Blonde Lügen - Olaf Hauke - E-Book

Blonde Lügen E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Zwei Äpfel rollen Robert direkt im Treppenhaus vor die Füße. Er hebt sie auf und trägt dem alten Mann, der sie verloren hat, die Einkäufe nach oben in die Wohnung ein Stockwerk höher. In den zwei Jahren, in denen Robert hier wohnt, hat er den Nachbarn zwar gegrüßt, aber nie wirklich wahrgenommen. Viel zu sehr ist er mit der bevorstehenden Hochzeit mit Lena beschäftigt, der jungen, hübschen, blonden Frau, um die ihn alle Männer beneiden und die, wie er immer wieder hört, einen besseren Fang hätte machen können. Erst bei einer zweiten Begegnung kommt ihm der alte Mann seltsam bekannt vor, obwohl er sein Gesicht zunächst nicht wirklich einordnen kann. Zu seiner Überraschung erfährt er, dass der Name Kreuzeck, der unten an der Klingel des alten Mannes steht, nur die halbe Wahrheit über das Leben des Mannes ist. Doch der Name, den er einst verkörperte, ist längst verblasst und in Vergessenheit geraten. Doch tief in seinem Herzen ist dieser unbändige Traum, noch einmal der zu sein, der er einmal war. Robert möchte ihm helfen möchte, noch einmal seinen Traum zu leben, wenn auch nur für einige Stunden. Als es ihm schließlich gelingt, kommt dabei auch die Lebenslüge ans Tageslicht, die seine schöne und überall beliebte Verlobte seit vielen Jahren mit sich trägt. Diese Lüge sorgt am Ende sogar dafür, dass das Leben des alten Nachbarn in höchste Gefahr gerät. Der schöne Traum droht, das Leben der Menschen, die mit ihm in Berührung gekommen sind, zu zerstören.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Ende

Blonde Lügen

Olaf Hauke

2023

Copyright 2023

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

Cover: Ron/pixabay

37083 Göttingen

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

Die beiden roten Äpfel kullerten mit dumpfem Knall auf die Stufen, schienen es sich einen Moment zu überlegen, ob sie der Schwerkraft gehorchen wollten oder nicht, rollten dann im Zeitlupentempo auf die Kante des glattpolierten Absatzes zu, überwanden die gummierte Kante und fielen auf die nächste Stufe, dieses Mal mit deutlich mehr Schwung.

Robert bückte sich instinktiv und erwischte den linken der beiden flüchtigen Äpfel. Der Rechte jedoch hatte mittlerweile deutlich mehr Fahrt aufgenommen, rollte an seiner Schuhspitze vorbei und verließ auch diese Stufe. Robert stieß ein missmutiges Grunzen aus, trat mit einer schnellen Bewegung zurück an den Absatz der Treppe, um dem flüchtigen Obst aufzulauern.

Erst als er zugriff, wurde ihm bewusst, dass er noch den ersten Apfel in der Hand hatte.

Mühsam stoppte er ihn, wechselte die Hand und hob auch den zweiten Apfel vom Boden auf. Dabei kippte die Tasche, die er nur über die Schulter geworfen hatte, nach vorne und hätte um ein Haar das Notebook auf die harten Stufen gespuckt.

Robert richtete sich auf und schob den Computer zurück in die halb geöffnete Tasche, aus der er zuvor den Wohnungsschlüssel geholt hatte.

Er stieß ein reichlich unsportliches Schnaufen aus und drückte den Rücken durch. „Sind das Ihre Äpfel?“ fragte er überflüssigerweise den hilflos wirkenden, alten Mann, der am oberen Treppenabsatz stand und eine zerrissene Plastiktüte in der Hand hielt. Er schien nur langsam zu verstehen, was soeben geschehen war. Robert sah, dass sich aus dem Loch eine blauweiß gestreifte Milchtüte anschickte, den Lockungen der Schwerkraft zu folgen.

Mit schnellen Schritten überwand er die Distanz, schob die Hand, in der er immer noch einen der Äpfel hielt, unter die Tüte und rettete so die Milch vor dem freien Fall.

Er streifte die Tasche von der Schulter, legte die Äpfel ab und nahm dem alten Mann die Tüte aus der Hand.

„Vorsicht, sonst müssen Sie noch das ganze Treppenhaus putzen“, sagte er und versuchte, mit einem Lächeln die Situation zu retten. Die müden, weißen, kalten Finger des alten Mannes lösten sich langsam vom Griff der Tüte, Robert nahm sie mit der zweiten Hand und legte sie sich mit dem Loch zur Seite in die Armbeuge.

