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Als Oliver die attraktive Frau, die allein auf dem Parkplatz der Autobahn in der Kälte steht, ein Stück mitnimmt, ahnt er nicht, dass ihn dieser harmlose Flirt in einen Strudel aus Verbrechen und Leidenschaft treiben wird. Am Morgen danach wird nichts mehr so sein, wie es einmal war. Sein Leben wird buchstäblich auf den Kopf gestellt. Einzig die Sorge um seine Tochter treibt ihn weiter vorwärts und hält ihn aufrecht. Die Fragen, denen er sich ausgesetzt fühlt, bestimmen sein Leben. Wer ist die geheimnisvolle Detektivin, die der Frau, die ihn ausraubte, so ähnlich sieht? Welches Band verbindet die Frauen miteinander? Wer ist der Mann, der ihn zum zweiten Mal betrügen will? Und wem kann Oliver am Ende noch vertrauen? Seinem Herzen oder seinem Verstand?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Ende
Räuberisches Herz
Olaf Hauke
2024
Copyright 2024
Olaf Hauke
Greifswalder Weg 14
37083 Göttingen
T. 01575-8897019
Cover: pixabay/Sabine_999
Auch am Nachmittag hatte sich das Wetter nicht geändert. Der feine Nieselregen legte sich wie ein schimmernder Schleier über die Fahrbahn und zerriss das Licht der Scheinwerfer in tausend kleine Speere, die ziellos durch die Tropfen jagten.
Mechanisch warf Oliver einen Blick in den Rückspiegel, hinter ihm war alles frei. Er setzte den Blinker, um den Lastwagen vor ihm zu überholen. Die roten Rückscheinwerfer des schweren Fahrzeuges markierten einen aufgeladenen Container und die wuchtige Breite, die die gesamte rechte Spur der Autobahn einnahm. Je näher er dem Transporter kam, umso klarer schälten sich die blauen Umrisse aus der weißen Regenwand.
Oliver rieb sich über die Augen. Er war schon viel zu lange unterwegs. Bereits vor einer guten Stunde hatte er eine Pause machen wollen. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte er sich noch fit gefühlt und den Plan gefasst, die letzten dreihundert Kilometer ohne Verzögerung hinter sich zu bringen.
Inzwischen hatte der Regen eingesetzt, der Verkehr zugenommen. Und noch immer lag seine Heimat fast zweihundert Kilometer entfernt, wie ihm das Navi mit einer einzigen, nüchternen Zahl verriet, die nur schleppend kleiner wurde. Am unteren Rand des Displays blinkte in regelmäßigen Abständen das Symbol einer kleinen Kaffeetasse, ein Hinweis dafür, dass es Zeit für eine Pause war.
Oliver zog den Wagen langsam auf die linke Spur. Im gleichen Moment tauchten zwei helle weiße Lichter wie aus dem Nichts aus dem Nebel auf und schossen auf ihn zu. Während das dunkle Fahrzeug an ihm vorbeischoss, hörte er ein entferntes Hupen an seinem Ohr. Im letzten Moment war er zurück auf seine Spur gezogen.
Obwohl hier eine Tempo-Begrenzung von hundert Stundenkilometern galt, musste der dunkle Wagen erheblich mehr auf dem Tacho haben. Oliver sah die roten, schräg gestellten Rücklichter des Autos, die kaum eine Sekunde später von der Regenwand verschluckt wurden.
Oliver drückte sich tiefer in die Polster und atmete tief durch. Schon wieder tauchte hinter ihm ein Wagen auf, näherte sich rasch, setzte den Blinker und zog fast wütend an ihm vorbei.
Erst jetzt merkte Oliver, wie fest sich seine Finger um das weiche Leder des Lenkrades geschlossen hatten. Sein Nacken hatte sich schmerzhaft verspannt, zog langsam Richtung Hinterkopf.
Oliver drosselte sein Tempo, indem er den Fuß leicht vom Gas nahm. Der Wagen blieb hinter dem LKW, die Lichter und der blaue Container näherten sich nicht weiter. Zwei weitere Limousinen rasten an ihnen vorbei.
