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Nachdem seine Frau Juliane vor einem Jahr bei einem Verkehrsunfall verstarb, hat sich Linus aus dem Leben zurückgezogen. Er lebt von Tütensuppen, Weißbrot und ist in seiner eigenen Trauer versunken. Schließlich überredet sein bester Freund Bernd ihn zu einer Verleihung eines Filmpreises zu gehen, um wieder unter Menschen zu kommen. Nur weil das Idol seiner Jugend Mark Sebastian dort auftritt, lässt sich der Geschäftsmann überhaupt zu dieser verrückten Idee überreden. Erst wenige Stunden vor der Feier erfährt er, dass er eine weibliche Begleitung braucht. Niemand ist in der Nähe, den er fragen könnte, außer der jungen Visagistin, die ihn eigentlich nur frisieren sollte. Nein, sagt sich Linus, das ist völlig ausgeschlossen, ich kann diese völlig fremde Frau unmöglich fragen, mich zu begleiten. Er ahnt nicht, dass das, was er in den kommenden Stunden erleben wird, weitaus größer ist als nur die Handvoll eines banalen Mittwochs. Zumal seine Begleiterin ein Geheimnis mit sich trägt, das seine Sicht auf das Leben von Grund auf verändern wird und endlich den Schleier über seiner düsteren Vergangenheit zerreißt.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Ende
Eine Handvoll Mittwoch
Olaf Hauke
2024
(basierend auf der Geschichte
‚Komm und führ mich durch die Nacht)
Copyright
Olaf Hauke
Greifswalder Weg 14
37083 Göttingen
01575 889 7019
Cover: ArtSpark
Langsam trockneten die Gehwegplatten in der warmen Oktober-Sonne. Die dunkelgrauen Steine färbten sich an den Rändern langsam hellgrau, nur in einigen kleinen Unebenheiten hatten sich schimmernde Pfützen gebildet. Die Sonnenstrahlen brachen sich nun in den schimmernden Oberflächen wie in einem Spiegel, der in hundert Teile zersprungen war.
Der Regen hatte bereits vor einer guten Stunde aufgehört, die dunklen Wolken hatten sich im milden Wind verflüchtigt. Ein schöner Nachmittag kündigte sich an, der Abschiedsgruß eines langen Sommers. Linus Bergfeld würde allerdings auch von diesem Tag nichts mitbekommen, genauso, wie die letzten Monate ohne jede Bedeutung an ihm vorbeigezogen waren.
Blicklos lief er den Weg an der großen Lagerhalle entlang, erwiderte mechanisch den Gruß eines Mitarbeiters, der ihm entgegenkam. In der Luft hing der Geruch nach Diesel der schweren LKWs, die an die Rampen herangefahren waren, um ihre Ladung freizugeben.
„Klart langsam auf“, hörte Linus eine weibliche Stimme neben sich und schreckte aus seinen Gedanken, die sich in irgendwelche Nichtigkeiten um Lieferpapiere und das Gespräch mit einem Einkäufer gedreht hatten. Sein Kopf zuckte unwillkürlich zur Seite.
Sabine Janssen, seine Sekretärin, war augenscheinlich vom Mittagessen aus der Kantine gekommen, wenn man dem kleine Rest Ketchup trauen konnte, der sich in ihrem Mundwinkel verirrt hatte.
Linus nickte nur mechanisch und antwortete mit einer Nichtigkeit, die er vergessen hatte, kaum, dass sie ihm über die Lippen gekommen war.
Die Frau ließ nicht locker und redete mit ihrer weichen, dunklen Stimme auf ihn ein, während sie an der Lagerhalle vorbei auf das Verwaltungsgebäude zusteuerten.
Linus hatte im vergangenen Jahr gelernt, in solchen Gesprächen zu antworten, ohne etwas zu sagen. Ein wenig entspannten ihn diese Art von leichten, nichtssagenden Unterhaltungen, die wie ein sanfter Flusslauf an ihm vorbei plätscherten, ohne Spuren zu hinterlassen. Er merkte in diesen Augenblicken, wie sich die verspannten Schultern in seinem Nacken ein wenig lösten und dem Kopf etwas Freiheit schenkten, zumindest für einige Augenblicke. Er öffnete der Frau, die eigentlich für ihn den Kaffee kochte und die Termine machte, ganz mechanisch die Tür und ließ ihr den Vortritt.
Sie liefen nebeneinander die breite Treppe nach oben. Linus erfuhr, dass irgendeine Frau im Büro, deren Namen er zwar kannte, aber deren Gesicht er nicht vor Augen hatte, schwanger geworden war.
„Wie schön“, sagte er ganz mechanisch und erfuhr, dass man sie nun für die nächsten zwei Jahre würde ersetzen müssen. Daran war offenbar nichts zu ändern.
Sie erreichten sein Büro, Frau Janssen blieb ganz automatisch hinter ihrem Schreibtisch stehen und beachtete nicht das klingelnde Telefon. Immerhin sprach sie mit dem Besitzer und Geschäftsführer der Firma. Das hatte Vorrang.
