Christina und das Geheimnis des alten Turms/Viktoria und der Geist - Olaf Hauke - E-Book

Christina und das Geheimnis des alten Turms/Viktoria und der Geist E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Christina und das Geheimnis des alten Turms Als Sylvia starb, hatte Cristina die feste Absicht, ihr zu folgen. Doch man fand sie rechtzeitig. Nun muss sie sich Stück für Stück zurück ins Leben kämpfen, wobei die Klinik, in die man sie gesteckt hat, keine sonderliche Unterstützung bietet. Ein Betreuer ist in sie verliebt, doch sie kann seine Gefühle nicht erwidern. Aber mit seiner Hilfe hat sie wenigstens die Chance, die Klinik für kurze Ausflüge zu verlassen. An einem geheimnisvollen Turm in der Nähe der Klinik trifft sie auf einen Mann, der behauptet, dort einen Geist zu jagen. Cristina hält ihn für einen Spinner, so verrückt wie seine Erscheinung. Doch ihre Wege kreuzen sich erneut und zwar schneller, als sie es erwartet hat. Er scheint die Möglichkeit in der Hand zu halten, um sie aus der Klinik zu befreien. Aber wie soll sie ihm erklären, dass sie sich inzwischen in seine Tochter verliebt hat? Bald erfährt Cristina, dass der Turm, an dem sie den Mann traf, tatsächlich ein düsteres Geheimnis bereithält, ein Geheimnis, das ihr viel über ihr eigenes Leben und ihre Gefühle verrät. Kann sie es schaffen, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen und ihrem Herzen zu folgen? Viktoria und der Geist Obwohl Viktoria nur die ungeliebte Halbschwester der Familie von Daak ist, bittet diese sie, den Familiensitz zu besuchen. Dort soll sich seit geraumer Zeit ein Geist herumtreiben. Als Polizistin glaubt sie natürlich nicht an einen derartigen Unsinn. In dem alten, halb verfallenen Gemäuer begegnet sie jedoch nicht nur einer Gespenster-Erscheinung, sondern auch den Schatten ihrer eigenen Geistern. Sie begreift Stück für Stück, dass sie eine Gefangene ist, eingesperrt im Kerker ihrer eigenen Ängste. Kann das attraktive Medium Sina ihr dabei helfen, aus diesem Gefängnis auszubrechen und zudem den Spuk im Haus zu beenden?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Ende

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Ende

Cristina und das Geheimnis des alten Turms

Rainbow-romance

Olaf Hauke

2022

Copyright 2022

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover: shutterstock

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

„Und wie geht es Ihnen heute?“

Mehr noch als die Frage mochte es Cristina, in dem alten Ledersessel zu setzen und die Unterarme bequem auf die Armstützen so zu platzieren, dass sie eine gerade Linie bildeten und sich die Finger um das polierte Holz legen konnten, als hätte man zwei Kugeln in den Händen. Sie schob die Schultern ein kleines Stück nach oben, so dass sie den oberen Teil der Lehne berührten und damit den Rücken streckten. Es roch angenehm nach altem Leder, daran konnte auch das Desinfektionsmittel nichts ändern, mit dem die Psychologin nach jeder Sitzung den Sessel abrieb. Cristina hatte sie beobachtet, wie sie die Kiste mit den Tüchern heimlich unter dem Tisch, der neben dem Fenster stand, hervorzog und verstohlen ein Blatt mit spitzen Fingern aus der oberen Öffnung herauszog. Anschließend hatte sie das Fenster geöffnet, wahrscheinlich auch, um den scharfen Geruch nach draußen ziehen zu lassen.

Der Raum war hell und freundlich, an den Wänden hingen Bilder, anatomische Skizzen von Pflanzen, versehen mit kleinen, unleserlichen Hinweisen an den einzelnen Bestandteilen. Sie sahen aus, als hätte sie jemand dort mit einem Bleistift hin gekritzelt. Auf den silbernen Rahmen hatte sich eine dünne Schicht Staub gesammelt.

Neben dem Stuhl, auf dem die Psychologin mit gerade durchgedrücktem Rücken saß, stand ein Tisch, auf dem eine Karaffe mit Wasser und ein Glas standen, dazu hatte sich ein bunter Strauß Sommerblumen in einer hellen Vase gesellt. Den Block für die Notizen hatte sie auf den Schoß gelegt. Während sie mit Cristina sprach, spielte sie mit dem Kugelschreiber.

Das Gesicht hinter der großen Brille mit dem roten Gestell verriet kein Gefühl, weder Freude noch Überraschung. Es waren stets die wachen, grauen Augen, mit denen sie Cristina musterte, sobald sie Platz genommen hatte. Wenn sie sprach, spitzten sich ihre Lippen zu einem fragenden Loch.

Trotz der Wärme, die durch das offene Fenster in das Zimmer strömte, trug sie einen dunkelgrünen Rollkragenpullover und eine braune Stoffhose. Die braunen, halblangen Haare waren von deutlichen Silberfäden durchzogen. Sie machte stets einen angespannten Eindruck, ein wenig so, als müsse sie auf der Hut sein vor einem lauernden Feind, der unsichtbar um sie herumschlich, bereit, sich im nächsten Moment aus einem toten Winkel auf sie zu stürzen.

„Es geht mir besser“, sagte Cristina. Sie hatte gelernt, dass sie, auch wenn sie die Antwort bereits auf den Lippen trug, immer eine Pause einlegen musste, ehe sie die Worte aussprach. Tat sie es nicht, setzte die Psychologin sofort nach und war schon einige Male in einen regelrechten, anstrengenden Fragenrausch verfallen, der Cristina jedes Mal Kopfschmerzen bereitet hatte.