„Welcher Stock?“ fragte er, obwohl er sich sicher war, dass er Herrn Kreuzeck vor sich hatte, der Mann, der über ihnen wohnte und von dem sie, obwohl sie schon fast zwei Jahre untereinander wohnten, so gut wie nichts wussten. Natürlich sah man sich ab und zu im Treppenhaus, grüßte mehr oder weniger freundlich, und ging dann aneinander vorbei seiner Wege. Robert wurde klar, dass er nicht mal wusste, ob der alte Mann alleine wohnte, zusammen mit einer Frau oder jemand anderen. Man hörte von oben so gut wie nie Geräusche, manchmal das dumpfe Dröhnen eines Fernsehers, einige Male ein leises Poltern, das Robert vergessen hatte, kaum, dass es an sein Ohr gedrungen war.

Irgendwann hatte er mal das Geräusch damit in Verbindung gebracht, dass der alte Mann zusammengebrochen war. Erst jetzt begriff er, dass er damals nicht reagiert hatte.

„Soll ich Ihnen die Einkäufe nach oben bringen?“ fragte Robert, da der alte Mann ihn nur mit einer leichten Verwirrung im Blick anstarrte. Seine Augen waren rot geädert, er war deutlich kleiner als Robert, seine Haltung war gebückt. Er trug eine ausgebeulte, dunkelgraue Stoffhose, ein ungebügeltes, kariertes Hemd und, obwohl vor der Haustür der Sommer Einzug gehalten hatte, eine schwarze Strickjacke.

Seine weißen Haare dagegen waren ordentlich nach hinten gekämmt und erstaunlich füllig, ganz im Gegensatz zu Roberts eigenem lichten Haaransatz.

Robert ging ganz langsam an ihm vorbei, jetzt schien der Mann zu begreifen, was Robert von ihm wollte. „Zweiter Stock rechts“, sagte er mit rauer, aber sicherer Stimme. Er machte eine kleine Pause. „Die Äpfel“, sagte er schließlich und sah auf Roberts Tasche.

Robert lächelte. „Keine Bange, die hole ich gleich, aber ich muss meine Hand unter die kaputte Tüte halten. Gehen Sie doch vor, damit Sie aufschließen können.“

Wieder schien der Mann einen Moment zu überlegen, dann drehte er sich wortlos um und stieg langsam die Stufen zu seiner Wohnung hinauf. Dabei hielt er sich bei jedem Schritt am Geländer fest, als müsse er erst prüfen, ob die Treppenstufe sein Gewicht tragen würde. Robert blieb nichts übrig, als ihm im gleichen Tempo zu folgen. Eigentlich war er müde und hungrig, aber da Lena bestimmt noch unterwegs war, würde ohnehin niemand in seiner eigenen Wohnung, an der er gerade vorbeigeschlichen war, auf ihn warten.

So stieß er einen kleinen Seufzer aus und folgte dem Mann die Treppenstufen nach oben.

Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte der Mann aus den Tiefen seiner Hosentaschen ein abgegriffenes Lederetui gefischt, aus dem er mit einigem Schütteln einen Bund an Schlüsseln heraus beförderte. Immerhin griff er sofort den richtigen heraus und sperrte die Tür auf.

Robert schob sich mit einem Lächeln an ihm vorbei. Langsam spürte er die Last der Tüte in seinen Armen.

Als Erstes fielen ihm die Massen an dunklen Möbeln auf, die, im Zusammenspiel mit hunderten, kleiner, gerahmter Bilder an den Wänden, die Fläche des Raumes förmlich zu ersticken drohten. Dazu kamen schwere, rot gemusterte Teppiche unter Roberts Füßen.

Es roch muffig, die Fenster mussten seit einigen Tagen geschlossen sein. Allerdings machte die Wohnung mit all ihren kleinen Ziergegenständen und kleinen Deckchen, die auf den Anrichten und dem schweren Eichentisch lagen, einen sauberen und ordentlichen Eindruck.

Die meisten der Fotos zeigten keine Personen, sondern irgendwelche Ortschaften. Manche schienen von einem Profi gemacht worden zu sein, andere wirkten laienhaft und drohten, in den nächsten Jahren ihre Farbe zu verlieren.

Entweder war der alte Mann täglich damit beschäftigt, Staub zu wischen oder er hatte eine Hilfe im Haushalt. An der Ecke des Tisches im Wohnzimmer sah Robert einen Stapel aus Schachteln mit Tabletten, ein Zeichen dafür, dass es dem Mann nicht sonderlich gut ging.

