Nicht alle Träume werden wahr - Olaf Hauke - E-Book

Nicht alle Träume werden wahr E-Book

Olaf Hauke

0,0
0,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

„Wenn du weinst, stell dich in den Regen – dann sieht niemand deine Tränen!“ Addi ist der ungekrönte König im Internat, er hat das Sagen. Und Frauen sind für ihn Objekte, eine Unterhaltung, wie ein gutes Spiel oder ein klasse gemixter Cocktail. Doch dann beendet ein einziger Schlag diese Karriere. Und der kommt von einer jungen Frau, dunkelhäutig, ohne Vermögen im Hintergrund und einen Kopf kleiner als er. Die Nase ist nach einigen Tagen verheilt, aber der Schmerz und die Wut, die er empfindet, gehen viel tiefer. Alles in ihm schreit nach Rache. Und dazu soll er bald Gelegenheit bekommen, denn die junge Frau hat ein Geheimnis, das niemand erfahren darf ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 13

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Ende

Nicht alle Träume werden wahr

Olaf Hauke

2022

Copyright 2022

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

T. 01575-8897019

Cover prettysleepy1

[email protected]

Prolog

„Das Internat teilt sich in zwei Bereiche. Hier befinden wir uns in dem alten Gebäude für die Unterrichte, die sich über drei Etagen verteilen, dazu kommt der Musik-Turm, damit die Instrumente den sonstigen Unterricht nicht stören. Der Neubau ein Stück weiter hinten ist für den naturwissenschaftlichen Bereich reserviert. Direkt angrenzend an den Hof sind dann die beiden Sporthallen.“

„Die werden aber auch von anderen Vereinen genutzt“, stellte die Frau fest. Es schien als wäre ihr allein der Gedanke unangenehm.

„Es sind im Regelfall Vereine, in denen Schüler unseres Internats Mitglieder sind“, beeilte Björn der Frau zu versichern. „Sie wissen ja sicher, wie erfolgreich unsere Teams in den letzten Jahren bei vielen Veranstaltungen gewesen sind. Vereine bieten zusätzliche Trainingsmöglichkeiten für unsere Leistungsträger.“

Er bemühte sich, die letzten Sätze mit einem gewissen Stolz auszuschmücken. Es kam bei den Menschen immer wieder gut an, wenn man sportlich erfolgreich war, obwohl das nichts über die schulische Leistung aussagte. Doch eine solche Bemerkung hätte Björn sich als Schulleiter niemals öffentlich erlaubt.

„Und wie sieht das mit der Unterkunft aus? Gibt es für die älteren Schüler auch Einzelzimmer? Unser Merlin ist in dieser Hinsicht etwas, hm, verwöhnt.“

Die Frau kicherte und verzog die rot geschminkten Lippen. Ihr Mann, der bisher nur stumm mit ihnen durch die Schule gelaufen war, vergrub die Hände tief in den Taschen seiner dunkelblauen Anzughose und grunzte zustimmend. Er hatte ein breites, wütendes Gesicht mit einer rot geäderten Nase und kleinen, grauen, wachsamen Augen, die weniger Intelligenz als Gerissenheit zeigten.

„Wir gehen gleich hinüber“, sagte Björn mit einem gewinnenden Lächeln. Dabei machte er eine einladende Handbewegung in Richtung der Aula. Bei den meisten Führungen war das einer der Höhepunkte, da der alte Raum vor einigen Jahren mit Fördergeldern komplett restauriert worden war, inklusive einiger Wandgemälde und den aufwendigen Stuck-Arbeiten an der Decke.

Björn öffnete die Tür, der Mann warf nur einen mürrischen Blick ins Innere.

„Hier wird er ja nicht wohnen“, stellte er mit einem abschätzigen Grunzen fest.

Björn rang sich ein Lächeln ab und vermied es, die Aula ausgiebig anzupreisen. Er betete, dass der Hausmeister inzwischen das Zimmer für den verzogenen Jungen gerichtet hatte. Er hatte Merlin bereits kennenlernen dürfen und ahnte, dass es eine Herausforderung sein würde, ihn zum Abitur zu bringen, so wie es sich der Vater vorstellte.

Sie gingen die breite Treppe nach unten. Björn hatte den Termin so gewählt, dass die Klassen geschlossen waren und nur wenige Schüler umher liefen. Das konnte die Führung zu einer Tortur werden lassen.

Der Vater schob seine Frau mürrisch auf die Seite und wandte sich an Björn.

„Sie wissen, dass unser Sonnenschein schon einige Anläufe hinter sich hat. Ich will, dass er endlich das verdammte Abitur in der Tasche hat und studieren kann.“

Björn wollte etwas entgegnen, doch der bullige Mann war noch nicht am Ende.

„Sollte es hier in der Schule irgendeinen, hm, Bedarf geben, also Sachen, die noch fehlen, geben Sie mir einfach Bescheid, ja? Ich mache viel in Elektronik, ich kann Ihnen da jederzeit unter die Arme greifen.“

Seine wulstigen Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und gaben den Blick auf unnatürlich weiße und gerichtete Zähne frei.