Die Zeitspanne schien die Frau ebenso zu beruhigen wie die Antwort selbst, denn sie nickte leicht. „Sie sind jetzt vier Wochen bei uns“, sagte sie, ebenfalls mit einer angemessenen Pause. Vor der Tür hörte Cristina das Geräusch eines startenden Motors. Vermutlich war es einer der Lieferwagen. Um diese Zeit konnte es eigentlich nur das weiße Fahrzeug der Wäscherei sein, dachte sie.

„Ich denke, Sie haben gute Fortschritte gemacht“, stellte die Psychologin gedehnt fest. „Die Träume sind nicht zurückgekehrt?“

Cristina wollte bereits den Mund öffnen, da begriff, sie, dass die Kürze der Frage eine Falle gewesen war. So blickte sie einen Moment an die Decke und atmete einige Male ruhig durch. „Nein“, sagte sie schließlich. „Ich schlafe mehr oder weniger durch, obwohl ich die Tabletten abgesetzt habe.“

„Mehr oder weniger?“ Dieses Mal hatte sich die Frau weniger Zeit gelassen.

„Ich trinke abends manchmal noch zwei große Becher Tee“, meinte Cristina und versuchte, ein Lächeln anzudeuten. Die Psychologin nickte und machte sich eine kleine Notiz auf ihren Block. Sie blieb völlig ernst.

„Werden Sie noch mit den Bildern konfrontiert?“ fragte die Psychologin weiter. Dieses Mal formte sie mit den Lippen ein O, ein Zeichen, dass ihr diese Frage besonders wichtig war.

„Das letzte Mal vor einer Woche“, meinte Cristina nach der angemessenen Pause. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag ein wenig beschleunigte. Die Augen hinter der Brille schienen sie einen Augenblick anzustarren, abzuwägen.

„Seitdem nicht mehr?“

Für eine Sekunde war Cristina versucht, ihre äußerliche Gelassenheit aufzugeben und sich fester um die Armlehnen zu krallen, damit sie vorspringen konnte. Doch sofort gab sie es wieder auf. In den letzten Wochen hatte sie die Konsequenzen begriffen, die Widerstand, egal in welcher Form, nach sich zog. Sie atmete ein wenig stärker, fühlte den wachsenden Druck in ihren Fingerspitzen. Dann war es vorbei.

„Nein“, sagte sie und fühlte sich dabei fast erheitert, „nein, seitdem nicht mehr. Und darüber bin ich wirklich froh.“

„Froh?“

„Natürlich, schließlich haben diese Bilder mein Leben gefressen.“

Kommentarlos folgte die nächste Notiz. Die Psychologin gab keinen weiteren Kommentar ab, doch die Spannung in ihrem Körper ließ ein wenig nach. Cristina begriff sofort, dass sie den richtigen Ton getroffen hatte. Zuerst wollte sie noch einmal nachsetzen, doch dann wurde ihr klar, dass eine weitere Bemerkung das kleine Etappen-Ziel zerstören konnte. So lehnte sie sich nur ein wenig nach hinten und streckte die Beine von sich.

Stille senkte sich über den Raum. Noch vor vier Wochen hätte Cristina sofort das Gefühl bekommen, dieses Schweigen vertreiben zu müssen. Doch sie hatte dazugelernt. Sie ließ ihren Blick über ihre Schuhe wandern, die ausgestreckten Beine. Trug sie tatsächlich seit vier Wochen fast ausschließlich diesen Trainingsanzug? Anfangs war es so einfach und bequem gewesen. Sie hatte nicht die Kraft gehabt, sich etwas herauszusuchen, was sie hätte anziehen können. Doch mittlerweile merkte sie deutlich, wie die hellgraue Hose, die locker um ihre Beine hing und unten mit einem weißen Bündchen abschloss, zu einer Last wurde. Sie war Teil eines Lebens, das sie abschütteln musste.

Doch dazu musste sie, das war ihr völlig klargeworden, unter anderem diese Gespräche mit der Psychologin hinter sich bringen. Cristina mochte die Psychologin, aber sie traute ihr nicht vollständig. Jede Geste, jede Äußerung, jedes Zucken der Mundwinkel wurde zu einem geheimen Code umgedeutet und interpretiert – und das in einer Weise, auf die Cristina nicht den geringsten Einfluss hatte.

„Sie machen mit dir, was sie wollen“, hatte ihr diese merkwürdige Blondine mit dem starren Blick zugeraunt, während sie gemeinsam beim Essen gewartet hatten, die Tabletts in der Hand. Cristina hatte nicht den Fehler gemacht und sich umgedreht oder ein Gespräch angefangen. Sie hatte in den vergangenen Wochen schnell gemerkt, dass es hier kaum jemanden gab, mit dem man reden konnte, mit dem es sich zu sprechen lohnte. Jeder hatte sein eigenes Motiv, ein echtes Miteinander zu verhindern.

Ich muss genauso verrückt sein wie sie, war es ihr wiederholt durch den Kopf gegangen. Schließlich wäre ich sonst nicht hier. Aber wenn dem so war, weshalb waren dann in ihrem Kopf diese klaren Gedanken, diese für sie logischen Überlegungen?

Einige Male war sie drauf und dran gewesen, die Psychologin danach zu fragen, aber sie hatte am eigenen Leib erlebt, was es bedeutete, die falschen Fragen zu stellen. So blieb sie lieber stumm und versuchte, Antworten zu geben, die wie Puzzle-Teile waren und ein Bild ergaben, ein Bild, wie es von der Außenwelt gewünscht wurde.