Oliver versuchte, mit einigen Drehungen die Spannungen aus dem Nacken zu lösen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Gleichzeitig tauchte schlagartig aus dem Sichtschatten des blauen Containers das Hinweisschild auf die nächste Tankstelle auf.
Automatisch wanderte sein Blick nach unten auf die Tankanzeige. Er hätte es vermutlich nach Hause geschafft mit dem Rest der Füllung, aber wenn er jetzt einen Stopp einlegte, konnte er sich erholen und war bereit, falls er auf der restlichen Strecke in einen Stau geraten würde. Das betraf sowohl den Tank als auch seine Blase.
Natürlich würde Melissa irgendwann anfangen, Nachrichten zu schicken, wo er blieb. Aber sie war es gewohnt, dass er später als angekündigt nach Hause kam. Abgesehen davon lebte sie mehr und mehr ihr eigenes Leben. Die Zeiten, wie sie sie damals auf der Rückreise von Ibiza erlebt hatten, waren längst Geschichte.
Die Schilder kündigten die Abzweigung zu der Tankstelle in fünfhundert Metern an. Ein schwerer, dunkler Wagen setzte sich neben ihn, wollte sich offenbar zwischen ihn und den Laster quetschen. Ehe Oliver reagieren konnte, beschleunigte der Fahrer jedoch und raste in einem Höllentempo an dem Laster vorbei.
Oliver hatte bereits weiter abgebremst, sodass ihn die Bremslichter des Schwertransporters nicht überraschten. Bestimmt hatte der Mann, um die Tankstelle zu erreichen, den vor ihm fahrenden Transporter geschnitten.
Oliver verließ die Autobahn. Der Raser war längst in Richtung der Parkplätze verschwunden, Oliver verschwendete keinen weiteren Gedanken an ihn und fuhr zu den Zapfsäulen der Tankstelle.
Jetzt am späten Nachmittag war an den Säulen wenig los. Oliver hielt an einer der vorderen Säulen, stieg aus und wurde schlagartig von der kalten Luft mitten ins Gesicht getroffen. Der kühle Hauch des späten Herbstes mischte sich mit dem Duft von Benzin und dem Lärm, der von der Autobahn zu ihm hinüberdrang.
Oliver rieb sich die trockenen Hände und trat an die Zapfsäule. Mit einem lauten Brummen füllte sich der Tank, während er sich aus dem noch warmen Fahrzeuginneren seinen Mantel mit der Geldbörse und dem Handy holte.
Melissa hatte bereits angefangen, ihm Nachrichten zu schicken. Inzwischen war sie selbst zum Tippen zu faul geworden, wie er mit einem schiefen Grinsen feststellte, weil die Symbole auf Sprachnachrichten hinwiesen.
Sie würde sich noch ein wenig gedulden müssen, dachte er und zog die Zapfpistole aus dem Einfüllstutzen. Dann ging er zu der Tankstelle hinüber, um seine Schulden zu begleichen.
Die automatischen Türen glitten zur Seite, dieses Mal traf ihn ein Schwall warmer Luft, angefüllt mit einem schweren, aufdringlichen Aroma von frischen Backwaren. So köderte man hungrige Fahrer, dachte er und trat an die Kasse um zu bezahlen.
Mittlerweile begann er in seinem warmen Mantel zu schwitzen. Einzig der Blick an der Kasse der Tankstelle vorbei hob seine Stimmung ein wenig. Hinter einer Scheibe sah er mehrere Tische des angrenzenden Restaurants, halb verdeckt von hohen Grünpflanzen und mehreren Werbetafeln.
Oliver steckte seine Kreditkarte wieder ein, nickte dem jungen Mann hinter der Kasse zu und verließ die Tankstelle. Der feine Nieselregen war stärker geworden, die Tropfen größer. Außerdem konnte er deutlich erkennen, wie sich unter den Regen die ersten Flocken mischten, die in den wenigen Sekunden ihrer Existenz durch die Luft tanzten, ehe sie schmolzen, noch bevor sie den Boden berührt hatten.
