Fatima boxt - Olaf Hauke - E-Book

Fatima boxt E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Fatima ist ruhig, völlig unsportlich und intelligent. In der Schule ist sie eine Einzelgängerin, zumindest seit ihr Bruder einige Monate zuvor gestorben ist. Er war der Grund, weshalb sie ein Kopftuch trug. Damals traute sich niemand, sie zu beleidigen, doch jetzt hat sich das grundlegend geändert. Sie ist zum Opfer geworden. Als sie bei einem dieser Attacken Beistand von einer jungen Unbekannten bekommt, ändert sich ihr Leben von Grund auf. Plötzlich beginnt sie, die Welt in einem völlig neuen Licht zu sehen. Es ist ein Leben, das ihr gleichzeitig Angst macht und doch ganz neue Perspektiven bietet. Doch es gibt viele Hindernisse auf ihrem neuen Weg, die es scheinbar unmöglich machen, dass Fatima ihr Glück findet.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Ende

Fatima boxt

Olaf Hauke

2023

Copyright 2023

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover: kalhh - pixabay

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

„Hey, Haubentaucher!“

Das Wichtigste war, sich jetzt nicht umzudrehen und den Rufer anzusehen. Sie musste einfach ihren Weg fortsetzen und mit schnellen, aber gleichmäßigen Schritten möglichst viel Platz zwischen sich und die Stimme zu bringen. Dann würde sich eine Möglichkeit zur Flucht ergeben – ein Geschäft, ein Hausflur, irgendein Winkel, in dem sie sich verkriechen konnte.

In der Vergangenheit war ihr das schon einige Male gelungen. Einmal war es dieser Kiosk gewesen, wo sie sich eine riesige Tüte mit verschiedenen Gummibärchen gekauft hatte. Einmal hatte sie hinter der Tür eines Hausflurs gestanden und darauf gewartet, dass die Schritte weit genug entfernt waren, so dass sie sie nicht mehr hören konnte.

Fatima starrte auf ihre Schuhe, sah, wie die Spitzen nach vorne in die Luft stießen, um dann gleich darauf auf dem dunkelgrauen Asphalt zu landen. Wenn man auf die Fußspitzen sah, konnte man schneller laufen. Außerdem hielt man den Blick gesenkt und fiel weniger auf. Das erwartete man sowieso von ihr, möglichst nicht auffallen.

Meistens gelang es ihr recht gut, auf diese Weise aus der Schule zu kommen, nach links abzubiegen und den Weg neben der Hauptstraße zu erreichen. Sie hatte dann einen Fußmarsch von einer guten halben Stunde vor sich, aber das war besser als hinunter zur U-Bahn zu gehen und die Bahn zu nehmen. Dort war sie gefangen zwischen den Wänden und den Plakaten, es gab keine Möglichkeit, sich zu verbergen oder unauffällig zu bleiben. Natürlich waren dort viele Menschen, aber niemand interessierte sich für sie oder, weitaus schlimmer, mied sie, als hätte sie eine ansteckende Krankheit.

Die Schritte hinter ihr waren schneller geworden. In all den Jahren hatte Fatima gelernt, verschiedene Absichten hinter den Schritten zu erkennen. Es gab die achtlosen Passanten, die es lediglich eilig hatten, es gab die Spaziergänger, die deutlich langsamer und zielloser waren, es gab die unruhigen Tänze über den Asphalt – das waren die jungen Schüler aus den unteren Klassen. Und dann gab es die seltenen, die schnellen, die zielstrebigen Schritte, die waren gefährlich, die endeten mit einem Rempler, mit einem Stoß in den Rücken, mit einem Anspucken oder mit einem der großen Kerle direkt vor ihr, die sie aufhielten, ihre Schultern anspannten, sie anstarrten und beleidigten.

Einmal hatte ihr jemand ins Gesicht geschlagen, einfach so, ohne Ansatz, ohne jeden Grund. Die Augen des Jungen hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Sie waren derart leer und leidenschaftslos gewesen, nicht einmal wütend, eher ein wenig neugierig, was wohl passieren würde, wenn er ihr nur fest genug ins Gesicht schlug. Jemand hatte ihn damals fortgezogen, vielleicht aus Angst, was geschah, wenn der Junge weiter schlagen würde.

Meist jedoch waren es nicht die großen, körperlichen Angriffe, die ihr Schmerzen bereiten sollten. Es waren die kleinen Beleidigungen, die Sticheleien, die Demütigungen, die Kränkungen. Und dabei sah sie aus den Augenwinkeln die Blicke der Menschen, die vorübergingen. Selbst schuld, schienen sie zu sagen, selbst schuld. Du gehörst nicht hierher, so wie du bist.