Vor den großen Fenstern hingen schwere, grob gehäkelte Gardinen, die den Raum unnötig verdunkelten. Es gab einige Grünpflanzen, auch sie machten einen vitalen Eindruck, wurden also wohl regelmäßig gegossen.

Robert sah den dichten, vermutlich nicht billigen Teppich und streifte sich instinktiv die Schuhe von den Füßen, da es ihm peinlich war, mit ihnen durch die Wohnung zu laufen.

„In die Küche?“ fragte er. Er begriff, dass die Wohnung des alten Mannes genauso geschnitten war wie ihre eigene, ein Stockwerk tiefer. Der Mann nickte, er hatte sich ebenfalls seiner Schuhe entledigt und war dabei, die Füße in karierte Slipper zu schieben.

„Diese Treppen fallen mir mit jedem Tag schwerer“, stellte er ansatzlos mit seiner rauen, dunklen Stimme fest, die irgendwie nicht recht zu dem eher schmalen, gebückten Körperbau des Mannes passen wollte. Er folgte Robert in die Küche. Immerhin schienen seine Lebensgeister allmählich zurückzukehren, Robert hatte den Eindruck, als würde in das Gesicht des Mannes ein wenig Farbe Einzug halten. Die Wangen bekamen ein blasses Rosa.

Robert stellte die kaputte Tüte vorsichtig auf die Anrichte, entnahm ihr die Milchtüte, die der Mann direkt auf das restliche Obst und eine Packung Margarine gelegt hatte. Er stellte die Sachen nebeneinander auf und warf die kaputte Tüte in den frisch geleerten Mülleimer.

Während Robert damit beschäftigt war, hatte sich der Mann an einer altertümlichen Kaffeemaschine zu schaffen gemacht. „Möchten Sie eine Tasse?“

Ehe Robert etwas sagen konnte, hörte er bereits, wie die Maschine zu blubbern anfing. Es klang wie eine strenge Aufforderung, noch zu bleiben.

Roberts Kopf suchte nach einer Ausrede, doch so spontan fiel ihm nichts ein, sein Schädel war wie leergefegt. Dabei wollte er nur nach Hause, sich eine halbe Stunde auf das Sofa legen und den Tag, der hinter ihm lag, vergessen.

Doch der Mann tat ihm leid. Es schien, als hätte er niemanden in dieser vollgestellten, pedantisch aufgeräumten Wohnung, der ihm Gesellschaft leistete. Bestimmt würde er den Rest dieses schönen Sommertages vor dem Fernseher verbringen.

Robert brachte ein Lächeln in seine Mundwinkel. „Na gut, zehn Minuten“, sagte er betont freundlich. „Aber vorher hole ich kurz meine Tasche und die Äpfel!“

Kapitel 2

„Was, um Himmels Willen, ist daran so schwer? Man sagt ‚nein, danke‘, lächelt noch einmal freundlich, dreht sich um und verlässt die Wohnung. Das ist doch nun wirklich kein Hexenwerk!“

Lenas Augenbrauen hatten das gefürchtete V gebildet, ein Zeichen, dass sie tatsächlich sauer war. Nicht nur, dass sie anscheinend einen nervigen Tag gehabt hatte, an dem sie einen wichtigen Kunden verlor, sie hatte sich auch noch die Designer-Hose mit irgendeiner Sauce ruiniert, war im abendlichen Verkehr steckengeblieben, hatte ihren Schlüssel irgendwo in einem Restaurant vergessen und eine geschlagene Stunde versucht, Robert auf dem Handy zu erreichen. Allerdings war sein Akku leer gewesen, die Versuche waren also im Nirgendwo gelandet.

All diese von ihr ausführlich und laut vorgetragenen Tatsachen hatten zu dem V geführt, völlig berechtigt trug sie es sichtbar auf der Stirn als eine Art dunkles Mahnmal. Sie lehnte in der Küche, schlürfte ihren heißen Becher Tee und starrte Robert wütend an. Ihre schlanke Gestalt hatte sich gestrafft, die Fingernägel schimmerten dunkel im Licht der kleinen Deckenstrahler, die blonden Haare hatten wieder zu ihrer ursprünglichen, dekorativen Unordnung gefunden.