„Sie werden das schon regeln“, sagte Linus und zwang sich zu einem Lächeln. Er hatte allerdings eher das Gefühl, als würden sich seine Mundwinkel verkrampfen.
„Besorgen Sie ihr doch einen von diesen hübschen Körben, Sie wissen schon, mit der Salami, dieser Gewürzmischung und diesem edlen Kaffee.“
„Schwangere dürfen keinen Kaffee trinken“, kam die Antwort. Linus nickte nur. Vor einem guten Jahr hätte er diesen Widerspruch noch mit einem düsteren Blick quittiert.
„Dann nehmen Sie Tee oder so“, sagte er und wartete gar nicht erst ab, bis seine Sekretärin geantwortet hatte. Er nickte noch einmal und marschierte dann in sein Büro, wobei er kaum registrierte, wie sie ihm nun die Tür aufhielt und leise hinter ihm ins Schloss zog.
Er hatte sich kaum hinter seinen hohen Schreibtisch gestellt, als das Telefon anschlug. Seit einigen Jahren hatte Linus einen Tisch, den er in der Höhe verstellen konnte. Das schonte seinen Rücken. Außerdem konnte er bei längeren Telefonaten, die er dann mit Kopfhörer führte, durch das Büro wandern, um seine Gedanken zu sammeln.
Linus nahm das Gespräch mit einem Vertreter an. Für einen Moment brach sich die alte Energie des Geschäftsführers noch einmal Bahn. Er hörte die Zahlen, die ihm geboten wurden, und er wusste, dass sie nicht gut für sein Unternehmen waren. Er konnte es förmlich riechen.
Während er sprach, wanderte er quer durch sein Büro und trat vor das breite Fenster, durch das er über das gesamte Unternehmen blicken konnte, die Gebäude, die beiden Parkplätze, die Umzäunung, die die Firma gegen die Landstraße abgrenzte.
Unbemerkt von ihm stellte seine Sekretärin einen starken Kaffee und Kekse auf den Beistelltisch.
Linus konnte Zahlen förmlich mit den Händen greifen, er brauchte sie nur zu hören und sich vorzustellen. Dann leuchteten sie entweder in einem satten Gelb oder sie rochen wie fauliges Obst. Diese Vorstellung allerdings erzählte er lieber niemandem.
Im Moment begann es, in seinem Kopf förmlich zu stinken.
„Sind Sie noch ganz bei Trost, Mann?“ schnauzte er in das kleine Mikro vor seinem Mund. Sogar seine Sekretärin zuckte in der Tür zusammen. Sie sah überrascht auf, für eine Sekunde huschte der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht. Unter der verschütteten Trauer gab es also doch noch einen Funken Leben, der sich Bahn brach. Zumindest das Geschäft war so gerettet. Leise zog sie die Tür hinter sich zu.
Linus bekam davon nichts mit, sein Adrenalin-Spiegel war in die Höhe geschossen. Mit einem Mal verspürte er sogar so etwas wie Hunger.
Ohne es zu registrieren, griff er nach den Keksen und schob sich zwei davon in den Mund. Mit vollen Wangen redete er einfach weiter, griff zum Kaffee und spülte die Krümel von der Zunge.
„Wenn Sie kein vernünftiges Angebot machen können, brauchen wir nicht zu telefonieren“, schnauzte er und staunte über ein paar Krümel, die ihm dabei aus dem Mund flogen. Doch niemand beobachtete ihn.
Die Stimme im Kopfhörer nannte andere Zahlen, langsam verflog der faulige Geruch aus seinem Kopf.
Linus nahm einen weiteren Keks, stellte sich ans Fenster und ließ seinen Blick über das Gelände gleiten. Die schwarzen Dächer. Ein Lastwagen mit schwerem Hänger verließ die Laderampe und steuerte auf den Ausgang zu, die mächtigen Flügel des Tores öffneten sich und glitten zur Seite. Oben auf dem Gitter blinkten zwei rote Lampen.
Einige Männer im Blaumann strebten auf eine der Lagerhallen zu. Ein Stück weiter hinten lagen die beiden Fabrikationshallen. Eine davon stammte noch aus der Zeit seines Vaters, die zweite war unter seiner Verantwortung gewachsen. Die Fertigstellung hatte Vater schon nicht mehr miterlebt, aber Linus war sicher, dass er stolz auf ihn gewesen wäre.
Unwillkürlich straffte sich seine Haltung bei diesem Gedanken. Das Werk hatte ihn das letzte Jahr über im wahrsten Sinne des Wortes am Leben erhalten. Er trug die Verantwortung für die Menschen da unten, die ihm vertrauten. Linus wusste, dass er mit diesem Gedanken fast aus der Zeit gefallen war. Heutzutage zählten das Geld, der Gewinn, der Profit der Aktien.
Er jedoch wusste, dass man ein Unternehmen, besonders nicht im Mittelstand, an den Menschen vorbeiführen konnte.
In diesen Gedanken führte er weiter die Verhandlungen mit dem Vertreter, bis die Zahlen die gewünschte Farbe erhalten hatten und angenehm rochen.
