Mit dem Herzen im Himmel - Olaf Hauke - E-Book

Mit dem Herzen im Himmel E-Book

Olaf Hauke

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Beschreibung

Barbara kehrt zurück in das Dorf ihrer Kindheit. Der Anlass ist traurig genug, ihr Vater ist verstorben. Allerdings ist er nicht einfach an einem Leiden oder bei einem Unfall sein Leben verloren, er hat sich in der Scheune erhängt. Barbara ist inzwischen eine erfolgreiche Anwältin, aber die Rückkehr in ihre Heimat reißt viele der alten Wunden wieder auf, die vor vielen Jahren in ihrer Seele vernarbten, aber unauslöschbare Spuren hinterließen. Ihre Schwester und ihr Schwager sind nicht sonderlich begeistert von ihrem Erscheinen. Vor allem geht um die Beerdigung und die Eröffnung des Testaments, um die ein Geheimnis gemacht wird. Einzig der Pfarrer des Ortes, ein alter Bekannter, steht an ihrer Seite. Es ist die Begegnung mit einer alten Liebe, von der sie bisher nichts ahnte. Als plötzlich ein Wagen Feuer fängt und ein Traktor sie um ein Haar über den Haufen fährt, beginnt Barbara zu ahnen, dass viele Dinge dunkler und rätselhafter sind, als sie sie sich vorgestellt hat. Die Menschen sind nicht die, für die sie sie gehalten hat. Sie begreift allmählich, wie sehr sie sich in jemandem, den sie vertraute, getäuscht hat – zu spät?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Ende

Mit dem Herzen im Himmel

Olaf Hauke

2024

Copyright 2024

Olaf Hauke

Greifswalder Weg 14

37083 Göttingen

Cover: ninikvaratskhelia

T. 01575-8897019

[email protected]

Kapitel 1

„Morgen ist der große Tag?“

Friedrich drückte seinen Rücken tiefer in den bequemen Stuhl, streckte die langen Beine Richtung Gehweg aus und schob sich die getönte Brille von der Nasenspitze über die Augen, da er in dieser Stellung mit dem Gesicht direkt in der Sonne saß. Er gähnte verhalten und machte den Eindruck, als hätte er sich der warmen, einlullenden Stimmung des Sommernachmittags angepasst.

Einmal in der Woche trafen sie sich in der Mittagspause hier in dem kleinen Café, das der Kanzlei direkt gegenüberlag. Ab dreizehn Uhr war für eine Stunde Siesta angezeigt, Barbara hatte in diese Zeit bewusst keine Termine gelegt.

Das Café lag ziemlich am Ende der Seitenstraße. Saß man bei schönem Wetter wie heute vor der Tür, konnte man bereits den Lärm der Hauptstraße hören, die hinter dem nächsten Block lag. Dort tobte der Verkehr von Hamburg, hier, kaum fünfzig Meter weiter, herrschte das sonnige Idyll eines schläfrigen frühen nachmittags und vermittelte für eine Stunde das Gefühl, man müsse sich um nichts in der Welt Sorgen machen.

Wie üblich hatte sich Barbara den überbackenen Käse und einen gemischten Salat bestellt, den sie wie immer bis auf die kleinen, überwürzten, getrockneten Tomaten verspeist hatte. Nun saß sie bei einem schwarzen Kaffee mit ihrem Bekannten und genoss einen Moment der Ruhe.

„Ja, ab morgen habe ich zwei Wochen Urlaub“, sagte sie und grinste verstohlen in ihre Tasse.

Friedrich zog seine lange Gestalt ein Stück in die Höhe und sah sie unvermittelt über den Rand seiner Sonnenbrille an. Er hatte im Laufe des Essens bereits einige spöttische Bemerkungen fallenlassen, sowohl, über ihren Urlaub als auch über den Zweck ihrer Reise. Doch nun wurde er mit einem Schlag ruhig und ernst, sein Gesicht bekam diesen festen Ausdruck, der wirkte, als wolle er aus einer Akte ein Urteil zitieren.

„Du solltest es dir noch einmal überlegen“, sagte er, jedes Wort betonend.

„Du meinst, ob ich Urlaub nehme?“ fragte Barbara, obwohl sie genau wusste, was er meinte. Aber sie versuchte, sich mit Ironie und Humor der unangenehmen Frage zu entziehen.

