Ein Engel namens Max - Olaf Hauke - E-Book

Ein Engel namens Max E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Max ist ein erfolgreicher Provinzanwalt. Er könnte glücklich und zufrieden sein, wäre nicht seine Frau mit dem ungeborenen Kind bei einem Unfall ums Leben gekommen …Saskia ist eine alleinerziehende Mutter. Für einen Job bei einem Video-Dreh hat sie ihr Kind bei seinem Erzeuger gelassen. Aber mit dieser Entscheidung ist sie alles andere als glücklich …Und dann berühren sich ihre Leben für einen kurzen Moment. Aber kann daraus eine Liebe entstehen? Denn da gibt es auch noch diesen Musiker und die gutaussehende, immer treue Sekretärin …

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Ende

Ein Engel namens Max

(überarbeitete Ausgabe)

Olaf Hauke

2022

Copyright 2013/2022 by Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

T. 015758897019

[email protected]

Cover Shutterstock – Anna Ismagilova

Kapitel 1

„Nein, Tante Caroline, du kannst deinen Nachbarn nicht verklagen, weil er seine Kinder Seil springen lässt. Sie mögen dick sein und dabei lachen, aber das ist nicht verboten. Und ich verspreche dir, es ist auch keine Kinderarbeit. Ich würde es eher als Spiel oder Sport bezeichnen.“

Max Lessing lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück, schob die Hände hinter den Kopf und unterdrückte ein Gähnen. Es war anstrengend mit Tante Caroline, außerdem hatte er schon einen langen Tag in diesem Stuhl hinter sich gebracht.

Mindestens einmal die Woche schob sie ihre massige Gestalt durch die Tür seines Büros, natürlich ohne sich um einen Termin zu kümmern, ließ sich auf den Besucherstuhl an seinem Schreibtisch sinken, zupfte noch einige Male an dem Rock, den sie trug und begann ansatzlos, über ihre Nachbarn zu klagen. Mal waren es die Kinder, mal der Hund, mal lachten sie beim Grillen, dann hatten sie falsch geparkt.

Vor drei Jahren hatte der Mann das Grundstück neben dem Haus von Tante Caroline erworben, für sich, seine Frau und seine beiden Töchter. Und seit diesem Zeitpunkt machte Tante Caroline ihnen das Leben zur Hölle, zumindest bemühte sie sich nach Kräften. Max hatte den Mann kennengelernt, er war ein freundlicher Elektriker, der sich selbständig gemacht hatte und offenbar nicht schlecht verdiente. Diese Tatsache hätte Tante Caroline vermutlich nicht gestört, aber die Eltern des Mannes stammten nun mal aus der Türkei. Das beschäftigte die ältere Dame.

Schließlich, so hatte sie einmal gesagt, würde man ja ständig in der Zeitung lesen, was die Türken so alles anstellen würden, diese ganzen Türken, auch die in den anderen Ländern im Süden. Max hatte ihr einige Male versucht zu erklären, dass diese Menschen zwar vermutlich ebenfalls Moslems waren, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Türken, doch mit solchen Details hielt sich Tante Caroline nicht auf. „Du sitzt jeden Tag in diesem muffigen Büro und liest in deinen Gesetzen, du weißt nicht, was in der Welt los ist“, hatte sie entgegnet und dabei ihren auffällig geschminkten Mund verzogen.

Max hatte den Mann schließlich vor Tante Caroline warnen müssen, und zu seinem Erstaunen hatte der nur gelacht und überraschend viel Verständnis für die ältere Dame gezeigt, die immerhin schon stramm auf die Achtzig marschierte. Seit Onkel Roberts Tod vor acht oder neun Jahren schmiss sie ihren Haushalt alleine und mit einer beachtlichen Energie. Möglicherweise trug nun der Zorn auf ihre Nachbarn dazu bei, ihren Lebenswillen ungebrochen aufrecht zu halten. Alles hatte eben irgendwie auch sein Gutes, dachte sich Max verschmitzt.

„Du wirst dich darum kümmern, versprichst du mir das?“ sagte sie und musterte ihren Neffen streng.

„Aber natürlich, ich werde wie immer tun, was in meiner Macht steht“, sagte Max und sah auf die Uhr. Es war kurz nach fünf, er hatte sein Büro schon vor einiger Zeit verlassen wollen. Mittwochs ging er, wenn auch in den letzten Jahren zunehmend lustloser, zum Kegeln. Aber auf diese Weise betrieb er Mandanten-Pflege und kam aus dem Haus. Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, Marina eine Rechnung schreiben zu lassen für die Beratungen, doch dann winkte er innerlich ab. Vermutlich würde seine Tante sie einfach in den Müll werfen und erklären, sie hätte das Schreiben nie erhalten. In ihrer Welt bedeutete das, nicht zahlen zu müssen.

„Du musst härter durchgreifen. Am besten, du klagst sie aus dem Haus, dann hätten wir alle unsere Ruhe und könnten in Sicherheit leben!“ Damit stemmte sie sich vom Stuhl hoch, ordnete mit dem Kichern eines kleinen Mädchens ihren Rock und rauschte ohne einen Gruß aus dem Büro.

Max sah ihr mit einem müden Lächeln nach. Sie war seine sechste Mandantin am heutigen Tag gewesen. Nun ja, streng genommen keine Mandantin, die Geld gebracht hatte, aber zumindest das sechste Gespräch. Er erhob sich wie im Zeitlupentempo und sah gedankenverloren auf die Schatten, die jetzt am frühen Abend ganz langsam in die Länge wuchsen und aus der Karaffe und den drei kleinen Gläsern, die seine Sekretärin jeden Morgen liebevoll dekorierte und auffüllte, eine Art Gemälde schufen, gezeichnet in schwarzer Kohle auf den polierten kleinen Tisch neben der Sitzgruppe aus blauem Leder, die er erst letztes Jahr neu angeschafft hatte. Daneben dekorierte Marina jeden Tag einen Strauß Blumen, der dem nüchternen Büro eine wohnliche, fast behagliche Note verlieh.