Ohne aus dem Mantel zu schlüpfen klemmte sich Oliver wieder hinters Steuer und fuhr die wenigen Meter bis zu den Parkbuchten. Auf den Deckeln der grünen Mülleimer bildeten sich die ersten weißen Schatten. Einige Flocken hatten anscheinend überlebt.
Er überlegte einen Moment, ob es nicht sinnvoller war, möglichst schnell nach Hause zu kommen, ehe das Wetter weiter kippte und die Autobahn sich in eine Winterlandschaft verwandelte. Aber er stellte fest, dass er zu müde war, zu hungrig und zu unkonzentriert. Abgesehen davon musste er auf die Toilette.
Also stieg er aus, nahm noch aus dem Handschuhfach eine Packung mit Kopfschmerztabletten und suchte dann zunächst die Toiletten auf.
Einige Minuten später fand er sich im Restaurant neben der Tankstelle wieder. Über der breiten Theke fand er eine Liste mit den Angeboten. Eine kräftige junge Frau mit einem weißen Kittel und einer schicken Haube, auf der das Logo des Restaurants prangte, fragte nach seinen Wünschen.
Oliver ignorierte die mahnende Stimme in seinem Kopf und entschied sich für ein Schnitzel mit Pommes und Pilz-Sauce. Melissa würde von den Kalorien nichts erfahren, dessen war er sich ziemlich sicher. Wobei sie schon einen geradezu detektivischen Spürsinn an den Tag legte, wenn es um seine kleinen Sünden beim Essen ging.
„Den Salat zu Ihrem Gericht finden Sie dort hinten an der Salat-Bar“, sagte die Bedienung mit routinierten Worten. Sie musterte Oliver abschätzig, als sei sie sich ziemlich sicher, dass er sich dort nicht bedienen würde.
Oliver bedankte sich, nahm sein Tablett und ging an einen der freien Tische an einem großen Glasfenster. Die Aussicht auf den Parkplatz mit dem angrenzenden Gebüsch war allerdings alles andere als einladend.
Wie zum Trotz erhob er sich, nahm sich eines der Glasschälchen an der Salatbar und füllte den Teller ziemlich wahllos mit allerlei Grünzeug, als wolle er Melissa und der Bedienung etwas beweisen.
Er unterdrückte ein massives Gähnen, das ihn schlagartig überfiel. Für einen Moment verschwamm das Grünzeug in den silbernen Tiegeln vor seinen Augen. Höchste Zeit, dass ich eine Pause gemacht habe, ging es ihm durch den Kopf. Ich werde mir anschließend noch einen starken Kaffee gönnen.
„Sie gähnen so, wie Sie fahren“, hörte er eine dunkle Stimme neben sich und zuckte hoch.
Oliver brauchte einen Moment, ehe er einen Sinn hinter den Worten fand, die direkt neben seinem Ohr ausgesprochen worden waren. Er sah auf, der Mann war bereits an ihm vorbeigegangen, Oliver sah ihn nur von schräg hinten. Er trug einen dunklen Anzug, hatte auffallend volle, graue Haare, die ihm wellig bis in den Nacken und über die Ohren reichten, und eine sehr aufrechte Haltung.
Für einen Moment hatte er eine Erwiderung auf den Lippen in der Art von „idiotischer Raser“, aber dann schüttelte er nur den Kopf und ging zurück an seinen Tisch. Es hatte keinen Sinn, sich mit solchen Menschen ernsthaft auseinanderzusetzen. Es würde die Aggression, die der Mann bereits mit den wenigen Worten demonstriert hatte, nur verstärken. In seinem Beruf war Oliver es gewohnt, mit aggressiven Menschen umzugehen und sinnlose Konfrontationen zu vermeiden.
Das Schnitzel schmeckte ausgezeichnet, es war kross, saftig und versöhnte Oliver für einen Moment wieder mit der Welt, ihren dümmlichen Autofahrern und ihrer abstoßenden Witterung. Draußen hatten die tänzelnden Flocken mittlerweile die Oberhand über den Regen gewonnen. Auf der kleinen Rasenfläche vor den Büschen jenseits der Parkbuchten bildete sich ebenfalls ein leichter, flüchtiger, weißer Hauch.