Friedrich hielt ihrem Blick stand. Er wurde langsam alt, dachte sie. An den Schläfen waren deutlich hervortretende Adern zu erkennen, das Haar lichtete sich bedenklich und färbte sich langsam grau. Auch um den Mund hatten sich runde Falten gebildet, so, als hätte man dort zwischen den Lippen einen Stein ins Wasser geworfen. In den letzten Jahren hatte er zu viel gearbeitet, zu wenig gelebt. Die Scheidung, die Trennung von den Kindern, all das hatte ihn nicht nur verletzt, es hatte ihn zu einem anderen Menschen, einem älteren Mann werden lassen. Nicht schlagartig, nicht über Nacht, aber in mächtigen, unaufhaltsamen Schritten. Sein Verstand war jedoch noch genauso stark und jugendlich wie vor zwanzig Jahren, als sie sich an der Uni kennengelernt hatten, als sie für eine Weile als eine Art Traumpaar gegolten hatten – der Charmeur, dem alles leicht zuzufliegen schien und die Streberin, die sich mit zusammengekniffenen Lippen zu einem Einser-Examen kämpfte.

Wo war die Zeit hin?

„Unsinn, natürlich solltest du Urlaub nehmen, gar keine Frage: zwei Wochen Kreta – in diesem Luxus-Resort, in dem der Alte letztes Jahr war und ständig die Fotos von sich und der Blondine im Bikini geschickt hat. Ein Anruf genügt, du bekommst bestimmt noch einen Platz.“

Er lachte, als hätte er einen besonders guten Scherz gemacht. Allerdings musste auch Barbara schmunzeln, als sie an die Bilder dachte, die in allen Büros des Gebäudes die Runde gemacht hatten. Bis heute hielt Barbara die Schnappschüsse, die der Senior gemacht hatte, für gestellt. Sie hatte heimlich nach der Frau gegoogelt und herausgefunden, dass sie in dem Hotel als Animateurin arbeitete. Natürlich wäre es der Witz aller Zeiten gewesen, wenn sie ebenfalls in das Hotel gefahren wäre und Fotos von sich und der hübschen Blondine ins Büro geschickt hätte.

Entweder hätte es Doktor Lange umgebracht oder er hätte sein Versprechen zurückgezogen, sie spätestens im nächsten Jahr zur Partnerin zu ernennen.

Im Falle einer Entlassung wäre sie bei Friedrich untergekommen, der sich einige Jahre zuvor selbstständig gemacht hatte.

Aber weder würde der Alte sie entlassen noch würde sie nach Kreta fliegen, das Gedankenspiel war somit hinfällig, höchstens erheiternd in der Aussicht auf eine düstere Zeit.

Entschlossen leerte Barbara ihre Tasse. Wäre es nicht früher Nachmittag gewesen, sie hätte Lust auf einen Cognac gehabt. Sie griff zu dem Päckchen mit ihren Zigaretten.

„Die Zweite nach dem Essen“, stellte Friedrich fest und schob mit einer leicht übertriebenen Geste die Sonnenbrille nach oben. Automatisch wanderte Barbaras Blick in den kleinen Ascher, in dem ein zerdrückter, heller Filter lag und sie anklagend anschaute.

„Wenn ich ein Seminar suche, frage ich bei der Volkshochschule an“, gab sie schnippisch zurück, nahm einen tiefen Zug und lehnte sich ebenfalls zurück. Die Ärmel der weißen Bluse erwärmten sich zunehmend. „Außerdem ist Kreta zu heiß um diese Jahreszeit“, schob sie hinterher, um von ihrer Sucht abzulenken.

Friedrich ließ einen Augenblick verstreichen, ehe er antwortete.

„Es gibt gute Gründe dafür, warum du damals die Flucht aus diesem Kaff ergriffen hast. Und diese Gründe gelten noch heute fort. Du kannst jederzeit einen fähigen Kollegen beauftragen, dort in dem Nest deine Interessen zu wahren. Ich könnte dir sofort mindestens zwei Namen nennen. Du zahlst ihr Honorar aus deinem Erbteil, nimmst den Rest und denkst noch einmal über Kreta und die hübsche Blondine nach.“

Er lachte erstaunlich einfältig, wie es auch bei klugen Männern der Fall war, wenn attraktive Frauen ins Spiel kamen. Manchmal hatte sie das Gefühl, als würde dann für eine Sekunde hinter der älteren Fassade ein anderer Mensch um die Ecke schauen, der sich sofort wieder zurückzog, sobald er das Sonnenlicht wahrnahm.