Robert hatte selbst nicht gemerkt, wo die Zeit geblieben war. Erst als sie Schatten auf dem Tisch immer länger geworden waren, hatte er einen Blick auf seine Uhr geworfen und bemerkt, dass er anscheinend die letzten beiden Stunden hier in dem muffigen Wohnzimmer verbracht hatte, eingenebelt von den Erzählungen des alten Mannes.

„Herr Kreuzeck hat anscheinend die halbe Welt bereist“, sagte Robert. Lenas Kopf zuckte hoch, ihre hübsche, kleine, ein wenig nach oben geschwungene Nase kräuselte sich ärgerlich. Er begriff sofort, dass dies die falsche Bemerkung gewesen war.

„Vermutlich hat er einfach irgendwelche bescheuerten Sendungen im Fernsehen gesehen und ist zu alt um zu kapieren, dass er nicht wirklich in Brasilien ist, wenn der Regenwald über den Schirm flimmert.“

„Ich glaube, er ist noch ziemlich klar im Kopf“, meinte Robert und versuchte, sein freundliches Lächeln aufzusetzen.

„Und ich glaube, ich habe zwei Stunden wie eine Idiotin auf der Treppe gesessen – ach nein, warte, das habe ich ja nicht nur geträumt. Ich habe tatsächlich dort in dem Dreck gesessen und auf dich gewartet!“

Vermutlich war es nicht einmal ein Bruchteil der von Lena genannten Zeit gewesen, aber Robert war klar, dass er das lieber nicht thematisieren sollte. Fakt war, dass sie tatsächlich dort gesessen und an ihrem Handy gespielt hatte, als er nach unten gelaufen war. Allein diese Tatsache rechtfertigte das V und die Anklage, Zeiten und Fakten waren nebensächlich.

„Es tut mir leid“, sagte er und fand, dass er mit so einer Aussage wenig falsch machen konnte.

„Weißt du, dass ich bei Insta sechs Prozent Reichweite verloren habe?“ Ihre schönen, braunen Augen starrten wütend auf den Tee.

„Woran liegt es?“ fragte Robert sofort, dankbar, dass er so schnell das Thema wechseln konnte. Natürlich war ihm klar, dass sein Fehlverhalten in den nächsten Tagen noch des Öfteren zur Sprache kommen würde, aber für den Moment verschaffte ihm ein Wechsel des Gesprächsinhalts etwas Luft.

„Woran das liegt? Keine Ahnung, das lässt sich nie so genau erklären. Zurzeit läuft es einfach nicht rund. Kugler habe ich nicht an Land ziehen können, er will mit seiner Show jetzt doch nach Hamburg gehen, hier sei ihm alles zu provinziell. Der Vorverkauf von diesem Magier stockt, ich habe ihm gleich gesagt, die Karten sind zu teuer. Aber die Stadthalle hat die Mieten erhöht, so füllt sich der Staat die Taschen. Na ja, damit wirst ja auch du finanziert.“

Nein, dachte Robert, nicht wieder das alte Lied von den hochbezahlten Staatsdienern, die allesamt von den wenigen Euros finanziert wurden, die Lena mit ihrer Agentur erwirtschaftete. „Soll ich was zu essen machen?“ fragte er. Allmählich meldete sich sein Magen zurück. Er trat an den Tiefkühler und holte einen Beutel mit einem Fertiggericht heraus, das man nur in der Pfanne erwärmen musste.

Lena grunzte lediglich eine undefinierbare Antwort. Robert ging auf Nummer sicher und füllte den gesamten Inhalt des Beutels in die Pfanne. Es zischte. Lena fuhr ärgerlich zusammen, starrte die dampfende Pfanne an und verließ mit einem Schnauben die Küche.

„Du kannst das eben nicht verstehen, wenn man um jeden Euro, den man verdient, hart kämpfen muss“, setzte Lena zehn Minuten später ihre Attacke fort. Natürlich hatte sie nichts zu essen gewollt, sich Robert gegenüber an ihren Glastisch im Wohnzimmer gesetzt, mit spitzen Fingern zunächst einige Bissen von seinem Teller geklaut, um sich schließlich selbst eine Gabel zu holen und einfach mitzuessen.

Robert blieb ihr eine Antwort schuldig. Was hätte er auch sagen sollen? Ja, als Angestellter der Stadt erhielt er regelmäßig sein Gehalt. Aber er wusste auch, wie viel Lena im Durchschnitt verdiente. Und das war weitaus mehr als auf seiner Abrechnung stand. Aber für solche Details war Lena in ihrer Stimmung nicht empfänglich, das wusste er aus Erfahrung. Entweder sie spottete über sein kleines Gehalt oder sie beschwerte sich, dass sie nicht so viel Geld bekam, einen Mittelweg gab es nicht.