Er liebte diese stillen Augenblicke, in denen die kleine Welt, die ihn umgab, den Atem anhielt und sich einfach nur auf ein großes, herrliches Nichts konzentrierte. Sie überfielen ihn immer am Morgen oder jetzt, kurz vor Feierabend. Max schob die Hände in die Hosentaschen und hörte die Schritte seiner Sekretärin draußen auf dem Flur. In wenigen Augenblicken würde sie leise die Klinke zu seiner Bürotür herunterdrücken, ihren freundlichen, braunen Lockenkopf durch den entstandenen Spalt schieben und mit ihrer melodischen Stimme fragen, ob er sie noch benötigte. Nein, würde er lächelnd sagen und ihr einen schönen Feierabend wünschen. Sie würde ihm noch viel Glück beim Kegeln wünschen und sich anschließend mit dem rhythmischen Hämmern ihrer Absätze auf dem Holzboden verabschieden. Sie würde ihre Tasche nehmen, die sie schon griffbereit gepackt hatte und wenige Augenblicke später würde die Tür zur Kanzlei sanft ins Schloss fallen.

Erst dieses Geräusch machte Max bewusste, dass alles, was er sich soeben vorgestellt hatte, schon wirklich passiert war. Er nahm sich die Brille ab und rieb sich die Augen. Seit Julias Tod hatten ihm bereits einige Leute eine Affäre mit seiner Sekretärin angedichtet. Es hätte ja auch durchaus gepasst: Der etablierte Rechtsanwalt in der Provinz, der durch einen tragischen Unfall seine Frau verliert und sich mit der bildhübschen Sekretärin tröstet. Diese Logik hatte nur zwei Schwachstellen: Erstens liebte Marina ihn nicht, und zweitens war sie, soweit er das wusste, glücklich verheiratet. Hatte sie der Mann nicht schon einmal abgeholt und Max dabei die Hand geschüttelt? Er überlegte, vermochte jedoch nicht, sich genau zu erinnern.

Max mochte sie, das stimmte schon, aber er war sich sicher, dass von ihrer Seite aus nur Tüchtigkeit und Loyalität zu der Kanzlei standen. Da war kein rauschendes Blut in den Ohren, keine Tagträume, kein aufgeregtes Kribbeln, es war einfach nur Marina, die zuverlässig seine Termine machte, die Korrespondenz erledigte, Kaffee bereitete, für die Mandanten da war und die Buchführung im Auge behielt. Er konnte sich blind auf sie verlassen und zahlte ihr dafür ein gutes Gehalt, was er sich mehr als leisten konnte. Schließlich war er hier am Ort der einzige Anwalt, die Klienten strömten nicht übermäßig, aber doch auskömmlich.

Er legte sich bedächtig das Sakko, das er heute Morgen ausgezogen und säuberlich auf den Bügel in den kleinen Schrank in der Ecke gehängt hatte, über die Schulter und zog die Schlüssel für die Vordertür hervor.

Alles hätte so schön, so beschaulich sein können, wäre da nicht dieser Tag gewesen, diese Sekunde, dieser furchtbare brennende Augenblick. Er drehte sich zur Tür und ihm war, als stünde der Polizist wieder da, genau am gleichen Fleck wie damals, zusammen mit einer zweiten Beamtin, zögernd, fast gehemmt. Ein zwei-Meter-Mann, nach Worten ringend. Er konnte sich nicht einmal mehr genau an die Worte erinnern, die der Mann gesagt hatte. Es war einfach schwarz um Max geworden, um jenen Augenblick hatte sich ein gnädiger Schleier gelegt, der sanft dieses Erlebnis aus seinem Gehirn verbarg.

Max holte noch einmal tief Luft, machte einen großen Schritt über die Schwelle, um sie nicht zu berühren und zog die Tür hinter sich zu. Hier im Vorraum lag noch der Geruch von seiner Sekretärin und ihrem süßlichen, schweren Parfüm in der Luft, gemischt mit dem von aufgebrühtem Kaffee.

In alter Gewohnheit sah Max noch einmal über den Empfangstresen und erhaschte einen Blick auf den Terminplan für morgen. Marina hatte, da sie wusste, dass es bei Max heute später werden konnte, den ersten Mandanten erst für zehn Uhr bestellt. Der Name sagte dem Rechtsanwalt nichts, aber er war immer gespannt auf neue Geschichten, die neue Gesichter in das Büro der Kanzlei trugen.

Mit schnellen Schritten lief er die kleine Treppe hinunter und fand sich am Rande des Marktplatzes von Steinheim wieder. Die Sonne war inzwischen noch ein Stück tiefer gesunken, überzog die Fassaden der Fachwerkhäuser, die sich wie ein Wall um den kleinen Platz versammelt hatten, mit einer ockerfarbenen Schicht. Eine Radfahrerin zog fast bedächtig an ihm vorbei und grüßte mit einem beiläufigen Nicken, das Max höflich erwiderte. Hier in der Kleinstadt kannte man die Gesichter des Gegenübers. Die Frau auf dem Fahrrad arbeitete in der Metzgerei, in der sich Max manchmal mittags ein Brötchen und einen Becher Kaffee gönnte.

