Der Garten Evan - Olaf Hauke - E-Book

Der Garten Evan E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Sebastian hat seinen Sohn verloren - Endgültig, da seine Ex nach Australien ging, um dort mit einem neuen Mann ein neues Leben zu starten. Die Anzeige mit dem Angebot auf neue spirituelle Erfahrungen kommt ihm gerade recht. So bucht er eine Woche im Garten Evan. Schon bald jedoch merkt er, dass mit dem selbsternannten Prediger etwas nicht stimmt. Zur Begrüßung bekommt er lediglich einen Sonnenbrand und den ersten Versuch einer Gehirnwäsche. Welches Geheimnis birgt die Villa auf dem Grundstück? Warum sprechen die Bewohner des Gartens kein Wort miteinander? Und wer ist die dunkelhaarige, Unbekannte, die zwar klar denken kann, aber sich trotzdem weigert, den Garten zu verlassen? Selbst die Polizei scheint gegen Evan nichts in der Hand zu haben, denn sie müssen nach einer Durchsuchung das Camp verlassen. Zurück bleibt Sebastian, der dagegen ankämpft, nicht den Rest an Verstand zu verlieren, der nach jeder Mahlzeit dort ein wenig weiter zu schrumpfen scheint ...

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Ende

Der Garten Evan

Olaf Hauke

2019/24

Copyright 2019/24

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover clipdealer

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

Besonders hasste er die Stille, die immer dann eintrat, wenn er das Notebook zugeklappt hatte. Dann hob sich sein Blick und fiel auf die Schrankwand, die sie noch gemeinsam gekauft hatten. Er konnte sich noch gut erinnern, wie er mit den verdammten Dübeln gekämpft hatte, mit der Bohrmaschine abgerutscht war und sich den Daumen verletzt hatte.

„Papa blutet, Papa blutet“, hörte er Jannik noch immer rufen, auch wenn sein Sohn inzwischen tausende Kilometer von ihm entfernt lebte.

Damals war er durch die Wohnung geflitzt und hatte die Kiste mit den Pflastern gesucht, um Papa danach mit ungeschickten, kleinen Fingern zu verarzten.

Sein Sohn hatte Pflaster geliebt, besonders die Blauen, auf denen dieser eigenartige, hässliche, grüne Krake mit den langen Tentakeln abgebildet gewesen war. Ob er sich noch immer jede kleine Schürfwunde sofort zuklebte?

Sebastian lehnte sich zurück und schloss die Augen. Er hatte vergessen, ihn das zu fragen. Es gab so viele Dinge, die er zu fragen vergessen hatte. Für einen Moment überfiel ihn die Versuchung, den Computer noch einmal zu starten und per Video-Chat in Australien anzurufen.

Doch wenn er dieses letzte kleine Fenster der Kommunikation überstrapazierte, würde seine Frau es ebenfalls mit einem kräftigen Ruck schließen.

Sebastian dachte wieder an diesen letzten Moment, als sie auf dem Flughafen gestanden hatten, an die letzte Berührung, die nie hatte enden dürfen, und die doch schon so viele Jahre her war.

In seinen Augen sammelte sich die Feuchtigkeit, die er unbedingt vermeiden wollte. Mit einer ungelenken Bewegung seiner Finger wischte er sie fort, schob den Computer beiseite und griff zur Fernbedienung, um mit Hilfe des Fernsehers die Stille aus der Wohnung zu scheuchen wie lästiges Ungeziefer.

Wie hatte es nur dazu kommen können und warum ausgerechnet Australien? Sebastian merkte, wie schon der bloße Gedanke an den Kontinent seine Kehle zu schnürte. Bis heute wäre er nicht in der Lage, einen Reisebericht oder nur Fotos von dort zu sehen.

Während auf dem Bildschirm ein verzweifelter Kommissar einen Serienkiller suchte und dabei selbst immer wieder Leute erschoss, kamen all die alten Vorwürfe in ihm hoch, sowohl an sie als auch an sich.