Zufrieden beendete er das Gespräch, nahm sich den letzten Keks, trank den kalten Kaffee und sah noch einmal über die Kulisse der Firma.
Fast alle Mitarbeiter waren damals zur Beerdigung erschienen. Für einen Moment verkrampfte sich sein Herz.
Geändert hatte es nichts. Er stand allein hier oben am Fenster und starrte blicklos in die Nachmittagssonne eines verlorenen Dienstags.
Eines Tages würde sich alles ändern, die Zeit heilte angeblich alle Wunden.
Er hatte den Glauben längst verloren. Er würde die Zeit, die ihm noch blieb, für die Menschen dort unten verbringen. Vielleicht würden sie dann eines Tages auch alle zu seiner Beerdigung kommen.
„Er hat sich in dem Jahr total verändert. Das einzig Gute ist, dass er nach wie vor die Belange der Firma im Auge hat. Das ist im Grunde das Einzige, was ihn noch am Morgen aus dem Bett holt.“
Sabine Janssen hätte normalerweise nie im Leben so offen über ihren Chef gesprochen.
Für viele in der Firma galt sie nicht nur als die Sekretärin, sondern als eine Art Frau vom Chef. Immer wieder hatte es dämliche Gerüchte über eine Affäre gegeben, Behauptungen, sie würde nun in die Fußstapfen der verstorbenen Frau treten. Sabine war eine attraktive Frau, das regte die Fantasie an.
All das war natürlich blanker Unsinn. Sie war seit vielen Jahren glücklich verheiratet, lebte mit ihrem Mann in einem kleinen Häuschen auf dem Land. Und Linus Bergfeld hatte nie auch nur den Hauch eines Zweifels über ihr Verhältnis gelassen.
Obwohl er erst Anfang Vierzig war, war er noch im wahrsten Sinne des Wortes ein Chef „vom alten Schlag“.
Bernd Schäfer nickte bei ihren Worten.
Eigentlich hatte Sabine Janssen gerade Feierabend machen wollen. Inzwischen war es kurz nach sechs am Abend, ihr Chef hatte wenige Minuten zuvor das Büro verlassen. Sie hatte bereits den Computer heruntergefahren, als unvermittelt Bernd Schäfer aufgetaucht war. Schäfer war mehr als nur der Hausjurist des Unternehmens, er war einer der wenigen Freunde, die Linus Bergfeld noch ab und zu um sich duldete. Seit dem Tod seiner Frau lebte er noch zurückgezogener als vorher.
Schäfer hatte keine Anstalten gemacht zu gehen, Sabine hatte ihm, zunächst eher ungehalten, einen Tee angeboten. Doch dann waren sie mit einem Mal ins Gespräch gekommen, Sabine wusste selbst nicht genau, warum.
Es geschah selten, dass sie ins Reden geriet, schon gar nicht über ihren Chef. Aber sie wusste um die Rolle, die Bernd Schäfer spielte. Dazu löste der Stau, der sich im letzten Jahr bei ihr auf der Seele gebildet hatte, einen Druck aus, der sich nun in ihren Worten Bahn brach.
Schäfer war knapp fünfzig, ein kräftiger, aber gutaussehender Mann mit vollen grauen Haaren und tadellos sitzenden Anzügen, vorzugsweise in hellgrau und mit farbenfrohen Krawatten.
Er hatte den Knopf seines Sakkos geöffnet und auf dem Besucherstuhl Platz genommen.
„Ja, ich weiß. Ehrlich gesagt, ich bin froh, dass er sich noch um den Laden hier kümmert. Ich hatte ihn in den letzten Wochen einige Kurznachrichten geschickt auf sein privates Handy – aber er hat keine davon beantwortet.“
Sabine zuckte mit den Schultern. „Das wundert mich nicht. Sein Handy liegt in einer Schublade in seinem Schreibtisch, er rührt es kaum noch an. Vermutlich schlummern dort hunderte von Nachrichten – insofern befinden Sie sich in bester Gesellschaft.“
Der Jurist rieb sich die Augen und nahm einen Schluck Tee. Dann machte es den Eindruck, als würde er aus seinen Gedanken schrecken.
„Mein Gott, ich sitze hier, rede auf Sie ein und halte Sie von Ihrem Feierabend ab. Es tut mir wirklich leid!“
Er stellte mit einer hastigen Geste die halbvolle Tasse auf Sabines Schreibtisch und sprang auf.
Sabine war es gewohnt, spät aus dem Büro zu kommen. Ihrem Mann machte das schon lange nichts mehr aus.
Sie winkte ab, erhob sich aber trotzdem.
„Nein, nein, ist schon gut. Es tut mir leid, dass Sie ihn verpasst haben. Ein wenig Ablenkung hätte ihm gutgetan. Ich habe immer das Gefühl, als…“
Sie brach mitten im Satz ab.
„Ja?“ fragte der Anwalt sofort und hielt in seiner Bewegung inne, mit der er das Sakko schloss.
Sabine zögerte einen Moment. Sie sah Bernd Schäfer an, dann fasste sie einen Entschluss.
