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Nach einem Jahr ist Jo wieder unterwegs. Dieses Mal soll er im Auftrag seiner Firma ein Hotel im Bulgarien testen. Testen bedeutet, dass er Mängel finden soll, über die er dann einen Bericht schreibt. Und mit eben diesem Bericht wird ein möglicher Käufer in eine Verhandlung ziehen, um den Preis zu drücken. Das macht Jo seit vielen Jahren, er ist routiniert, auch wenn ihn der Tod seiner Frau im Jahr zuvor aus der Bahn warf. Doch dann trifft er auf die Managerin des Hotels und begreift Stück für Stück, was für ein schmutziges Geschäft er betreibt. Doch er kann der Frau unmöglich erklären, wer er und was sein Auftrag ist. Also versucht er, die Fehler des Hotels zu beheben, aber stößt dabei schnell an die Grenzen seiner selbst gesetzten Moral. Wie soll er der Frau seines Herzens beibringen, dass er ihr nur helfen will. Als sie ihn schließlich enttarnt, scheint alles zu Ende. Aber da ist noch die junge Blondine, der er auf dem Hinflug geholfen hat. Und die hat plötzlich eine Idee, die alles verändert.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Ende
Nie mehr wie Gestern
Olaf Hauke
2024/25
Copyright 2024/25
Olaf Hauke
Greifswalder Weg 14
37083 Göttingen
T. 01575-8897019
Cover: kirillslov
Als sich vor Jo die Schiebetüren mit einem sanften Rauschen öffneten, schlug ihm sofort ein Schwall kühler Luft entgegen, strich über sein Gesicht, die erhitzten Wangen und die mit einer feinen Schweißschicht überzogenen Unterarme.
Die Luft der Klimaanlagen, die überall das Innere des Flughafens kühlte, war jedoch nicht erfrischend oder erleichternd wie eine Brise am Meer oder ein sanfter Wind nach einem erfrischenden Regen. Sie fühlte sich kalt, stumpf und unnatürlich an.
Jo stieß ein unzufriedenes Grunzen aus und trat durch die automatischen Türen. Hinter ihm wuchtete ein Familienvater schnaufend einen mächtigen Karren, auf den er fünf riesige Koffer gestapelt hatte, über die kleine Schwelle, die bei diesem Gewicht bereits ein Hindernis bedeutete. Ihm folgten zwei Kinder, die sich erwartungsvoll umschauten, und eine blonde, magere Frau, die lediglich auf ihr Handy starrte, einen Kaugummi kaute und in eine gänzlich andere Welt abgetaucht zu sein schien.
Jo hatte neben seinem kleinen Rucksack nur eine große Reisetasche dabei, die er sich über die Schulter gehängt hatte. Sein Blick wanderte durch die Halle, in der sich jetzt, zu Beginn der Ferien, jede Menge Sonnenhungrige versammelt hatten. Dabei waren es hier in Stuttgart auch beinahe dreißig Grad, allerdings war die Luft draußen vor der Tür schwül und kündigte ein Gewitter an.
Von Links erhielt Jo, der einen Moment stehengeblieben war, einen Schlag in die Hüfte. Zwei Teenager schoben sich mit einem desinteressierten Blick an ihm vorbei, auch sie starrten auf ihre Mobiltelefone.
Aus irgendwelchen Lautsprechern kamen Durchsagen, doch sie kamen gegen das Gewirr aus Stimmen, die von überall her an Jos Ohren drangen, nicht an. Er machte der Familie mit den riesigen Koffern Platz und suchte sich eine der Anzeigentafeln neben dem Eingang, um seinen Flug zu finden. Er hatte noch reichlich Zeit, fühlte sich erstaunlich ausgeruht und entspannt.
Um die Schalter zu erreichen, musste er die Halle durchqueren. Seine Augen suchten dabei die Nummern 150 und 151.
Die langen Schlangen vor den beiden Schaltern machten ihm bewusst, dass er eine Weile würde warten müssen, um seine Tasche loszuwerden. Eingecheckt hatte er bereits online am Vorabend, insofern bestand keine Eile.
Jo entschloss sich, noch einen Kaffee zu trinken.