Warum war er ständig unterwegs gewesen, warum hatten sie pausenlos gestritten? Er sah ihre roten Wangen, die aufgelösten Haare, die hasserfüllten Blicke. Noch jetzt konnte er fühlen, wie sich ihre Stimme förmlich in seine Nerven bohrte. Und er fühlte das Echo seiner dumpfen, alles zerfressenden Wut in sich.

Aber wieso hatte es diese letzte, fürchterliche Berührung auf dem Flughafen gegeben, diese kleine, klebrige Hand mit den schmutzigen Fingernägeln in seiner?

An den Abenden mit diesen Gedanken-Spiralen war er wie gelähmt, nicht in der Lage zu essen, nicht einmal mehr richtig zu weinen.

Jannik war inzwischen sieben, sprach manchmal, wenn er aufgeregt war, bereits auf Englisch mit ihm. Wann würde der Zeitpunkt kommen, wenn er die Gespräche überhaupt nicht mehr annehmen würde? Papa war doch längst zu einem Bild auf dem Monitor des Laptops geworden, zu einer zweidimensionalen Figur.

Sebastian hatte schon erlebt, dass die kalte, nagende Angst ihn auf Tage hinaus lähmte. Er hatte deshalb sogar schon einmal einen Job geschmissen. Auf die Dauer würden ihn diese Ängste, diese Zweifel zerfressen, dessen war er sich sicher.

In einem Monat hatte Jannik Geburtstag. Sebastian würde sich rechtzeitig ein Geschenk überlegen müssen, aber schon jetzt spürte er, dass er kaum noch eine Ahnung hatte, was er seinem Sohn in Australien würde schicken können. Er verlor nach und nach den Bezug zum Leben seines Kindes.

Warum hatte er damals diese kleine Hand einfach so losgelassen?

Sebastian gab es auf, dem Kommissar auf seiner wirren Jagd folgen zu wollen. Er schaltete den Ton aus, riss seinen Blick von den hektischen Bildern los und streckte sich auf dem Sofa aus. Es brauchte noch einige Stunden, ehe er in einen unruhigen Schlaf fiel.

Kapitel 2

„Du musst wieder lernen, nach vorne zu blicken!“

Alina nahm den Kopfhörer ab und schüttelte ihre langen, glatten, blonden Haare. Sie unterdrückte ein Gähnen und wandte sich an Michael, den Aufnahmeleiter, der hinter der Glasscheibe saß.

„Wie waren wir?“ fragte sie, obwohl sie lange genug im Geschäft war, um die Antwort zu kennen.

„Ist in Ordnung“, kam die desinteressierte Antwort aus der Gegensprechanlage. „Wir nehmen den letzten Take, der ist fresh und full of spirit!“

Er zog die englischen Ausdrücke ironisch in die Länge. Niemand von ihnen hatte Lust, Werbetrailer aufzunehmen, aber es gehörte zum alltäglichen Geschäft von Studiomusikern.

Damit verdiente man den Scheck für die Miete und die Butter aufs Brot, wie Michael es immer wieder so lakonisch formulierte. Dabei war er Veganer und hatte ein Häuschen im Grünen.

Sebastian stöpselte die Gitarre aus und erhob sich mit gestrecktem Rücken von seinem Hocker, auf dem er die letzte Stunde gesessen hatte. Der Tag floss genauso zäh dahin wie das Kaugummi, für den sie soeben den neuen Werbesong aufgenommen hatten. Es war ein Job, nicht mehr und nicht weniger.

Aber in Sebastians derzeitiger Verfassung zerrte selbst diese Routine an seinen Nerven. Er hatte es geschafft, sich zwei Mal ziemlich heftig zu verspielen und den Rhythmus zu verlieren. Michael war bereits sauer geworden, ihm saß bereits der nächste Termin im Nacken.

„Komm, wir gehen eine rauchen“, brummte Alina, nachdem sie das Mikro ausgeschaltet hatte. Michael war militanter Nichtraucher und hatte schon mal ihre Zigaretten in die Toilette geworfen. Weder Sebastian noch die Sängerin hatten Lust auf einen weiteren Vortrag des Studioleiters.