„Haben Sie manchmal noch die Vorstellung, die Welt wäre ein besserer Ort, wenn es Sie nicht geben würde?“

Cristina wusste sicher, dass sie diese Behauptung nie so aufgestellt hatte, zumindest nicht in diesen drastischen Worten. Aber diese Art der Diskussion hatten sie bereits ohne Erfolg geführt. Also legte sie die obligatorische Pause ein.

„Ich bin ein Teil dieser Welt“, sagte sie schließlich. „Ich habe bisher niemandem geschadet, im Gegenteil. Ich habe drei Jahre damit verbracht, Sylvia auf ihrem Weg zu begleiten, bis zu ihrem Ende.“ Sie bemühte sich, die Stimme so neutral wie möglich klingen zu lassen. Die Psychologin sah sie auffordernd an, doch Cristina verstummte und fügte ihren Worten nichts hinzu.

„Denken Sie noch oft an sie?“

Cristina spürte, wie sich ihre Fingerkuppen ein wenig stärker um die Knäufe der Armlehnen schlossen. „Natürlich“, sagte sie und fand, dass ihre Stimme einen unnatürlichen, steifen Unterton bekommen hatte. Doch sie war nicht in der Lage, das zu verhindern. „Wir waren über sechs Jahre befreundet, das ist eine lange Zeit. Ich werde geraume Zeit brauchen, um die Ereignisse zu verarbeiten. Aber mir ist inzwischen klargeworden, dass ich ihr nicht folgen werde, zumindest jetzt noch nicht.“

„Jetzt noch nicht?“

Cristina musste lächeln, in manchen Dingen war die Psychologin doch leichter zu durchschauen als gedacht. „Niemand lebt ewig – und niemand weiß, was danach kommen wird.“

Die Psychologin fühlte sich sichtbar ertappt. Sie machte sich eine weitere Notiz. „Gut, Frau Hellberg“, sagte sie nach einer längeren Pause, „ich denke, die Zeit ist schon fortgeschritten. Gibt es noch etwas, worüber wir heute sprechen sollten?“

Damit trat sie in das übliche Ritual des Abschieds ein. Cristina hatte sich zwei banale Feststellungen zurechtgelegt. In den ersten Sitzungen hatte sie mit den Achseln gezuckt, doch das war die falsche, war eine unerwünschte Reaktion gewesen.

Sie sprachen noch ein wenig über das therapeutische Malen, anschließend erhob sich die Psychologin von ihrem Stuhl und drückte den Rücken durch. Sie machte, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, eine Bemerkung über das Wetter. Cristina zögerte eine Sekunde, dann antwortete sie mit einer ebenso harmlosen Phrase, als wäre die Frau ihr gegenüber eine Nachbarin, die sie zufällig im Treppenhaus getroffen hätte und nicht diejenige, die über ihre Zukunft entscheiden würde.

Cristina nickte noch einmal zum Abschied, ging dann zur Tür und verließ das Büro der Psychologin. Mit einem einzigen Schritt war sie zurück im Alltag der Klinik.

Kapitel 2

„Dann hast du endlich die grüne Karte bekommen?“ fragte Burkhardt lachend und trat einen Schritt zurück, um sie an den Sensor zu lassen, mit dem man die Tür in die ersehnte Freiheit öffnen konnte.

„Hat ja auch lange genug gedauert!“ Cristina hielt die Karte an den Sensor, die Tür schwang lautlos nach außen und gab den Blick auf einen Weg frei, der über ein Stück Rasen zu einem Tor führte. Sie zögerte einen Moment, doch der Pfleger lachte leise.

„Eigentlich müsste ich mitkommen, aber ich bin jetzt der Einzige auf Station.“ Er sah sie für einen Moment ernst an. „Wenn sie dich am nächsten Baum finden, wo du dich aufgehängt hast, kriege ich ernsthaft Probleme!“ Sein Gesicht, meist zu einem Lächeln verzogen, wurde ernst.

„Und ich wäre alle Probleme los“, stellte sie trocken fest. Sein Mund zuckte. „Hey, keine Bange, nur Spaß, ehrlich.“ Sie hob die Hände. „Siehst du, ich habe weder Rasierklingen noch einen Strick dabei, nur diesen Schoko-Riegel. Und ich verspreche, dass ich das Papier nicht einfach in den Wald werfen werde!“

Burkhardt stieß einen Seufzer aus. „Okay, ich vertraue dir. Also, wenn du hier durch das Tor gehst, kommst du in den Wald. Es gibt einen schönen Rundweg, der führt erst zu dem Aussichtspunkt, von wo aus du über das Tal blicken kannst. Allerdings geht es nicht steil bergab. Wenn du springst, landest du höchstens in den Brombeeren und brauchst eine Rolle Pflaster. Dann folgst du den Pfeilen und kommst zu dem Turm. Aber pass auf,“ er machte eine kurze Pause und rollte mit den Augen, „dort spukt es!“

Cristina lachte auf. „Keine Sorge, ich bin nicht besonders schreckhaft. Kann man ihn besichtigen?“

„Den Turm? Nein, der ist gesperrt, denke ich. Aber auch wenn nicht, du kommst auch dort nicht auf dumme Gedanken, versprochen?“

Cristina schob die Karte, mit der sie die Klinik jederzeit betreten und verlassen konnte, in die Gesäßtasche ihrer Jeans. Endlich trug sie wieder eine Hose, die man nicht vorne zubinden musste. „Indianer-Ehrenwort!“

Burkhardt wollte noch etwas sagen, aber sein kleines Alarm-Gerät gab ein hässliches Signal von sich. Er stieß ein unzufriedenes Grunzen aus, warf einen Blick auf den Pieper und drehte sich um. „Ich sehe dich zum Kaffee, okay?“

„Den werde ich auf keinen Fall verpassen“, sagte Cristina und versuchte zu lächeln, doch er war längst auf den Weg den Flur hinunter unterwegs zu einem der Zimmer, von wo aus der Alarm anscheinend ausgelöst worden war.