In den letzten Jahren hatte Björn gelernt, solche Bestechungen oder deren Versuche am besten zu überhören. Wenn überhaupt, war es Sache des Aufsichtsrats über das Internat, stillschweigend zu kassieren.

Der Aufsichtsrat, der nominell der Arbeitgeber von Björn als Leiter des Internats war, sah solche Aufmerksamkeiten nämlich offiziell nicht gerne. Aber Björn wusste, dass so mancher Euro auf diese Weise in die Schulkasse gewandert war – auch in die private Kasse manches Mitglieds des Rates.

Er lächelte noch eine Spur breiter und machte eine einladende Handbewegung, während er das Haupt-Tor zur Schule öffnete. Er sah den Hausmeister und war erleichtert. Merlin würde zwar für die Lehrer zu einer Herausforderung werden, doch daran waren sie gewohnt. Und der Aufsichtsrat konnte sich wieder für eine Weile zufrieden zurücklegen, das Schulgeld wäre gesichert.

Er spulte das übliche Programm über die Verpflegung und die Möglichkeit der Zimmerreinigung herunter, hörte sich selbst dabei jedoch kaum noch zu.

Kapitel 1

„Hey Neger-Schlampe, komm doch mal rüber und blas mir einen!“

Die Worte von Addi hallten über den gesamten Hof. Die jungen Männer um ihn herum lachten, die Gestalten der übrigen Schüler zuckten zusammen. Wer es schaffte, zog sich unauffällig zurück oder versuchte, mit der Wand in seinem Rücken eins zu werden. Niemand hob den Blick aus Angst, das nächste Opfer zu sein.

Doch Addi hatte sich schon ein Opfer ausgesucht. Er hatte die dummen Bemerkungen seiner Kumpane, die ihn umkreisten wie Motten eine alte Glühbirne, aufgegriffen und mit den Augen die junge Frau gesucht, über die sie ihre halblauten Witze gerissen hatten.

Ja, dachte er, die würde mir gefallen, während er unverwandt auf ihren Hintern starrte. Sie sah nicht so aus, als würde sie sich einfach so in seine Arme begeben, das gefiel ihm besonders. Nein, sie würde sich erst wehren, ehe sie dann seinem rauen Charme erliegen würde.

Warum war sie ihm bisher noch nie aufgefallen? Er war der Bad-Boy hier am Internat, im Rücken einen Vater voll Geld, trainiert, ein wenig dumpf, aber gutaussehend. Letztlich machten sie alle, was er sagte.

Die dunkelhäutige Frau mit den halblangen, geflochtenen Haaren stand bei einer kühlen Blondine, die ebenfalls noch neu zu sein schien. Ja, auch sie war hübsch, aber nun hatte er seine Fühler nach etwas Exotischem ausgestreckt, wie er im Geist die dunkelhäutige Frau bezeichnete, ganz so, als würde man ein Stück Obst oder einen Cocktail einschätzen.

Letztlich waren Frauen doch nicht mehr als ein gut gemixter Cocktail, der einen für einen Moment berauschte, bis man das Glas geleert hatte und ihn zurück auf die Bar für die anderen, noch gefüllten Gläser, stellte.

Das stumpfe Bild gefiel ihm, sein Lächeln wurde noch etwas breiter. Was würden sie ihn bewundern, wenn die Frau nach dieser blöden Anmache tatsächlich auf ihn abfahren würde.

Es würde eine gute Woche werden mit der Negerin im Bett und dem Spiel am Samstag um den Einzug ins Halbfinale. Wenn sie gut genug war, konnte er sie sogar mit auf die Siegesfeier nehmen, sie machte schon einiges her. Und eine Negerin verlieh einem immer so ein Stück Weltoffenheit, auch wenn er ganz und gar nicht so empfand. Aber das war ein Geheimnis zwischen ihm und den Jungs, das den Rest der Welt nichts anging – zumindest noch nicht.

Die dunkelhäutige Schönheit machte keine Anstalten, auf seine Worte zu reagieren. Addi merkte, wie das seinen Ehrgeiz anstachelte.

„Etwas schüchtern, die Kleine“, stellte er mit einem trockenen Glucksen fest und trat aus dem Halbkreis seiner Kumpane. Die Vorfreude auf die kommende Show war ihnen allen ins Gesicht geschrieben.

Nun ruhen alle Blicke auf mir, dachte Addi selbstgefällig und ging zu den beiden jungen Frauen herüber. Die Blondine sah ihn, sie flüsterte der Dunkelhäutigen etwas zu. Die zeigte mit keiner Bewegung, ob und wie sie reagieren würde.

Aber sie schien etwas gesagt zu haben, denn die Blonde zog sich zurück und starrte Addi dabei ohne Unterlass an. Das gefiel ihm, die Bühne gehörte ganz allein ihm.

Er erreichte die Frau, inzwischen schienen alle Gespräche auf dem Hof verstummt zu sein. Das Schweigen dröhnte förmlich von den Mauern des mächtigen, grauen Schulgebäudes wider, das den Hof an drei Seiten umschloss.