Aus Erfahrung wusste er, dass in dem besseren Café des Flughafens normalerweise kein Mangel an Plätzen herrschte. Die meisten Pauschalreisenden scheuten die hohen Preise, bedienten sich an Automaten oder hatten etwas zu Trinken mitgebracht. Aber bei ihnen lief die Rechnung ja auch nicht unter Spesen.
Eine freundliche junge Frau reichte ihm einen großen Becher Kaffee über den Tresen, dazu ein mit Schinken und Käse belegtes Brötchen. Jo zahlte mit der Firmenkarte, enterte einen der Plätze direkt an der Theke und öffnete seinen Rucksack.
Fast ein Jahr war er nicht mehr im Außendienst gewesen, zum Glück war der Job, den man ihn ihm zugeteilt hatte, nichts Außergewöhnliches, sondern reine Routine. Während er einen Schluck von dem heißen Kaffee nahm, huschte ein Schatten über sein Gesicht. Dieses Jahr hatte alles verändert, das wurde ihm einmal mehr bewusst, auch wenn er es während der Anfahrt einmal mehr verdrängt hatte.
Julia hatte ihn nicht mehr zum Flughafen gefahren, hatte ihn nicht bis zum Schalter begleitet und ihn mit einem flüchtigen Kuss verabschiedet. Er hatte nicht ihre schlanke Gestalt in der Menge der anderen Fluggäste verschwinden sehen. In den Geschmack des Getränkes mischte sich eine harte Bitternis. Auch auf das Brötchen vor ihm verspürte er plötzlich nicht mehr die geringste Lust, seine Kehle schien sich mit einem Mal regelrecht zugezogen zu haben.
Er zog die schmale Akte aus dem Rucksack, schlug sie auf, doch die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen.
„Ist alles in Ordnung mit dem Kaffee?“ hörte er eine Frauenstimme von der Seite und sah hoch. Die Bedienung lächelte ihn mit einer Mischung aus Routine und echter Besorgnis an. Jo brauchte einen Moment, ehe der Sinn der Worte in seinen Schädel drang.
„Ja, ja, vielen Dank“, sagte er. Er schluckte hart und öffnete den Mund. Er konnte einer wildfremden Frau kam erklären, was seine Veränderung ausgelöst hatte. „Die Wärme“, brachte er hervor, obwohl die Klimaanlagen in der Flughafenhalle die Temperatur auf gefühlte zwanzig Grad abgesenkt hatten.
„Ja, das verstehe ich gut“, sagte die Frau. „Ich bin ständig erkältet, seit ich hier arbeite.“ Sie lächelte schmal, ordnete einige Papierservietten und lehnte sich leicht zurück. Sie war Anfang Dreißig, hatte kurze, dunkle Haare, war klein und zierlich. Ihr Blick trug eine leicht verlorene, melancholische Sehnsucht in sich. Jo hatte das Gefühl, als hätte sie eine Trennung hinter sich, vielleicht eine Scheidung, Streit um Eigentum, möglicherweise Kinder. Er nickte nur lächelnd.
„Wo soll es denn hingehen?“ fragte sie. Trotz der vollen Halle war es hier in dem hochpreisigen Café ruhig, nur ein Drittel der Tische war überhaupt besetzt.
„Varna“, sagte Jo.
Sie zog überrascht die Augenbrauen in die Höhe.
„Oh, ich hatte nicht erwartet, dass Sie zum Goldstrand unterwegs sind. Das ist doch normalerweise eine, hm, andere Klasse von Touristen.“
Jo lächelte schmal. „Ich bin geschäftlich unterwegs“, sagte er.
Das schien ihr eher zuzusagen. Sie wollte noch etwas sagen, doch im gleichen Moment stand eine Gruppe von Reisenden neben ihnen und gab sofort eine umfangreiche Bestellung auf. Jedes belegte Sandwich wurde einzeln diktiert mit einem herablassenden Befehlston.
Jo biss in sein Brötchen und spülte mit lauwarmem Kaffee nach. Die junge Frau kam ins Rotieren, sie warf Jo noch einen letzten, freundlichen Blick zu, den er mit einem Nicken beantwortete. Dann nahm er einen weiteren Schluck Kaffee, griff sich sein Brötchen und schulterte die Reisetasche.