Entschlossen trat Cristina nach draußen, sofort blendete sie das Sonnenlicht. Verdammt, dachte sie, und meine Sonnenbrille liegt im Auto, das ungefähr zweihundert Kilometer entfernt in der Tiefgarage steht. Wie es wohl jetzt in der Wohnung aussah? Bestimmt waren inzwischen alle Pflanzen vertrocknet, der Briefkasten quoll über mit Werbung, bis irgendwann die mürrische Frau Petzold sich erbarmte, die Flyer herauszog und bei ihr unter der Tür hindurch schob.

Cristina spürte, wie die tiefe Traurigkeit zurückkehrte. Für einen Moment war ihr, als stände sie wieder in diesem langen, schwarzen, kalten Tunnel, der jedes Geräusch, jedes Zeichen von Leben aufsog und verschluckte. Der Tunnel, an dessen Ende es kein Licht gab, nicht mal das einer heranrasenden Lok.

Sie griff sich an den Kopf, ihre Schläfen fühlten sich taub an. Wie immer, wenn sie diese kleinen, grünen Tabletten bekommen hatte. Burkhardt hatte ihr den Namen verraten, aber sie konnte sich nicht mehr erinnern.

Überhaupt fehlten ihr, seit sie hier war, größere Teile ihrer Erinnerung. Niemand hatte gesagt, dass dies an den Medikamenten liegen konnte – zumindest niemand vom Personal. Aber dieser merkwürdige Junge, der so etwas erzählte, saß auch oft in einer Ecke hinter einem Stuhl und schnappte mit der Hand nach unsichtbaren Fliegen. Er war als Quelle also nicht unbedingt glaubwürdig. Wie lange hatte er doch gleich an der Nadel gehangen? Und alle waren sich sicher, dass er diese Karriere fortsetzen würde, sobald er dazu die Gelegenheit fand. Allerdings hatte sie sich in den Gruppensitzungen viel von seinen glatten Lügen abgeschaut, die hier alle hören wollten. Darin war er durchaus begabt.

Cristina drehte den Kopf ein wenig und fühlte die warme Berührung des Lichts auf ihrer rechten Wange. Mit zusammengekniffenen Augen ging sie Richtung Tor und drückte es auf. Hier war die Klinik zu Ende, zum ersten Mal seit vier Wochen hatte sie das Gelände verlassen.

Sie blieb stehen und atmete einige Male tief durch. Die Wärme traf nun ihren Kopf, strich über die blassen Arme. Sie drehte sich um, sah den niedrigen Beton-Bau, der wie ein Fremdkörper im Grün der Natur wirkte. Jetzt würde sich ihr zum ersten Mal seit vier Wochen die Möglichkeit zur Flucht bieten.

In den ersten beiden Wochen hatte sie immer davon geträumt, wie es wäre, wenn sie einfach weglaufen würde. Zwar hatte sie keine Grüne Karte besessen, aber im Gegensatz zu Abteilung Eins war sie nicht komplett eingeschlossen gewesen, außer in den ersten vier Tagen zur Beobachtung, unmittelbar, nachdem man sie gefunden hatte.

Nein, dachte sie, sie hatte weder Geld noch Papiere dabei, auch ihr Mobiltelefon und ihre Wohnungsschlüssel wurden irgendwo in der Klinik verwahrt, zumindest hoffte sie das. Cristina hatte gehört, dass man nach diesen Dingen besser nicht fragte, wenn man keinen negativen Eindruck hinterlassen wollte. Aber war es nicht völlig natürlich, war es nicht ein elementares Recht, ein Handy oder Geld zu besitzen? Nein, dachte sie, für mindestens acht Wochen hatte sie diese Rechte verwirkt, quasi an der Tür zur Klinik abgegeben.

Hier war eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen, wie man sie außerhalb dieser Mauern nicht kannte. Und zum ersten Mal, vermutlich, weil sie außerhalb eben dieser Mauern stand, wurde ihr Tragweite bewusst, was sie in den letzten Wochen erlebt hatte, was man ihr angetan hatte.

Die Wärme auf ihren Armen wurde unangenehm. Sie entschloss sich, die wenigen Meter Richtung Wald zu gehen. Die Wipfel versprachen Schatten und kühlere Luft. Und wirklich, kaum hatte sie die ersten Bäume und Sträucher erreicht, spürte sie, wie sich der Schatten des Waldes wie eine angenehme, frische Decke über sie legte. Die blassen, leicht erhitzten Arme kühlten wieder ab, die ersten Schweißtropfen, die sich auf ihrer Stirn gebildet hatten, verschwanden.

Vor ihr gabelte sich der Weg. Sie erkannte die Holztafel in Form eines Pfeiles. Die Spitze war rot eingefärbt und wies auf den linken der beiden Wege. Zum Aussichtspunkt, stand dort zu lesen, war es genau einen Kilometer.

Der Weg war breit und asphaltiert, die Baumkronen spendeten an den Rändern genügend Schatten. Nur in der Mitte blieb ein schmaler, heller, sonnengetränkter Streifen. Cristina genoss jeden Atemzug. Vermutlich hätte sie das vor vier Wochen nicht geschafft. Aber auch jetzt genügte ein einziger Gedanke, um jede Leichtigkeit aus ihrem Körper zu jagen.