„Hey, Süße, ich rede mit dir!“

Addi versuchte, seine Stimme gleichzeitig rau und doch mit einem schmeichelnden Unterton zu versehen. Das hatte meist gewirkt. Die Frauen hatten es ihm oft genug erklärt. Sie waren meist keine echten Schlampen, aber eigentlich wollten sie jemanden, der Macht und Charisma ausstrahlte, der ihnen zeigte, wohin die Reise ging.

Die junge Frau zeigte endlich eine Regung. Sie drehte sich um. Sie war gut einen Kopf kleiner als der Fußballer, eigentlich war sie ihm ein wenig zu schmal. Er hasste es, wenn sie zu kleine Brüste hatten und diese auch noch unter einem Kapuzen-Pullover versteckten.

Scheiße, dachte er bei sich, ich hätte es bei der Blonden versuchen sollen. Doch nun war es zu spät.

Die dunkelhäutige Frau sah ihn mit großen Augen an. Lag da eine gewisse Furcht in ihrem Blick? Addi fand, dass dies die einzige mögliche Reaktion auf seine Ansprache und sein Erscheinen sein konnte.

„Ich vermute, du meintest mich?“

Ihre Stimme klang erstaunlich dunkel und rau, das gefiel ihm wiederum. Er würde sie nicht nur vögeln, er konnte auch durchaus mit ihr angeben. Konnten diese Neger nicht alle fantastisch singen?

Er musste dafür sorgen, dass sie vor dem Fest noch mal ordentlich durchgestylt würde, dann konnte er sich mit ihr sehen lassen. Und sie hatte eine Show, die sie so schnell nicht vergessen würde. Sie war immerhin mit ihm zusammen gewesen, wenn auch nur für einen Augenblick. Gab es nicht so etwas wie fünfzehn Minuten Ruhm?

„Ha, ha, kleiner Spaß unter Freunden“, stellte er fest und streckte seine Hand aus, um sie an die Schulter zu fassen. Sie würde sich zieren, aber wenn er sich entspannte würde sie sich auch entspannen. Und alle würden glauben, sie wäre tatsächlich auf seine blöde Anmache eingestiegen.

Der Schlag traf ihn gänzlich ohne Vorwarnung. Man hörte nur ein leises Klatschen, dazu einen Knacks, als das Nasenbein brach. Addi starrte die junge Frau an, die sich kaum bewegt zu haben schien. Er taumelte ungläubig zurück, seine Hand fuhr instinktiv in sein Gesicht.

Verwirrt starrte er auf das Blut in seiner Handfläche. Im gleichen Moment spürte er einen heftigen Schmerz in der Magengegend, der ihn zusammenklappen ließ. Er versuchte, einen Schritt zu machen, fiel jedoch vorher hart auf den rauen Boden des Pausenhofs.

Jemand rief etwas, doch er konnte nur eine Stimme hören, ohne den Inhalt der Worte zu begreifen.

Kapitel 2

„Andreas Sütterer, ist das nicht der Sohn vom alten Sütterer?“

Björn Elst starrte missmutig aus dem Fenster. Es hatte zu regnen begonnen, irgendwie passend zu seiner Laune. In den nächsten Tagen sollte das milde Frühlingswetter der Vergangenheit angehören. Es hieß, dass es sogar noch einmal schneien sollte.

Björn verspürte weder Lust auf Andreas Sütterer noch auf die Rückkehr des Winters. Doch beides würde er kaum ändern können.

„Und der Alte – ich meine, sein Vater, hat bereits alle Hebel in Bewegung gesetzt, oder?“

Frau Wagner, die Sekretärin, zuckte mit den schmalen Schultern und nestelte an ihrer Brille. Der Vorfall schien sie nervös zu machen.

„Keine Ahnung, zumindest blieb der wütende Anruf bisher aus. Ich habe auch die Eingangspost kontrolliert, es gab kein Schreiben von einem Anwalt, diese Sorte, deren Briefkopf die erste Seite des Briefes füllt.“

Ihre vollen Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. Obwohl Björn seit vier Jahren das Institut leitete und gut mit ihr auskam, wusste er nicht das Geringste über ihr Privatleben.

Sie war klein, zierlich, hatte ein altersloses, schmales Gesicht und trug eine markante, große, dunkel gerahmte Brille, hatte die dunkelblonden Haare meist zu einem Dutt gesteckt.

Björn dachte immer, dass sie irgendwann einmal die Brille abnehmen, ihre Haare frei schütteln und dann lasziv auf der Kante ihres Schreibtisches nach hinten wippen würde. Doch sie blieb stets korrekt, gut informiert, klug und ruhig.

Er schüttelte die eigentümlichen Gedanken ab. Manche Filme waren einfach nicht gut für seine Fantasie, besonders merkwürdige Komödien aus Amerika.

„Wie geht es Sütterer überhaupt?“ fragte er und riss seinen Blick vom Fenster läuft.

Frau Wagner schien durchaus besorgt über die Schlägerei, die es auf dem Schulhof gegeben hatte.