Sie verließen das Studio und winkten Michael noch einmal freundlich zu, was er mit einem muffigen Schnauben beantwortete. Er schien bereits gedanklich weit weg vom Kaugummi zu sein und starrte auf sein Smartphone.

Durch einen schmalen Gang gelangte man direkt zur Feuertür, die auf den Hinterhof des Gebäudes führte, in dem neben dem Tonstudio noch eine kleine Lagerhalle für Auto-Zubehör und eine Kanzlei eines eher erfolglosen Anwalts untergebracht waren.

Sebastian nahm den Holzkeil, der hinter der Feuertür lag, um sie zu sichern. Fiel sie ins Schloss, würden sie um das gesamte Gebäude laufen und vorne klingeln müssen.

Alina zog eine Blechdose aus der Hosentasche ihrer Jeans, klappte sie auf und bot Sebastian eine Zigarette an. Sie waren eigenhändig von ihr gestopft, etwas schief, dafür aber mit dem Charme des Selbstgemachten ausgestattet.

„Du hast leicht reden“, nahm Sebastian den Gesprächs-Faden wieder auf. „Dein Sohn wächst nicht in Australien auf mit einem anderen Mann, der er inzwischen auch als seinen Vater, seinen Daddy, bezeichnet.“

Er spürte, wie seine eigenen Worte ihn verletzten.

„Na, mich will doch keiner“, antwortete Alina und lachte eine Spur zu laut.

Sie war eine korpulente, große Frau, die trotz ihrer fantastischen Stimme niemals den großen Durchbruch schaffen würde. Alina ging auf die Vierzig zu, Sebastian hatte keine Ahnung, wie alt sie genau war. Ihre Kleidung sah aus, als wäre sie direkt mit einem Paket aus den Sechzigern zu ihr nach Hause geschickt worden.

Sie konnte einfach nur singen, das reichte bei Weitem nicht aus, um wirklichen Erfolg zu haben. Inzwischen war sie zu alt geworden und hatte sich damit abgefunden, entweder im Chor zu singen oder Kaugummis mit jener überdrehten Emotion anzupreisen, als wären sie die Erfüllung aller menschlichen Träume.

Sebastian wusste, dass auch sie eine schlimme Trennung hinter sich hatte. Ihr Mann hatte ihr allerdings sämtliche Ersparnisse genommen, kein Kind. War diese Art der Enttäuschung leichter zu verkraften? Sebastian wusste keine Antwort darauf und zog an seiner Zigarette. Es war lächerlich und überflüssig, Schicksale zu vergleichen wie Obst in einer Stiege.

„Hey, vielleicht wartet der Märchenprinz schon an der nächsten Ecke“, meinte er mit einem sarkastischen Unterton.

„Und vielleicht kommt dein Sohn nächste Woche aus Australien zurück“, kam die etwas brutale Antwort.

Sebastian fühlte einen kleinen Stich in der Brust, sagte jedoch nichts und nahm einen weiteren Zug, während er die Füße mit einem leichten Tänzeln bewegte. Sie waren ihm eingeschlafen und kribbelten noch immer.

„Tut mir leid, so habe ich es nicht gemeint“, sagte Alina, die sein Schweigen falsch deutete. „Aber du musst wirklich was unternehmen, damit du nicht in deiner Trauer untergehst!“

„Du hast vielleicht Recht“, brummte Sebastian, allerdings weniger aus Überzeugung, sondern eher, um seine Ruhe zu haben. Er hätte das Thema vor der Aufnahme überhaupt nicht erwähnen sollen. Mit seinen Gefühlen konnte man nur alleine klarkommen.

Das Tor zur Lagerhalle wurde aufgerissen, ein junger Mann mit blauem Overall schleppte einige sperrige Kisten auf den Hof und schwitzte, denn inzwischen hatte sich auf dem Hinterhof die Wärme des Nachmittags regelrecht gestaut.

Auch Sebastian, der nicht körperlich arbeitete und deutlich leichter gekleidet war, merkte, wie ihn die Sonne im Nacken brannte.

„Wir sollten wieder reingehen“, stellte er mit Blick auf den hart schuftenden Mann fest.