Die Welt war hier ruhig und berechenbar, mit Bedacht hatte er seine Heimat nach dem Studium im hektischen Berlin wieder aufgesucht und sich hier mit Julia niedergelassen. Er drückte das Sakko ein wenig fester an seinen Körper und ging am Postamt und dem Juwelier vorbei. Auch dort war man dabei, die Türen zu verschließen und sich auf einen weiteren Feierabend in der Provinz vorzubereiten.

Auch der Juwelier, der gerade die Eisengitter vor der Eingangstür herunterließ, winkte ihm mit einem freundlichen Lächeln zu. Er strahlte unter dem silbergrauen Toupet, anscheinend hatte seine Frau noch nichts von der Affäre mit der hübschen Verkäuferin mitbekommen, dachte Max.

Ein merkwürdiger Mann, überlegte Max unvermittelt. Er hatte eine attraktive Frau, gesunde Kinder, ein schickes Haus vor den Toren der Stadt und trotzdem trieb es ihn in die Arme einer blondierten, viel zu dünnen, etwas einfältig lächelnden Frau, die genauso gut seine Tochter hätte sein können. Möglicherweise gab es einen Zusammenhang mit dem Toupet?

Tante Caroline wäre entsetzt gewesen, hätte sie beobachten können, wie ihr Neffe hinter dem Juwelier in die Querstraße einbog und bei dem Griechen Essen für daheim kaufte. Vermutlich hätte sie den Griechen sowieso als Türken bezeichnet, was den Mann mit Sicherheit tödlich beleidigt hätte. Aber da Max inzwischen erfahren hatte, dass gegen den Wirt des Gasthauses, in dem er mittwochs kegelte, mehrere Anzeigen des Gesundheitsamtes liefen, zog er es vor, dort lediglich ein Bier zu trinken in der Hoffnung, dass sich keine der Anzeigen auf die Zapfanlage bezog. Der Grieche dagegen war laut, etwas stickig und schaute ständig mit einem Auge auf den Fernseher in der Ecke, der irgendwelche Fußballspiele übertrug, aber im Gegensatz zu dem deutschen Gasthof hielt er sich an die Hygiene-Vorschriften.

Nach einigen Minuten verließ Max das Restaurant mit einer Tüte, aus der ein verführerischer Duft nach gebratenem Fleisch eindringlich lockte. Jetzt hatte er einen kurzen Fußmarsch vor sich zu dem Haus, das sie vor einigen Jahren für Drei erworben hatten und in dem er jetzt alleine leben musste. Und nur die Aussicht auf sein Abendbrot und die Möglichkeit, einige Zeit in der Gastwirtschaft verstreichen zu lassen, ließen seine Schritte schneller werden.

Kapitel 2

„Nicht vergessen, Kinder, wir haben nur diese eine Woche. Wenn die Aufnahmen bis dahin nicht im Kasten sind, werden wir kein weiteres Budget erhalten. Also reißt euch zusammen und sauft nicht die ganze Nacht, damit ihr am Tag fit seid!“ Charly hatte seine Ansprache beendet und ließ sich wieder auf den Sitz des Busses fallen, der das ganze Team nach Steinheim gefahren hatte. Er schürzte die Lippen, da er massive Zweifel hegte, dass ihm jemand überhaupt zugehört hatte. Die Provinz war immer die Hölle, das hatte er schon einige Male erlebt. Es gab keine Abwechslung, nur ein oder zwei Kneipen, die ziemlich billig Alkohol verkauften. Und das Team fiel über diese Läden her wie Heuschrecken über einen Acker. Er hatte dann den Ärger am Hals und am nächsten Tag eine Crew, die kaum mehr wusste, wie sie hießen.

Saskia saß hinten im Bus, unter ihr hatte die letzten drei Stunden eines der Hinterräder gebrummt und ihr den Po massiert, bis er eingeschlafen war. Nun versuchte sie, sich ein wenig zu strecken und auf das zu konzentrieren, weshalb sie hier war. Sie schob jeden Gedanken an Paul nach hinten, doch im selben Moment begann ihr Handy endlich zu surren. Vierzehn SMS hatte sie Jonas bereits geschickt, seit sie mit dem Bus gestartet waren, doch nicht eine Antwort war gekommen. Sie hatte bereits mehrfach die Idee verflucht, ihren kleinen Paul seinem Vater zu überlassen.

Hastig öffnete sie die Botschaft: Alles Cool, Paulchen macht die Wohnung unsicher, gleich gibt es Grießbrei! Gruß, Jonas. Sie las die Zeilen einige Male und stellte fest, dass sie die Worte nur halb beruhigten. Schließlich konnte Jonas alles Mögliche in sein Mobiltelefon tippen. Andererseits, er liebte den Kleinen, das tat er wirklich. Auch wenn er ein unzuverlässiger Kerl war, der vermutlich in hundert Jahren noch immer keine Arbeit gefunden hatte, für den Jungen hatte er bisher so gut gesorgt, wie er konnte, nicht unbedingt finanziell, aber doch emotional.

Saskia kaute nachdenklich an der Unterlippe.

Die Arbeit würde nur eine Woche dauern, dann war sie wieder bei ihrem Kleinen. War sie eine Rabenmutter? Aber der Junge hatte doch immerhin seinen Vater. Vermutlich würde er sich weniger um die Windeln kümmern, aber er würde für ausreichend Spaß und Abwechslung sorgen.