Immerhin, dachte er, während er sein Brötchen aß und zurück zum Schalter ging, hatte ihn die Begegnung mit der jungen Frau ein wenig abgelenkt. Er reihte sich in die Schlange der Wartenden ein, die nur unwesentlich kleiner geworden war.
Die Tasche zwischen den Beinen und das Brötchen in der Hand stellte er sich hinten an, schürzte ergeben die Lippen, wartete und kaute gelassen wie eine Kuh auf der Weide.
Vor ihm brach immer wieder Hektik aus. Aber Stück für Stück kam er seinem Ziel näher.
Der Flug schien vor allem von jungen Leuten und Familien mit kleinen Kindern gebucht worden zu sein. Jo war schon oft mit dem Flugzeug unterwegs gewesen, er ahnte, dass bestimmt die Hälfte der Koffer zu schwer sein würde. Kaum hatte er den Gedanken für sich formuliert, als eine lautstarke Diskussion zwischen dem Mann hinter dem Schalter und einer jungen Blondine losbrach.
Ohne die komplette Auseinandersetzung zu hören, schnappte er die Worte „zu schwer“, „Übergepäck“, „Zuzahlung“ und „Idiot“ auf.
Die Blondine warf ihre dürren Arme mit den spitzen, silbernen Fingernägeln theatralisch in die Luft. Auf diese Weise würde sie bei dem Mann kaum Erfolg haben, dachte Jo und kaute weiter. Essen konnte so herrlich beruhigend sein.
Der Mann drückte entschlossen den Koffer der jungen Frau vom Band und winkte eine junge Familie heran.
Mit offenem Mund starrte die Blondine den Mann an, der ungerührt anfing, die Familie mit Bordkarten zu versorgen und das Gepäck anzunehmen.
„Haben Sie einen Knall?“ fragte sie lautstark, aber ohne jeden Erfolg. Dann starrte sie mit aufgerissenen Augen auf ihr Gepäckstück. Allmählich schien ihr zu dämmern, dass sie auf diese Weise nicht in den Flieger kommen würde, es sei denn, sie würde für den zu schweren Koffer zahlen.
Sie winkte einer Bekannten, die anscheinend bereits ihre Bordkarte erhalten hatte. Die zuckte bloß mit den Achseln und ließ die Blondine im Stich. Jo biss sich leicht auf die Lippe, um nicht gemein zu grinsen.
Der Mann am Schalter warf der jungen Frau, Jo schätzte sie auf kaum zwanzig Jahre alt, noch einen missbilligen Blick zu und überreichte die Bordkarten an die Familie, garniert mit einem besonders freundlichen Gruß.
Die Fluggäste in der Schlange genossen das Schauspiel um die junge Frau, die ratlos auf ihren Koffer starrte. Ihr Blick wanderte nach oben. Jo zog sein Mobiltelefon heraus, um seine elektronische Bordkarte vorlegen zu können. Im gleichen Augenblick sah er, dass die junge Frau direkt auf ihn zusteuerte.
Sie lächelte so unschuldig, dass es wenig glaubhaft und aufgesetzt wirkte.
„Entschuldigen Sie, aber haben Sie nur diese Tasche?“ fragte sie. Jo, der über sein Display gewischt hatte, brauchte einen Augenblick, ehe er begriffen hatte, was sie von ihm erwartete.
„Ich werde für Sie kaum den Koffer durch die Kontrolle bekommen“, sagte er und versuchte, halbwegs ernst zu bleiben. Immerhin hatte er inzwischen den letzten Bissen seines Essens in den Mund geschoben.
„Nein, aber Sie könnten vielleicht ein paar meiner Sachen in ihre Tasche nehmen. Die wiegt doch nie im Leben zwanzig Kilo.“
Automatisch wanderte Jos Blick zu der Tasche zwischen seinen Beinen.
„Nein, vermutlich nicht“, sagte er zögernd. Hinter ihm drängte eine Gruppe junger Männer, die die Blondine mit unverhohlener Schadenfreude musterten und entsprechende Witze rissen.
Jo winkte sie vorbei, da sie ihm auf die Nerven gingen. Die Blondine, deren Kopf inzwischen knallrot angelaufen war, streckte ihnen die Zunge heraus. Im Gegensatz zu ihrem dümmlichen Grinsen ihm gegenüber wirkte sie plötzlich richtig menschlich. Dabei stemmte sie trotzig die Hände in die schmalen Hüften.