Alina schien noch immer nach Worten der Entschuldigung zu suchen, da ihr anscheinend klar geworden war, welche Wunde sie mit ihren Worten bei Sebastian aufgerissen hatte. Sie nickte nur und ließ die Kippe fallen.

„Was steht noch an?“ fragte sie und drückte gegen die schwere Eisentür, um sie von ihrer Bremse zu befreien. Mit einem geübten Tritt beförderte sie den Keil an seinen angestammten Platz.

„Ich habe noch eine Tonspur für dieses Meditations-Album, das in ein paar Wochen als Beilage für diese neue Zeitschrift ist, deren Titel ich schon wieder vergessen habe“, sagte Sebastian und bemühte sich um ein versöhnliches Lächeln um seine Mundwinkel. Hier im Flur war die Luft deutlich kühler.

„Ich habe nur noch ein Treffen mit meinem Manager. Wir könnten danach etwas essen gehen!“

Sebastian wusste nicht, ob die Einladung lediglich ein freundliches Angebot war oder mehr darstellte. Aber er fühlte, dass er einfach allein mit sich und seiner Trauer sein wollte, egal, wie lange sie schon anhielt.

So lächelte er, bedankte sich freundlich und schob eine andere Verabredung vor, die in Wahrheit frei erfunden war.

Vermutlich spürte sie sofort, dass er gelogen hatte, denn sie fragte nicht weiter nach, begleitete ihn noch bis zum Studio und verabschiedete sich dann ohne weitere Bemerkung oder die obligatorische, kurze Umarmung.

Sebastian griff sich seine Gitarre, bekam dann die Akkorde, die er zu spielen hatte und begann, sie kurz zu studieren. Er war sicher, dass der Nachmittag keine sonderliche Anstrengung mehr für ihn bereithalten würde.

Kapitel 3

Die Mail umfasste nur zwei Sätze:

Jannik hat in den nächsten Wochen viel zu tun mit seinen Prüfungen. Bitte ruf ihn nicht an.

Es tat Sebastian nicht einmal sonderlich weh, er hatte schon lange damit gerechnet, dass sich dieser letzte dünne Faden, der ihn mit seinem Kind verbunden hatte, irgendwann einfach auflösen würde.

Ihm war nur nicht klar gewesen, ob es durch die Zeit, einen Anruf oder eine Mail geschehen würde. Wenigstens diese Frage hatte sich nun geklärt.

Einmal mehr schloss er den Computer, wieder griff die Stille nach seinen Nerven und begann, nach ihnen zu treten. Dieses Mal widerstand er der Versuchung, die Glotze anzuschalten.

Er stand auf, ging nach nebenan, wo er in seinem Schlafzimmer seine Schätze aufgebaut hatte. Hier standen seine Gitarren, sorgfältig poliert, in einem extra dafür angefertigten Schrank.

Damals nach dem Auszug und der Trennung hatte er sich bewusst eine kleine Wohnung mit einfacher Einrichtung genommen, die ein wenig außerhalb lag.

Seine Ex-Frau hatte nie Unterhalt verlangt, weder für sich noch das Kind. Sie war finanziell immer unabhängig gewesen, vor allem bedingt durch ein großes Erbe, das sie kurz nach ihrer Heirat gemacht hatte. Einen Anspruch darauf hatte Sebastian nie gestellt, Geld war ihm ziemlich egal.

Sebastian öffnete die Schranktür und griff zu einer akustischen Gitarre, die er in Spanien erworben hatte bei einem alten Baumeister, der noch jedes Stück per Hand fertigte. Vermutlich war der Mann inzwischen längst verstorben.

Während seine Finger wie von selbst über die Saiten schwebten, dachte er an seinen Anwalt, der ihm damals geraten hatte, seine Frau wegen des Geldes zu verklagen. Sebastian wäre so etwas nie in den Sinn gekommen. Er konnte sich noch gut erinnern, wie obszön er den Gedanken damals gefunden hatte.

In die Trauer darüber, seinen Sohn endgültig verloren zu haben, mischte sich zu seiner Überraschung auch ein Stück Erleichterung.