Und diese Arbeit hier war ihre Chance, wieder Fuß zu fassen. Nach der Lehre als Friseurin hatte sie sich in das Abenteuer gestürzt und mit ihrem Ersparten eine Weiterbildung zur Maskenbildnerin an der Berufsschule gemacht. Alles wäre gut gegangen, hätte sie nicht Jonas kennengelernt, diesen Idioten, mit dem sie gefeiert und anschließend nicht verhütet hatte. Das war ihr zum ersten Mal im Leben passiert und hatte sofort diese massiven Konsequenzen nach sich gezogen. Noch heute wurde ihr schlecht, als sie an den Augenblick dachte, nachdem sie von der Schwangerschaft erfahren hatte. Eine feine Gänsehaut kroch ihre Arme empor, sie versuchte, ihren Hintern wieder ein wenig durchzustrecken, um die Durchblutung anzuregen. Gott sei Dank saß sie alleine in der Sitzreihe.

Komisch, dass sie nie daran gedacht hatte, Paul abtreiben zu lassen, auch wenn sich ziemlich schnell gezeigt hatte, dass Jonas alles andere als ein geeigneter Vater war. Er kümmerte sich keinen Deut um eine Arbeit, lebte in den Tag hinein und hing irgendwelchen unerreichbaren Träumen hinterher. Eines Tages würde er mit seinen programmierten Spielen ganz groß raus kommen war seine Lieblingsgeschichte.

Als sie das kleine, hilflos schreiende, rote Bündel in ihren Armen gehalten hatte, wusste sie, dass ihre Entscheidung, trotz aller Widrigkeiten, richtig gewesen war. Paul war angekommen und hatte seitdem ihr Leben im Griff.

Und dann war dieser Anruf von der Agentur gekommen, bei der sie zwar gemeldet war als arbeitssuchende Maskenbildnerin, aber nie etwas gehört hatte. Man bot ihr die Möglichkeit an, als Aushilfe bei einem Videodreh für eine Woche in der finstersten Provinz zu arbeiten. Aber der Job, das war Saskia in dem Augenblick klar, als sie den Namen ihres möglichen Arbeitgebers hörte, war eine einmalige Chance. Sie würde ein Zeugnis über ihre Arbeit erhalten. Und wenn dieses gut ausfiel, wäre es ein Türöffner für andere Jobs.

Doch gleich darauf war ihr Paul eingefallen, was sollte sie mit ihrem Sonnenschein machen? Wer würde es sich antun, auf einen kleinen Jungen aufzupassen, der erst knapp über einem Jahr war? Der langsam anfing zu laufen, die Welt zu entdecken, alles in den Mund schob, was er in die Finger bekommen konnte, etliche Male am Tag neue Windeln brauchte und gefüttert werden musste, kurz, der ein Vollzeit-Job für sich war? Niemand würde so verrückt sein, das war ihr sofort klar. Und dann war ihr die blödsinnige Idee mit Jonas gekommen, die sie zunächst wieder als undurchführbar zur Seite geschoben hatte.

Letztlich war es Schicksal gewesen, dass Jonas kaum eine Stunde später vor der Tür gestanden hatte, einen riesigen Teddy für Paul unter den Arm geklemmt. Und als sie ihn mit ihrer Idee förmlich überrollte, hatte er sofort begeistert zugestimmt, jetzt, im Nachhinein betrachtet, vielleicht ein wenig zu schnell. Aber nun saß sie im Bus Richtung Steinheim und konnte nur beten, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war.

„Cooles Tattoo“, sagte eine dunkle Stimme hinter ihr. Sie dachte im ersten Moment an einen Mann, drehte sich um und starrte in ein Paar unglaubliche Augen, fast schwarz wie die Nacht, die über einer riesigen Nase thronten. Aus den beiden Nasenlöchern ragten die Enden eines schweren, silbernen Piercings, gegen das sich der kleine Stecker, den Saskia in der Nase trug, ausnahm wie ein Schlauchboot gegen einen Frachter. Das Alter der Frau war unmöglich zu schätzen, irgendwo zwischen vierzig und hundert, dachte Saskia. Die Frau deutete mit einem bunten Fingernagel auf Saskias Schulter.

„Oh, danke“, lachte Saskia und bemühte sich, mit ihren Gedanken wieder in die Gegenwart und den Bus zu finden.

„Was bedeutet es?“ Die Frau beugte sich noch ein Stück vor und fiel fast über den Sitz, als sich der Bus in eine leichte Kurve legte. Schon vor einer Weile hatten sie die Autobahn verlassen und fuhren an monotonen, grünen und rötlichen Feldern vorbei, die von kleinen Dörfern unterbrochen wurden. Ab und zu musste der Bus bremsen, um sich anschließend an einem Traktor vorbei zu schlängeln.

„Das ist ein indianisches Symbol für Sonne“, sagte Saskia und schob den Träger ihres Tops noch ein Stück zur Seite, um das Bild ganz freizulegen. „Am Knöchel habe ich noch das Symbol für die Erde!“

„Echt?“ Die Frau hinter ihr drückte sich aus dem Sitz hoch und fiel förmlich auf den Platz neben ihr. Saskia zog ihre Jeans hoch und zeigte der Frau ihre zweite Tätowierung in Höhe des Knöchels, ein braunes Band, das mit roten und gelben Streifen durchwebt war.

„Toll, das ist echte Kunst“, sagte die Frau mit ihrer dunklen Stimme. „Die sind aber noch nicht alt, oder?“

„Nein, ich habe sie letztes Jahr bekommen, einen Tag bevor ich erfuhr, dass ich … einen Tag bevor ich meinen damaligen Freund kennenlernte!“ Beinahe hätte sie ‚schwanger war‘ gesagt, doch im letzten Moment bekam sie die Kurve. Die Frau schien nichts gemerkt zu haben und nickte nur.