„Er hat eine gebrochene Nase, dazu einige Prellungen.“

Björn stieß einen tiefen Seufzer aus. Er erinnerte sich nur dunkel an Sütterer, wusste, dass er im Fußballteam Erfolge feierte. Hatte es nicht auch Ärger wegen einer abgebrochenen Schwangerschaft gegeben? Aber den genauen Hergang hatte er irgendwo notiert, er war ihm entfallen.

„Mit welchem Idioten hat er sich überhaupt angelegt?“ wollte Björn wissen. Vor seinem Auge spielte sich eine wilde Prügelei zwischen jungen Männern ab. Bestimmt hatte es mehrere Schläger gebraucht, um Sütterer niederzustrecken.

„Shari Young,“ kam die trockene Antwort.

Björn hatte sich an sein Notebook setzen wollen, um einen Vermerk zu tippen, doch er stockte mitten in der Bewegung.

„Nein, im Ernst, mit wem hat er sich geprügelt?“

Frau Wagner hatte mit Sicherheit das Objekt des Streites mit den Prügelnden verwechselt. Er hatte Shari erst vor einigen Wochen aufgenommen, hatte das junge, schlanke, dunkelhäutige, äußerst introvertierte Mädchen noch gut vor Augen. Vermutlich hatte sie mit Andreas Sütterer angebändelt, obwohl es ihm schwerfiel, sich die beiden als Paar vorzustellen.

Frau Wagner konnte sich ein breiteres Lächeln nicht verkneifen.

„Er hat sie offenbar vor seinen Kumpanen beleidigt, ist sie angegangen. Da hat sie ausgeholt und ihn mit zwei gezielten Schlägen außer Gefecht gesetzt.“

Sie atmete tief durch.

„Seine Kumpane lieferten eine andere Version, aber es gab einfach zu viele Zeugen, als dass man das Geschehnis völlig verleugnen konnte.“

„Shari Young?“

So sehr sich Björn auch bemühte, er konnte sich das Geschehen nicht einmal annähernd vor sein geistiges Auge rufen. Er starrte auf sein Notebook, wo er das Formular für Notizen geöffnet hatte. Aber er schaffte es nicht, einen halbwegs klugen Einstieg zu finden.

„Sie hat einem Kerl, der vermutlich doppelt so schwer und so groß ist, einfach die Nase gebrochen?“

„Er hatte nicht den Hauch einer Chance!“

Frau Wagner ließ keinen Zweifel daran, wem ihre Sympathie galt. Björn merkte, dass ihn diese eindeutige Stellungnahme beunruhigte.

„Sie wissen, dass ich sie von der Schule nehmen muss, wenn die Vorwürfe zutreffen?“

Er fühlte sich bereits bei der Frage unwohl. Nein, die Sache war eine faule Kiste, bei der er nichts zu gewinnen aber eine Menge zu verlieren hatte.

„Ja, das weiß ich“, kam die trockene und kühle Antwort.

Björn verzog die Lippen. Natürlich begriff er, was Frau Wagner von ihm erwartete.

„Und nun erwarten Sie von mir, dass ich die Kuh vom Eis hole, nicht wahr? Sütterer soll keinen seiner Anwälte auf uns hetzen, Shari Young soll nicht von der Schule fliegen, alle sollen glücklich sein.“

„Wie gut wir uns verstehen, Herr Direktor“, flötete Frau Wagner. Hatte sie nicht bald Geburtstag? Auf jeden Fall irgendwann im April, er durfte es auf keinen Fall vergessen. „Sie wartet übrigens vor der Tür.“

„Ach, großer Gott, hätte das nicht Zeit bis nach dem Mittag gehabt? Sie wissen, dass ich am Vormittag faste, ich ertrage keine Tränen vor dem Essen.“

Frau Wagner spitzte die Lippen.

„Das wird Ihnen auf jeden Fall erspart bleiben, Herr Elst“, sagte sie, machte auf dem Absatz kehrt und verließ sein Büro. Ehe er noch irgendeine Ausrede stricken konnte, klopfte es bereits.

Björn griff sich an den Hals und richtete die Krawatte. Der Tag hatte schlecht angefangen und er machte keine Anstalten, in irgendeiner Form besser zu werden. Er sah, dass sich auf dem Vorplatz, über den man blickte, wenn man aus dem Fenster sah, kleine, schwarze Pfützen gebildet hatten, die sich zunehmend füllten. Auch die Straße färbte sich langsam ein.

„Kommen Sie herein, Shari“, sagte er und vergrub die Hände in den Taschen seiner Hose. Zunächst hatte er sich überlegt, die junge Frau derart zu empfangen, dass er hinter seinem Schreibtisch saß. Doch Frau Wagner hatte mit ihren Andeutungen seine Neugierde gereizt.

Gerne hätte er vor dem Gespräch noch einmal die Akte der jungen Frau studiert, doch Frau Wagner hatte ihm, vermutlich absichtlich, keine Zeit dazu gelassen. Nein, er sollte spontan aus dem Bauch entscheiden, das war die Botschaft seiner Sekretärin. Sie kannten sich inzwischen erstaunlich gut, obwohl sie viele Dinge nicht aussprachen.