Jo hatte sich vorgenommen, die Bitte der jungen Frau abzuschlagen. Sie hatte zu viel in den Koffer gepackt, dafür musste sie nun bezahlen – so einfach war das. Aber die trotzige Haltung und der Dickkopf gefielen ihm.
Ein stämmiger Familienvater mit hässlichem T-Shirt und engen Shorts schob sich ebenfalls mit seiner Sippe an ihm vorbei.
„So eine blöde Kuh“, stieß er unwillig hervor und schnaufte.
Jo sah sie an und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Er blickte in die dumpfen, anklagenden Gesichter um ihn herum. Dann musste er auflachen.
„Okay“, sagte er und bückte sich, um seine Tasche anzuheben.
„Dann wollen wir mal schauen, was wir da machen können!“
Jo liebte Varna. Obwohl er am Gang saß, konnte er einen kurzen Blick auf die Stadt erhaschen, als der Pilot noch eine schmale Schleife flog, um anschließend zur Landung anzusetzen. Jo sah den Hafen, den satten Streifen Grün, der den Park am äußeren Stadtrand markierte, und direkt am feinen Sandstrand mündete.
Varna erinnerte ihn immer wieder an Odessa – nur dass man dorthin leider derzeit nicht reisen konnte. Eine Mahnung für ein düsteres Kapitel der Menschheit, die nicht aus der Geschichte lernen konnten.
Der Flug war anstrengend gewesen. Direkt neben Jo hatten zwei junge Männer gesessen, die die ganze Zeit über dummes Zeug geredet und laut gelacht hatten. Hinter ihm hatte ein kleiner Junge beharrlich gegen seine Rückenlehne geschlagen, vor ihm hatte ein dicker Mann, den er bereits vom Schalter her kannte, hartnäckig versucht, seinen starren Sitz nach hinten zu drücken.
Jo war nicht dazu gekommen, noch einen Blick in seine Unterlagen zu werfen. Schließlich hatte er sich, so gut es ging, zurückgelehnt und die Augen geschlossen.
Immerhin hatte er das blonde Mädchen vor einer Zuzahlung bewahrt, indem sie einen Berg nach einem süßlichen Parfüm riechender Klamotten in seine Tasche gestopft hatte. Doch allein die dämlichen Blicke der anderen Passagiere hatten ihn entschädigt. Bestimmt hatten sie jetzt das Bild eines lüsternen, alten Mannes vor Augen, der sich einer zarten, nicht mal halb so alten jungen Frau nähern wollte.
Das Flugzeug landete mit einem Ruck, Jo rieb sich die Augen, gähnte und drückte den Kopf in den Nacken. Für einen Moment legte sich über die Fluggäste ein Gefühl der gespannten Atmosphäre, eine stille Vorfreude auf die nächsten Wochen, auf den Urlaub, Strand, Sonne.
Der Zauber hielt jedoch nur eine Sekunde, dann überfiel die Passagiere wieder diese unbegreifliche Hektik.
Noch ehe die Maschine zum Halten kam, sprang man von den Sitzen auf, öffnete die Gurte, fummelte wild an den Gepäckfächern über ihren Köpfen. Auch die beiden jungen Männer wollten aufspringen, wobei ihnen Jo allerdings im Wege war. Missmutig und augenrollend blieben sie sitzen.
Als der erste Strom der Passagiere langsam abebbte, erhob sich auch Jo. Die beiden jungen Männer schoben sich mit einer wütenden Beleidigung an ihm vorbei.
Jo verließ die Maschine als einer der Letzten. Die warme Abendluft Bulgariens streifte sein Gesicht. Noch auf der Treppe zum Flugzeug stehend atmete er durch und sah in den freundlichen, fast wolkenlosen Himmel.
Immerhin hatte der Chef mit der Wahl seines Ziel Jo einen Gefallen getan, absichtlich oder unabsichtlich.
Während des Fluges hatte Jo nachgezählt und war sich sicher, dass er mindestens drei oder vier Mal hier in Varna gewesen sein musste, der zweitgrößten Stadt Bulgariens.
Auf dem Weg zum Flughafengebäude, den man hier zu Fuß absolvieren musste, dachte er an die Straßen und Gassen, die so wirkten, als hätte man sie in der Zeit vergessen. Alles wirkte noch so wie vor dreißig Jahren.