Sie sah ihre Fußspitzen, die das Tempo deutlich angezogen hatten. Sie konnte rechts die Kurve erkennen. Man hatte den Radweg an dieser Stelle verbreitert, damit die Schüler nicht mit den Radlern zusammenstießen, die in Richtung Innenstadt unterwegs waren.

Fatima konnte die Schritte hinter sich nicht mehr hören, auch hatte niemand mehr gerufen. Alles schien gut zu gehen. Sie bog mit zwei schnellen Schritten um die Ecke und fühlte eine gewisse Erleichterung, die nach ihrem Herzen griff. Eine einzelne, in ihren Rücken gerufene, Beleidigung war leicht zu ertragen. Möglicherweise hatte sie nicht mal ihr gegolten. In der Schule gab es mehrere junge Frauen mit strengen Kopftüchern. Wer sagte ihr, dass man nicht jemand anderen gemeint hatte? Oder vielleicht hatte der Ausruf eine ganz andere Ursache gehabt, die sie nur nicht kannte, weil sie in ihrem Rücken stattgefunden hatte?

Der Junge, der wie aus dem Nichts neben ihr auftauchte, stieß ein dumpfes Lachen aus. „Na, Haubentaucher, willst du abheben?“ lachte er blöde. Fatima kannte ihn, er ging in die Parallel-Klasse. Er gehörte zu einer Gruppe von Jungen, die ständig zusammenhingen, und um die sie einen großen Bogen machte. Sie bemühte sich, ihren Blick nicht zu heben. Augenkontakt würde ihn nur weiter provozieren, da war sie sich sicher.

Eine Sekunde später spürte sie die Anwesenheit eines zweiten Jungen, der sich ihr von der anderen Seite genähert hatte.

Kein Zweifel, sie hatten sich abgesprochen und sich von zwei Seiten ihrem Ziel genähert. Fatimas Herz schlug schneller.

Sie war jetzt auf der Hauptstraße. Da sie zu Dritt nebeneinanderliefen, kamen ihnen Menschen entgegen, die ihnen ausweichen mussten. Konnten sie nicht erkennen, dass etwas nicht stimmte? Wie konnten die Leute übersehen, dass eine deutlich kleinere junge Frau von zwei stämmigen jungen Männern bedroht wurde? Sie konnte die Berührung an der Schulter spüren, es war eine stumme Drohung.

Fatimas Gedanken überschlugen sich. Sollte sie einfach stehenbleiben und anfangen zu schreien? Dann würden sich die Leute nach ihr umdrehen, jemand würde ihr zu Hilfe kommen oder die Polizei rufen. Sollte sie ihr Handy herausholen? Dann würden sie es ihr klauen, genauso, wie man ihr letzte Woche das Geld für das Essen geklaut hatte.

Fatima versuchte, den Mund zu öffnen, doch sie schaffte es einfach nicht, sich zu überwinden. Ein älterer Mann kam ihnen direkt entgegen, musste im letzten Moment hart zur Seite gehen, weil die beiden Jungen keinerlei Anstalten machten, ihn durchzulassen.

„Widerlich, diese Jugendbanden“, stieß er verächtlich hervor, beeilte sich jedoch, den Abstand zu der Gruppe zu vergrößern.

„Na, Süße, wie wäre es denn mit einem kleinen Rundflug?“ sagte der Linke der beiden Männer und lachte blöde. Fatima hatte keine Ahnung, was er meinte, aber es klang nicht sonderlich verheißungsvoll, war vermutlich eine sexuelle Anspielung, die sie sofort erschaudern ließ.

Der Andere legte ihr den Arm auf die Schulter. Sie zuckte, aber die Hand verschwand nicht, drückte nur noch fester zu.

„Schätze, wir müssen der Süßen noch einiges beibringen“, lachte der Kerl mit der Hand auf ihrer Schulter. Er wollte noch etwas sagen, doch dazu kam er nicht mehr.

Fatima hörte von der Fahrbahn her lautes Rufen. Sie sah auf, zwei Schatten schlängelten sich wie Aale an den fahrenden Autos vorbei.

„Ey, ihr Wichser, wollt ihr auf die Fresse?“

Hassan war in der Klasse über ihr. Natürlich, er und sein Kumpel hatten die Szene von der anderen Straßenseite beobachtet. Jetzt spielten sie die Beschützer. Warum erleichterte sie dieser Gedanke nicht?