„Wenn überhaupt suche ich mir einen attraktiven Griechen“, konterte sie. „Ich suche mir vor allem einen, der nicht meine Zigaretten nachzählt. Abgesehen davon habe ich vor, mich meinen Geistern zu stellen – so eine Art Geisterjägerin auf den Spuren ihrer eigenen Vergangenheit.“

Sie hatte albern klingen wollen und war nun über ihre eigenen Worte überrascht. In der Luft hing dieser harte, aber angenehme Geruch nach warmem Asphalt.

„Da schau her, die Frau Anwältin Schrägstrich Notarin wird auf ihre alten Tage noch poetisch.“

Auch Friedrich hatte versucht, einen Scherz zu machen. Auch ihm war er missglückt, denn seine Mundwinkel blieben gesenkt. Mit dem Schrägstrich spielte er jedoch auf die Prüfung an, die Barbara vor einigen Monaten erfolgreich absolviert hatte. Der Titel hatte ihr neben einem zusätzlichen Einkommen einen Eintrag auf dem goldenen Schild der Kanzlei im Eingang eingebracht, eine Tatsache, die Friedrich immer wieder zu spöttischer Bewunderung mit entsprechenden Bemerkungen hinriss. Er hatte nie den Mut gehabt, diesen Weg zu gehen.

Friedrich streckte wieder seine Füße Richtung Gehweg. Ein Augenblick der Stille trat zwischen sie. Barbara nahm sich ihre eigene Sonnenbrille aus ihrer kleinen Umhängetasche, der Schatten war inzwischen ein Stück weitergewandert, die Sonne blendete nun auch sie.

Alles war hier so warm und vertraut. Ihr Blick wanderte zu dem großen Altbau auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Obwohl die Fenster ihres Büros Richtung Hof gingen, hatte sie doch das Gefühl, sie konnte durch die blassgraue, kaum verputzte Wand schauen und ihren Schreibtisch und ihr Bücherregal sehen.

Es war in den letzten Jahren mehr oder weniger zu einem zweiten Zuhause geworden. Im Gegensatz zu Friedrich hatte sie ihre Scheidung gut überstanden, aber weder sie noch Lennart waren finanziell voneinander abhängig gewesen, es hatte auch keine Kinder gegeben, nur einen altersschwachen Hund, der wenige Wochen nach der Trennung verstorben war.

Sie besaß eine kleine, aber schicke und modern möblierte Wohnung, die nur knappe fünfzehn Minuten von der Kanzlei entfernt lag.

Nein, dachte sie, es geht mir tatsächlich nicht um das Geld, wenn ich diese Reise in die Vergangenheit antreten werde. Sie hätte ihrer Sekretärin einen Dreizeiler diktieren können, in dem sie ihren Verzicht erklärte. So einfach wollte sie es jedoch sich und ihrer Umwelt nicht machen.

„Du bist geistig schon unterwegs, was?“

Friedrichs Stimme drang in ihr Bewusstsein und ließ sie aufschrecken. Sie riss ihren Blick von dem hohen Gebäude los und sah, dass die Asche ihrer Zigarette auf den Tisch vor ihr gefallen war. Hastig drückte sie sie aus, da sie an den Fingern schon die Hitze der Glut spüren konnte.

„Was?“ Sie sah ihn erschreckt an.

„Eigentlich hatte ich nur gefragt, ob ich dich morgen Früh zum Bahnhof bringen soll?“ Friedrich wusste, dass Barbara keinen eigenen Wagen besaß. Hier in der Innenstadt, wenn auch Randbezirk, waren freie Parkplätze so selten wie verlorene Goldmünzen zu finden.

„Oh, nein, nein, mit dem Zug wäre es viel zu umständlich. Ich müsste vier oder fünf Mal umsteigen. Ich habe mir während meines Urlaubs eines der Fahrzeuge der Kanzlei genommen.“

Friedrich lachte auf. „Das sind doch noch die großen BMWs. Damit wirst du auf jeden Fall Eindruck schinden.“

Er warf einen Blick auf die Uhr, es war höchste Zeit, dass sie sich wieder an die Arbeit machten. Barbara hatte noch zwei Termine auf den Nachmittag und frühen Abend gelegt. Das Packen ihres Koffers würde ihr leicht von der Hand gehen und musste später erfolgen. Auch Friedrich hatte etwas von einem Mandanten erzählt.