Die Zeit blieb hier nicht stehen, aber sie schlich auf leisen Sohlen voran, nicht wie in den großen Städten, die einen auffraßen, durchschüttelten, ins Gesicht schrien. Er hatte den Verkehr in Paris gehasst, die ständig aufgeregten Römer, die verkrampften Londoner. Das völlig verstopfte Madrid konnte ihm ebenso gestohlen bleiben wie das heruntergekommene Berlin.
Wenn der Job so entspannt sein würde, wie er sich auf dem Papier darstellte, würde er genug Zeit für den einen oder anderen Ausflug hierher haben. Das Hotel lag schließlich nur drei oder vier Kilometer von Varna entfernt.
Jo betrat gedankenverloren den Raum für die Gepäckausgabe, wo ein Förderband bereits den hektischen Ankömmlingen die Koffer wie Auslagen eines Supermarktes präsentierte. Immer wieder sprangen Männer an das Band, um einen Koffer wie eine Jagdtrophäe zu sich heranzuziehen.
Schon von weitem sah Jo seine Reisetasche und griff sie beherzt bei den Bügeln, warf sie sich über die Schulter.
Als er das Gewicht spürte, das an seiner Hand zog, fiel ihm die Blondine wieder ein.
Im gleichen Moment hörte er eine helle Stimme neben sich.
„Sie wollten doch nicht meine Sachen klauen, oder?“
Irrte sich Jo oder hatte sich das Mädchen inzwischen noch stärker geschminkt? Die Lippen schimmerten in einem schreienden Rosa, die Augen hatte sie dunkel umrandet.
„Sie haben mich erwischt, ich wollte damit durchbrennen. Ich denke, sie würden mir fantastisch stehen.“
Sie sah ihn nur verständnislos an. Jo trat einen Schritt zur Seite, setzte seine Tasche ab, öffnete den Reißverschluss und holte einen Stapel Wäsche heraus. Sie machte keine Anstalten, ihren Koffer zu öffnen, sondern legte sich die Kleidung auf den linken Arm. Jo legte noch zweimal nach, dann waren die Textilien aus seiner Tasche verschwunden, nur der Geruch hing noch über seinen eigenen Kleidungsstücken.
Er zog den Reißverschluss wieder zu und warf sich die Tasche über die Schulter.
„Gib dem Kerl bloß nicht deine Nummer“, raunte eine junge Frau im Vorbeigehen der Blondine zu. „Der könnte dein Opa sein!“
Es war die junge Frau, die ihrer Freundin beim Einchecken keine Hilfe geleistet hatte.
Jo lachte auf. Er war mehr als doppelt so alt wie die junge Frau und hatte keinerlei Interesse, die Nummer von ihr zu bekommen. Die Blondine starrte ihn unsicher an.
„Gern geschehen“, lachte er, „und noch einen schönen Urlaub hier in Bulgarien!“
Damit drehte er sich um und ließ sie stehen.
Jo ging an großen Werbetafeln vorbei, die die Konzerte einer Popsängerin anpriesen. Der Name sagte Jo wenig.
In der Empfangshalle hatten die Reisegesellschaften ihre Stände aufgebaut, um die Ankommenden in Empfang zu nehmen und zu den richtigen Bussen zu lotsen.
Außerdem erhielten die Touristen gleich eine Einladung zu einer sogenannten Informationsveranstaltung, die in der Regel einzig dem Zweck diente, ihnen irgendwelche überteuerten Touren zu verkaufen.
Immer wieder hatte Jo Reiseveranstalter und ihre zweifelhaften Methoden überprüfen müssen, dieses Mal ging es zum Glück nur um das Hotel, sodass ihm die Busfahrt und die Ansprache des sogenannten Reiseleiters erspart blieben. Er trat nach draußen, stellte seine Uhr eine Stunde vor auf Ortszeit um und winkte sich eines der gelben Taxis heran.
Der Fahrer gab sich eine Spur zu freundlich, sofort war Jos Misstrauen geweckt. Er warf einen Seitenblick auf den Taxameter, den der Mann nicht in Betrieb nahm. Um Jo abzulenken, schnatterte er dafür auf Jo in gebrochenem Englisch ein.