Als er hochblickte, sah er den Grauhaarigen erneut. Er stand vor der Theke und schien einen Streit mit der Bedienung vom Zaun brechen zu wollen.
Er schwang einen Kaffeebecher und stieß einige Male das Wort „Abwaschwasser“ hervor. Das Wort schien ihm, aus welchem Grunde auch immer, zu gefallen, denn er rollte es geradezu genüsslich über die Zunge, als wäre er froh, etwas Derartiges aussprechen zu können.
Oliver hatte gelernt, Leute einschätzen zu können. Der Mann war relativ groß, schlank, der Anzug saß perfekt. Er musste teuer gewesen sein. Aber er konnte mit dem Geld, das er, woher auch immer, bekommen hatte, nicht umgehen: Die Krawatte war schlampig gebunden, die Schuhe nicht gepflegt. Ihm fehlte die Selbstverständlichkeit, mit der man sich ab einer gewissen Einkommensklasse bewegte. Vielleicht hatte er geerbt, vielleicht war er durch seine Familie zu Geld gekommen oder hatte gar im Lotto gewonnen. Oliver würde es sicherlich nie erfahren. Schließlich hatte der Mann sein Einkommen oder seine Geldquelle verloren oder überschätzt.
Er trug einen herausgewachsenen Drei-Tage-Bart. Melissa hatte ihm irgendwann mal den Unterschied zwischen ‚Bart‘ und ‚unrasiert‘ erklärt. Seitdem rasierte er sich noch ordentlicher und regelmäßiger.
Kein Zweifel, der Mann schien mehr sein zu wollen, als er in Wirklichkeit war. Aber er war klug, daher wusste er um seine Situation. Das machte ihn wütend. Und diese Wut ließ er an seinen Mitmenschen aus.
Oliver hatte etliche von seiner Art erlebt: Menschen, die aus eigenem Versagen oder durch bloßes Pech die soziale Leiter nach unten gefallen waren und die diesen Absturz noch nicht wahrhaben wollten. Und häufig genug wurden sie seine Kunden, um diesen Absturz noch eine Weile auffangen zu können. Manche schafften es, viele jedoch nicht.
Oliver konnte mit einem solchen Menschen professionell umgehen, die Bedienung hinter der Theke jedoch nicht. Sie giftete zurück, holte sich Verstärkung in Form einer zweiten Angestellten, die sofort in gleicher Lautstärke mithielt und den Mann im wahrsten Sinne des Wortes zum Verstummen brachte.
Er stieß eine üble Beleidigung aus, die an den beiden Frauen völlig abprallte, machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zurück zu seinem Tisch. Oliver konnte nicht anders und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, während er weiter sein Schnitzel aß und sich zwang, den aufgehäuften Berg Salat langsam schrumpfen zu lassen.
Der Mann setzte sich an einen Tisch schräg vor Oliver, den er inzwischen wohl wieder vergessen hatte. Mit am Tisch saß eine auffallend zurechtgemachte, attraktive Blondine. Oliver schätzte sie auf Ende Dreißig bis Anfang Vierzig.
Sie hatte die Haare hochgesteckt. Ihr schmales Gesicht war stark geschminkt, die Wangenknochen seltsam betont, die Augen blau umrandet. Auf eine merkwürdige Art passte sie zu ihrem Begleiter, den Oliver auf Ende Vierzig bis Anfang Fünfzig schätzte.
Sie mussten beide bessere Zeiten erlebt haben. Vielleicht hatten sie das Geld mit vollen Händen ausgegeben, vielleicht sprudelten die Einnahmequellen jetzt nicht mehr so reichlich.