„Wissen Sie, ich habe das noch niemandem hier gesagt, aber…ich habe ein wenig Sorge, dass auch dieser Funke verglüht, wenn Sie verstehen, was ich meine.“
„Sie denken, dass er das Interesse an der Firma verliert und dann hier alles verloren geht?“
Sabine Janssen hob sofort abwehrend die Hände.
„Ich will da nichts beschwören. Möglicherweise fängt er sich wieder, beendet die Trauerphase. Ich habe ja schon versucht, ihn aus diesem Loch zu holen, in das er gefallen ist. Aber ich will nicht übergriffig werden und mir Dinge anmaßen, die mir nicht zustehen.“
Bernd Schäfer griff nach seinem Mantel und zog ihn sich schweigend über.
Sollte Linus tatsächlich die Firma aufgeben, würde früher oder später alles in sich wie ein Kartenhaus zusammenfallen, dazu brauchte sie keine große Fantasie zu entwickeln. Bei ihm liefen die Fäden zusammen, auch, wenn es natürlich Abteilungsleiter und ausgezeichnete Fachkräfte in der Firma gab. Linus erwartete von seinen Mitarbeitern viel, aber er honorierte die Leistungen entsprechend. Aber er war die Firma, das Aushängeschild, derjenige, der alles im Kopf hatte. Und genau dieser Kopf hatte im letzten Jahr einen Schlag bekommen, einen empfindlichen, harten Schlag, der zeigte, wie verletzlich diese Mauern waren, die sie umgaben.
Abgesehen davon musste Sabine Janssen nicht lange rechnen, um zu begreifen, was ein solcher Zusammenbruch für sie selbst für Konsequenzen gehabt hätte.
Auch Schäfers Kanzlei hatte im Grunde nur einen bedeutenden Mandanten. Ein Sturz dieses Imperiums hätte weite Kreise gezogen, die auch ihn in den wirtschaftlichen Abgrund gerissen hätten.
„Nein, nein, ich verstehe schon, was Sie meinen, Frau Janssen.“
Er trat beiseite, als sie das Vorzimmer verließen. Sabine schaltete das Licht aus und verschloss die Tür hinter ihnen.
Gemeinsam gingen Sie über den Flur Richtung Ausgang. Sämtliche Türen waren bereits verschlossen, der kurze, hellgraue Teppich dämpfte ihre Schritte. Über dem Flur lag eine Stille, die Sabine normalerweise nicht registrierte. Aber heute schien sie sie förmlich zu erdrücken, ihr den Atem zu rauben.
Im Gegensatz zu Linus Bergfeld, der stets die Treppe nahm, rief Bernd Schäfer den Fahrstuhl. Sabine wollte nicht unhöflich erscheinen und wartete mit ihm, obwohl sie mit der Treppe weitaus schneller unten gewesen wären, zumal der Fahrstuhl nur ein Stockwerk zu überwinden hatte.
„Ich denke, ich werde mir in den nächsten Tagen etwas ausdenken. Vielleicht, wenn es nicht zu viel verlangt ist, würde ich Sie um Unterstützung bitten?“
Sie betraten den Fahrstuhl und glitten lautlos nach unten.
„Selbstverständlich, Herr Schäfer. Melden Sie sich einfach, ich werde Sie nach Kräften unterstützen.“
Merkwürdig, dachte sie, ich meine es vollkommen ernst, aber irgendwie schaffe ich es nicht, die Worte glaubhaft und überzeugend klingen zu lassen.
Auf eine unerklärliche Art war sie erleichtert, als der Fahrstuhl hielt und sich die Türen öffneten. Sie hatte nichts gegen Bernd Schäfer, aber schon einige Male hatte sie den Eindruck gehabt, als würde er ihr buchstäblich die Luft zum Atmen rauben.
Linus hatte den Fernseher angeschaltet. Er hatte sich, wie in jedem Abend in den letzten Monaten, aus dem unteren Teil des Hauses zurückgezogen. Seit er alleine war, war das Haus viel zu groß für ihn geworden, die Räume wirkten düster und einschüchternd.
Tagsüber kam eine Reinigungskraft, die den unteren Teil des Hauses in Ordnung hielt, dabei vermutlich wenig zu tun hatte. Oben hatte er drei Zimmer für sich allein reserviert, ein Bad, ein Gästezimmer und eine daran angrenzende kleine Küche. Zum Leben reichte ihm das vollkommen aus. Seine Haushälterin versorgte ihn, auch sie litt nicht gerade unter Überarbeitung.
Manchmal nutzte er nach seiner Rückkehr in die Villa noch das Arbeitszimmer. Schon seit einigen Jahren war die gesamte Firma darauf umgestellt worden, bis auf wenige Ausnahmen ohne Papier auszukommen. Insofern reichte ihm dort der Computer oder die damit verbundenen Notebooks, sodass er sich, sobald es vollkommen dunkel wurde, hier nach oben zurückziehen konnte.