Der Flughafen lag einige Kilometer außerhalb Varnas. Nachdem das Taxi die Sicherheitsschranken passiert hatte, bog es auf die Schnellstraße, die an der Küste entlangführte und, sofern man sie lange genug in nördlicher Richtung befuhr, an der rumänischen Grenze endete.
Die Fahrt war jedoch nach wenigen Kilometern zu Ende, der Fahrer setzte den Blinker und fuhr direkt auf eine rotweiße Schranke zu. Aus dem Häuschen neben der Schranke kam ein dicker Mann mit einem verschwitzten, hellgrauen Hemd und schwarzer Hose. Rechts und links erstreckten sich hohe Bäume, die den Blick nach unten verbargen.
Er warf einen knappen Blick in das Fahrzeug, nickte und öffnete die Schranke. Der Wagen fuhr eine kurvige Straße hinab und stoppte unten, wo sich der Weg gabelte.
„Das Ressort da“, sagte der Fahrer in Englisch, grinste und stellte den Motor ab.
Da der Taxameter nicht gelaufen war, war Jo neugierig, was er nun als Preis präsentieren würde.
„Vierzig Euro“, sagte er, dieses Mal in lupenreinem Deutsch.
Mit einer schnellen Bewegung griff Jo in das Handschuhfach und holte die Liste heraus, die jeder Taxifahrer in Bulgarien mit sich führen musste. Der Fahrer war so überrascht, dass er nicht mal protestierte.
„Die Fahrt vom Flughafen hierher kostet zwanzig Lewa“, sagte Jo trocken, zog einen bulgarischen Geldschein hervor und legte ihn auf die Mittelkonsole. „Das ist so festgeschrieben, also hau mich nicht übers Ohr, mein Freund.“
Dann stieg er aus, öffnete die hintere Tür, nahm seine Tasche heraus und ließ die Tür wieder ins Schloss fallen.
Erst jetzt hatte der Fahrer realisiert, was Jo getan hatte. Er sprang aus dem Fahrzeug, glotzte Jo wütend an. Der hatte bereits seine Tasche geschultert.
„Noch Fragen?“
Der Fahrer stieß eine harte bulgarische Beleidigung aus und ließ sich wieder in sein Fahrzeug fallen. Wütend legte er den Rückwärtsgang ein und wäre um ein Haar mit einem Kleinbus zusammengestoßen. Es folgte wütendes Hupen, heruntergekurbelte Scheiben, zwei Männer, die sich gegenseitig lautstark und sinnlos anschrien.
Jo kratzte sich am Kopf und wandte sich nach links Richtung Hotel. Inzwischen war es kurz nach sieben am Abend. Er stand auf einem breiten Weg, der eine Promenade zwischen den Hotels bildete, die hier unten am Rande des Wäldchens nahe an der Küste lagen. Zwischen halbhohen, gepflegten Hecken und einem gestutzten Rasen, der verschwenderisch von einer Sprinkleranlage gewässert wurde, konnte er einen Blick auf das Meer werfen.
Der Wind hatte leicht aufgefrischt, die Brandung mündete mit weitläufigen, weißen Schaumkronen an dem gelben Strand. Die weißen Sonnenschirme waren, bis auf zwei Ausnahmen, eingeklappt, die Liegen ordentlich gegen die Ständer gestellt.
Jo konnte das Meer riechen, ein abwesendes Lächeln huschte über sein Gesicht. Der Anblick der blauen Weite, die sich erst am Horizont verlor, der entspannten, friedlichen Stille, das leise, regelmäßige Klicken des Rasensprengers – all das legte sich wie ein beruhigender Balsam auf seine Seele.
In den letzten Monaten hatte sich die Trauer wie eine alles erdrückende, schwarze Decke auf sein Leben gelegt und alles im Keim erstickt, was ihm in den rund fünfzig Jahren zuvor Freude bereitet hatte.
Eigenartig, dachte er, ausgerechnet hier, an diesem völlig touristisch erschlossenen Ort, trifft mich die weitläufige Stille der Ferne des Meeres wie selten zuvor. Er griff den Gurt seiner Tasche ein wenig fester und freute sich auf die kommenden Tage, auf seine Arbeit, auf neue Eindrücke und Gedanken.