Vielleicht, so überlegte er, während er in einen schwelgenden, tanzenden Rhythmus verfiel, war es so ähnlich, wenn ein naher Angehöriger nach einer langen Krankheit verstarb.

Man trauerte um den Verlust, der nicht zu ersetzen war, und war gleichzeitig ein bisschen erlöst, weil die letzten Monate, in denen man ihn begleitet hatte, geschmerzt und enorm Kraft gekostet hatten.

Doch die Worte, die Alina ein paar Tage zuvor zu ihm gesagt hatte, wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen. Möglicherweise war es tatsächlich an der Zeit, aus einer neuen Quelle neue Kraft zu schöpfen.

Er fühlte, wie seine Gedanken verklebten, wie er sich in den immer gleichen Bahnen bewegte, mit den gleichen Menschen umgab, in sich ständig wiederholende Gewohnheiten verfiel. Er war Musiker, seine Kreativität war sein Kapital. Er spürte, wie er es in den düsteren Schleiern der Trauer mehr und mehr verloren hatte.

Seine Finger hatten inzwischen, fast unbeeinflusst von seinem Gehirn, eine neue, monotone Melodie gefunden. Sebastian musste sich selbst lauschen, um zu überlegen, woher er sie kannte. Dann fiel es ihm wieder ein. War es nicht dieser Soundtrack für diese Meditations-CD gewesen?

Er hörte eine Weile dem eher einfachen Spiel zu, stellte jedoch fest, dass es, auf dem richtigen Instrument gespielt, freundlich und einladend klingen konnte. Für einen Moment fühlte er, wie seine Seele sich erhob, sich von dem Vater löste, der vor wenigen Stunden seinen Sohn verloren hatte.

Irgendwann unterbrach er sein Spiel, legte das Instrument beiseite und ging in den kleinen Flur, in dem es außer den beiden alten Stühlen keine Möbel gab. Er nahm sich die Post und blätterte sie durch. Tatsächlich, Michael hatte ihm eine CD von der Aufnahme geschickt, er hatte sie nur noch nicht beachtet.

Verrückt, dachte er, nachdem er im Wohnzimmer die CD in einen betagten Player geschoben hatte. Man sollte denken, dass ein Musiker jedem Stück hinterher lauscht, was er einmal eingespielt hat, es sofort im Ohr hat. Doch an viele Aufnahmen konnte sich Sebastian nicht mehr erinnern, auch hier musste er sich konzentrieren.

Die CD war zusammen mit dem Werbeheft für eine Drogeriemarkt-Kette herausgekommen, lag vermutlich als Werbung in einigen Filialen aus. Sebastian dachte darüber nach, wie viele Menschen sie einsteckten, zu Hause auflegen und dann einfach in den Müll werfen würden. Vermutlich ging es Arbeitern mit ihren gefertigten Produkten in der Fabrik auch nicht besser.

In getragener Melancholie lauschte er, vor dem CD-Spieler stehend, den Klängen seiner Gitarre, die Michael mit einem Sequenzer verfremdet hatte. Er verlor sich in den Noten, sah sie vor seinem geistigen Auge, während er das Magazin durchblätterte, das für irgendwelche angeblichen oder tatsächlichen Bio-Produkte wie Duschgels oder Shampoos Werbung machte.

Er überflog Hochglanzbilder, in seiner Fantasie mischten sich Fotos von Australien mit den Erinnerungen an sein Kind. Mit Daumen und Zeigefinger wischte er sich über die Augen, sah, nachdem sein Blick wieder klarer geworden war, die Anzeige im hinteren Teil des Heftes, wo ‚Kunden Kunden kennenlernen sollten‘ – was immer diese Überschrift bedeutete.

Finden Sie Ihre innere Mitte, schrien ihn die Buchstaben an. Sie sahen aus, als hätte sie jemand aus grünen, schmalen Blättern zusammengelegt.

Für einen Moment war Sebastian versucht, das Heft einfach beiseite zu legen, doch die Macht, die die Überschrift der Anzeige sofort über ihn gewonnen hatte, war stärker.