„Warum hat euer Bürgermeister überhaupt die Miete für die öffentlichen Gebäude derart in die Höhe geschraubt?“ stichelte sie weiter. „An deinem üppigen Gehalt kann es ja nicht liegen!“

„Die steigenden Kosten im Öffentlichen Dienst haben nur teilweise mit wachsenden Gehältern zu tun. Es gibt neue Aufgabenbereiche, die wir … “

Robert brach seinen Kurzvortrag ab, Lena hörte ihm ohnehin nicht zu. Er schob den Teller in ihre Richtung, da sie anfing, die Glasplatte des Tisches voll zu kleckern. „Eigentlich will ich nichts essen“, stellte sie mit vollem Mund fest, nahm sich noch eine Gabel und lehnte sich zurück.

„Gott, es tut mir leid, Schatz, ich benehme mich unmöglich“, stellte sie unvermittelt fest. Sie fuhr sich mit einer oft geübten Geste durch die blonden Haare und atmete tief durch. „Es ist total nett, wenn du dem alten Mann ein wenig zuhörst und ihm die Sachen nach oben trägst. Und für mein Business bin ich allein verantwortlich. Im Grunde sollte ich froh sein, dass du einen sicheren Job mit einem regelmäßigen Gehalt hast – besonders, wenn ich dabei bin, meinen Laden vor die Wand zu fahren!“

Robert spießte mit der Gabel einige Gemüse-Stücke auf. „Du fährst deinen Laden doch nicht vor die Wand, so ein Unsinn“, stellte er ruhig fest.

Sie lächelte und griff nach seiner freien Hand, die neben dem Teller lag. „Lieb von dir, wirklich, aber für diese Dinge hast du keinen Instinkt. Du hast bei der Stadt gelernt, anschließend dort einen Job bekommen, aus dem man dich höchstens mit einem Brecheisen wieder herausbekommt.“

Sie erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung und gähnte herzhaft. „Ich würde mir das an deiner Stelle noch mal überlegen“, sagte sie. Robert legte die Gabel weg und erhob sich langsam.

„Was soll ich mir überlegen?“

„Wenn wir tatsächlich heiraten und ich gehe pleite, bist du auch für meine Schulden haftbar.“

Er trat auf sie zu um den Tisch herum und legte seine Hände um ihre schmalen Hüften. Sie roch verführerisch nach Orangenblüte und Jasmin, genau in der richtigen Kombination und Intensität. Lena war eine verführerische Frau, was sie genau wusste und immer wieder einsetzte. Niemand war Lena lange böse, niemand grollte ihr, wenn sie sich eine Spur danebenbenahm.

Neben ihrem Geschäft postete sie immer wieder Fotos von sich in den sozialen Netzwerken und lockte damit viele, vor allem männliche, Nutzer an, die ihr folgten und, auch wenn sie keine Kunden waren, doch ihren Namen bekannt machten. Und in ihrem Geschäft war Bekanntheit nicht alles, zählte aber doch sehr viel. Denn mit Bekanntheit war Reichweite verbunden, so hatte sie es zumindest Robert erklärt, der auf ihren Bildern nie auftauchte.

Und genau diese Frau hielt er jetzt in seinem Arm. „Ich werde also einen Ehevertrag aufsetzen müssen, um meine bescheidenen Konten vor deinen gierigen Klauen zu schützen“, sagte er leise lächelnd und strich ihr über die Haare.

Sie sah ihn lange mit ihren warmen, braunen Augen an, dann begann sie, seine Lippen zu streicheln. „Ich glaube, ich kann dich von diesem Plan nur abhalten, wenn ich dich jetzt hemmungslos verführe“, sagte sie mit einem weichen Lächeln und küsste ihn direkt auf den Mund. Robert fühlte, wie die Erregung langsam von ihm Besitz ergriff.

„Dann sollten wir ins Schlafzimmer gehen“, sagte er rau.

„Oder du vögelst mich direkt hier auf dem Tisch“, antwortete sie und griff ihm kichernd zwischen die Beine.

Kapitel 3

„Weißt du was merkwürdig ist?“ fragte Robert und wischte sich über den Schädel. Er fühlte den Schweiß, der sich in der letzten halben Stunde dort gesammelt hatte. Noch immer schlug sein Herz schneller, obwohl die Erregung langsam abebbte.