Der Wind blies in die Flaggen, die man neben dem Hotel aufgestellt hatte, und ließ sie als eine tanzende Masse aus den Farben Grün, Weiß und Rot erscheinen.
Jo sah die Terrasse des Hotels, auf der um diese Zeit alle Tische belegt zu sein schienen.
Der allererste Eindruck war gut, aber er war lange genug in dem Geschäft, um zu ahnen, dass dieser Eindruck durchaus täuschen konnte.
Die automatischen Türen glitten zur Seite, der unvermeidliche Schwall kühler, klimatisierter Luft traf Jo mitten in das leicht verschwitzte Gesicht. Halblaut durchzogen die Klänge moderner Disco-Musik mit eintönigen Bässen die Lobby.
An der Rezeption stand ein älteres Pärchen in typischer Sommerkleidung und redete auf Bulgarisch auf die Frau hinter der Rezeption ein.
Jo verstand nur wenige Brocken, es ging offenbar um eine Dusche, die nicht funktionierte. Sofort begann sein geschultes Auge mit der Beobachtung.
Die Frau, hager und um die Vierzig, nickte. Ihr Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Sie nahm eine Art altmodischer Kladde, zückte einen Kuli und machte eine Notiz über die Beschwerde. Dann sah sie das Paar an, antwortete etwas in neutralem Ton und schien die Sache damit als erledigt zu betrachten.
Der Mann schob noch eine Erklärung nach, die Jo nicht verstand. Allerdings machte die Angestellte des Hotels nicht den Eindruck, als würde sie diese Bemerkung sonderlich interessieren. Sie nickte und griff dann ohne erkennbaren Grund zu einem Mobiltelefon.
Das Paar sah sich an und verließ die Rezeption. Ob die Frau nach dem Verschwinden der Gäste tatsächlich telefonierte, konnte Jo nur raten.
Jo wartete noch einen Moment und sah sich um. Direkt hinter dem Eingang lag ein schwarzer Teppich mit dem großen Schriftzug „Cantena Palace“. Der Bodenbelag machte einen sauberen Eindruck, auch jetzt am Abend. Allerdings waren die Ränder unsauber geschnitten, fransten aus und hinterließen so einen ungepflegten Eindruck.
Links und rechts befanden sich jeweils zwei Sitzgruppen aus schwarzem Kunstleder mit einem kleinen Glastisch zwischen den Sesseln. An dem Kunstleder sah Jo deutliche Risse und Abnutzungserscheinungen, auf den Tischen standen Plastikbecher, es gab etliche Abdrücke von älteren Tassen oder Gläsern.
Hinter den Sitzgruppen hatte man pflegeleichte Grünpflanzen aufgestellt, allerdings in blauen Plastik-Eimern. Übertöpfe hätten einen völlig anderen Eindruck geliefert und nur wenige Lewa gekostet.
Ehe Jo an die Rezeption treten konnte, schoben sich zwei jüngere Frauen an ihm vorbei. Sie wirkten osteuropäisch, trugen über ihren noch feuchten Badeanzügen leichte Überwürfe, die sich an den Stellen der Bikinis dunkel verfärbten. Sie gaben etwas ab und marschierten dann mit ihrer nassen Kleidung direkt in Richtung des Speisesaals, wie Jo an dem Schild neben der Lobby ablesen konnte.
In der Landeskategorie hatte sich das Haus fünf Sterne gegeben. Jo ahnte bereits jetzt, dass diese Einschätzung optimistisch gewesen war.
Dazu war die Einstellung des Personals zu desinteressiert, dazu gab es zu viele Kleinigkeiten, die er bereits jetzt auf seine Liste setzte, die er bereits im Kopf formulierte.
Jo wartete noch einen Augenblick, aber die Angestellte sah sich nicht um, legte nur das Handy beiseite und las irgendwelche Zettel, ohne noch einmal hochzusehen.
Also trat er an den Tresen und wartete geduldig, bis die Frau hochsah und ihn mit einem neutralen Gesichtsausdruck beäugte.
Jo erinnerte sich daran, dass es oft die ersten fünfzehn Sekunden waren, die darüber entschieden, wie wohl sich ein Gast fühlte und ob er spürte, willkommen zu sein. Diese Chance hatte die Frau, deren silbernes Namensschild an der weißen Bluse sie als „Sophia“ auswies, jedenfalls verpasst.