Ihre Begleiter zuckten herum und blieben stehen, drehten sich um. Hassan und der fremde Junge hatten die Straße überquert, liefen über den Radweg. Ein junges Mädchen musste scharf bremsen, Hassan warf ihr nur einen verächtlichen Blick zu. Er trug sein enges, schwarzes, langärmliges Shirt, das seinen Oberkörper wie eine zweite Haut nachzeichnete und von dem alle Mädchen, die sie kannte, schwärmten. Er war trainiert, sah gut aus, nur seine dunklen Augen waren kalt und wirkten, als hätten sie jedes Gefühl verloren.

Fatima lief einfach weiter, Hassan rief etwas wie „lasst unsere Schwester in Ruhe“, obwohl sie nicht mal miteinander verwandt waren.

Dabei würdigte er Fatima jedoch keines Blickes, sie war mehr ein Gegenstand, der willkommene Anlass für eine Schlägerei.

Trotzdem war Fatima froh, dass sich die vier jungen Männer nun aufeinander konzentrierten und sie dabei völlig aus den Augen verloren. Sie beschleunigte ihre Schritte, erreichte die nächste Querstraße und bog von der Hauptstraße ab. Für den letzten Euro, den sie noch in der Tasche hatte, würde sie zum Kiosk gehen und sich zumindest eine kleine Tüte Gummibärchen kaufen.

Kapitel 2

„Dann solltest du in der Schule einfach kein Kopftuch mehr tragen!“

Vater hob die Schultern und widmete sich wieder seinen Kichererbsen, die er so sehr liebte, aber zusammen mit der scharfen Soße nicht wirklich vertragen würde.

Er sah müde aus.

Die Haare an den Schläfen hatten sich grau gefärbt, die Haut spannte sich über die Wangenknochen. Er hatte deutlich abgenommen seit der letzten Operation, die er glücklicherweise gut überstanden hatte. Daher kochte Mutter alles, was er gerne aß, auch diesen scheußlichen Reispudding mit der eigenartig bitteren Soße, den sie dann alle drei mit einem Lächeln aßen, Fatima und Mutter allerdings eher gequält.

Aber für Vater war es das Schönste, wenn sie alle drei um den großen, runden Tisch in der Küche saßen, vereint und in Frieden, jetzt, da ihr Bruder schon ein halbes Jahr tot war.

Fatima hatte ihm nichts erzählen wollen von den Jungen. Aber Hassan schien stolz herumzulaufen und zu erzählen, wie er heldenhaft die Ehre einer Frau verteidigt hatte. Er hatte bestimmt von einer Frau gesprochen, die aus dem gleichen Land kam wie er. Dabei hatte er vergessen zu erwähnen, dass sie alle einen deutschen Pass in der Tasche hatten, doch welchen wahren Held interessierten schon solche dummen Kleinigkeiten? Abgesehen davon stammten ihre Eltern nicht aus dem Irak.

Man kannte sich untereinander, schnell hatte sich die Geschichte zu Vater herumgesprochen. Und der hatte am Abendbrottisch davon angefangen, was Mutter sofort geängstigt hatte. Und blöderweise hatte Fatima das Schimpfwort vom Haubentaucher erwähnt.

Es war spät, Vater und Mutter hatten wieder viel zu lange gearbeitet. Fatima unterdrückte ein Gähnen. Hatte Vater tatsächlich lapidar gesagt, sie solle ihr Kopftuch ablegen? Allerdings war er nie sonderlich gläubig gewesen, schon gar nicht seit dem Tod von Samir.

Es war, als hätte dieser frühe Tod seines Sohnes den letzten Funken seines Glaubens verlöschen lassen. Sie wusste, dass er auch nicht mehr regelmäßig in die Moschee ging und auch zu Hause nur noch selten betete. Die viele Arbeit diente ihm im Grunde nur als Ausrede.

Samir hatte immer auf das Kopftuch für seine Schwester bestanden. Er und Hassan waren gute Freunde gewesen. Den strengen Glauben allerdings hatte er nur dann gelebt, wenn er ihm als Vorteil erschienen war.

Fatima ging davon aus, dass dies bei Hassan und all den anderen arabisch-stämmigen Jungen an ihrer Schule mehr oder weniger ähnlich war.

Fatima nahm einen Löffel Brei und merkte, wie er im Mund immer mehr wurde. Sie war einfach nicht in der Lage zu schlucken, dazu war der Kloß in ihrem Hals einfach zu drückend und mächtig.

Trotz all der Differenzen, die sie mit ihrem Bruder gehabt hatte, war der plötzliche Tod für die Familie ein Schock gewesen.

Von der Diagnose bis zur Beerdigung hatte es kaum vier Wochen gedauert, vier Wochen, in denen sie alle wie gelähmt gewesen waren.