Die Musik hatte inzwischen gewechselt, ein dunkler, gluckender Synthesizer produzierte einen Sound, der entfernt an einen orientalischen Markt erinnerte.

Sebastian merkte kaum, dass er sich setzte und dabei die Annonce gründlich studierte.

Mein Gott, dachte er, können sie schön lügen. Gleichzeitig merkte er, wie diese Lügen in seinem Hirn zu wirken begannen. Auch als die CD längst ausgespielt hatte, saß er noch da und studierte gründlich die immer gleichen Worte.

Kapitel 4

„Das ist eine ausgezeichnete Idee, mein Junge. Du spannst ein paar Wochen aus und kommst mit frischen Ideen zurück!“

Wiglaf Braun war Manager mit Leib und Seele, sein Drang, zu vermitteln, zu kommunizieren, seine eigene Art positive Energie zu verströmen, quoll aus jeder Pore seines Körpers, auch wenn ein Gutteil davon gerade von einem teuren, italienischen Anzug verhüllt war.

Trotz der Maß-Konvektion spannte das hellbraune Hemd bedenklich über seinen Bauch, als er hinter seinem Schreibtisch hervortrat und Sebastian an sein Herz drückte, als wäre der einfache Studio- und Session-Musiker das Maß, in dem man grandioses Gitarrenspiel misst.

Sebastian musste ein Husten unterdrücken, denn das schwere, süßliche After-Shave legte sich auf seine Atemwege.

„Ich habe im Internet so ein Camp gefunden, in dem man sein Bewusstsein neuen Dingen gegenüber öffnen kann ... “ begann Sebastian ein wenig hilflos, um sofort von seinem Manager unterbrochen zu werden.

„Neue Ideen, das ist es, mein Junge, das ist es.“

Wiglaf trat einen Schritt zurück und musterte Sebastian, als würde er ihn zum ersten Mal sehen. Dann breitete er die Arme in einer eigentümlichen Bewegung aus, schüttelte sie leicht und ließ sie wieder sinken.

„Du bist blass geworden, wirklich, du bist blass geworden.“

Er schien eine Sekunde zu überlegen.

„Hat der Mistkerl dich schon lange betrogen?“

Sebastian konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, auch wenn er seinen Manager anstrengend fand.

„Ich bin nicht schwul - meine Frau ist nach Australien gegangen, hat meinen Sohn mitgenommen und sich scheiden lassen!“

Wiglaf schlug sich vor die Stirn, seine Augen traten leicht aus den Höhlen und ähnelten dabei Kameras, die nachts ein Grundstück überwachen.

„Klar, klar, nach Australien! Du spielst ja Gitarre - Pianisten, die sind alle schwul und über-sensibel!“

Er lachte, schien nichts dabei zu finden, dass er nicht die geringste Ahnung hatte, wer da vor ihm stand. Vermutlich hatte ihm seine Sekretärin vor dem Gespräch ein kurzes Briefing geschickt, das er lediglich überflogen hatte während eines Telefonats. Wie konnte Wiglaf nur so erfolgreich sein?

Aber er war tüchtig, kannte immer die richtigen Leute, wusste die Knöpfe, die man für Jobs drücken musste. Dabei war er nicht mal sonderlich teuer. Sebastian wusste von Managern, die ganz andere Beteiligungen verlangten. Dafür hatte er keine Ahnung, wer man genau war. Man konnte eben nicht alles bekommen. Und waren sich Pianisten und Gitarristen nicht irgendwie ähnlich und hatten mit Saiten zu tun?

Sebastian erinnerte sich an einen Keyboarder, der alles vögelte, was ihm nicht schnell genug entkommen konnte. Nein, Pianisten waren nicht alle schwul, aber weshalb sollte er mit Wiglaf eine Debatte darüber führen?

„Wie stehen die Chancen, eine CD mit Chillout zu machen?“ fragte Sebastian unvermittelt.

Wiglafs Gesicht, das eben noch gestrahlt hatte, wurde sofort eine ganze Spur seriöser.