Sylvia war tot, sie würde nie wieder zurückkehren in diese Welt. Nie mehr konnte sie einen solchen Moment, einen Atemzug, ein Lachen, einen Sonnenstrahl mit ihr teilen. Dieses Licht in ihren Augen war für alle Zeit erloschen. Cristina war es, als würden aus den kühlenden Schatten der Bäume mit einem Mal schwarze Nebel aufsteigen, die sich über sie legten. Ihr Blick verschleierte sich. Nur mit äußerster Anstrengung hielt sie sich auf den Beinen, konzentrierte sich auf ihre Atmung.

Sie entdeckte eine Bank am Rand des Weges und ließ sich dankbar nieder, wischte sich immer wieder mit dem Unterarm über ihre brennenden Augen. Sie musste die Tatsache akzeptieren, dass Sylvia nicht mehr lebte, dass sie gestorben war. Und sie hatte die letzten Monate mit ihr zusammen durchgestanden, als der Krebs längst den Krieg gewonnen hatte, die letzten Gefechte des Körpers nur noch aus kalten, harten Schmerzen bestanden hatten, die man ihr so gut es ging weggespritzt hatte.

Warum hatte man ihr damals keine Erlösung geschenkt? Wer, wenn nicht sie, hatte es verdient? Cristina fühlte einen Krampf in ihrem Unterleib und lehnte sich vor.

Als sie den Blick wieder frei bekam und die Schmerzen ein wenig nachließen, sah sie hoch. Direkt vor ihr war ein kleiner, schwarzer, ziemlich hässlicher Vogel auf dem Asphalt gelandet. Er hüpfte umher, suchte anscheinend etwas für seinen hungrigen Schnabel. Dann sah er sie an, legte den Kopf schief. Für den Bruchteil eines Augenblicks dachte sie, in seinen schwarzen Knopfaugen ein silbernes Schimmern gesehen zu haben, aber es konnte sich nur um die Reflexion eines Sonnenstrahls gehandelt haben.

Er schüttelte sich kurz, hüpfte noch zweimal, breitete dann die Flügel aus und flog flatternd davon. Ich sehe anscheinend wirklich schon Geister, ging es Cristina durch den Kopf.

Cristina griff sich einen mittelgroßen Ast, der neben ihr auf der Bank lag. Sie nahm ihn gedankenverloren in beide Hände und brach ihn in immer kleinere Stücke, bis es für ihre Finger unmöglich war, ihn weiter zu teilen. Vor ihren Füßen sammelten sich kleine Holzstücke und Brocken der morschen Rinde, die auch an ihren Händen klebte.

Cristina fiel wie in einen Rausch, versuchte, den Ast weiter zu zerkleinern. Schließlich drang ein Holzsplitter in ihre Fingerkuppe, ein zweiter in ihren Handballen. Blut lief über ihre Finger, aber sie ignorierte es, drückte weiter gegen das nur noch zentimetergroße Stück Holz. Dabei liefen ihr Tränen über die Wangen, die sie nicht einmal aus dem Gesicht wischte.

Irgendwann rutschte das Holz aus ihren blutenden und schmerzenden Fingern, zitternd sank sie in sich zusammen und begann, hemmungslos zu weinen. Es würde noch ein langer Weg zurück ins Leben werden, schoss es als letzter klarer Gedanke durch ihren Kopf.

Kapitel 3

Nach vier Tagen lichteten sich die dunklen Schleier. Cristina hatte zwei Tage nichts gegessen, doch urplötzlich hatte sie der Appetit angesprungen wie eine wilde Raubkatze. Burkhardt, der eine Weile nicht sonderlich gut auf sie zu sprechen gewesen war, weil sie ihn bei ihrem ersten Ausflug in die Freiheit so enttäuscht hatte, sprach wieder mit ihr und stellte fest, dass sie richtig Farbe auf die Wangen bekommen hätte.

Daraufhin hatte sich Cristina nach ewiger Zeit wieder im Spiegel betrachtet. Die großen braunen Augen waren ihr fremd vorgekommen, die dunklen Locken hatten müde und kraftlos um ihren Schädel gehangen. Ihr eigenes Gesicht war für sie fremd und eingefallen gewesen. Sie hatte sich selbst über die Wangen gestreichelt und dabei kein Gefühl gehabt. Alles war wie taub gewesen.

Zuerst war sie in Tränen ausgebrochen, hatte sich abgewandt und auf ihr Bett in dem Einzelzimmer geworfen. Aber schnell hatte sich unter die dunkle, hoffnungslose Verzweiflung auch eine Wut gemischt, eine Wut auf sich selbst, auf ihre hängenden Schultern, die schmalen, zerbissenen Lippen, die abgebrochenen Fingernägel. Sie war trainiert und sportlich, dieser Körper war einmal ihr Kapital gewesen.

„Alles in Ordnung?“ Erst jetzt war ihr bewusst geworden, dass sie geschrien haben musste. Irgendwer hatte anscheinend den Knopf für die Hilfe ausgelöst. Und nun stand Burkhardt vor ihrem Bett, hatte etwas in der Hand, erst auf den zweiten Blick erkannte sie die Schale mit den Medikamenten.

Cristina wusste selbst nicht, woher die plötzliche Kraft kam, mit der sie sich aufsetzte. Sie starrte den jungen Mann mit den roten Haaren und den Sommersprossen an. „Ich sehe scheiße aus“, stieß sie so holprig hervor, dass sie selbst lachen musste.

Burkhardt legte den Kopf schief, tat so, als würde er sie mit zusammengekniffenen Augen mustern. „Ja, das tust du“, stellte er erstaunlich schroff fest. Cristina klappte der Mund auf, sie drehte sich spontan um, griff nach ihrem Kissen und schleuderte es in seine Richtung. Er drehte sich zur Seite, kicherte und ließ die Schale mit den Tabletten fallen. Sie rollten unter das Bett.