Niemand hatte so recht begriffen, was geschah, bis es zu spät gewesen war.

Erst danach hatten die Hänseleien in der Schule eingesetzt, vorher hatte sich niemand getraut, etwas zu ihr zu sagen, dazu war der Schatten ihres großen Bruders zu mächtig gewesen. Er hatte trainiert, war stark und muskulös gewesen, auch wenn sie ihm immer wieder mal die Hausaufgaben hatte machen müssen.

Ihr Blick wanderte über ihre Unterarme, sie war, im Gegensatz zu ihrem Bruder, extrem unsportlich. Alle in der Klasse lachten, sobald sie einen Ball warf oder über ein Hindernis springen musste.

Es war schon immer klar gewesen, dass sie viel zu schmächtig und schwach war, um eine Sportskanone zu werden.

Alle hatten das gesagt, also musste es so sein.

Sie suchte Kontakt mit Mutters Blick. Auch sie wirkte müde. Mutter trug manchmal ein Kopftuch, aber auch nur, wenn sie draußen unterwegs war.

Samir hatte ihr gegenüber nie Kritik geäußert, das hätte er sich nie gewagt. Nur ein- oder zweimal hatte er bei Tisch eine Bemerkung fallen lassen, die Vater mit einem strafenden Blick bedacht hatte. Damals war er noch stärker und jünger gewesen. Das hatte sich inzwischen grundlegend geändert.

Mutter löffelte lustlos ihr Essen.

„Religion muss man sich leisten können“, sagte sie in die Stille. Was sie damit genau meinte, blieb ihr Geheimnis. Fatima interpretierte es so, als sei es ihr egal, was ihre Tochter tat.

Noch immer hatten sie Samirs Zimmer nicht ausgeräumt, alles sah so aus, als käme er jede Sekunde durch die Tür, schlüpfte aus den schreiend weißen Sneakers, die er sorgfältig wie einen Schatz in die Ecke stellte.

Danach ließ er Jacke und Rucksack fallen, als würden sie ihm vom Körper platzen.

Darum kümmerte er sich nicht, aber auf diesen Sachen hatte ja auch kein bescheuerter Rapper unterschrieben. Nein, er würde nie wieder durch die Tür kommen, würde nie wieder erwarten, dass man hinter ihm aufräumte und ihm Fatima die Hausaufgaben in Mathe machte, weil Prozentrechnung eine Art Geheimwissenschaft war, die man ihm im Fitness-Studio nicht beigebracht hatte.

Vater verzog das Gesicht, allerdings nicht wegen Mutters Worten.

Er versuchte, sich unauffällig an den Magen zu greifen, was durch diese Geste besonders auffällig wurde.

Sofort legte Mutter den Löffel beiseite und erhob sich mit einem besorgten Blick, das Abendbrot war beendet.

Vater marschierte unter einigem Protest in Richtung Wohnzimmer auf die Couch, Fatima aß lustlos noch einige Löffel, dann erhob sie sich ebenfalls und sah um die Ecke.

Obwohl es nicht kühl war, hatte Mutter eine Decke über Vater gelegt. Er wirkte inzwischen noch blasser und angestrengter, als er seiner Tochter zulächelte.

Auf der Stirn traten zwei Adern hervor und sahen so aus, als wollen sie jeden Moment durch die dünne, hellbraune Haut brechen.

Doch sie blieben an ihren Plätzen.

Fatima lächelte ihm zu und drückte mechanisch die Füße, die unter der Decke hervorschauten. „Ruh dich ein wenig aus, Vater, du arbeitest zu viel“, sagte sie und versuchte, ein freundliches Lächeln ins Gesicht zu bekommen.

Mutter folgte ihr in die Küche und begann, den Tisch abzuräumen.

„Denkst du, ich sollte das Kopftuch einfach weglassen?“ fragte sie und nahm einen der Teller.

„Du hast deinen Vater gehört“, kam die Antwort.

„Es ist deine Entscheidung. Du weißt, wie er zu diesen Dingen steht, seit …“

Sie ließ den Satz unvollendet. Ihr Blick wanderte Richtung Küche, einen Moment später war sie verschwunden und ließ eine ratlose Tochter zurück.

Kapitel 3

Im Haus war es schnell still geworden. Vater hatte noch eine Weile über dem Haushaltsbuch gesessen und gebrütet, dabei an einem abgenutzten Bleistift gekaut. Fatima hatte sein Benehmen nie ganz verstanden. Sie hatte, schon vor einer geraumen Weile, mal einen Blick in das Buch werfen können.