Oliver dachte an die Porzellan-Figuren und die teuren Münzen, die sicher verwahrt in seinem Kofferraum lagen. Er hatte sie am Vormittag einem Finanzdienstleister abgekauft, der sie erworben hatte, als die Geschäfte besser gelaufen waren. Nun hatte er irgendwelche Prozesse am Hals und war dabei, die wertvollen Dinge aus seinem Haus zu versilbern.
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass man ihn beim Kauf dieser Dinge anscheinend einige Male übers Ohr gehauen hatte. Oliver hatte mit geschultem Blick etliche Fälschungen entdeckt. Auch die Porzellanfiguren waren weniger wert, als sie dem ungeschulten Augen Glauben machen wollten.
Er hatte den Mann auf die Fälschungen aufmerksam gemacht, doch der hatte nur mit den Achseln gezuckt. Wahrscheinlich war er gerade dabei, sie an jemand Anderen zu verkaufen, der weniger Ahnung als Oliver hatte.
Oliver war sich jedoch sicher, dass das Pärchen, das er heimlich beobachtete, nicht aus der Versicherungs- oder Finanzbranche stammte. Dafür wirkte die Frau zu übertrieben, der Mann zu aggressiv. Vertriebsmenschen waren andere Typen, eher auf Zustimmung bedacht, ständig Fragen auf den Lippen, um den wunden Punkt des Gegenübers zu entdecken, über den sie Profit machen konnten.
Die Frau trug eine kurze Jacke in auffallendem Blau, darunter eine weiße Bluse mit weiten Ärmeln, die eng am Hals zugeknöpft war. Das betonte zusätzlich ihren langen, schlanken Hals.
Überhaupt schien sie eine sehr attraktive Frau zu sein, die sich jedoch zu stark geschminkt hatte. Vielleicht, so überlegte Oliver weiter, waren sie auf dem Weg zu irgendeiner Veranstaltung, einer Feier, einer Gala.
Er musste seinen Blick von der Frau losreißen, als er feststellte, dass seine Gabel umsonst den Weg auf den inzwischen geleerten Salatteller gesucht hatte.
Hier sitze ich und starre wie ein Teenager eine Frau an, dachte er und schüttelte unmerklich den Kopf über sein Verhalten. Er schnitt sich einen Bissen von dem Fleisch ab und tunkte es in die herzhafte Sauce. Während er kaute, wanderte sein Blick auf den Platz ihm direkt gegenüber, auf den er lediglich seinen Mantel gelegt und sauber übereinandergeschlagen hatte.
In diesen Augenblicken kam ihm die eigene Einsamkeit zu Bewusstsein. Melissa wurde langsam erwachsen, führte mehr und mehr ihr eigenes Leben. Vor ein paar Wochen hatte sie ihre Führerscheinprüfung bestanden. Oliver hatte vor, ihr zu Weihnachten ein Auto zu schenken. Dann würde sie den Roller gegen einen sicheren Wagen eintauschen und noch unabhängiger sein.
Schon jetzt verbrachte sie die meisten Abende in ihrer Einliegerwohnung. Nur die Tatsache, dass sie sich vor einigen Wochen von ihrem Freund getrennt hatte, hielt sie davon ab, sich völlig zurückzuziehen von ihrem Vater. Oliver atmete schwer auf. Sie tauchte häufiger am Abend bei ihm auf, oft aßen sie auch gemeinsam. Aber bestimmt stand schon der nächste Anwärter irgendwo da draußen bereit. Dann würde er wieder alleine vor dem Fernseher sitzen oder über die Arbeit vor der Einsamkeit flüchten. Schließlich gab es immer etwas zu tun, man musste nur lange genug darüber nachdenken und danach suchen.
Der Aufschrei der Frau erfolgte buchstäblich aus dem Nichts. Oliver fuhr zusammen, als hätte er einen Stromschlag erhalten. In der Gaststätte hatte vorher ein gedämpfter Ton, eine Mischung aus Unterhaltungen und leisen Schritten geherrscht, mit einem Schlag war es totenstill. Sämtliche Köpfe zuckten in Richtung der Frau.