Die junge Frau öffnete langsam die Tür, doch ihr Blick hielt dem seinen stand. Sie wirkte beinahe ein wenig zu ruhig in Anbetracht ihrer Situation, die sie mit Sicherheit begriffen hatte. Sie hatte große, braune, intelligente Augen. In dem linken Nasenflügel schimmerte ein kleiner Diamant.

Sie trug einen Kapuzenpulli mit einem Werbe-Druck, es schien allerdings keine von den teuren Marken zu sein, wie man sie hier gerne präsentierte. Im gleichen Moment fiel Björn wieder ein, dass sie nicht mit ihren Eltern hier aufgetaucht war, sondern mit einer Betreuerin.

Sie mochte fünfzehn sein, vielleicht sechszehn. Richtig, ging es Björn durch den Kopf, sie war für die Oberstufe gemeldet und hatte, wie ungefähr die Hälfte aller älteren Schüler, ein Zimmer in dem angrenzenden Wohnheim. In ihrem Alter hatte sie bereits ein Einzelzimmer bekommen. Wurde das Schulgeld nicht aus irgendeinem Erbe bezahlt?

„Hallo Shari, bitte nehmen Sie Platz“, sagte Björn und bemühte sich um einen neutralen Ton in der Stimme. Er selbst lehnte am Schreibtisch.

Sie stellte sich hinter einen der Stühle, sah ihn weiterhin an und machte keine Anstalten, Platz zu nehmen.

„Ich nehme an, ich fliege.“

Es war eine Feststellung, keine Frage, die sie mit ihrer erstaunlich dunklen Stimme formulierte.

„Shari, Sie haben einen Mitschüler tätlich angegriffen“, sagte Björn und versuchte, ungerührt zu bleiben. Er konnte sich leicht vorstellen, dass Andreas Sütterer alles andere als unschuldig an der Situation war.

Doch vermutlich würde kaum jemand für die junge Frau aussagen, wenn es hart auf hart ging. Eine Einflüsterung bei Frau Wagner war eine Sache, damit offiziell zu werden eine ganz andere.

Sie machte nicht mal den Versuch, sich zu verteidigen, nickte nur ganz leicht.

Björn zögerte.

„Was hat er zu Ihnen gesagt?“ fragte er nach einem Moment der Stille.

„Er hat mich beleidigt, aber ich tat den ersten Schlag!“

Sie sagte das voller Stolz und Ernst. Björn stellte sich die Situation vor, die Überraschung im Gesicht von Sütterer – niedergestreckt von einer jungen, halb so großen Frau.

„Er scheint danach nicht mehr in der Lage gewesen zu sein zu reagieren“, meinte er und stellte fest, dass ihn der Gedanke eher belustigte.

„Ich habe extra auf seine Nase gezielt. Sie ist verletzlich, aber es heilt in zwei oder drei Wochen. Ein Kiefer kann da mehr Probleme machen.“

Björn wusste, dass er hätte ernst bleiben müssen, doch es gelang ihm nicht. Seine Lippen zuckten zu einem erstaunten Lächeln.

„Sie haben extra auf seine Nase gezielt? Machen Sie so etwas wie Kampfsport?“

„Ich habe zwei Jahre geboxt, inzwischen habe ich aufgegeben.“

Zunächst zeigte ihr ernstes, verschlossenes Gesicht den Anflug eines Lächelns, das jedoch sofort verflog und sich wieder dem Wetter draußen auf dem Hof anpasste.

„Dadurch wird meine Lage nicht gerade besser, oder?“ sagte sie leise.

Kapitel 3

Björn war wieder ans Fenster getreten und schaute auf die schweren, dunklen Wolken, die jeden Sonnenstrahl verschluckten.

„Ich weiß nicht“, sagte er nach einem Moment des Schweigens. „Ich habe gerade nicht richtig zugehört. Sagten Sie etwas?“

Die junge Frau sah ihn mit großen Augen an. Ihre Hände hatte sie unsicher ineinander verknotet. Wenn er genau hinsah, konnte er erkennen, wie das Blut aus den Knöcheln durch die Anspannung gedrückt worden war.

Nein, dachte er, bei dieser Sache mache ich mich eh zum Idioten. Und wenn es so ist, dann sollte es wenigstens zu der Seite sein, für die ich mich auch moralisch entschieden habe.

Sie mag diesen Kerl mit einem gezielten Schlag außer Gefecht gesetzt haben, doch auch ohne die genauen Hintergründe zu kennen, konnte sich Björn leicht vorstellen, dass es einen Auslöser gegeben haben musste. Und ohne Frage hatte nicht die junge Frau mit den eigentümlichen Zöpfen diesen Anlass gesetzt.

Er sah sie durchdringend an, sie sprach kein Wort, ihre Lippen zuckten nur. Erst jetzt sah er, wie verkrampft ihre gesamte Haltung war. Unter ihrer kühlen, beherrschten Fassade war sie ein Bündel aus Angst und hämmerndem Herzen, das wurde ihm jetzt erst klar.

Björn ging zu seinem Schreibtisch und drückte die etwas in die Jahre gekommene Gegensprechanlage.