Vater schien dort alle Einnahmen und Ausgaben der Familie zu notieren. Und da Fatima eine ausgezeichnete Rechnerin war, hatte sie schnell verstanden, dass es wirtschaftlich nicht schlecht um die Familie stehen konnte. Das konnte sich durch den Tod ihres Bruders kaum geändert haben, allerdings verlor darüber niemand ein Wort, sie stellte auch keine Frage.

Vielleicht ist das eines meiner Probleme, dachte die junge Frau, als sie die schmale Treppe zum Dach emporstieg. Ich stelle zu wenig Fragen, bin nicht neugierig genug. Aber man hatte ihr beigebracht, dass eine Frau keine Fragen zu stellen hatte, zumindest keine Fragen, die mit Geld zusammenhingen. Geld war männlich.

Fatima lauschte noch einmal in die Dunkelheit, als sie den Dachboden betrat, aber außer einem leisen, vertrauten Knacken, das von den Dachbalken kam, war alles ruhig.

Vater und Mutter schliefen unten, niemand war da, der sie überraschen konnte – schon gar nicht ihr Bruder.

Sie hatte keine Angst in der Dunkelheit, die war nicht böse, dort lauerte nichts Unheimliches. Es war ruhig und beschützend dort in der schwarzen Leere, an die sich ihre Augen allmählich gewöhnten.

Fatima durchquerte den Raum und hob mechanisch einen Arm, um ihren Kopf zu schützen, als sie den tieferliegenden Querbalken passierte. Jenseits dieses Balkens war en nur leere Kartons und viel Staub, niemand interessierte sich für diesen Teil.

Es gab ein kleines Fenster, eher eine Luke, im Dach, die sie vorsichtig aufdrückte und am Sicherungshaken befestigte. Kühle Luft mischte sich unter den aufgewirbelten Staub und streifte ihr Gesicht.

Inzwischen hatten sich Fatimas Augen an die Dunkelheit gewöhnt, sie sah all die vertrauten Umrisse, die vielen, warmen Grautöne, die sie umgaben. Sie bückte sich und hob einen der Kartons an, der dort wie zufällig unter der Luke stand. Sie zog den Hocker heraus, bewegte ihn nur leicht, damit nichts von dem herunterfiel, was auf der Sitzfläche lag.

Fatima nahm sich Feuerzeug und Zigaretten. Sie schloss die Augen, als sie die Flamme aufblitzen ließ, um nicht geblendet zu werden. Vorher hatte sie ihr Oberteil abgestreift, damit es später nicht nach Rauch riechen würde.

Sie ließ sich auf dem Hocker nieder, nachdem sie die Rolle mit den Pfefferminz-Drops in die Hand genommen hatte. Im Grunde waren sie überflüssig, seit ihr Bruder nicht mehr lebte.

Nach ihrer abendlichen Auszeit würde sie nach unten gehen, sich Gesicht und Hände waschen, anschließend die Zähne putzen und ins Bett gehen. Vielleicht würde sie noch ihr Handy kurz anschalten. Allerdings gab es nicht viele Menschen, die ihr auf ihre Accounts in den Sozialen Medien schrieben. Sie hatte kein Foto von sich eingestellt und ein Kürzel für ihren Namen benutzt, das nur wenige Menschen kannten.

In den letzten Wochen hatte sie begriffen, dass ihr Bruder für sie auch eine Art Tor zu der Welt da draußen gewesen war. Seine Freunde hatten sie mit begrüßt, immer wieder kurz mit ihr gesprochen. Sie war eine Art Anhängsel gewesen. Natürlich hätte sich ihr niemals ein Junge genähert, das wäre höchstens über Samir gelaufen. Und diesen Versuch hatte niemand gestartet. Sie hatte auch nie Interesse an einem der Jungen gehabt, eher im Gegenteil.

Fatima stand auf, trat an die Luke und blies den Rauch in die Nacht. Ihr Bruder wäre ausgerastet, wenn er sie dabei erwischt hätte.

Das war nun nicht mehr möglich.

Vater und Mutter schien es in der gegenwärtigen Situation egal zu sein, vermutlich hätte sie mit einem Glas Alkohol und einer brennenden Zigarette am Küchentisch sitzen können – Mutter hätte bloß das Fenster geöffnet und leicht gehustet.

Vielleicht war es an der Zeit, ihr Leben zu ändern. Vielleicht war es ein erster Schritt, das Haus ohne Kopftuch zu verlassen. War es nicht ein Symbol einer vergangenen Zeit, die sie zu Grabe getragen hatten, im wahrsten Sinne des Wortes? Fatima zuckte bei diesem Gedanken leicht zusammen und spürte, wie ihre rechte Hand zu zittern begann.

