ihm oder ihr der Name dazu.

Es kam ganz auf Julias Stimmung an, wie sie auf so etwas reagierte. Einem der Besucher hatte sie mit der Polizei gedroht, obwohl er augenscheinlich ein harmloser Bursche gewesen war. Manches Mal machte sie jedoch bereitwillig Selfies und strahlte mit zwei ausgestreckten Fingern in die Linse des jeweiligen Smartphone.

Julia unterhielt keine Seiten in sozialen Netzwerken. Sie war über einige Angebote ihrer Agentur dort existent, aber Julia war viel zu inkonsequent, um in ihrer Freizeit solche Seiten zu pflegen. Vermutlich hatte das auch einen größeren Durchbruch verhindert, obwohl ihr Name in der Branche bekannt waren. In ihrer Arbeit war sie, im Gegensatz zu ihrem Privatleben, zuverlässig.

„Ja”, stellte Stefan mit einem Seufzer fest, „es ist die Julia Frankenberg. Aber sie ist nicht zu Hause, insofern kann ich leider nicht mit einem Foto dienen.”

Er hatte vor, mit diesen Worten die Tür zu schließen, doch der Blick des ungebetenen Besuchers wanderte an Stefan zu seiner Hand herunter.

„Sie bluten”, stellte er mit einem eigentümlichen Tadeln in der Stimme fest.

---ENDE DER LESEPROBE---