Früher hatte er nie so etwas wie Angst verspürt, schon gar nicht vor der Dunkelheit. Das war etwas für kleine Kinder, die sich nicht in den Keller trauten. Doch seit einem Jahr hatte sich das Haus oft genug zu einem Spukschloss gewandelt, zumindest in seiner Vorstellung. Immer wieder halfen ihm Tabletten, überhaupt Schlaf zu finden.
Vor einigen Wochen hatte er sich endlich aufgerafft, einen Makler aufzusuchen, um die Villa und das Grundstück zu verkaufen. Er wollte, nein, er musste es loswerden, musste all die Erinnerungen verbannen, die hier in jeder Ecke lagen wie unnützer Zierrat.
Im Fernsehen lief irgendein Magazin, dem er kaum zu folgen vermochte. Es ging um irgendwelche Politiker, die Geld unterschlagen haben sollten. Natürlich wussten die Journalisten alles, die Musik malte düstere Farben, man begriff sofort, wer Gut und wer Böse sein musste.
Linus hatte in seinem Leben schon einige Politiker kennengelernt. Manche waren ehrlich gewesen, doch die meisten hatten lediglich, mehr oder weniger gut versteckt, ihren eigenen Vorteil im Auge gehabt. Letztlich war es immer ein schmutziges Geschäft gewesen, dass er, so gut es ging, aus seinem eigenen Unternehmen hatte fernhalten wollen.
Linus hatte, außer den Keksen im Büro, den ganzen Tag über nichts gegessen. Inzwischen, so hatte er feststellen müssen, waren ihm sämtliche Hemden und Hosen zu weit geworden. Irgendwann, so nahm er sich jeden Morgen vor, würde er bei einem Großeinkauf seine Garderobe auf den neusten Stand seiner Figur bringen.
Er hatte sich eine Tütensuppe aufgewärmt, dazu aß er Toastbrot aus der Verpackung. Bestimmt war er mit dieser Ernährung auf einem absoluten Null-Level, was Vitamine betraf, aber es waren die einzigen Dinge, auf die er halbwegs Lust verspürte.
Unten an der Haustür schlug die Glocke an. Das war bereits einige Male passiert. Irgendwer stand draußen vor dem Grundstück an der verriegelten Pforte und wollte ihn „ganz dringend“ sprechen.
Linus machte sich nicht mal die Mühe, sich aus seiner halbliegenden Position zu erheben. Auf das Grundstück zu gelangen, war alles andere als leicht und würde sofort die Alarmanlage auslösen.
Er gähnte, löffelte seine Suppe und griff zur Fernbedienung, um die düster schattierten Gesichter der Politiker verschwinden zu lassen. Er übersprang die Nachrichten, ein Fußballspiel und landete bei einem Bericht über irgendwelche Bären in Asien.
Erneut schlug die Glocke an, dieses Mal lauter und fordernder. Linus stieß nur ein unwilliges Grunzen aus. Auch ein dritter und vierter Versuch holten ihn nicht aus seiner bequemen Haltung. Endlich kehrte für mehrere Minuten die ersehnte Ruhe ein.
Plötzlich drang das scharfe Geräusch der Alarmanlage wie ein scharfes Schwert in den Raum. Linus sprang sofort auf, verschüttete den Rest der dünnen Suppe.
Der „Besucher“ hatte sich also nicht verjagen lassen und entweder versucht, dass Tor zu öffnen, oder, schlimmer noch, war bereits auf dem Grundstück.
Linus musste die Polizei rufen, das war sein erster Gedanke. Die Tatsache, dass die Alarmanlage mit der Polizeiwache verbunden war, übersah er in diesem Moment der Panik.
Das schrille Geräusch der Alarmanlage griff ihn förmlich körperlich an.
Ich muss zum Telefon! Der Gedanke trieb ihn aus dem Raum, der Apparat stand unten in seinem Büro. Sein Handy war, wie fast immer, in der Firma.
Kopflos rannte Linus die Treppe hinunter – und stoppte nach einigen Stufen. Durch die Fenster, die hinaus in den kleinen Park führten, zuckte ein Blaulicht, dass in die Schatten des Raumes drang und sie in ein schimmerndes, unwirkliches Licht verwandelte.
Die Polizei war, warum auch immer, schon da! Die Alarmanlage verstummte.
Und im nächsten Moment läutete es an der Haustür. Linus fuhr sich mechanisch durch die Haare und lief nach unten. Er riss die Tür auf und starrte direkt in die beiden dunklen Augen eines Uniformierten.
„Herr Bergfeld?“
Linus sah im Hintergrund einen Streifenwagen, der quer in der Einfahrt stand. Linus brachte nur ein völlig überrumpeltes Nicken zustande. Der Polizist hob den Arm und winkte, das Blaulicht verlosch.
„Was soll das?“ brachte Linus stotternd hervor.
Der Polizist räusperte sich.
„Man hat uns verständigt, weil Sie sich nicht gemeldet haben.“
„Man hat Sie verständigt?“
Langsam wich der Schreck aus seinen Gliedern und machte einer gewissen Wut Platz.
„Wer zum Teufel hat Sie verständigt?“
„Das war ich!“
Bernd Schäfer trat aus dem Hintergrund neben den Beamten.