„Du bist zum ersten Mal bei der Truppe? Ich habe dich noch nie gesehen!“

„Ich bin zum ersten Mal dabei“, bestätigte Saskia und fühlte sich sofort unsicher. „Ich bekam einen Anruf von der Agentur mit dem Angebot. Ist zwar nur für eine Woche, aber ich kann die Kohle gut gebrauchen.“

„Ach, dann bist du für die Maske zuständig? Also der Ersatz für Michi, das ist gut. Michi ist vollgekifft Auto gefahren und gegen einen Baum gerauscht. Sie fällt mit Sicherheit noch länger aus, wenn Charly, der Regisseur sie überhaupt wieder nimmt. Er ist da ein ziemlicher Spießer, aber irgendwie ja auch verantwortlich für die Truppe hier. Wenn Charly eins nicht abkann, dann ist das, wenn man ihm die Hucke voll lügt. Also sei vorsichtig!“

Saskia fühlte, wie sie rot wurde. Die Frau lachte dunkel auf. „Keine Angst, kleine Geheimnisse haben wir alle. Ich bin übrigens Stella!“ Sie reichte Saskia die Hand und griff dann nach hinten, holte eine Stofftasche heran und zog zwei Dosen Bier heraus. „Na komm, ein kleiner Schluck zur Begrüßung. Ich bin übrigens die Assistentin von Charly, zuständig für Continuity, Bildgestaltung, Kamera, Kaffee, Zigaretten, kurz: Mädchen für alles!“

Saskia mochte Bier nicht unbedingt, aber sie fühlte, dass es wichtig war, mit der Frau die Dosen zu leeren.

Zischend öffneten sie die Verschlüsse, das bittere Getränk lief Saskia die Kehle hinunter. Sie nahm nur einen kleinen Schluck, Stella lachte dröhnend. „Na, endlich mal jemand, der am ersten Abend nicht gleich blau sein wird!“ Stella klemmte ihre halbleere Dose in das Netz vor ihr. „Du hast nicht viel Übung im Trinken, oder?“ Sie nahm Saskia die fast volle Dose aus der Hand und trank aus ihr einen zweiten Schluck, warum auch immer.

Natürlich hatte sich Saskia in letzter Zeit nicht betrinken können. Zunächst war sie schwanger gewesen, dann hatte sie die Verantwortung für den kleinen Paul gehabt. Abgesehen davon war sie auch kein Fan des bitteren Geschmackes. Und nicht zuletzt erinnerte sie sich noch lebhaft an die Nacht, an der Paul entstanden war und ihr Leben völlig umgekrempelt hatte. Auch wenn sie ihren Sohn über alles liebte, war es nicht gerade ein Grund, um sich gerne und bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu betrinken. „Nun ja, ich vertrage nicht allzu viel, außerdem bin ich neu, da will ich mich nicht gleich danebenbenehmen! Übrigens bin ich Saskia.“

Das schien Stella durchaus einzuleuchten, zumindest deutete ihre Miene das an, indem sie die Lippen kräuselte. „Und du weißt, worauf du dich eingelassen hast?“ fragte sie und sah dabei aus dem Fenster auf die vorbeiziehende Landschaft. Die Sonne stand hoch über den Feldern und brach sich auf dem glänzenden Chrom der Fensterumrandung. Kleine Lichtreflexe tanzten über das Plastik der geschmacklos gemusterten Sitze und versahen das hässliche Dekor mit einer freundlichen Note.

„Nein, ehrlich gesagt, ich habe noch keine Ahnung, was in den nächsten Tagen passiert. Ich weiß nur, dass wir ein Video drehen sollen für eine Band, die allerdings separat anreist und irgendwie geheim zu sein scheint.“

Stella lachte brüllend auf. „Wer hat dir denn den Unsinn erzählt? Charly? Alter Angeber! Nein, die Kapelle heißt Secret Wind, der geheime Wind. Ich habe den Titel auf meinem Player, kannst du dir nachher anhören, wenn du magst. Ist gar nicht mal schlecht, wenn man auf so ein Hitparaden-Zeug steht. Ich weiß gar nicht, wie das Ding nun wirklich heißt. Ist aber so ein bisschen wie Kaugummi, bleibt im Ohr kleben. Die Jungs sehen süß aus, ich tippe, sie sind alle schwul. Wir haben eine Woche, weil das Video ab nächsten Samstag als Heavy-Rotation laufen soll bei allen Sendern. Sie haben außerdem zwei Auftritte in den Tagen danach, da muss der Clip fertig sein. Schließlich geht es hier um die hohe Kunst der Pop-Musik!“

Der Mann in der Reihe vor den beiden Frauen fing an, in ihr Lachen mit einzufallen. Er kletterte auf den Sitz und schüttelte Saskia die Hand. „Natürlich, wir alle sind große Kunstliebhaber, deshalb machen wir den Schrott hier schließlich! Ich bin der Bruce, ich mache die Choreographie. Und ehrlich gesagt, ich fände es ziemlich geil, wenn die Jungs schwul wären!“ Er fuhr sich mit dem dünnen Zeigefinger über die gezupften Augenbrauen.

„Natürlich, weil du sie dann in dein Bett kriegen könntest“, lachte Stella höhnisch.