„Du meinst so einen Ambient-Kram? Das läuft schon lange nicht mehr. Den Balearic-Mist kriegst du hinterher geworfen, das ist durch.“

„Aber ich habe Musik für diesen Drogerie-Markt aufgenommen.“

Wiglaf kratzte sich die wuchtige Nase, die irgendwann mal schwer deformiert worden war, vermutlich bereits vor zwanzig oder dreißig Jahren, als er noch ein junger Hitzkopf am Beginn seiner Karriere gewesen war. Damals war er mit Punk-Musik groß geworden, das hatte er Sebastian mal erzählt.

Er hatte sich besoffen in kleinen Clubs rumgetrieben und um seine ersten Bands gebettelt. Er hatte damals einige Szene-Größen versammelt und ihnen zu Geld verholfen, was den Band-Mitgliedern allerdings häufig nicht gut bekommen war.

Inzwischen vermarktete er alles, was sich irgendwie zu Geld machen ließ, vor allem Schlagersternchen an Supermärkte. Das, so hatte er erklärt, war deshalb so attraktiv, weil diese Künstler einfach einen Stick mit ihrer Musik in der Tasche hatten. Es brauchte keine teure Band, die mitreiste. Der Punk der Siebziger war heute die heile Welt mit schönen, süßlichen Menschen, die vor Leuten mit vollgestopften Tüten sangen. Und einem Manager, der sich an den kalten Buffets den Bauch vollschlug und dabei Kontakte pflegte. Diesen Teil seiner Schilderung fand er jedes Mal besonders ulkig.

„Ach ja, diese Zeitschrift, die niemand liest, ich erinnere mich!“

Wiglaf wedelte mit dem Zeigefinger und suchte seinen Schreibtisch ab, schien jedoch nichts zu finden.

„Egal, ich weiß, was du meinst. Aber das ist kostenloser Werbe-Ramsch. Die Leute stecken sie ein, weil sie denken, sie kriegen was geschenkt. Aber zu Hause hören sie die CD einmal, dann werfen sie sie weg. Immerhin blättern sie währenddessen durch den Prospekt und kaufen anschließend irgendeinen überteuerten Bio-Scheiß!“

Er lachte laut. Ihm schien kaum bewusst, dass er Sebastian mit dieser Aussage kränkte. Erst als er ihn ansah, scannten die Kameras über seiner Nase das Fett-Näpfchen.

„Hey, das ist der Job. Die haben doch gut gezahlt. Und von dem Geld kannst du jetzt eine Weile ausspannen.“

Damit war Sebastian entlassen, denn gleichzeitig öffnete sich die Tür mit einer stirnrunzelnden Sekretärin und das Telefon schlug an.

Sebastian murmelte eine Verabschiedung, die Wiglaf kaum noch wahrnahm. Er winkte der blonden Schönheit aus seinem Vorzimmer und griff gleichzeitig nach dem Hörer.

Niemand achtete auf Sebastian, der nach draußen ging, die weiträumigen, teuer ausgestatteten Büro-Räume verließ und über den Flur zum Fahrstuhl gelangte.

Links und rechts zweigten die Türen ab zu weiteren Büros von Immobilien-Maklern, Rechtsanwälten und Steuerberatern.

Hier in der City war die beste Lage, die man als Normal-Sterblicher kaum bezahlen konnte. Ein freundlich gemusterter Teppich schluckte die Geräusche von Sebastians Tritten.

Erst als er in der großzügigen Kabine des Fahrstuhls stand und lautlos nach unten transportiert wurde, fiel ihm auf, dass Wiglaf mit viel Lachen, Gesten und etlichen Worten nicht das Geringste gesagt hatte.

Wie so häufig hatte Sebastian, als er den Fahrstuhl verließ und durch die schimmernde Eingangshalle des mächtigen Hochhauses in der Innenstadt marschierte, das Gefühl, als hätte ihn gerade jemand über den Tisch gezogen. Er hatte nur keine Ahnung, womit und was ihn die Sache gekostet hatte.

Wieder ein Stückchen deines Lebens verschwendet, ging es ihm durch den Kopf.