„Vielen Dank für die Unterstützung, Herr Kommissar. Bestellen Sie dem Kriminaldirektor einen schönen Gruß und richten Sie auch ihm meinen Dank aus!“
Ehe Linus etwas sagen konnte, hatte sich Bernd an ihm vorbei ins Haus gedrückt. Der Polizist zögerte, dann legte er die Hand an die Mütze und verabschiedete sich sichtlich verunsichert.
„Bitte, komm doch einfach rein“, sagte Linus ironisch. Er warf dem Polizisten einen letzten Blick zu und schloss die Tür, schaltete dann das Licht in der Eingangshalle ein.
Bernd drehte sich um. „Ich habe versucht, zu klingeln. Aber du hast nicht geöffnet. Also blieb mir nichts, als die Polizei zu rufen. Sie wollten erst nicht kommen, aber ein kurzer Anruf eine Etage höher hat den Streifenwagen in Bewegung gesetzt.“
Bernd grinste etwas zu selbstzufrieden.
Ehe Linus etwas entgegnen konnte, war Bernd in Richtung Wohnzimmer unterwegs. Er kannte sich gut aus in dem Haus, schaltete das Licht an und sah sich um. Linus folgte ihm mit zusammengezogenen Augenbrauen.
„Deswegen der Budenzauber hier? Du hättest in der Firma vorbeikommen können!“
„War ich vor ein paar Tagen, aber da warst du schon ausgeflogen.“ Bernd marschierte auf die Hausbar zu und nahm sich ein Glas. „Außerdem wollte ich mal sehen, wie es hier so aussieht!“
„Du kennst doch die Einrichtung!“
Er nahm sich einen Cognac und schwenkte ihn kurz. „Ja, aber ich hatte Angst, dass du hier als Waschbär auf einer Müllhalde lebst. Oder am Ende sammelst du deinen Urin in großen Fässern.“
Er warf einen Blick auf den alten, teuren Cognac und schien zu begreifen, dass der Vergleich seine Schwächen hatte.
„Hier stehen keine Fässer“, gab Linus kopfschüttelnd zurück, ebenfalls wenig angetan von der Vermutung seines Freundes.
„Nein, alles scheint in bester Ordnung“, gab Bernd zu und nahm einen kleinen Schluck von seinem Getränk, um anschließend anerkennend zu nicken.
„Dann kannst du ja jetzt wieder gehen“, gab Linus barsch zurück. Er überlegte, ob er selbst auf den Schrecken hin einen Schluck Alkohol gebrauchen konnte.
„Das Haus ist in bester Ordnung, weil du fleißige Hände hast, die die Arbeit erledigen. Bei deiner Kleidung sieht das schon anders aus.“
Bernd Schäfer deutete mit der Hand, in der er den Cognac-Schwenker hielt, auf Linus und zog dabei die Augenbrauen hoch. Erst jetzt realisierte der Industrielle, dass er eine alte Boxer-Shorts und ein aus der Form geratenes T-Shirt trug. In der Aufregung um den Alarm war ihm das nicht einmal aufgefallen. In diesem Aufzug hatte er vor der Polizei gestanden.
„Keine Angst, die Polizei ist vermutlich Schlimmeres gewohnt“, schob sein Freund nach, als hätte er seine Gedanken lesen können.
„Ja, vermutlich.“ Ohne sich weiter um seine Kleidung zu kümmern, nahm sich Linus nun selbst ein Glas und goss sich einen reichlich bemessenen Schnaps ein.
„Und du hast Recht – ich halte mich hier unten kaum noch auf, außer manchmal im Arbeitszimmer.“
Für einen Moment legte sich Stille über den Raum. Linus nahm einen Schluck und rutschte in Bilder der Vergangenheit. Sein Blick wanderte über die signierten Drucke, die Juliane mit Leidenschaft gesammelt hatte. Er hatte sich nie viel aus diesen Vernissagen gemacht, aber ihr zuliebe sogar diesen dämlichen Rollkragenpullover angezogen, in dem er wie ein Intellektueller ausgesehen hatte.
Unwillkürlich wanderte seine Hand zu Hals, als würde der Kragen dort noch immer kratzen.
„Es wird Zeit, dass du aus der Vergangenheit kommst“, sagte sein Freund und leerte sein Glas, als wolle er damit seine Worte bekräftigen.
Linus wanderte durch den Raum. Wie hatte die Frau doch gleich geheißen, die immer diese hässlichen, silbernen Rahmen gemacht hatte? Bestimmt hatte sie mit Juliane eine ihrer besten Kundinnen verloren.
Bevor er sie kennengelernt hatte, waren die Möbel hier unten alt und verstaubt gewesen, ein Überbleibsel seiner Eltern, das er nie angerührt hatte.
Er konnte sich noch gut an den Streit erinnern, den das Verschwinden der Teppiche ausgelöst hatte. Letztlich hatte sie Recht behalten. Damals hatte die Entrümpelung einen Neuanfang bedeutet. Alles war luftig, groß, modern geworden. Und jetzt? Nun hatte sich dieser Neuanfang mit einem Schlag in eine Erinnerung verwandelt, in eine Ansammlung von Trauer und Leere.