„Das Kopftuch beschützt dich“, hatte Samir ihr immer wieder mit sanfter Stimme erklärt. „Es ist kein Zeichen der Unterdrückung, im Gegenteil. Es symbolisiert Stärke und Freiheit.“

So ganz hatte sie die Erklärung nie verstanden, aber sie hatte auch nie nachgefragt, nie den Versuch gemacht, ihn irgendwie zu überzeugen. Bestand nicht die Möglichkeit, dass er Recht mit seiner Meinung hatte? Heute hatte es dafür gesorgt, dass Hassan und sein Kumpel aufgetaucht waren, als sie belästigt worden war. Für eine Deutsche hätten sie das nie getan. Allerdings hätten sie die Jungen ohne Kopftuch auch nicht gehänselt.

Sie sah in den Nachthimmel. Mein Gott, dachte sie, so ein Quatsch. Ich bin auch Deutsche, ich habe einen deutschen Pass. Wie hatte Doktor Siembrecht gesagt? Die Staatsangehörigkeit hängt nicht an der Religion, nicht am Aussehen, nicht an der Herkunft, sondern an den Ausweisen. Dort stand eindeutig, dass sie Deutsche war. Sie hieß nicht Lena oder Julia, sondern Fatima. Aber jeder andere hätte seine Tochter auch Fatima nennen können. Sie stellte sich Julia aus ihrer Klasse vor: rotblond, kräftig, mit rötlichen Wangen und dieser großen, dunklen Brille, den zu großen Jeans und dem zu kurzen Top, unter dem der Bauch hervorquoll. Fatima als Name würde wirklich nicht zu ihr passen, dachte sie mit einem Lächeln.

Wie würden die Anderen reagieren, wenn sie ihnen plötzlich ihre langen, schwarzen Locken präsentierte?

In einem Anfall von Neugier löschte sie die Zigarette, schnippte sie aus dem Fenster in die Regenrinne, verschloss die Luke und versteckte all die Utensilien ihrer Heimlichkeit.

Dann ging sie nach unten und huschte ins Bad. Sie starrte in den Spiegel, fuhr sich immer wieder durch die dichten Haare, die ohne Tuch kaum zu bändigen waren. Sie kämmte sie durch, langsam erhielten sie ihre Form. Dann ging sie in ihr Zimmer und suchte einige der Bänder heraus, die sie als kleines Mädchen getragen hatte und die noch immer in einer Kiste unter dem Bett lagen.

Die meisten von ihnen zeigten alberne Tiermotive, waren schreiend rosa und sahen einfach scheußlich aus. Aber zwei von ihnen waren in einem schlichten Dunkelrot gehalten und wirkten völlig neutral.

Sie nahm sie mit ins Bad und zog sie sich über den Kopf. Danach starrte sie die junge Frau im Spiegel an. Sie hatte sich nicht verändert, sie war noch immer Fatima, das war ihr sofort klar. Aber sie kannte sich ja aus dem Bad. Auch der Anblick ihres nackten Körpers war für sie selbst keine Überraschung. Trotzdem hätte es den Anderen die Sprache verschlagen, wäre sie am nächsten Tag ohne Kleidung in die Schule gegangen.

Und so ähnlich musste es mit den Haaren sein. Oder würde es am Ende niemandem auffallen?

Keine Frage, sie sah nackt und entblößt aus ohne das schützende Tuch. Hatte man ihr nicht erklärt, dass Männer lange Haare als erregend empfinden würden? Wenn sie jetzt jemand überfiel, angriff, belästigte, hatte sie ihn dann nicht provoziert?

Anna hatte sich auch immer diesen kurzen Hosen angezogen, die eng am Hintern saßen. Und als dann jemand zugriff, hatte da nicht auch ein Lehrer gesagt, dass sie sich in Zukunft etwas zurückhalten solle? Bestimmt würde man ihr das auch so erklären.

Andererseits, Gott hatte in seiner Weisheit sie so geschaffen, wie sie war. Und kein Mann war dazu bereit, seine Haare zu verhüllen. Hatte Samir nicht immer Unmengen von diesem süßlich riechenden Gel gekauft und es sich in die Haare geschmiert?

Außerdem erinnerte sie sich an das Drama, dass es gegeben hatte, als der Barbier ihm angeblich die Haare mit einem anderen Schnitt ruiniert hatte. Sie hätte ihm damals gerne eines ihrer Tücher geliehen. Doch schon eine entsprechende Bemerkung hätte vermutlich ein riesiges Theater nach sich gezogen, sodass sie die Worte für sich behalten hatte.