Kapitel 5

Die Buchung über das Internet war problemlos verlaufen, ebenso die Bezahlung mit der Kreditkarte, die Sebastian nur selten benutzte. Geld war ihm immer fremd gewesen, eine Buchung dagegen nur ein Eintippen von Zahlenkolonnen.

Natürlich wusste er, wie viel ihn der Spaß kosten würde, er hatte auch eine Vorstellung, was er auf seinen Konten hatte. Aber ein echtes Gefühl für Geld hatte sich bei ihm nie einstellen wollen, es hatte ihn auch nie sonderlich interessiert.

Seine Welt bestand aus Noten, aus Akkorden, aus der Suche nach einer Wahrheit hinter den Klängen, auch wenn er mittlerweile sicher war, sie nie ganz zu finden.

Außer der dünnen Beschreibung und einer Adresse hatte er wenige Anhaltspunkte, was ihn in der nächsten Woche erwarten würde. Natürlich, so überlegte er sich, hätte er mit wenigen Mausklicks mehr über das Ziel seiner Fahrt herausfinden können.

Wollte er das überhaupt? War nicht genau das sein Ziel, sich einfach in neue Erfahrungen hinein treiben zu lassen? Das Leben war ein Stück Musik, er war auf dem Weg zum nächsten Akkord.

Das Grundstück hatte der Betreiber den Garten Evan taufen lassen - was so ein wenig klang wie der Garten Eden, eine Assoziation, die bestimmt gewollt war.

Sebastian hatte gelesen, dass es sich um eine altgediente Villa handeln musste, am Rande der Nord-Stadt, dicht hinter einem Neubaugebiet. Die Villa musste, wenn er der Adresse vertraute, schon fast ein Stück weit im Wald liegen. Es musste sich um ein großes Grundstück handeln, auf dem nicht nur die Leute untergebracht waren, sondern auch die Möglichkeit bestand, selbst Obst und Gemüse anzubauen, wobei man neue spirituelle Erfahrungen unter entsprechender Anleitung machen sollte.

Sebastian erinnerte sich an einige Ausflüge in seiner Kindheit, die ihn zu den Großeltern geführt hatten. Dort hatte es hinter dem Haus einen riesigen Garten mit allen möglichen Sorten von Gemüse gegeben.

Er sah Großmutter, von deren Gesicht er allerdings kein genaues Bild mehr hatte, wie sie kleine weiße Schilder mit schön beschriebenen Worten exakt an die Ränder der Beete setzte.

Er freute sich auf körperliche Arbeit, auch wenn er nicht gerade besonders sportlich war, eher hochgewachsen und ein wenig zu schmal. In den letzten Jahren war er viel zu sehr verkopft geworden durch die Welt der Musik, so dass Anstrengung und Muskelkater einen willkommenen Ausgleich darstellten.

Wie würden seine schlanken Hände mit den ziemlich langen Fingernägeln auf die Erde und die Wurzeln reagieren? Sebastian musste über sich selbst lachen.

Er entschied sich, neben der Reisetasche, die er gepackt hatte, lediglich eine Gitarre mitzunehmen, dazu keines seiner Lieblingsinstrumente.

Er nahm eine ältere Gitarre, suchte einige Ersatzseiten und ein Plektron. Dann schlug er den Gitarrenkoffer zusätzlich mit einer dünnen Decke aus und legte das Instrument behutsam hinein. Im Endeffekt verwandte er mehr Zeit darauf, sie zu verpacken als für den gesamten Inhalt seiner Reisetasche. Hier beschränkte er sich auf das Wesentliche.

Wiglaf war ein fähiger Manager, er hatte ihm zugesichert, ihn für einer Woche von allen Terminen zu befreien. Vermutlich würde das seine Blondine im Vorzimmer mit wenigen Telefonaten und einem bezaubernden Triller in der Stimme innerhalb weniger Minuten erledigt haben.

Sebastian warf einen letzten Blick in die Wohnung, ehe er sie verließ. Außer seinem Manager gab es niemanden, den er von seinem Trip informiert hatte.

---ENDE DER LESEPROBE---