Linus leerte sein Glas mit einem entschlossenen Zug.
„Und was schlägst du vor?“ fragte er, obwohl er die Antwort bereits kannte, sie sich selbst gegeben hatte.
„Du solltest dir wieder ein Leben neben der Firma schaffen. Du musst rausgehen, und damit meine ich nicht den Spaziergang über den Hof in der Mittagspause.“
„Früher war ich mit den Leuten in der Kantine“, meinte Linus etwas zusammenhanglos.
„Deine Belegschaft ist nicht deine Familie. Schön, wenn du ein gutes Verhältnis zu ihnen hast – vielleicht manchmal zu gut. Aber das meine ich nicht. Du musst raus, andere Menschen treffen, dich unterhalten, weg aus diesem Kreislauf von Trauer und Zahlen.“
Linus merkte, wie ihn die Feststellungen seines Freundes trafen. Er biss die Kiefer zusammen.
„Ich nehme mir die Zeit, die ich brauche. Niemand kann mir vorschreiben, was ich…“
Bernds Gesichtszüge wurden deutlich milder, seine Augenbrauen entspannten sich.
„Niemand will dir etwas vorschreiben. Wie wäre es, wenn du dir etwas Passenderes anziehst und ich in der Zwischenzeit eine Kleinigkeit in deinem Haus suche, um dich, hm, aufzumuntern?“
„Eine Kleinigkeit in meinem Haus?“ Linus stieß einen Seufzer aus. Bernd wirkte ziemlich entschlossen, es würde schwer werden, ihn in diesem Zustand loszuwerden oder eine Diskussion zu starten. Abgesehen davon machte der Alkohol ihn ein wenig verwirrt im Kopf, erzeugte eine milde Wärme in seinem Magen.
„Also schön, ich beuge mich deinem Willen – ich habe sowieso keine Wahl, nicht wahr?“
Um Bernds Lippen huschte ein fast diebisches Vergnügen. Als Linus sich erhob, merkte er, wie kalt seine Oberschenkel geworden waren. Er musste zugeben, dass die Kleidung, die er trug, wirklich nicht angemessen war. Doch immerhin hatte man ihn gestört, nicht umgekehrt.
Mit einem letzten Murren, das seinen Widerwillen gegen den Überfall ausdrücken sollte, erhob er sich und ging nach oben.
Was hatte Bernd geplant?
Während er sich Hemd und eine Jeans nahm, überfielen ihn wieder die Bilder von diesem Ausflug, den sie vor Jahren gemeinsam nach München gemacht hatten. Damals hatte Bernd einige Male versucht, ihn in ein Edel-Bordell zu schleifen. Am Ende tauchte jetzt eine Prostituierte auf, die er engagiert hatte?
Nein, ging es Linus durch den Kopf, so verrückt war nicht mal Bernd. Oder doch?
Missmutig knöpfte Linus sein Hemd zu. War er tatsächlich ein kleines Kind, das man bevormunden musste? In diesem Augenblick fühlte er sich so.
Er ging zurück an die Treppe, lauschte zunächst nach unten, um mögliche verräterische Stimmen und Geflüster zu hören. Doch alles blieb still, offenbar lief keine Prostituierte mit Stöckelschuhen durch das untere Wohnzimmer.
Linus schüttelte den Kopf über seine eigenen Gedanken. Vermutlich wurde er tatsächlich schon etwas wunderlich.
Trotzdem ging er mit langsamen, fast behutsamen Schritten nach unten, als sei er ein Tier, das bereit wäre, beim geringsten verräterischen Geräusch von unten die Flucht zu ergreifen und sich oben in den Zimmern zu verkriechen.
Alles blieb still, Bernd wartete auf ihn im Wohnzimmer. Er stand an dem breiten Fenster, das diese wunderschöne Aussicht auf die beiden alten Eichen hatte. Er stützte sich auf einen Rahmen, den er aus dem Arbeitszimmer geholt hatte. In den Rahmen war ein Filmplakat gespannt.
„Was soll das bedeuten?“ fragte Linus, der die Anspannung mit einem Lächeln löste. Er hatte mit allem Möglichen gerechnet, aber nicht mit einem seiner eigenen Plakate.
„Du weißt, was das ist?“ antwortete Bernd mit einer Gegenfrage.
„Bernd, es mag sein, dass ich mich ein wenig zurückgezogen habe, aber ich bin nicht senil geworden. Das Plakat hängt in meinem Arbeitszimmer. Es ist das offizielle Filmplakat vom ‚König der Welt‘. Und du weißt sicher, warum es dort hängt. Schließlich trägt es die originale Unterschrift von Mark Sebastian, dem Hauptdarsteller.“
„Den du sehr verehrst“, schob Bernd nach.
„Verehre klingt ein bisschen zu pathetisch, aber es stimmt, ich habe alle seine Filme gesehen, manche auch ein paar Mal. Ja, und ich habe die DVDs. Es ist also überflüssig, wenn du mir die Sammlerbox schenkst.“
Bernd ließ sich einen Moment Zeit und sah an dem Plakat zu seinen Füßen herunter.