Sie erhoben sich, Barbara reichte der Bedienung ihre Kreditkarte. „Wenn du etwas brauchst oder ein Problem hast“, sagte er, während sie die Quittung unterschrieb, „ruf mich auf jeden Fall an, klar?“

Er sah hoch. Trotz der Sonnenbrille konnte Barbara erkennen, dass er früher oder später damit rechnete.

Kapitel 2

Zum Abendbrot baute sich Barbara auf dem Wohnzimmertisch all die Reste auf, die ihr kleiner Kühlschrank noch zu bieten hatte. Vor ihr ergab sich daraus eine merkwürdige Mischung aus einem Rest Reis, einigen sauer eingelegten Gurken, einer Scheibe Graubrot, einem Päckchen Salami-Scheiben und zwei Bechern Joghurt.

Sie holte den Koffer aus dem Schlafzimmer, suchte sich eine entspannende Playlist von ihrem Mobil-Telefon und aß im Vorbeigehen, während sie den Koffer mit flinken, aber sorgfältigen Fingern füllte.

In den letzten Jahren hatte sie immer wieder Schulungen außerhalb Hamburgs besucht, das Packen war für sie zu einer Routine geworden.

Die Wohnung, die sie vor einigen Jahren gekauft und mittlerweile fast abbezahlt hatte, lag verkehrsgünstig und bot eine freundliche Aussicht über den angrenzenden Park. Sie hatte sie eigentlich zur Geldanlage gekauft, aber nach der Scheidung war sie für sie quasi über Nacht zu einer Zuflucht geworden.

Die Möbel waren praktisch und geschmackvoll, stammten zu einem Gutteil von einem örtlichen Designer, auf den sie aufmerksam geworden war, ehe er bekannt wurde und seine Möbel nicht mehr bezahlbar geworden waren.

In diesen Dingen habe ich ein Händchen dachte sie und schloss den Koffer. Morgen Früh würde sie ein Taxi zur Kanzlei fahren, von dort nahm sie den Wagen, den man ihr zur Verfügung gestellt hatte.

Ich bin strukturiert, kann planen, alles hier hat seine Ordnung, genau wie im Büro. Und trotzdem fühlte sie sich in der Wohnung mit all ihrer schicken, teuren Einrichtung im Moment seltsam verloren und still. War es die Angst vor dem, was sie erwarten würde?

Sie sah sich noch einmal um, die Essensreste waren verspeist, nur eine halbvolle Tüte Chips war geblieben. Sie nahm sich ein Glas von dem milden Weißwein, ging mit Zigaretten und der Tüte auf den kleinen Balkon und setzte sich auf den einsamen Stuhl, der dort stand. Den zweiten Stuhl hatte sie irgendwann beiseitegestellt, sie brauchte ihn eh so gut wie nie.

Sie konnte den Park von hier aus beobachten, nippte an ihrem Glas und zündete sich eine Zigarette an. Zwischen den hohen Bäumen mit den runden Kronen sah sie abendliche Spaziergänger mit Hunden auf den breiten Wegen, Jogger und hektische Radfahrer, die in den Feierabend strampelten. Es roch mild und nach süßlichem Blütenstaub. In zwei oder drei Wochen würde es tagsüber hier auf dem Balkon fast unerträglich heiß werden, aber jetzt im Frühsommer war es der schönste Platz, den sich Barbara im Augenblick vorstellen konnte.

Normalerweise verließ sie den Stuhl nach einer Zigarettenlänge, aber heute verspürte sie nicht die geringste Lust auf irgendeine weltfremde Serie oder einen Film. Sie war mit sich alleine, gleichzeitig zufrieden über das Erreichte und belastet mit einem inneren Druck, einer dunklen Leere, die sich bereits seit einigen Tagen in ihr breitgemacht hatte, je näher die Abfahrt rückte.

Sie hörte das Schreien eines Kindes, das Gebell von Hunden schwang durch die Luft und verlor sich in der blauen Weite des Himmels. Eine kleinere Wolke schob sich vor die Sonne und verhalf dem Abend zu einer angenehmen Kühle.