Sie saßen nackt auf dem Boden vor dem Tisch. Robert hatte eine Flasche Mineralwasser aus der Küche geholt, die sie sich teilten. Lenas Haare hingen aufgelöst um ihren Kopf, ihr Gesicht war noch immer rot, ebenso wie ihr Hals.

„Merkwürdig?“ fragte sie und nahm einen Schluck aus der Flasche.

„Ja, merkwürdig. Es klingt blöde, aber der Mann, der alte Mann über uns – er kam mir irgendwie bekannt vor.“

Lena setzte die Flasche ab und sah ihren Verlobten mit irritiertem Blick an. „Echt jetzt? Du hattest gerade Sex mit mir und nun denkst du an den Mann über uns? Bist du pervers? Muss ich mir Sorgen machen?“ Ihre Augen funkelten allerdings belustigt, es war unschwer zu erkennen, dass sie sich keine tieferen Gedanken um eine mögliche achtzigjährige Konkurrenz machte. Das V hatte sich verzogen, aufgelöst wie eine dunkle Wolke nach dem reinigenden Gewitter, das sie gerade gemeinsam erlebt hatten.

„Nein, im Ernst“, sagte Robert und massierte sich die Stirn.

„Nun, wir haben ihn schon einige Male hier im Haus gesehen. Er sollte dir also in gewisser Weise bekannt vorkommen, oder?“ Sie rieb sich die Flasche über die Stirn, dann stemmte sie sich langsam in die Höhe. „Am besten, du grübelst noch ein bisschen über deine Affäre nach, ich gehe inzwischen duschen, okay?“

Robert verzog den Mund, rollte mit den Augen und beobachtete, wie seine Verlobte auf Zehenspitzen in Richtung Badezimmer lief. Mein Gott, dachte er, sie mag ihre Macken haben, aber sie ist eine wunderschöne Frau. Allein dieser schlanke Körper, die vollen Haare, diese verführerischen Lippen.

Natürlich hatte Lena keine Ahnung davon, aber Robert hatte auf seinem Schreibtisch im Rathaus extra zwei Bilder von seiner Freundin in silbernen Rahmen stehen, nur damit seine Kollegen neidisch auf ihn waren. Und er hatte ihre Blicke genossen, als er bei der letzten Betriebsfeier im vergangenen Jahr mit ihr erschienen war. Sie hatte dieses hautenge, schwarze Kleid getragen, schwarze Strümpfe, die ihre Beine betont hatten, dazu diese hochhackigen Schuhe. Keine Frage, dass sie mit weitem Abstand die attraktivste Frau auf dem Fest gewesen war. Ein Traum in Blond, der neben ihm schwebte und alle bezaubert hatte.

Mein Gott, dachte er, was bin ich für ein fürchterlicher Angeber. Ich sollte diese Frau um ihrer selbst lieben, immerhin werden wir in einigen Wochen heiraten. Aber schon jetzt gingen ihm die Blicke der Anderen nicht mehr aus dem Sinn, wenn er sie tatsächlich zum Altar führen würde.

Bestimmt waren seine Gedanken verwerflich, aber niemand würde je von ihnen erfahren. Vermutlich hatten andere Menschen andere Schwächen, die sie gleichfalls nicht zugaben. Und er war eben ein verkappter Angeber. Aber, dachte er selbstzufrieden, ich kann es mir leisten.

Er schob die Hände in den Nacken und merkte, wie sein Körper langsam auskühlte, weil der Schweiß auf Beinen und Brust verdunstete. Was fand Lena überhaupt an ihm? Vermutlich hätte sie so gut wie jeden Mann haben können, aber sie hatte sich für ihn entschieden. Er war nicht schüchtern, wusste, dass auch er die eine oder andere Verehrerin hatte. Immerhin war er sportlich, nicht dick, hatte einen, wenn auch nicht üppig bezahlten, so doch sicheren Job. Aber Lena war im Grunde eine andere Kategorie. Er kannte einige ihrer Freunde und fühlte sich jedes Mal, wenn er ihnen begegnete, beinahe wie ein Aussätziger, der sein eigenes Leben verleugnete.

Würde sich ihr Leben durch die Hochzeit ändern? Würde sich überhaupt etwas ändern? Natürlich wollte Lena ihren Namen behalten. Die Möglichkeit, dass sie mit ihrem Geschäft tatsächlich eine Bruchlandung machen würde, nahm Robert nicht sonderlich ernst. Sie jammerte gerne einmal, sobald es nicht rund lief. Doch ein Misserfolg würde sie nur noch mehr anstacheln.