Ihr Blick wanderte kritisch über ihren Kopf. Das Band hielt die Haare zurück, man konnte es eher erahnen als sehen zwischen all den dunklen Locken. Was hatte die Welt gegen ihre Frisur?

Sie trat einen Schritt vom Waschbecken zurück, warf den Kopf nach vorne, dann in den Nacken. So hatte sie es in einem Film oder einem Werbespot gesehen, so sollte man die Haare in Form bringen. Allerdings half es wenig. Sie würde sich Gel, Haarspray oder etwas in der Art besorgen müssen. Oder sie würde mit dem eher wilden Look leben müssen.

Fatima wartete einen Moment, ehe der Schwindel in ihrem Kopf nachließ, dann betrachtete sie sich kritisch. Es würde ein schwerer Tag werden für sie, doch sie schwor sich, es wenigstens zu versuchen. Zur Sicherheit würde sie ein Tuch einstecken, das war für sie eine Art Rettungsanker. Den würde sie jedoch nur im Notfall benutzen, das nahm sie sich fest vor als sie ein herzhaftes Gähnen unterdrückte.

Kapitel 4

Vater sah sie kaum an, als er sich für das Frühstück an den Tisch setzte. Er brummte einen unverständlichen Gruß und widmete sich dann schweigend seinem Tee und dem Obst, das Mutter für ihn kleingeschnitten hatte. Auch Mutter sah Fatima nur kurz an und nahm dann ihre Tätigkeiten in der Küche auf, ohne ihr Erscheinungsbild näher zu kommentieren.

Langsam beruhigte sich Fatimas Herzschlag wieder. War es möglich, dass ihre Eltern sie derart wenig beachteten, dass ihnen nicht mal die offenen Haare auffielen? Am Ende sollte sie sich doch einfach ausziehen und nackt an den Tisch setzen.

Die ganze Nacht hatte sie immer wieder in ihrem Kopf durchgespielt, wie sie reagieren würden. Aber die Möglichkeit, dass man sie im Grunde völlig ignorierte, die hatte sie nicht in ihrer Vorstellungskraft entwickelt.

Fatima betrachtete den Teller vor sich, ihr Magen fühlte sich schwer und gefüllt an, sie hätte keinen Bissen hinunterbekommen, nahm nur einen Schluck Tee.

„Wir schreiben heute Politik“, sagte sie. Die Aussage war falsch, aber sie wollte etwas sagen, um das Schweigen zu brechen, das sich wie unsichtbares Gift über den Raum gebreitet hatte.

„Machst du schon“, kam die Antwort ihrer Mutter von nebenan. Es folgte das leise Klirren von Gläsern, die aneinanderschlugen. Ihre Eltern waren von ihr nur gute Noten gewohnt.

Fatima öffnete den Mund. Es konnte doch nicht sein, dass man auf ihr Erscheinungsbild nicht reagierte. Sie trug zwar eine Hose, die sie schon viele Male getragen hatte, auch die Bluse war nicht neu, aber auf ihrem Kopf, so hatte sie das Gefühl, explodierte das Leben förmlich. Und das sollte niemandem aufgefallen sein, schon gar nicht ihren Eltern? Das war ein Ding der Unmöglichkeit. Die Worte schienen einfach nicht aus ihrer Kehle zu kommen, sie blieben einfach stecken.

Was sollte sie auch sagen?

„Schaut mich mal an?“ „Fällt euch nichts an mir auf?“ „Hey, ich trage heute kein Kopftuch – wie findet ihr das?“

Aber sie blieb stumm, biss sich lediglich auf die Lippen, erhob sich und griff nach ihrer Tasche.

Im Treppenhaus atmete sie noch einige Male tief durch, dann fasste sie sich ein Herz, öffnete die Tür und trat ins Freie.

Sie hatte erwartet, dass irgendetwas passieren würde, aber alles blieb ruhig. Die Welt brach nicht aus den Angeln, die Frau mit den beiden Hunden, die auf dem Gehweg an ihr vorbeilief, nahm keinerlei Notiz von ihr. Kein Gesicht zeigte sich an einem der Fenster in den Häusern gegenüber, ein Auto fuhr mit deutlich zu schneller Geschwindigkeit vorbei, aber das lag nicht an ihren offenen Haaren, nicht einmal Fatima glaubte das.

Sie war wie immer früh aus dem Haus gegangen, um nicht die Bahn nehmen zu müssen. Die Sonne schickte sich an, die nächtlichen Regenwolken zu verscheuchen. Die Straße war noch immer nass, in der Nacht hatte es heftig geregnet. Auf der Straße lagen Laub und kleinere Zweige als stumme Zeugen von heftigen Winden.