Wieder erinnerte sie sich an den merkwürdigen Anruf, den ihre Sekretärin zu ihr durchgestellt hatte. Es kam immer mal wieder vor, dass die Polizei anrief, aber zum ersten Mal war es nicht um einen Mandanten gegangen, nicht um eine Untersuchung, sondern um sie.

Der Mann hatte seltsam sperrig geklungen. Normalerweise war sie die etwas umständlichen Formulierungen der Beamtinnen und Beamten gewohnt, aber in diesem Fall schienen ihm im wahrsten Sinne des Wortes genau diese festgefahrenen Worte, die wie graue Steine klangen, zu fehlen.

Sie erinnerte sich, wie sie nach dem Telefonat wortlos aufgestanden und aus dem Büro gegangen war. Sie musste ausgesehen haben wie eine wandelnde Leiche.

Sie war einfach in das Büro von Doktor Lange spaziert, hatte, zumindest nach ihrer Erinnerung heute, nicht einmal geklopft.

Der Senior war in einem Gespräch gewesen, sie hatte kaum die Anwesenheit der anderen Person bemerkt. Erst hatte sich sein Gesicht wütend verzogen, denn er hasste es, in Gesprächen gestört zu werden, genauso wie er es hasste, wenn man zu klopfen vergaß. Aber sie musste so bleich und fahl ausgesehen haben, dass er nach einer Schrecksekunde aufgesprungen war.

„Was ist denn los?“ hörte sie noch jetzt seinen dunklen Bass an ihrem Ohr.

„Mein Vater ist tot“, hatte sie einfach gesagt. „Die Polizei hat mich gerade kontaktiert. Man hat ihn in der Scheune gefunden.“

Der Tod schiebt eine seltsame, gläserne Mauer zwischen die Menschen.

Sie konnte sich bis heute nicht wirklich an die folgenden Minuten erinnern. Vermutlich hatte der Senior sein Gespräch sofort abgebrochen. Er hatte ihr irgendeinen Schnaps gegeben, der wie Feuer in ihrer Kehle gebrannt hatte.

Sie erinnerte sich, dass ihr Kopf beständig um die gleiche Frage gekreist war: Sage ich es ihm oder nicht? Aber sie musste es, da war sie sich heute sicher, für sich behalten haben.

Wie war sie zurück in ihr Büro gekommen? War sie lange dortgeblieben? Sie konnte diese Fragen heute nicht mehr beantworten.

Irgendwann war Friedrich aufgetaucht. War es noch im Büro oder schon in ihrer Wohnung gewesen? Normalerweise hatte sie keine Aussetzer in ihren Gedanken, konnte die Dinge klar und ruhig betrachten, als ginge sie durch einen Zoo und betrachtete die verschiedenen Tiere hinter Gittern und Glasscheiben. Doch in diesen Stunden war alles anders gewesen, jede Logik war außer Kraft gesetzt worden.

„Die Polizei sagt, dass man ihn gefunden hat – er hat sich an dem Balken in der Scheune mit der Winde vom Flaschenzug erhängt“, war es aus ihr hervorgebrochen.

Mutters Tod war drei Jahre her gewesen, das hatte sie damals, warum auch immer, nachgerechnet. Sie hatte Krebs gehabt, alles hatte nur wenige Wochen gedauert. Und nun war auch Vater tot. Nur hatte er keine Krankheit gehabt, keinen schweren, unabwendbaren Unfall mit dem Auto oder Rad, sondern er war bewusst und vermutlich durch die eigene Hand gestorben.

Friedrich musste etwas gesagt haben, vielleicht auch etwas getan. Aber was, auch daran fehlte ihr bis heute jede Erinnerung.

Schwer und mit steifem Rücken schreckte sie hoch. Kleine Lichter flitzten durch die Dunkelheit des Parks, wurden von Baumkronen verschluckt und unvermittelt wieder ausgespuckt. Hatte sie geschlafen oder hatten die Erinnerungen ihr das Bewusstsein für das Hier und Jetzt geraubt?

Ein Hund bellte, brachte mit einem Schlag Barbara in die Gegenwart zurück. Sie rieb sich müde die Augen. Der Tag war lang gewesen, sie brauchte dringend etwas Schlaf. Morgen hatte sie eine lange Fahrt vor sich, sie war keine routinierte Fahrerin.