„Das lasse ich mir nicht bieten“, schrie sie mit hoher Stimme und sprang so heftig von ihrem Stuhl auf, dass er nach hinten kippte und auf die dunkelgrauen Steinfliesen fiel.
Sie griff nach einem halbvollen Glas, riss es in die Höhe und schüttete den Inhalt in Richtung des Mannes. Oliver war erstaunt, wie schnell der Mann reagierte und dem Getränk fast vollständig ausweichen konnte. Das Wasser, zumindest sah die Flüssigkeit so aus, traf die Blätter einer großen Grünpflanze, die als eine Art Raumteiler diente.
„Hör auf so ein Theater zu machen“, stieß er dunkel mit einer Stimme hervor, die es anscheinend nicht gewohnt war, dass man ihr widersprach. Er wischte sich über den Ärmel seines Sakkos, wo ihn einige Spritzer getroffen hatte.
„Du kannst mich nicht weiter so beleidigen, was bildest du dir überhaupt ein!“ Die Frau warf mit einer dramatischen Geste die Hände in die Höhe, sie zitterte dabei leicht.
Für einen Moment kam es Oliver so vor, als wäre er beim Umschalten auf einem Kanal gelandet, auf dem man gerade eine Seifenoper präsentierte. Aber das Geschehen hier vor seinen Augen war real. Oliver sah schräg neben sich einen jungen Mann, der ein Handy herausgezogen hatte, wohl, weil er die Szene einfangen wollte.
Aber ehe er startklar war, hatte der Mann sich bereits umgedreht. Er sah die Frau noch einmal düster an.
„Du solltest es dir überlegen“, sagte er und klang dabei fast freundlich. Einzig das Funkeln in seinen Augen verriet seine wahre Intention. Er hob den Zeigefinger, schien dann jedoch den jungen Mann mit dem Handy zu sehen und ließ die Hand sofort wieder sinken.
Mit schnellen Schritten verließ er die Gaststätte, die Frau griff nach hinten und hob ihren Stuhl wieder auf. Langsam setzte das Stimmengewirr wieder ein. Der junge Mann ließ sein Handy sinken und verzog verärgert sein Gesicht.
„Blöde Idioten“, sagte er und ging mit wütendem Blick an Oliver vorbei. Offensichtlich fühlte er sich um ein Video betrogen, das er in den sozialen Medien hätte anbieten können. Die Beteiligten interessierten ihn dabei vermutlich herzlich wenig.
Die Blondine starrte blicklos auf ihren Salat, der vor ihr auf dem Tablett stand. Dann wanderte ihr Blick nach oben. Für eine Sekunde dachte Oliver, dass sie ihn ansah, bis er verstand, dass sie aus dem Fenster sah.
Urplötzlich sprang sie auf. Der Stuhl kippte zum zweiten Mal nach hinten. Doch dieses Mal schenkte sie ihm keine Beachtung. Auf hellen, hochhackigen Schuhen lief sie mit erstaunlich schnellen Schritten nach draußen, rannte dabei noch einen Mann um, der sie nur verwirrt anstarrte. Ehe er etwas sagen konnte, hatte sie das Restaurant bereits verlassen, die Türen schlossen sich hinter ihr.
Oliver sah nach draußen. Der Parkplatz hatte sich inzwischen mit deutlich mehr Fahrzeugen gefüllt. Auf den Mülleimern und den Fahrbahnrändern sammelte sich langsam immer mehr Schnee. Nur die Fahrspuren blieben nass, dunkel und schneefrei.
Ein Stück weiter hinten fuhr eine dunkle Limousine zügig rückwärts aus einer Parklücke, drehte dann und steuerte in Richtung Auffahrt.
Oliver hatte zumindest den Verdacht, dass es sich um den Grauhaarigen handeln konnte, aber sicher war er sich nicht. Den Fahrer hatte er nicht erkennen können. Die Blondine tauchte auf jeden Fall nicht auf.