Der Mann mit der gegelten Surfer-Frisur, der die Fransen seiner langen Haare dekorativ über die Stirn geklebt hatte, streckte ihr nur geziert die Zunge heraus. „Immerhin hast du mit diesem jungen Latino … na ja, was auch immer!“ Er sah ihren Blick, der in ein Drohen umgekippt war und ließ sich wieder beleidigt in seinen Sitz sinken. Stella hatte inzwischen beide Dosen geleert, holte eine weitere hervor und schickte sich an, sie zu öffnen, wobei sie vernehmlich rülpste. Saskia sah aus dem Fenster und dachte dabei an ihren Jungen, der jetzt hoffentlich lachte und bei seinem Vater durch die Wohnung krabbelte. Hoffentlich hatte Jonas aufgeräumt und Paul griff nicht in eine Scherbe oder einen offenen Nagel. Allein die Vorstellung ließ Saskia schaudern. Sie rieb sich über die nackten Oberarme.

„Was ist denn los mit dir? Du siehst aus, als ob du dir Sorgen machen würdest?“ fragte Stella.

„Ich? Oh, nein, ich habe nur … oh sieh, das Verkehrsschild, nur noch fünfzehn Kilometer bis Steinheim!“ Saskia war froh, Stellas Aufmerksamkeit ablenken zu können. Sie würde sich in den nächsten Tagen noch mehr zusammenreißen müssen, um nicht aufzufallen. Sie würde alles daransetzen, die Woche zu überstehen, bis sie endlich wieder ihren Jungen in die Arme schließen konnte!

Kapitel 3

„Sie haben sich doch nicht wieder dieses fettige Zeug vom Griechen geholt?“

Max hatte kaum die Haustür hinter sich zugezogen, als er auch schon Reginas rundliches Gesicht aus der Küche auftauchen sah. Ihre wasserblauen Augen musterten ihn streng.

In den Monaten nach Julias Tod drohte das kleine Haus zu verwahrlosen. Die Freunde hatten Max nach der ersten Zeit der Trauer ins Gebet genommen und ihm erklärt, entweder würde er völlig abstürzen oder er müsse sich zusammenreißen und sein Leben neu organisieren. Und so hatte Max nicht nur die Kanzlei neugestaltet, wobei ihm Marina eine mehr als tüchtige Hilfe gewesen war, sondern auch sein Privatleben verändert. Da er keine Lust und keine Geduld hatte, am Abend noch den Garten zu richten oder Staub zu saugen, hatte er dafür Regina engagiert. Sie war fünfzig Jahre alt und mehrere Jahre ohne Job gewesen.

Er hatte ihr ein mehr als ansehnliches Gehalt geboten. Dafür richtete sie sein Haus, den kleinen Garten und war dankbar für die Chance, die sich ihr geboten hatte, zumal sie die meiste Zeit des Jahres mit dem Fahrrad zur Arbeit kommen konnte. Es gab keine festen Arbeitszeiten, er zahlte sie nicht für die Anwesenheit, sondern dafür, dass alles lief und funktionierte. Und für diese völlig freie Hand, die er ihr ließ, bekam er vermutlich mehr Arbeitsstunden als mit jedem Schichtplan. Warum wollen Menschen ihrem Gegenüber ständig alles vorschreiben, wenn es ohne diese Vorschriften viel besser läuft, hatte er einmal einem ungläubigen Kollegen aus einer Nachbargemeinde erklärt. Er beschäftigte Marina und Regina, ließ ihnen jeden Freiraum und fuhr damit ausgezeichnet.

Nur in diesem Augenblick hatte er ein Problem, wie ihm sofort bewusst wurde.

„Ich hatte keine Ahnung, dass Sie noch hier sein würden. Schließlich gehe ich nachher kegeln und Sie wissen, wie das Essen dort ist.“

Regina rieb sich die Hände an einem Handtuch ab. „Natürlich weiß ich das, daher blieb ich ja und habe Ihnen Gulasch gekocht, die Nudeln sind schon gar und in Butter geschwenkt, damit sie nicht verkleben!“ Max liebte Gulasch mit Nudeln. Bedauernd sah er auf die Tüte an seiner Hand hinunter.

„Ich könnte nachher, wenn ich nach Hause komme, noch … “

„Sie wollen um zehn oder elf noch so schwere Sachen essen? Abgesehen davon, Sie sitzen den lieben langen Tag in ihrem Büro, Sie haben schon ein Bäuchlein bekommen, nein, nein, das geht nicht!“ Kopfschüttelnd kam sie auf ihn zu und nahm ihm die Tüte ab. Dabei sah sie ihm mit einem abschätzigen Blick an. Sie trug wie immer eine geblümte Kittelschürze. Sie war einen Kopf kleiner als Max, wurde von ihm bezahlt, doch in ihrer Gegenwart wagte er zunehmend weniger Widerspruch.

Sie marschierte mit dem Beutel in die Küche und für einen Moment hegte er die Befürchtung, sie wolle die Tüte einfach in den Müll stecken. Er hätte ihr Einhalt gebieten müssen, immerhin war er ihr Chef. Aber sie stellte das Essen auf den Tisch, öffnete den Knoten und zog den Behälter mit dem Fleisch und den Pommes-Frites heraus, öffnete ihn und schnitt mit einer Schere den Deckel ab. „Wir können das Zeug ja nicht wegschmeißen“, erklärte sie. „Das Gulasch teile ich auf: Die eine Hälfte kommt in so ein Mikrowellengefäß, zusammen mit den Nudeln, die andere Hälfte in den Gefrierschrank, dann haben Sie Sonntag noch ein Essen. Aber morgen dran denken, dass Sie nicht wieder einkaufen, in Ordnung?“ Sie schob lächelnd den Stuhl am Küchentisch zurück und griff nach seinem Sakko.

„Das werde ich noch schnell aufbügeln, ehe ich gehe!“ erklärte sie resolut und verschwand nach nebenan.