„Frau Wagner, die Akte Young bitte, ja?“

Er hatte seinen Wunsch kaum zu Ende gesprochen, als auch schon die Tür aufging. Lag in den Augen von Frau Wagner, die hinter den reflektierenden Brillengläsern ruhten, ein leiser Tadel? Sie reichte ihm den dünnen Hefter, warf nur einen vorbeifliegenden Blick auf die junge Frau und war im nächsten Moment bereits wieder verschwunden.

Björn schlug den Hefter auf und überflog ihren Lebenslauf, sie war tatsächlich fünfzehn. Sofort blieben seine Augen an den beiden Kreuzen hängen, die hinter den Namen von Vater und Mutter gedruckt worden waren. Wer dachte sich so eine Idiotie aus, ging es ihm durch den Kopf.

Es gab bereits fünf Angaben zu verschiedenen Wohnorten, dazu eine ganze Reihe von Schulen, die sauber mit Spiegelstrichen aufgelistet worden waren. Woher kam das Geld für das Internat, fragte er sich, als er die Akte wieder schloss.

„Was denken Sie, wäre eine angemessene Bestrafung für Sie?“ fragte er ganz spontan.

Das schien sie völlig zu verunsichern.

„Ich habe zugeschlagen“, stellte sie mit einer gewissen Beharrlichkeit fest.

„Also scheidet ein Blumenstrauß als Belohnung aus“, gab Björn trocken zurück.

Ihre Lippen zuckten dieses Mal deutlicher.

„Blumen gehören in die Natur, nicht in eine Vase“, kam die überraschende Antwort.

„Das lassen Sie bitte nicht Frau Wagner hören, okay?“

Björn dachte an die üppigen Sträuße, die das Vorzimmer schmückten und jede Woche von seiner Assistentin penibel erneuert und arrangiert wurden.

Shari Young nickte und schwieg.

Björn öffnete ein wenig ratlos erneut die Akte. Keine Frage, die junge Frau hatte viel Schlechtes erlebt. Ihre Eltern mussten verstorben sein, es gab ein Treuhandvermögen, von dem die Schule bezahlt wurde, doch Geld ersetzte kein Heim.

Sie war ein schlummernder Vulkan mit einer Menge ungezügelter Energie, auch wenn der erste Eindruck ein völlig anderer war. Sie war sich selbst ein Rätsel, vielleicht hatte der Sport sie nicht weiter gebracht?

Für einen Augenblick spielte Björn mit dem Gedanken, sie in eine der zahlreichen Sport-AGs zu verfrachten. Aber dort würde sie genau auf die Typen von Menschen treffen, die nicht gut für sie waren. Nein, es musste etwas sein, was bisher in ihrem Leben keine Rolle gespielt hatte und ihr einen neuen Weg zeigen würde. Und etwas, in dem sie auf Menschen traf, die sie bisher nicht kennengelernt hatte.

Im gleichen Moment stieß er auf den Verweis ihrer letzten Schule. Ja, dachte er, hier lässt sich ein Muster erkennen. Allerdings schien sie damals mehr als einen Schlag gebraucht zu haben. Und vermutlich hatte sie ebenso das moralische Recht auf ihrer Seite gehabt.

„Es ist nicht die erste Schlägerei, oder?“ fragte er und merkte im gleichen Moment, wie anklagend die Frage wirken musste.

Sie zuckte nur mit den Schultern.

„Ich habe noch nie verloren“, stellte sie ruhig fest. Björn unterließ einen entsprechenden Kommentar.

Er ging um seinen Schreibtisch herum und blätterte online im Kursverzeichnis des Internats. Die Eingebung kam ihm ganz plötzlich.

„Interessieren Sie sich für Musik?“ fragte er und sah hoch. Sie zuckte nur mit den Achseln.

„Nicht besonders, ich habe ein Streaming-Abo, höre manchmal R'n'B oder Hip-Hop.“

Es klang nicht sonderlich begeistert.

„Es gibt hier eine Gruppe für klassische Musik“, fuhr Björn fort und sah, dass er damit einen Nerv getroffen hatte.

„Ich glaube nicht, dass ich ... “

Björn sah auf die Uhr.

„Heute in sechs Monaten werden wir uns in der Aula treffen. Und Sie werden mir ein klassisches Stück auf dem Klavier vorspielen. Sie werden es fehlerfrei spielen und entsprechend darbieten.“

Die junge Frau musste auflachen.

„So ein Unsinn, ich spiele gar kein Klavier, ich ... “

Björn hatte sich schon an die Gegensprechanlage gewandt und rief Frau Wagner, die auch dieses Mal sofort erschien.

„Schließen Sie bitte die Tür“, sagte Björn ernst. Nun war auch seine Assistentin leicht verunsichert.

„Gut, Sie werden gleich einen Vertrag aufsetzen, ein Exemplar genügt, das bekomme ich allein. In sechs Monaten vom heutigen Tage an gerechnet wird Frau Shari Young in der Musik-Gruppe der Klassik-AG Klavier lernen. Sie wird mir am letzten Tag dieser Frist ein Klavierstück fehlerfrei in der Aula der Schule darbieten, ansonsten sehen wir uns leider gezwungen, das Vertrags-Verhältnis mit dem Internat zu kündigen.“

Frau Wagner klappte der Unterkiefer herunter.