Jo lächelte entspannt und versuchte es zunächst auf Deutsch. „Sorry, no German“, kam die kühle Antwort.
Die Frau sah ihn erwartungsvoll an und machte keine Anstalten, die Unterhaltung in irgendeiner Form in Gang zu bekommen.
„Ja“, erklärte ihm die Frau schließlich, nachdem er sich auf Englisch erklärt hatte, sie könne etwas Englisch. Aber Russisch wäre ihr lieber.
Jo hätte seine Anmeldung im Hotel auch in dieser Sprache abwickeln können, einige Brocken beherrschte er. Aber mittlerweile war ihm die Lust dazu vergangen. So bestand das Einchecken darin, dass ihm die Frau eine Zimmerkarte in einer kleinen Hülle überreichte, auf der die Zimmernummer stand. Sie überreichte ihm einen Zettel, auf dem die wichtigsten Daten wie die Essenszeiten vermerkt waren. Dazu erhielt er eine kleine Plastikflasche mit Wasser in die Hand gedrückt.
Die Frau erklärte noch in hartem Englisch, dass er jetzt noch essen könne, aber er müsse sich beeilen. Dazu drückte sie ihm ein Plastikband in die Hand. Das solle er sich selbst umbinden, damit hätte er Zutritt zum Strand und zum Speisesaal. Damit war Jo entlassen, denn das Telefon klingelte.
Mit einem unmerklichen Kopfschütteln machte sich Jo auf den Weg. Da seine Zimmernummer mit einer Fünf begann, ging er davon aus, im fünften Stock gelandet zu sein. Es gab nur einen Fahrstuhl, vor dem sich die Gäste bereits stauten.
Das Treppenhaus war breit und einladend, aber bis in den fünften Stock waren es viele Stufen. Das letzte Jahr mit seiner Unbeweglichkeit und Trägheit machte sich ab dem dritten Stock in seinen Oberschenkeln bemerkbar.
Hinzu kam, dass es offenbar hier im Treppenhaus keine Klimaanlage gab. Mit zunehmender Zahl an Stockwerken wurde die Luft immer stickiger und wärmer. Die Tasche zog an seinen Schultern. Jo war froh, als er schließlich den fünften Stock erreicht hatte. Er atmete einige Male die muffige Luft ein und folgte anschließend den Wegweisern zu seinem gebuchten Raum.
Der Flur wirkte düster und grau. An den Wänden waren immer wieder deutliche Abnutzungen und Spuren von Koffern zu erkennen, den Fußboden hatte bereits längere Zeit niemand mehr gesaugt. An einigen Stellen hatten sich kleine Sandhäufchen gebildet, die nicht so aussahen, als wären sie erst seit Gestern dort. Immerhin konnte Jo mit geschultem Auge ein modernes Sicherheitssystem an jeder Tür erkennen. Außerdem gab es Feuerlöscher, die, den Plaketten nach zu urteilen, regelmäßig überprüft wurden.
Jos Zimmer lag am Ende des Ganges. Mit der Karte konnte er die Elektronik des Zimmers aktivieren, eine Klimaanlage sprang müde an und machte Geräusche wie ein Traktor, der über einen holprigen Feldweg fährt.
Jo stellte die Tasche ab und legte den kleinen Rucksack obenauf. Dann trat er an die Vorhänge und zog sie mit einem Ruck beiseite, um das Zimmer in einen ersten Augenschein zu nehmen.
Auf den ersten Blick machte es einen freundlichen, schlichten Eindruck. Die Wände waren mit Tapeten versehen worden, deren Muster in verschiedenen Rottönen streifenförmig verliefen und dem Raum damit eine gewisse Tiefe verliehen. Über dem Doppelbett hing ein hässlicher, gerahmter Druck, den man sich hätte sparen können. Er zeigte eine Strandlandschaft, die direkt hinter dem Hotel in natura verlief. Wie sollte ein billiges Bild mit einem Ausblick auf die Natur konkurrieren können?
Jo öffnete die Balkontür, deren Scharniere etwas morsch wirkten. Sein Blick führte direkt über Strand und Meer, ein herrlicher, unbezahlbarer Ausblick.