„Ich krieche da jedenfalls nicht hin“, stellte Cristina fest und fuhr sich über die Haare. Sie fühlten sich fest an, beinahe hart. In einem Reflex, den sie sich in den letzten Monaten angewöhnt hatte, wollte sie sich auf die Lippen beißen. Im letzten Moment dachte sie an ihr Spiegelbild und zuckte zurück.

„Die hole ich später, es scheint dir ja besser zu gehen. Ich dachte, nach deinem Fress-Anfall hast du einen Rückschlag.“ Er hob das Kopfkissen auf und zog mit einer mechanischen Geste den Bezug ab.

„Ich habe zum ersten Mal seit Wochen in den Spiegel geschaut“, sagte Cristina und griff nach der Decke, die auf dem Bett lag.

Burkhardt nickte und strich über das Kissen. „Hast du Kosmetika von zu Hause mitgenommen?“ fragte er und kannte wahrscheinlich bereits die Antwort.

„Ich habe nichts hier, das ganze Zeug im Badezimmer ist von euch. Das ging damals viel zu schnell. Der Notarzt hat mich in die Klinik verfrachtet, die lieferten mich, als ich wieder stabil und mein Magen leer war, hier ab. Ich habe nur die Klamotten, die ich damals trug. Bei euch liegt noch mein Handy, außerdem meine Schlüssel. Vermutlich hatte ich noch ein bisschen Kleingeld in der Tasche.“

Zum ersten Mal seit ihrer Einlieferung begriff Cristina, dass sie keinerlei persönlichen Dinge bei sich trug, alles war nach wie vor in ihrer Wohnung, um die sich natürlich niemand seit über vier Wochen gekümmert hatte. Sie drückte hilflos die Decke fester an sich. Sie war nicht nur allein, sie hatte nicht mal einen Ausweis oder einen dämlichen Euro für einen Schoko-Riegel aus dem Kiosk. Sie hatte buchstäblich nichts, und ihre Wohnung war hunderte von Kilometern entfernt, zu weit, um mal eben dort vorbei zu fahren.

Burkhardt schien nicht zum ersten Mal mit einer solchen Situation konfrontiert zu sein. „Du hast keinen Nachbarn oder Bekannten, der für dich in die Wohnung gehen können?“ Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

Cristina brachte alle Kraft auf, um die in ihr hochströmende, alles verschlingende Panik zu besiegen. Sie durfte sich auf keinen Fall von der Situation überrollen lassen. Das war ihr einmal passiert, es durfte sich nicht wiederholen.

„Was habt ihr von mir hier?“ fragte sie, ohne Burkhardt zu antworten. „Habt ihr mein Telefon? Hinten steckt meine Kredit-Karte. Damit kann ich von der nächsten Bank Geld abholen – wenn ich noch einmal rauskomme.“

Burkhardt sah sie nachdenklich an. „Und du versuchst nicht wieder, dir mit einem Stück Holz die Finger abzusäbeln?“

Cristina starrte für einen Moment auf die Pflaster, die noch immer ihre Fingerkuppen und den Handballen zierten. Es brannte leicht, aber der Schmerz zeigte ihr auch, dass sie noch lebte. Zum ersten Mal seit langem empfand sie den Schmerz, die Schwierigkeiten beim Zufassen als etwas Hilfreiches. Sie sah auf und Burkhardt direkt in die Augen.

„Red keinen Scheiß“, stieß sie hervor.

„Also schön, in einer Stunde endet meine Schicht. Ich fahre dich zur Bank und warte dort, du hebst Geld ab, kannst auch in dem Geschäft nebenan einkaufen gehen. Aber du wirst mich nicht los und baust keinen Mist, verstanden?“

Cristina merkte, wie bei dem bloßen Gedanken an ein Geschäft, an einen banalen, alltäglichen Vorgang, ihr Herz schneller zu schlagen begann. Eine Stunde! Bis dahin war ihr Puls vermutlich explodiert oder ihr Herz hatte sich überschlagen.

„Natürlich, natürlich“, stieß sie hervor in einem sinnlosen Versuch, ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Burkhardt schien von seinem eigenen Angebot nicht recht überzeugt. Er stieß noch ein Grunzen aus und warf mit einem Schwung das Kissen zurück auf ihr Bett.

„Die Alte hat dir die Karte doch nicht abgenommen, oder?“ fragte er noch einmal nach. Cristina beeilte sich, sie aus der Schublade ihres Nachtisches zu holen und damit zu wedeln, als könne sie bereits hier damit eine Tür öffnen.

„Wenn du wieder Mist baust, kann ich mir einen neuen Job suchen“, brummte er noch undeutlich und war dann aus dem Zimmer.

Die nächste Stunde verbrachte Cristina unter der Dusche. So gut es ging wusch sie sich die Haare, seifte sich immer wieder ein, als könne sie damit die letzten Wochen von ihrer Haut bekommen wie eine Schicht Wachs.

Vor einigen Tagen noch hatte sie dieses drängende, nagende Gefühl nicht gespürt, was sie nun nach draußen zog, fort von hier, fort aus diesem Zimmer, von diesem Geruch, diesen sterilen, weißen Gängen. Zum ersten Mal war ihr klargeworden, dass es etwas gab, was sie vermisst hätte, wenn sie vier Wochen zuvor erfolgreich gewesen wäre.

Ihre Hand brannte noch immer. Aber sie musste hier raus, sie musste sich zurück ins Leben kämpfen, was immer es auch für sie bereithielt.