„Das können Sie nicht machen, Herr Elst, es ist gegen jede ... “

„Nur ein Exemplar für mich. Sie werden es jetzt aufsetzen, Shari wird es unterschreiben. Ansonsten muss ich den Aufsichtsrat von der sofortigen Kündigung von Frau Young unterrichten wegen gewalttätigem Fehlverhalten.“

„Das ist Erpressung“, stotterte Shari, nachdem Frau Wagner kopfschüttelnd das Büro verlassen hatte.

„Ja“, gab Björn gedehnt zurück, „ja, das ist es vermutlich!“

Kapitel 4

Shari stand zwischen den Mülltonnen, den Kopf in den Nacken gelegt. Sie spürte, wie die kalten Regentropfen auf ihr Gesicht trafen, ihre Lippen, ihre Nase, ihre Wangen. Am liebsten hätte sie die Arme ausgestreckt und sich so lange im Kreis gedreht, bis der Schwindel sie in die Knie gezwungen hätte.

Bisher hatte sie in diesem Internat noch keinen anderen Ort entdeckt, wo sie sich unbeobachtet und einigermaßen sicher fühlte. Zwar hatte sie ein Zimmer für sich allein, doch ständig ging die Tür auf, meist ohne jede Vorankündigung. Es war offensichtlich, dass in diesem Laden die Privatsphäre für Schüler nicht sonderlich hoch gehalten wurde.

Wie gerne wäre sie vor all dem geflohen, vor all dem Irrsinn, der sie umgab, jeden Tag aufs Neue angriff. Aber es gab keinen Ausweg, keine Flucht, sie war eine Gefangene in ihrem Kopf, ihrer alles fressenden Angst, die in ihr brodelte, ohne dass sie ihr Worte verleihen konnte.

Diesen blöden Idioten, der sie auf dem Hof angegangen war, hatte sie fast vergessen. Er war ein kleines Nichts in ihrer Welt aus Trauer und Leere. Sie war allein, seit auch Mutter nicht mehr da war. Nichts konnte diesen Schmerz heilen. Sie war von merkwürdigen Menschen umgeben, die nur das Ziel hatten, sie zu irgendetwas zu bringen, was sie nicht wollte.

Allein dieser Blödmann von Schul-Leiter! Was dachte er sich? Glaubte er allen Ernstes, dass sie Klavier lernte? Vielleicht hatte er irgendeine verdrehte Vorstellung davon, dass sie sich mit den Spinnern aus diesem Musik-Kurs verstehen würde. Sollte sie sich den gleichen Rock anziehen wie diese fette Kuh mit der riesigen Brille, die Klavier spielte? Oder die Schwuchtel, die am Geige oder etwas in der Art spielte! Wenigstens würde der Typ nicht versuchen, sie zu ficken, das war schon mal ein Vorteil von Schwulen.

Es war völlig klar: Sie würde ein halbes Jahr hierbleiben, dann würde man sie von der Schule schmeißen - wieder mal.

„Mutter, was habe ich falsch gemacht?“ fragte sie leise und fühlte einen Regentropfen, der zwischen ihre Lippen in ihren Mund drang.

„Warum habe ich diese Scheiß-Hautfarbe, zu der jedes Arschloch eine Meinung haben muss? Die bescheuerte Anwältin erklärt ständig, dass ich stolz sei solle. Worauf? Ist sie stolz, weil ihre Haut zufällig ein bisschen heller ist? Blöde Fotze! Aber ich bin ja bald eine Negerin, die Klavier spielen kann. Klar, eine dunkle Haut bedeutet automatisch, dass man gut tanzen kann und eine tolle Stimme hat. Einen Scheiß!“

Neger tanzen und sind sportlich, für alles andere sind sie unbrauchbar. Sie wischte sich über das Gesicht, spürte die Nässe, die über ihre Finger lief. Ihre Kleidung war inzwischen klatschnass, bei jeder Bewegung klebte sie an der Haut.

Hey, vielleicht fange ich mir eine Lungen-Entzündung, dann können sie mich nicht feuern. Oder ich sitze keuchend und zitternd hier zwischen den Tonnen, bis ich irgendwann verreckt bin.

Ob meine Seele auch eine Hautfarbe hat, wenn sie zu Mutter in den Himmel fliegt? Oder es ist einfach alles vorbei, als wenn man einen Raum verlässt und dabei das Licht ausschaltet. Jemand legt den Schalter um, mein Kopf kippt zur Seite, ein letzter Hauch, dann war es das.

Ey, wird man sagen, da bei den Tonnen liegt die Negerin und ist verreckt. Sollen wir sie gleich da lassen? Jemand wird sie schon einsammeln.

Sie ging in die Hocke und umschlang mit ihren Armen die Knie. Was hatte Mutter gesagt? Sie solle stark sein, durchhalten, sich nicht alles gefallen lassen. Aber nun steckte man sie zu irgendwelchen Memmen, die langweilige Musik machten – natürlich nur zu ihrem Besten. Alles geschah immer zu ihren Besten.