Max ließ sich am Küchentisch nieder, schenkte sich ein Wasser ein und begann zu essen. „Müssen Sie denn nicht nach Hause?“, fragte er zwischen zwei Bissen. Beim Essen stellte er fest, dass er tatsächlich hungrig war. Wie kam die Frau nur auf ein Bäuchlein? Verstohlen betrachtete er die Wölbung seines Hemdes.

Regina erschien mit dem frisch aufgebügelten Sakko in der Küchentür. „Deshalb wollte ich Sie sowieso noch sprechen“, sagte sie eine Tonlage leiser.

Max sah sie erstaunt an. “Wieso? Sie können nach Hause gehen, das ist völlig in Ordnung, ich habe noch den Schrank voller Jacketts und Anzüge.“

„Ich weiß, sie sind auch alle in Ordnung, ich habe mich drum gekümmert. Nein, das ist es nicht. Sie wissen ja, wie viel die Arbeit mir bedeutet. Sie hat mir einen neuen Sinn gegeben. Ich bin stolz, wenn das Haus gut aussieht, sie schicke Kleidung haben und so weiter.“ Sie streifte das griechische Essen mit einem verachtenden Blick. „Aber mein Mann, der sitzt den ganzen Tag nur herum und säuft. Ich habe erst jetzt gemerkt, wie sehr er mich blockiert. Um es kurz zu machen, ich möchte mich von ihm scheiden lassen!“

Während sie sprach, war sie immer nähergekommen und hatte sich, seiner einladenden Handbewegung folgend, an den Küchentisch gesetzt. „Oh, ich verstehe“, sagte er. „Sie möchten, dass ich Sie vertrete? Allerdings verstehe ich nicht viel von Familienrecht, auch wenn ich hier so eine Art Anwalt für alle Fälle geworden bin.“

Regina sah ihn fragend an. „Aber Sie sind doch Anwalt, oder?“ Er versuchte ihr zu erklären, dass sie einen Anwalt für Familienrecht benötige, aber sie ließ keinen Einwand gelten. „Sie sind Anwalt, also nehme ich Sie. Sie sind ehrlich und gerecht, Sie wissen immer eine kluge Antwort. Wissen Sie, ich bin eine einfache Frau, ich verstehe nicht viel von solchen Dingen wie Gesetzen und Papieren. Ich habe mit fünfzehn mein erstes Kind bekommen, wie Sie wissen wurden es dann fünf. Ich wurde von meinen Männern immer wieder betrogen, aus dem Job geworfen, ach, was weiß ich, ich will Sie nicht mit meinem Leben volljammern. Aber ich weiß, dass Sie ein guter Mann sind, dem ich vertraue. Also machen Sie meine Scheidung!“ Sie sagte das in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

„Natürlich bezahle ich Sie auch, da müssen Sie sich keine Sorge machen!“ Max wollte etwas entgegnen, aber sie war schon aufgestanden. „Hier sitze ich und quatsche Ihnen ins Essen! Sie müssen jetzt aufessen, dann eine Dusche nehmen und anschließend zum Kegeln gehen. Ich werde mit Erwin reden, dass Sie uns beide vertreten, dann wird es auch nicht so teuer für uns.“ Sie lachte breit. „Sonst müsste ich meinen Chef noch um eine Gehaltserhöhung bitten!“

Sie hatte sich erhoben und war aus der Tür. Im letzten Moment drehte sie sich noch einmal um. „Die Hecken mache ich morgen, genau wie die Terrasse.“ Sie erklärte das nicht näher, schlüpfte aus ihrer Kittelschürze und war einen Moment später zur Haustür hinaus.

„Auch eine Art, Mandanten zu gewinnen“, sagte Max achselzuckend und widmete sich wieder seinem Essen.

Kapitel 4

Die Hotelzimmer waren klein und sauber. Saskia atmete tief durch und ließ sich auf das Bett fallen, dessen Matratze quietschend protestierte. Sie starrte an die Decke und überlegte, dass sie enormes Glück gehabt hatte.

Nachdem der Bus endlich Steinheim erreicht und das Hotel gefunden hatte, stürmten alle, einschließlich der weiter biertrinkenden Stella hinaus, rissen ungeduldig die Koffer aus dem Bauch des Busses und stürmten das kleine, ländlich wirkende Hotel. Charly schrie über die Meute hinweg, dass sich jeweils zwei ein Zimmer teilen mussten. Saskia war von diesem Gedanken wenig begeistert. Sie sah sich vor ihrem geistigen Auge schon mit einer völlig betrunkenen Stella in einem Doppelbett liegen. Wer weiß, am Ende würde sie noch zudringlich werden?

Saskia hatte einige Minuten im Bus gewartet, war dann langsam aufgestanden und hatte den Anderen nachgeblickt, die zum größten Teil bereits im Hotel verschwunden waren. Der Busfahrer, ein dünner Mann in mittleren Jahren mit Sonnenbrille und schütterem Haar, hatte ihr ihre Tasche herausgegeben und ihr ermutigend zugelächelt. Nur zögernd hatte sie das Hotel betreten. Es machte einen in die Jahre gekommenen Eindruck, auch wenn der Eingang modernisiert worden war. Doch bei genauerer Betrachtung sah man, dass die Einrichtung in der Lobby schon einige Sommer an der gleichen Stelle verbracht haben musste. Auch am Tresen war die Farbe weiter unten abgeblättert, einige der Postkarten in der Auslage bogen sich. Charly war mit einem Achselzucken auf sie zugekommen, während die Letzten der Crew noch am Tresen unterschrieben.