Sie räumte noch kurz die Sachen vom Balkon, schloss die Tür und ging danach ins Bad. Um einen unruhigen Schlaf zu verhindern, schluckte sie eine Tablette und schaltete ihr Mobiltelefon, das sich den ganzen Abend ihr gegenüber freundlich und still gezeigt hatte, auf den Flugmodus.

Sie unterdrückte ein Gähnen und ließ sich ins Bett fallen.

Normalerweise genoss sie die Stille in ihrem Schlafzimmer nach einem langen Arbeitstag, heute jedoch zerrten die fehlenden Geräusche an ihren Nerven.

Zum Glück tat die Chemie bald ihre Wirkung. Allerdings verfolgten die Bilder ihres toten Vaters, die sie nur aus ihrer Vorstellung kannte, sie in dieser Nacht in allen Träumen.

Kapitel 3

Barbara hatte eine Schwäche für schöne Hotels. Nach einer langen Fahrt, unterbrochen von zwei Staus, die sie eine gute Stunde gekostet hatten, war sie schließlich von ihrem Navigationsgerät auf den großen, gut ausgebauten Parkplatz hinter dem freundlichen, ausladenden, erstaunlich niedrigen Gebäude angekommen.

An die Vorstellung, in ihrem Elternhaus zu übernachten, in dem ihre Eltern gestorben waren, jeder auf seine eigene, elende Weise, hatte sie keinen Gedanken verschwendet. Abgesehen davon besaß sie keine Schlüssel. Entweder lagen die bei ihrer Schwester oder bei dem Anwalt, der mit der Abwicklung der Erbschaft betraut worden war.

Maria! Auch von ihr hatte sie lange nichts gehört. Sie erinnerte sich an Kurznachrichten, die sie automatisch zu den Festtagen oder an Geburtstagen verschickte. Nach Vaters Tod hatten sie genau zweimal telefoniert. Sie hatten sich nicht gestritten, trotzdem hatten die Gespräche bei Barbara ein unangenehmes Gefühl hinterlassen. Natürlich ging es um Geld. Barbara wusste, dass ihre Schwester verheiratet war, zwei Kinder hatte, die neun und zwölf Jahre alt waren. Sie kannte auch ihren Schwager, einen großen, rotgesichtigen, lauten Mann mit schütteren Haaren und einem runden Gesicht. Sie hatte mit ihm damals auf dieser Hochzeit kurz geredet, vielleicht danach noch ein oder zwei Mal bei irgendwelchen anderen Festen, an die sie sich nicht mehr recht erinnern konnte.

Sie würde Maria wiedersehen, vielleicht auch ihren Mann und die Kinder. Seltsamerweise ließ sie diese Überlegung leer. Es ging weder um ihre Schwester und schon gar nicht um Geld. Vermutlich konnte Maria das eher gebrauchen als sie. Sie wohnte nach wie vor hier in der Nähe des Elternhauses, hatte dort ein Haus gebaut. Inwieweit sie sich verschuldet hatte, darüber konnte Barbara nur spekulieren. Es hatte sie bis zum heutigen Tage nicht sonderlich beschäftigt.

Es hatte eine Zeit als Kinder gegeben, da waren sie, zumindest lauteten so die Erzählungen, unzertrennlich gewesen. Das Teenager-Alter hatte sie getrennt, warum auch immer. Der große Streit war ausgeblieben, die Trennung war eher wie ein schleichendes Gift gewesen. Maria war damals hübsch gewesen, umschwärmt von Jungen, die sie mit ihren Mopeds in die Discos der Umgebung mitgenommen hatten. Sie hatte geflirtet, Kleider getragen, gelacht, war auf Partys der Mittelpunkt gewesen mit ihren Locken, den Sommersprossen, dem ständigen Reden, den langen, schlanken Beinen, die in den engen Jeans gesteckt hatten.

Barbara war schon damals viel ruhiger gewesen. Die Schule hatte sie wirklich interessiert, vor allem Fächer wie Mathematik oder Chemie, auch wenn sie im Nachhinein in eine ganz andere Richtung gegangen war. Alles Logische, Saubere, Geordnete hatte sie angezogen. Und sie war nie so hübsch gewesen wie Maria, kleiner, stämmiger, stiller. Mit ihr war niemand in die nächste Disco gefahren, höchstens eine Schulfreundin. Und an diesen Abenden hatte sie mehr oder weniger allein in einer Ecke gestanden und gebetet, der Abend möge so schnell wie möglich vorbeigehen, die dröhnende Musik aus ihren Ohren verschwinden, die Luft wieder klarer, die Menschen weniger hektisch und überdreht.