Knapp zwei Stunden später stand Burkhardt vor der Zimmertür. Jede Faser seines Körpers strahlte puren Zweifel aus. „Ich weiß selbst nicht, warum ich das tue“, sagte er missmutig.

Cristina schob sich an ihm vorbei aus dem Zimmer und zog die Tür ohne Schlüsselloch hinter sich zu. „Hör auf zu jammern“, sagte sie trocken, „ich kaufe dir auch eine schöne Krawatte!“

„Ich wusste, dass ich es bereuen würde“, kam die genervte Antwort.

Kapitel 4

Cristina wusste nicht, ob sie heulen oder sich freuen sollte. Sie war mit Burkhardt in der nächsten Stadt gewesen. Dabei waren sie eine erstaunlich lange Zeit durch ein Waldgebiet gefahren. Er hatte schließlich am Rande einer kleinen Fußgängerzone gehalten. Cristina war ausgestiegen und hatte die nächste Bank, die in einem Eckhaus untergebracht worden war, aufgesucht. Ganz mechanisch hatten ihre Finger die Geheimzahlen gefunden, sie hatte nicht mal nachdenken müssen.

Sie hatte das Geld in die Hosentasche ihrer Jeans gestopft, die Bank verlassen und ihn fragend angesehen. Er hatte ihr bloß zugewinkt und gewartet, während sie zunächst in eine Drogerie gegangen war. Es waren nur wenige Kunden anwesend und zu ihrem eigenen Erstaunen hatte sie sich wie selbstverständlich einen Korb genommen und eher wahllos eingekauft.

An der Kasse war ihr mit einem Mal schwindlig geworden, sie hatte sich abstützen müssen, doch es hatte wohl niemanden interessiert. So hatte sie auch hier anstandslos mit der Karte zahlen können. Das Bargeld wollte sie lieber aufbewahren. Auch diese Überlegung entstand flüssig und klar in ihrem Kopf.

Erst am Ausgang hatte sie bemerkt, dass ihr Burkhardt doch gefolgt war. So ganz hatte er ihr nicht vertraut. Sie ging in einen Mode-Discounter und kaufte die wichtigsten Teile für ein halbwegs passables Outfit in ihrer Größe. Sie entdeckte sogar Wanderschuhe und eine halblange Hose, die man am Knie verschnüren konnte. Burkhardt hatte auch hier vor dem Laden gewartet.

Sie hatte ihm erklärt, dass sie mit einem Taxi zurückfahren würde. Er ließ sie erst allein, als sie im Wagen saß und dem Fahrer in seiner Gegenwart die Adresse der Klinik gesagt hatte. Danach hatte er ihr noch einen warnenden Blick zugeworfen und war zu seinem eigenen Auto gegangen.

Sie hatte sich ohne Umwege zur Klinik fahren lassen, war ausgestiegen und mit Hilfe der grünen Karte wieder auf das Gelände und in die gesicherte Abteilung gekommen. Nun stand sie vor dem Bett, auf dem sie all die Schätze, die sie erstanden hatte, ausgelegt hatte.

Cristina merkte, wie ihre Beine weich wurden und nachgaben. Im letzten Moment schaffte sie es, sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer sinken zu lassen. Sie bekam das Zittern ihrer Hände nur mühsam unter Kontrolle. In diesem Moment dachte sie an die Tabletten, die unter das Bett gerollt waren. Cristina erhob sich schwer, kontrollierte, ob sie sich auf den Beinen halten konnte. Dann ging sie auf die Knie, sah unter das Bett und entdeckte schnell die beiden Tabletten, die Burkhardt offenbar vergessen hatte in seiner Aufregung um Cristina.

Sie holte sie mit einiger Mühe unter dem Bett hervor und ging mit ihnen ins Bad. Langsam ließ sie Wasser in den Zahnputzbecher laufen, starrte dabei auf die beiden weißen, länglichen Tabletten. Ein Schluck, und vermutlich ging es ihr bald besser. Wieder zitterte ihre Hand leicht. Sie hob die Hand, ruckte plötzlich mit dem Kopf zur Seite, als müsste sie ihrer eigenen Bewegung ausweichen.

Entschlossen trat sie an die Toilette, riss den Deckel nach oben und schüttete, warum auch immer, das Wasser des Bechers hinterher. Die Tabletten verschwanden. Cristina trat zurück, stieß mit dem Rücken gegen die Wand und rutschte langsam an ihr herunter.

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie in dieser Haltung verbracht hatte. Als sie sich hochstemmte, schmerzte der Rücken. Sie hörte, wie die Tür zu ihrem Zimmer geöffnet wurde. Hier klopfte niemand an, Privatsphäre gab es nicht – alles mit der Begründung, dass sie ja jederzeit einen erneuten Versuch starten konnte. Cristina war sich sicher, dass, hätte sie es darauf angelegt, sie hier niemand retten würde.

„Abendessen – alles in Ordnung?“ Nicole war eine der Betreuerinnen, eher eine Art Seelsorgerin. Cristina war ihre übertrieben mitfühlende Art von Anfang an auf die Nerven gefallen. Aber sie versuchte, sich auch heute nichts anmerken zu lassen.

Natürlich diente die Einladung zum Abendessen nur der Kontrolle. Vielleicht gab es hier auch Typen, die das brauchten, Cristina gehörte nicht dazu.

„Ja, alles okay“, sagte sie und sah kurz aus dem Bad, um zu signalisieren, dass der Kopf noch auf den Schultern saß. Hätte sie es nicht getan oder sogar die Tür zur Toilette geschlossen, wäre ihr Nicole so lange auf den Geist gegangen, bis sie sich gezeigt hätte.