Robert hatte einige Male gesehen, welche Umsätze sie mit ihrer Veranstaltungs- und Vermittlungsagentur erzielte. Natürlich hatte sie das Geld nicht zur freien Verfügung, aber Robert hätte lange hinter seinem Schreibtisch sitzen müssen, um nur halb so viel zu verdienen.

Einer der Wermutstropfen, der ihm durch den Kopf ging war, dass Lena schon jetzt klargemacht hatte, dass sie keine Kinder haben wollte. Sie hätte mindestens für die Zeit der Schwangerschaft in ihrem Beruf pausieren müssen. Lena hatte ihm in ihrer direkten Art erklärt, dass dann ihr Geschäft erledigt sein würde. Robert konnte nur vermuten, ob das stimmte. Er wusste aus eigener Anschauung, dass Lena zu Kindern keinen Draht hatte. Möglicherweise war es also besser, wenn sie nicht in die Verlegenheit kam, ein Kind erziehen zu müssen.

Er hatte mehrfach erlebt, dass die junge, schöne, lebenslustige Blondine regelrecht verkrampfte, wenn ein Kind, egal ob größer oder Säugling, in ihrer Nähe auftauchte. Bestimmt gab es einen Grund dafür, aber er kannte ihn nicht, sie hatte ihn nie verraten.

Trotzdem hinterließ der Gedanken an die kommende Kinderlosigkeit einen kleinen, brennenden Schmerz in seiner Brust, den er nicht abstellen konnte. Und er beneidete Kolleginnen und Kollegen mit Kinderbildern auf dem Schreibtisch und ungelenken Malereien von Häusern, Sonnen und Eltern an den Wänden.

Möglicherweise lag hier der Grund, warum er mit den hübschen Bildern seiner Freundin derart angeben wollte.

Robert entschloss sich, nicht mehr diesen trüben Gedanken nachhängen zu wollen. Das Rauschen der Dusche war verstummt, er hörte schnelle Schritte in Richtung des Ankleidezimmers, das sich Lena extra eingerichtet hatte. Er besaß zwar auch einen kleinen Schrank dort, aber sein Interesse an Klamotten war eher gering.

Mittlerweile spürte er, dass sein Körper trotz der sommerlichen Wärme weiter auskühlte. Er entschloss sich, ebenfalls kurz zu duschen. Vielleicht verloren sich auf diese Weise auch die trüben Gedanken in seinem Kopf und er war wieder in der Lage, sich auf die kommenden Wochen zu freuen.

Kapitel 4

In den folgenden Tagen vergaß Robert den alten Mann, dem er die Tasche mit den Einkäufen die Treppe hinaufgetragen hatte, vollkommen. Sie hatten einen Brief vom Standesamt mit dem Termin für die Hochzeit erhalten. Und von einer Sekunde brach bei Lena, die vorher mit dem Thema ziemlich lässig umgegangen war, das Hochzeitsfieber aus. Sie führte sogar eines ihrer seltenen Telefonate mit ihrer Mutter wegen des Kaufs eines Brautkleids.

Sie sprach auch mit dem örtlichen Pfarrer, den Robert überhaupt nicht kannte. Sie lud ihn zu einem Abendessen ein, das reichlich anstrengend wurde, da Robert schnell merkte, dass er dem bärtigen Mann nicht das Geringste zu sagen hatte. Außerdem, so fand Robert, dass der Mann klang, als würde er gerade das Wort zum Sonntag sprechen. Er schien für alles Verständnis zu haben und war in dieser Haltung reichlich anstrengend, da man schnell spürte, dass er keineswegs so tolerant war, wie er vorgab.

Aber im Grunde führte sowieso Lena das Gespräch, redete hektisch und mit Händen und Füßen auf den Mann ein, der den Eindruck machte, als sei er junge, aufgeregte Bräute durchaus gewohnt. Vielleicht war es auch tatsächlich so.

Robert war es ganz recht, dass Lena die gesamte Planung übernahm. Dann tauchten ihre Eltern auf und übernahmen die wenigen Vorbereitungen, die noch übrig waren. Man verabredete sich mit seinen Eltern, was ebenfalls eine Begegnung war, auf die er gerne mitten im Sommer an einem herrlichen Nachmittag, der zum Laufen lockte, verzichtet hätte.