Warum wussten eigentlich all die Arschlöcher um sie herum, was das Beste für sie war, obwohl sie nicht aussahen, als würden sie ihre eigenen Leben auf die Kette bekommen?

Sie ließ die Knie los und rieb sich so lange und fest das Gesicht, bis es brannte. Doch lebendiger fühlte es sich dadurch nicht an.

Sie sprang auf die Füße, drehte sich mit einer schnellen Bewegung halb um die eigene Achse. Sie brauchte die große, blaue Plastiktonne nur aus den Augenwinkeln heraus ins Visier zu nehmen um sie mit dem ausgestreckten Fuß im unteren Drittel zu treffen.

Mit einem dumpfen Poltern flog die Tonne nach hinten, kippte um und ergoss ihren Inhalt über den feuchten Betonboden. Shari holte tief Luft, ging in die Hocke, sprang wieder hoch und zielte auf die graue Tonne, die ein Stück größer und quadratisch war.

Dieses Mal schepperte es metallern, als der Inhalt sich auf den Boden verteilte. Es waren alte Bleche und irgendwelche ausrangierten Computer-Teile, die dort durch die Gegend flogen.

Shari stieß einen wütenden Schrei aus und trat mit harten, präzisen Tritten zwei weitere Tonnen um. Dann sank sie keuchend in sich zusammen. Sie spürte, dass sie vor Anstrengung, Wut und Kälte zitterte.

Es fiel ihr unendlich schwer, sich nur wieder aufzurichten. In ihren Schuhen spürte sie das kalte Wasser. Die Beine krampften, sie musste sich an die Mauer stützen und einen Augenblick warten, ehe sie es schaffte, sich aufrecht zu halten. Mit dem nassen Ärmel wischte sie über die Wangen, um die Tränen fortzuwischen.

„Wenn du weinst, stell dich in den Regen, dann sieht niemand deine Tränen“, zischte sie leise. Dann machte sie sich auf den Weg zurück in das Wohngebäude.

Sie hatte keine Ahnung, dass sie bei ihrem Tobsuchtsanfall von erschreckten Augen beobachtet worden war.

Kapitel 5

„Warum haben Sie sie nicht in eine der vielen Sport-Gruppen gesteckt?“

Frau Wagner schien unschlüssig, ob sie Björn für seine Entscheidung bewundern oder verachten sollte. Sie nestelte an einem mächtigen Strauß gelber Blumen herum, die in einer der alten Vasen neben dem Schreibtisch standen und im ganzen Vorzimmer einen dezenten Duft verteilten.

Björn musste unwillkürlich an Sharis Aussage denken, enthielt sich aber in dieser Hinsicht eines Kommentars. Er war vom Mittag gekommen und hatte beim Gang zurück über den Hof festgestellt, dass seine Hosen zunehmend enger zu werden schienen. Möglicherweise lag es allerdings auch an der Extra-Portion Nachtisch in Kombination mit zu wenig Bewegung. Aber Zucker hatte auch etwas herrlich Befreiendes für den Geist.

„Ich habe erfahren, dass Shari sowieso jeden Morgen laufen geht und zwei oder drei Mal die Woche im Fitness-Raum steckt.“

Es war eher eine Vermutung als Gewissheit. Viel eher hatte er den Verdacht, dass sie nicht einmal mehr ihren Sport ausübte, aber das hätte nicht zu seiner Argumentation gepasst.

Frau Wagner zog eine der langstieligen Blumen heraus und arrangierte sie kunstvoll auf eine andere Weise.

„Und?“

„Ich will, dass sie ihre alten, eingetretenen Wege verlässt und ihren Geist für neue Horizonte öffnet.“

„Sie machte nicht den Eindruck, als wäre sie dazu bereit“, stellte Frau Wagner ruhig fest, ließ die Blumen in Ruhe und griff sich ein Taschentuch, um sich geräuschvoll die Nase zu putzen.

„Nein, sie machte eher den Eindruck, als wolle sie meine Nase ebenso behandeln wie die von Andreas“, brummte Björn.

Frau Wagner lachte leise, nickte zustimmend und verzog das Gesicht, als das Telefon anschlug. Björn schenkte ihr ein abwesendes Lächeln und ging zurück in sein Büro. Dieser Nachmittag würde es in sich haben.

Er hatte ein Gespräch mit dem Architekten wegen des Umbaus im Wohntrakt. Die Zimmer waren zunehmend veraltet, es wurde immer schwieriger, anspruchsvolle Schüler, zumal wenn sie älter waren, zufrieden zu stellen.

Reiche Schüler bedeuteten leider nicht zwangsläufig, dass die Eltern bereit waren, jeden Preis für die Ausbildung ihrer Sprösslinge zu zahlen. Diese Erfahrung hatte Björn in den letzten Jahren immer wieder machen müssen. Er hatte, ganz im Gegenteil, schon zweimal Schüler ablehnen müssen, weil die Eltern mit bekannten Gesichtern erwartet hatten, als Bonus für ihre Berühmtheit das Schulgeld nicht zahlen zu müssen.

---ENDE DER LESEPROBE---