Inzwischen hatte sich in der Gaststätte die Lage wieder beruhigt. Eine der Bedienungen war gekommen, hatte die Reste des Essens weggeräumt, den Stuhl aufgestellt und den Tisch abgewischt. Ein sehr kräftiger Mann mit einer dunkelblauen Kappe und einem rotkarierten Hemd steuerte, ein Tablett mit zwei Currywürsten tragend, darauf zu und nahm schnaufend Platz.
Oliver wischte sich den Mund ab. Die Show war vorüber, dachte er. Er holte sich noch einen Kaffee und leerte ihn, während er auf dem trockenen Keks herumkaute, der am Rand des Bechers gelegen hatte.
Am sinnvollsten wäre es, wenn er zu Hause zunächst die Ware auspacken und in den Keller bringen würde. Er musste sie katalogisieren. Neben den eher minderwertigen Porzellanfiguren hatte er zwei Alben mit Goldmünzen erstanden zu einem fast schwindelerregend niedrigen Preis. Aber der Kunde hatte dringend Geld gebraucht.
Diese wertvolle Ware konnte er nicht lange bei sich im Haus behalten, obwohl der Keller als gesichertes Zwischenlager bei der Versicherung gemeldet war.
Oliver stellte den Becher auf das Tablett, räumte seinen Tisch ab und steckte einige Münzen in die Box für das Trinkgeld. Er schlüpfte in seinen Mantel und verließ die Gaststätte. Noch immer schneite es. Die Luft war in der letzten halben Stunde deutlich abgekühlt. Sie traf auf seine warmen Wangen und den freien Hals.
Oliver schlug den Mantelkragen hoch und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen. Er hatte noch einmal auf sein Handy gesehen und mit einigen dünnen Worten auf Melissas Nachrichten geantwortet. Er wusste schon jetzt, dass sie der Satz ‚bin auf dem Weg’ ziemlich sauer machen würde. Sie selbst war zum Schreiben zu faul, er dagegen sollte am besten Romane von epischer Breite an sie schicken.
Aber wenigstens, so überlegte er versöhnlich, als er den Wagenschlüssel aus der Tasche zog, wartete sie zu Hause auf ihn.
„Sie fahren nicht zufällig Richtung Köln?“ hörte er eine Stimme neben sich. Oliver sah auf und blickte erstaunt direkt in das Gesicht der Blondine, die mit ihrer leichten Jacke, dem engen Rock und den hochhackigen Schuhen Schutz unter einem Dachvorsprung neben den Toiletten gesucht hatte. Sie tippelte von einem Bein auf das andere, als würde sie auf einer heißen Herdplatte stehen. Dabei tanzten ihr Flocken direkt vor dem Gesicht herum. Es gab kaum eine unpassendere Kleidung für das Wetter, das sie umgab.
Oliver hatte gerade seinen Schlüssel gedrückt, der Wagen hatte kurz aufgeleuchtet. Vermutlich hatte die Frau sein Nummernschild bemerkt. Sie sah verloren aus unter ihrem starken Make-up, das an den Wangen langsam verlief.
Natürlich fuhr er Richtung Köln, schließlich wollte er nach Hause. Aber hatte er Lust, nicht mehr alleine im Wagen zu sitzen? Etwas in ihm sträubte sich dagegen, die Frage zu bestätigen. Er wusste selbst nicht, was das war. Die Reste eines längst verschütteten Instinktes, von dem er verlernt hatte, dass man ihm traute?
Aber ein Mann konnte eine Frau unmöglich hier auf dem Parkplatz stehen lassen. Es war kalt, feucht, schneite leicht. Und die Frau machte kaum den Eindruck, dass sie ihn überfallen und ausrauben würde. Sie hatte einfach Ärger mit ihrem Partner gehabt, der sie allein hatte stehenlassen in der Kälte des Nachmittags. Es war eine Geste der Hilfsbereitschaft, nicht der Beginn eines billigen Erotik-Films, auch, wenn sie ein wenig so aussah. Er in seinem Anzug und dem dunklen Mantel würde kaum den geeigneten Gegenpart bieten können.
Schon allein sein Zögern ärgerte ihn. Er öffnete den Mund, strengte sich an, die gewünschte Antwort zu geben. Eine Schneeflocke verirrte sich in ihren hochgesteckten Haaren und schmolz zu einem schimmernden Tropfen.