Lena lachte, als hätte sie eine Linie Kokain zu viel genommen. „Wir werden uns heute Abend zusammensetzen und über alles reden“, stellte sie fest und zeichnete dabei wilde Gesten in die Luft. Robert hatte Kopfschmerzen, hätte alles für einen ruhigen Abend und einige Runden durch das Stadion gegeben, doch er nickte und zwang sich, freundlich zu lächeln.

„Karin und Hans kommen um halb Sieben.“

Es irritierte ihn, dass sie seine Eltern mit einem eigenartig singenden Unterton beim Vornamen nannte, aber daran war nichts zu ändern. Lena hatte sogar irgendwelche Pizza-Schnecken gebacken und Wein besorgt. Auf dem Tisch lag eine Decke, Robert hatte keine Ahnung gehabt, dass sie so etwas besaßen.

Um halb Sieben wurden die Spiele eröffnet. Fünf laute, raumgreifende Stimmen hallten durch die Wohnung und dröhnten Robert, der verzweifelt auf einer der trockenen Schnecken herumkaute, in den Ohren. Sie alle schienen vor guten Einfällen, oder was sie dafür hielten, geradezu zu explodieren.

Im Grunde hatte Robert nie ein schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern gehabt. Seine Kindheit war freundlich und als Einzelkind behütet gewesen. Aber etwas in ihm war erleichtert gewesen, als er nach der bestandenen Prüfung im Öffentlichen Dienst ausgezogen war. Er konnte sich an das leere Kinderzimmer erinnern, die Tatsache, dass seine Mutter eine pathetische Träne zerdrückt und er eine angenehme, warme Erleichterung gefühlt hatte.

Merkwürdig, dachte er, als seine Mutter mit seiner künftigen Schwiegermutter irgendwelche Bücher über Torten wälzte. Ich liebe diese stillen Abende, an denen selbst das Fernsehen schweigt, so ein sanfter Schimmer in der Luft liegt und man einfach nur laufen möchte, ganz langsam in einem fast mechanischen Trab, bis einem die Sinne schwinden. Er erinnerte sich, wie mal an irgendeinem Abend mit Lena am Kanal gelaufen war und sie ständig das Tempo angezogen hatte, obwohl es dafür nicht den geringsten Grund gegeben hatte. Was trieb sie ständig, noch schneller zu sein, noch weiter zu kommen, noch mehr Geld zu haben, noch erfolgreicher zu sein?

Die Männer hatten irgendeinen peinlich zweideutigen Witz gerissen, über den sich die drei Frauen pflichtschuldig aufregten. Robert grinste pflichtschuldig und nahm einen kleinen Schluck von dem sauren Wein, der, dem Etikett nach zu urteilen, eine Stange Geld gekostet haben musste.

„Was ist mit den Blumen?“ Wer auch immer die Frage in den Raum geworfen hatte, er erhielt eine vielstimmige Antwort. Robert erhob sich, legte Lena eine Sekunde die Hand auf die Schulter und lächelte.

„Was ist mit den Blumen?“ fragte Lena mit einem etwas albernen Kichern. Es war ihr zweites Glas Wein, gegessen hatte sie vermutlich wenig bis gar nichts.

„Sie werden auch dieses Jahr im Herbst verwelken“, kam es Robert in den Sinn. Dann schob er sich mit eingezogenen Schultern aus dem Wohnzimmer, griff nach den Schlüsseln und fühlte eine unendliche Erleichterung, als er behutsam die Wohnungstür hinter sich ins Schloss gezogen hatte.

Robert blieb auf der obersten Stufe im Treppenhaus stehen und atmete tief durch. Die nächsten Wochen, das wurde ihm mehr und mehr klar, würden die Hölle werden. Er würde in einer Tour mit Dingen konfrontiert werden, die ihm völlig gleichgültig waren.

Warum war er mit Lena nicht irgendwohin geflogen und sie hatten in der Karibik geheiratet? Oder in Schottland? Oder wo auch immer man leise und verschwiegen heiraten konnte. Dazu kamen die Summen, die der vermeintliche Spaß kosten würde. Allein das Kleid, das Lena sich ausgesucht hatte, würde fast einen Monatslohn kosten. Hatte sie ihm nicht vor einer Weile erklärt, dass sie Angst um ihr Geschäft hätte? Aber diese Dinge schienen schlagartig keine Rolle mehr zu spielen.

Robert schwirrte im wahrsten Sinne des Wortes der Kopf. Er starrte auf die Stufen vor sich und hatte für einen Moment den Eindruck, als würden sie sich wie eine Schlange nach oben bewegen.

---ENDE DER LESEPROBE---