So schien sie beruhigt, lächelte kurz und war im nächsten Moment verschwunden. Die neuen Dinge auf dem Bett waren ihr anscheinend nicht aufgefallen.

Cristina machte sich auf zum Essen, stopfte ziemlich wahllos und desinteressiert ein paar Bissen in sich hinein und hörte stumm dem Geschwätz einer Frau in mittleren Jahren zu, die von ihren Kindern und der Ungerechtigkeit des Staates erzählte, der ihr diese Kinder weggenommen hatte. Cristina unterließ jeden Kommentar und starrte auf ihren Teller. Sie schmierte sich ein weiteres Brot, belegte es und wickelte es in eine Serviette. Dann erhob sie sich und entsorgte ihr Tablett.

„Was willst du mit dem Brot?“ Sofort kam Nicole, die anscheinend die Aufsicht hatte, hinter ihr her.

„Für später, ich kriege manchmal Hunger.“

„Wir machen nachher Spiele-Abend“, rief Nicole ihr hinterher, da Cristina nicht stehengeblieben war. Sie hob nur die Hand.

Nein, dachte sie, nicht mal mit vorgehaltener, geladener Pistole bin ich dabei. Sie ging in ihr Zimmer und begann, sich umzukleiden. Draußen war es noch hell. Sie zog eine etwas steife, karierte Bluse an, zog sich die Schuhe mit passenden Wollsocken über und hing sich die kleine Tasche um, in die sie das Brot packte.

Langsam baute sich in ihr eine Spannung auf. In der Drogerie hatte sie sich eine kleine Taschenlampe gekauft für das Abenteuer, das sie sich vorgenommen hatte. Burkhardt hätte vermutlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn er sie so gesehen hätte. Aber er selbst hatte den Turm erwähnt. Und genau den wollte sie sehen, möglichst in der Dämmerung oder Dunkelheit.

Die Idee war ein wenig verrückt, aber schließlich war ihr gesamtes Leben in den letzten Monaten, nein, in den letzten Jahren verrückt gewesen. Es hatte sich im wahrsten Sinne des Wortes verrückt, verschoben von dem, was sie normal genannt hatte.

Noch immer konnte sie das Brennen in ihrer Brust fühlen, das sie an dem Abend gefühlt hatte, als Sylvia mit der Diagnose nach Hause gekommen war. Sie hatte es zwar gleich verstanden, aber doch Tage gebraucht, um es zu begreifen.

Noch immer fühlte sie die Umarmung, damals an der Nordsee, an ihrem letzten gemeinsamen Urlaub. Hatte sie sich wirklich eingebildet, ihr folgen zu müssen, ihr folgen zu können?

Die Abenteuerlust hatte von ihr Besitz ergriffen, als sie in diesem billigen Modegeschäft gewesen war. Sie hatte im hinteren Teil des Ladens Werbeplakate von verschiedenen Urlaubszielen gesehen. Die Werbung pries einen Badeurlaub an, bot dafür die passenden Bikinis, Badehosen und Handtücher. Und sie hatten zwei Fotos von den Bergen und einem weitläufigen, einsamen Wald. Auch dafür offerierten sie die passende Kleidung.

Normalerweise hätte sich Cristina spontan für den Strand entschieden, doch diese Auswahl hatte sie nicht. Sie verfügte über eine einzige Jeans, in der man sie gefunden hatte und die sie am Leibe trug. Also hatte sie zu den leichten Stiefeln und der Hose gegriffen, die sie jetzt trug.

Sie würde in der Dunkelheit diesen Wanderweg zurücklegen und dabei in die Nacht des Waldes eintauchen. Als kleines Kind hatte sie ihr Stiefvater mal mit auf einen solchen Ausflug genommen. Noch heute konnte sie sich an die milde, weiche Luft erinnern, an die geheimnisvollen Schatten, an die Geräusche, die von allen Seiten auf sie einströmten.

Sie wusste noch genau, dass sie keinen Moment Angst verspürt hatte, in der Dunkelheit etwas Unheimliches oder gar Bedrohliches gesehen hatte, eher im Gegenteil. Sie war zu einem Teil dieser Nacht geworden, gehörte zu ihrem Geheimnis. Diese Erinnerung hatte sie nie ganz losgelassen. Und heute Nacht würde sie erneut in dieses Schwarz eintauchen, zu ihm gehören. Vielleicht war das mehr wert als alle Gesprächsrunden und alle Tabletten, die sie in den letzten Wochen hatte erdulden müssen.

Sie brauchte einen Moment, ehe sie ins Bad ging, um sich selbst zu betrachten. Das Spiegelbild wirkte nicht mehr ganz so fremd, der Hauch einer Farbe war auf die Wangen zurückgekehrt. Noch immer waren die Lippen geschwollen, die Fingernägel zerbrochen. Aber das würde ausheilen und wachsen, wenn sie diese Nacht hinter sich gebracht hatte.

Und vielleicht, so überlegte sie sich, traf sie ja auf das Gespenst, das Burkhardt erwähnt hatte. Allerdings war sich Cristina sicher, dass sich bei dem Spuk nur um eine neugierige Ratte handeln konnte.

Seit Sylvias Leidensweg begonnen hatte, hatte sich Cristina häufig mit dem Sterben und den verschiedenen Theorien über das, was danach kam, auseinandergesetzt. Aber den Unsinn von Wiedergängern oder Geistern hatte sie stets in das Reich der Fantasie abgeschoben.

Sie hielt dem Blick der jungen Frau im Spiegel stand. Wir werden es wohl noch einige Jahre zusammen aushalten, ging es ihr durch den Kopf.

---ENDE DER LESEPROBE---