„Sorry, aber es ist nur noch das Zimmer über dem Parkplatz frei“, hatte er ihr verkündet. „Ist leider deutlich kleiner, aber ein Einzelzimmer.“ Saskia hätte ihn für diese Botschaft umarmen und küssen können. Sie war alleine, es gab ein Bett, eine Dusche und ein Klo, mehr brauchte sie nicht. „Ist das okay für dich?“

Saskia hatte sich bemüht, nicht allzu erfreut zu wirken. „Ich werde es schon aushalten“, hatte sie gesagt und war zur Rezeption gegangen. Die dickliche Frau mit der zu engen weißen Bluse hatte leicht nach Schweiß gerochen, aber Saskia hatte viel zu gute Laune gehabt, um sich darum zu kümmern.

„Um sieben wieder hier unten“, hatte Charly ihr noch nachgerufen. Dann hatte sie die knarrende Treppe nach oben genommen und als Letzte das Feld geräumt. Und nun lag sie hier, kramte ihr Handy aus der Jeans und schickte die nächste SMS in Richtung ihres Kindes, das jetzt hilflos Jonas ausgeliefert war, einige hundert Kilometer entfernt. Sie drückte auf ‚senden‘ und fühlte sich wie eine Verräterin an ihrem eigenen Kind. War es nicht ein Witz, dass sie jetzt ständig Botschaften ins Nirgendwo schickte, wo sie ihr Kind im Stich gelassen hatte?

Saskia fühlte, wie Tränen in ihr aufstiegen, Tränen aus Wut und Selbsthass. Was war sie für eine Mutter, die ihr Kind wegen eines dämlichen Jobs mit einem verantwortungslosen und faulen Mann allein ließ? Es würde ihr ganz recht geschehen, wenn etwas passierte und sie dafür zur Rechenschaft gezogen würde. Vor ihren Augen liefen Szenen ab, in denen sie vor Gericht stand, eine ganze Gruppe Richter sie verachtend anstarrte und dann ein Urteil über sie fällten: ‚Schuldig am Verlassen des eigenen Kindes. Was haben Sie sich dabei gedacht, Frau Morena? Wussten Sie nicht, was Herr Kramm für ein Mensch ist? Sie kannten ihn doch, Sie waren mit ihm im Bett. Sie haben aus Vergnügen und Trunkenheit ein Kind in die Welt gesetzt und nun dieses kleine, unschuldige Leben einer merkwürdigen Karriere geopfert, die überhaupt keine ist. Und was ist mit Ihrem Kind? Wie, sie wissen es nicht? Sie wissen nicht, was mit Ihrem eigenen Kind ist? Sind Sie nicht einmal dazu in der Lage? Schämen Sie sich überhaupt nicht‘?

Die Vibration des Mobiltelefons unterbrach ihre schaurige Selbstanklage. Sie sah nur das Wort ‚Jonas‘ im Display und nahm das Gespräch hektisch an. „Was ist passiert?“ stammelte sie im Halbschlaf.

„Hallo, Saskia, ich höre dich so schlecht!“ Es rauschte, im Hintergrund hörte sie Stimmen. Oh Gott, das waren der Notarzt und die Polizei, sie hatte es geahnt. Ihr wurde heiß und kalt zugleich. „Ah, hier ist es besser! Wir sind gerade im Zoo und stehen vor den Giraffen, der Kleine liebt Giraffen, wusstest du das?“

„Es ist mein Kind, Jonas!“ Nein, sie hatte keine Ahnung gehabt, aber das spielte keine Rolle. Sie hörte leise Musik wie von einer Drehorgel. „Wie geht es Paul?“

„Na, prima geht es ihm!“ Im gleichen Moment drang das vertraute, quakende Lachen an ihr Ohr. Kein Zweifel, es ging ihm ausgezeichnet. Er gluckste, brabbelte etwas in das Telefon, aus dem man mit einiger Fantasie ‚Mama‘ deuten konnte. Dann übernahm Jonas das Gespräch wieder. „Na, du hast wohl Sorge um den kleinen Mann. Keine Panik, wir haben alles im Griff!“ Jonas lachte. Saskia konnte in diesem Moment sein Gesicht fast zum Greifen vor sich sehen: die lange Nase, die vollen, immer leicht zu einem Lächeln verzogenen Lippen, die braunen Augen, die nur schwer zu bändigenden Haare, das energische Kinn, das ständig nach einer Rasur verlangte.

„Gib mir auf Paul acht“, sagte sie leise und strich sich eine ihrer hellblond gefärbten Haarsträhnen aus dem Gesicht. Inzwischen saß sie im Schneidersitz quer auf dem Bett.

„Aber natürlich, immerhin ist er auch mein Sohn, das scheinst du manchmal zu vergessen!“ Dieses Mal klangen seine Worte fast vorwurfsvoll. Aber genau dieser Vorwurf beruhigte sie auch ein wenig.

„Ich war noch nie von ihm getrennt“, sagte sie leise und atmete tief durch, um das drückende Gefühl in der Kehle los zu werden.

„Es ist okay, vertrau mir“, sagte er. Dann endete das Telefonat. Saskia überlegte. Hatte er diesen Satz nicht auch genau an dem Abend gesagt, als sie zusammen im Bett gewesen waren? Oder bildete sie sich das nur ein? Schwerfällig und mit einem Schnaufen rollte sie sich von dem protestierenden Bett und ging ins Bad. Inzwischen war es kurz nach sechs, höchste Zeit, sich frisch zu machen und umzuziehen. Mittlerweile überfiel sie auch Hunger und sie begriff, dass sie den ganzen Tag vor lauter Aufregung noch nichts gegessen hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---