Fatima genoss die frische Luft auf ihrem erhitzten Gesicht.

Einige Male kamen ihr Menschen entgegen, doch die Gesichter waren ihr fremd. Erst langsam verstand sie, dass sie auch in ihrer neuen Erscheinung niemandem auffiel, dem sie fremd war. Sie war eine völlig normale junge Frau auf dem Weg zur Schule.

Erst nach einer Weile bemerkte sie, dass sie sich am heutigen Tag deutlich langsamer der Schule näherte als sonst. Dort würden die Menschen sie kennen, mit Sicherheit auf sie reagieren, in welcher Weise auch immer.

Die erste wirkliche Reaktion erfolgte, als sie an der Hauptstraße um die Ecke bog. Sie hörte Schritte hinter sich, im nächsten Moment tauchte neben ihr ein vertrautes Gesicht auf.

Liane ging in die Parallel-Klasse. Fatima wusste nur, dass ihre Eltern aus Frankreich oder Belgien stammten und hier an der Uni arbeiteten. Sie sprach gut Deutsch, allerdings mit einem starken Akzent, der ihre Herkunft verriet. Sie war freundlich, klein, mit einem schmalen Gesicht und dünnen Beinen. In den letzten Monaten hatte sie allerdings ordentlich an Gewicht zugelegt. Sie war mit Hassan befreundet gewesen, aber sie hatten sich nach einer Weile getrennt, was sie auf irgendeine Art ziemlich verletzt haben musste. Fatima wusste jedoch nicht, was geschehen war, so etwas erfuhr sie einfach nicht.

Hin und wieder unterhielten sie sich auf dem Hof, ohne sich jedoch näher zu kennen.

„Hy, Fati“, sagte sie und lächelte so, dass sich das Sonnenlicht in ihrer Zahnspange reflektierte. „Ich habe dich noch nie mit offenen Haaren gesehen!“

Fatima fand es etwas irritierend, dass ihre Hand vorschoss und ohne jede Hemmung nach einer Locke griff.

„Sieht aber cool aus, ehrlich!“

Sie sagte das so freundlich und offen, dass Fatima ihr nicht mal böse sein konnte.

„Meine Haare sind immer so stumpf und langweilig, ich bin echt neidisch auf dich!“

Sie griff noch einmal nach ihren Haaren, entschied sich jedoch im letzten Moment dagegen. Fatima wusste nicht, was sie sagen sollte, doch eine Sekunde später wurde sie der Notwendigkeit einer Antwort enthoben.

Liane entdeckte irgendeine Freundin, stieß einen kleinen Schrei aus, vergaß Fatima von einer Sekunde auf die andere und stürzte quer über die Straße. Fatima hörte noch einen zweiten Aufschrei, der in etwa klang wie „alles Liebe zum Geburtstag“. Sogleich fielen sich die beiden Frauen in die Arme und kreischten eine Spur zu laut und zu nervig.

Immerhin, dachte Fatima, ich habe die Feuerprobe bestanden. Das ist doch ein erster kleiner Erfolg. Sie sah den Frauen noch einen Moment bei ihrer etwas albernen Aufführung mitten auf der Straße zu und spürte, dass sie dabei einen Hauch von Neid verspürte. Sie wäre nie so ausgelassen gewesen. Die beiden schienen, vielleicht echt, vielleicht gespielt, die Welt um sich herum vergessen zu können.

Fatima war stets darauf bedacht, nicht aufzufallen und ernst zu bleiben. Sie hatte den Eindruck, das hatte im Laufe der Jahre nicht nur Spuren auf ihrer Seele, sondern auch auf ihrem Gesicht hinterlassen. Natürlich war das in ihrem Alter lächerlich, aber der Eindruck bei ihr blieb bestehen.

Die erste Freude über die oberflächliche Bemerkung der Mitschülerin hielt nicht lange an, das klopfende Herz und der Druck in der Kehle steigerten sich mit jedem Schritt auf das Gebäude zu.

Auch heute steuerte sie, sobald sie sich dem großen, massiven, kastenförmigen Haus am Ende der Querstraße näherte, mehr und mehr auf die Seite des Gehwegs. Niemand sollte sie bemerken. Aber war das überhaupt möglich? Ihr war, als hätte sie auf ihrem Kopf eine große, leuchtende Flagge, als stände dort zwischen den Locken ein Trompeter, der ihr Kommen ankündigte.

---ENDE DER LESEPROBE---