„Die Sammlerbox? So etwas gibt es? Nein, nein, daran habe ich nicht gedacht.“ Er schüttelte den Kopf und grinste übertrieben belustigt.
„Nein, dank der Unterstützung deiner fantastischen Sekretärin schenke ich dir nicht nur eine Sammlerbox, sondern Mark Sebastian persönlich!“
Als Sabine den Schlüssel in die Tür zu ihrem Büro schob und feststellte, dass sie bereits offen war, ahnte sie, was in den nächsten Sekunden folgen würde.
Linus stand neben ihrem Schreibtisch, sein Gesicht wirkte düster und abweisend. Sie hatte keine Ahnung, wie lange er dort auf sie gelauert haben musste, aber er wirkte ganz so, als hätte er jedes Gefühl für Zeit verloren.
„Guten Morgen“, brachte sie mühsam hervor und stellte ihre Tasche auf den Tisch, um sich aus dem Mantel zu schälen.
„Sind Sie verrückt geworden?“ blaffte Linus los, ohne ihren Gruß zu erwidern.
Sabine ging nicht auf die Beleidigung ein, sondern hängte ihren Mantel an den Ständer neben der Tür. Es kam so gut wie nie vor, dass ihr Chef derart wütend reagierte. Er trug heute Morgen nicht mal ein Sakko oder eine Krawatte, hatte die Ärmel seines Hemdes nachlässig aufgerollt. Zuletzt hatte sie ihn so bei den Übernahmeverhandlungen mit diesem amerikanischen Konzern gesehen, die sich über drei Tage hingezogen hatten.
„Nein, wenn Ihre Frage ernst gemeint ist, kann ich mit gutem Gewissen sagen, dass ich mich nach wie vor im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte befinde“, sagte sie und schob das Kinn ein wenig nach vorne. Sie drehte sich um und sah ihm direkt in die Augen, was ihn, da er nicht geübt war in cholerischen Ausbrüchen, eher verunsicherte.
„Anscheinend wohl nicht“, versuchte er möglichst aggressiv zu reagieren. „Sie haben sich hinter meinem Rücken mit Herrn Schäfer verbündet und über mich geredet. Wissen Sie, dass das ein Kündigungsgrund ist?“
Sabine nahm die Drohung keinen Moment lang ernst.
„Wir haben Ihnen eine Freude gemacht“, stellte sie trocken fest, ging, als wäre nichts gewesen, an den Kaffeeautomat und füllte ihn mit Wasser aus einer Karaffe.
„Sie haben sich vermutlich in einer Tour über mich lustig gemacht“, beharrte Linus.
Sabine verzog das Gesicht.
„Also, ich gebe zu, dass Herr Schäfer einen eigenwilligen Humor hat. Aber ich musste ihm zustimmen, als er sich Sorgen um Sie machte. Er hat eine besondere Art, das auszudrücken. Aber wir sprachen darüber, was Ihnen Freude schenken würde. Na ja, und ich las in der Zeitung vom Filmball, auf dem auch dieser Mark Sebastian als Ehrengast auftaucht.“
Linus fuhr sich durch die Haare. „Der Filmball ist heute Abend“, stellte er mit einem genervten Unterton fest.
„Und? Ich kenne Ihren Terminplan, schließlich gestalte ich ihn in weiten Teilen. Sie gehen nachher zum Friseur, lassen sich herrichten. Den Termin werde ich Ihnen machen. Anschließend werden Sie zu einem Herrenausstatter gehen, der wird Sie einkleiden. Und dann geht es ab zur Party!“
„Was zur Hölle soll ich auf dieser Party?“ Linus schien sich allerdings zunehmend zu beruhigen. Sabine drückte ihm eine Tasse frisch aufgebrühten Kaffee in die Hand.
„Wissen Sie eigentlich, wie viele Telefonate mich diese Einladung gekostet hat? Zum Glück habe ich eine Bekannte, die für einen Manager arbeitet, der einige Schauspieler unter Vertrag hat. Und der kannte wiederum jemanden, der mit der Organisation…ach Gott, warum erzähle ich Ihnen das überhaupt?“
Linus nahm einen Schluck Kaffee. Seine Körperhaltung sank leicht in sich zusammen.
„Keine Ahnung, warum erzählen Sie es mir?“ sagte er und grinste leicht – ein Eingeständnis dafür, dass er sein schlechtes Benehmen gemerkt hatte.
„Um Ihnen zu zeigen, dass es mir Mühe gemacht hat, dieses Ereignis für Sie zu organisieren.“
„Und ich gehe Sie so an“, stellte Linus fest.
Sabine nahm sich selbst einen Kaffee. Normalerweise hätte sie das nie in Gegenwart von Linus Bergfeld getan, aber an diesem Tag waren die Regeln, die ungeschriebenen Gesetze der Firma, außer Kraft gesetzt.
„Ich kann das verstehen“, sagte sie freundlich.