Sie verzog ihren rotgeschminkten Mund zu einem Lächeln. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so einfach anspreche“, sagte sie mit gesenkter Stimme. „Mein, hm, Chef hat mich…nun, Sie haben vermutlich die Szene in der Raststätte mitbekommen. Er ist einfach weggefahren. Ich habe zwar mein Handy und noch ein paar Euros in der Tasche, aber ein Taxi ist nicht gerade ein Schnäppchen.“
„Äh, ja, ja, das verstehe ich“, beeilte sich Oliver zu sagen. Er merkte, wie ihm eine leichte Hitze in die Wangen stieg. „Ich fahre tatsächlich Richtung Köln, also nicht ganz, so ungefähr zwanzig Kilometer vorher wohne ich in einem kleinen Dorf. Äh, ich muss heute noch nach Hause. Aber natürlich kann ich Sie mitnehmen, das ist kein Problem.“
Er machte eine etwas ungelenke Bewegung in Richtung seines Wagens. Die Frau brachte ein sanftes Lächeln zustande und warf ihm einen längeren Blick zu.
„Ich hoffe, ich störe Sie nicht“, sagte sie und trippelte auf den Wagen zu. Sie hatte ausnehmend schlanke Beine, konnte sich in ihrem engen Rock nur kleine Schritte erlauben. Oliver zwang sich, seinen Blick von ihren Unterschenkeln zu reißen.
Er überlegte, ob es albern aussehen würde, wenn er an ihr vorbeilief und ihr die Tür öffnete, doch in diesem Moment hatte sie bereits selbst die Beifahrertür aufgezogen.
Oliver beeilte sich, ihr zu folgen. Er fühlte sich mit einem Mal merkwürdig unsicher. Weshalb, konnte er sich selbst nicht erklären. Irgendetwas an der Situation kam ihm komisch vor, aber er konnte nicht beantworten, was es war. Die Frau wirkte trotz der für sie unangenehmen, peinlichen Lage erstaunlich selbstsicher, ja fast ein wenig überlegen. Doch möglicherweise lag das nur daran, dass sie auf diese Weise die Demütigung überspielen wollte, die der Mann ihr zugefügt hatte.
Er klemmt sich hinters Steuer und startete den Motor. „Dann wollen wir mal“, sagte er. Die Frau hatte sich bereits angeschnallt. Sie legte die rotlackierten Finger sorgfältig in ihren Schoß und nickte mit einem schmalen Lächeln.
Schweigend fuhren sie vom Parkplatz und fädelten sich in den fließenden Verkehr auf der Autobahn ein. Es war deutlich voller auf der Autobahn geworden, insgesamt aber auch langsamer. Viele Fahrer schreckten die Schneeflocken, obwohl sie nicht auf der Fahrbahn liegenblieben und auch auf der Windschutzscheibe sofort schmolzen.
„Scheußliches Wetter“, stellte Oliver nach einigen Minuten fest. Die Frau, die starr geradeaus geschaut hatte, nickte zunächst nur gedankenverloren, dann zuckte sie zusammen, als müsse sie sich gewaltsam in die Gegenwart zurückholen.
„Entschuldigen Sie“, sagte sie, „Sie müssen mich für sehr unhöflich halten. Ich habe mich bisher weder für Ihre spontane Hilfsbereitschaft bedankt noch mich vorgestellt.“
Sie griff sich vorsichtig in die Haare, als müsse sie sich vergewissern, dass sie noch vorhanden waren.
„Also, herzlichen Dank für Ihre Freundlichkeit – mein Name ist Heike Ellrott.“
Sie wirkte nach diesen Worten ein wenig gelöster, Oliver lächelte freundlich.
„Oliver Schmied“, sagte er. „Wohnen Sie in Köln?“
„In Köln? Nein“, sagte sie. Sie schien einen Moment zu zögern, doch dann lächelte sie. „Ich habe dort Freunde, die mir weiterhelfen werden.