Barbara schüttelte die Gedanken ab wie ein nasser Hund das Wasser aus seinem Fell. Mit dem Rollkoffer hinter sich betrat sie den Eingang des Hotels, wurde freundlich begrüßt und mit den Annehmlichkeiten des Hauses vertraut gemacht. Sie buchte einen Aufenthalt in der Sauna, später ein Abendessen.

Die Lobby hielt das, was das Äußere des Hotels versprochen hatte. Alles war neu, modern, klar. Einrichtung und Dekoration waren in hellgrau und weiß gehalten, sehr sauber und außerordentlich angenehm strukturiert. Es war die saubere Ordnung, die die Anwältin so schätzte und in der sie sich wohlfühlte. Hier war alles berechenbar, es gab keine Flaschenzüge, an denen tote Körper baumelten.

Das Haus verfügte lediglich über zwei Etagen, Barbara erreichte ihr Zimmer direkt von der Rezeption aus. Auch hier war alles so, wie sie es sich erhofft hatte. Es roch angenehm mild, das Bad verfügte neben der Dusche über eine große Eck-Wanne, frisch geputzt und glänzend.

Neben dem Bett gab es eine Sitzgarnitur und einen Schreibtisch. Barbara, die von allen Mitarbeitern der Kanzlei beschworen worden war, sich keine Arbeit mit in den Urlaub zu nehmen, checkte trotzdem Handy und Tablet, schickte danach zwei kurze Nachrichten an ihre Sekretärin und packte anschließend ihren Koffer aus.

Morgen Früh würde Frau Wiesener darüber lästern, dass ihre Chefin sofort nach ihrer Ankunft geschrieben hatte. Schon allein das war eine kurze Nachricht wert, wie Barbara sich mit einem zufriedenen Grinsen gestand.

Sie zog sich um und beschloss, die getragene Kleidung in die Hotelreinigung zu geben. Nichts war schöner, als wenn sie bei ihrer Heimkehr einen Koffer mit sauberer Kleidung dabeihatte, die sofort in den Schrank wanderte. Sie schickte noch eine Kurznachricht an Friedrich, dass sie heile angekommen sei und das Hotel ihren Erwartungen entspräche.

Die Antwort kam bereits eine Minute später, so, als hätte Friedrich an seinem Mobiltelefon geradezu auf ihre Nachricht gelauert. Sie antwortete mit einer kurzen Albernheit und beschloss, das Telefon für heute auszuschalten.

Der Wellnessbereich lud zur Entspannung ein. Barbara hatte den Bademantel des Hotels genutzt und sich für einen Kräuteraufguss entschieden. Die Kabine hatte sie für sich alleine.

Barbara nahm sich eines der Nackenkissen, schloss die Augen und genoss die angenehm duftende Wärme, die sie einhüllte wie eine zweite Haut.

Sie vergaß das Elternhaus, die Schwester, das Erbe und erinnerte sich an frühere Hotelaufenthalte, die sie gleichfalls genossen hatte. Es gab Nachteile, wenn man alleine lebte und mit der Arbeit verheiratet war. Aber dieses Leben hatte auch Vorteile. Und einer davon war, dass man sich diese Augenblicke leisten konnte.

Kichernd erinnerte sich Barbara an das Abenteuer mit diesem Vertriebsleiter, das ebenfalls in einer Sauna begonnen und nur eine Nacht gedauert hatte. Er war ein großer, gutaussehender Kerl gewesen, der extra seinen Ehering abgenommen hatte. Vielleicht hätte er sie auch nie beachtet, aber in dieser Nacht waren sie beide einsam gewesen und hatten ein schnelles, flüchtiges Abenteuer wie einen Rausch gesucht.

Einige Dinge von ihr würde der Rest der Welt niemals über sie erfahren überlegte sie sich und war mit diesem Gedanken mehr als zufrieden. Im Gegensatz zu ihm hatte sie niemanden betrogen.

Das Abendessen bestärkte sie in ihrer positiven Meinung über das Hotel, in dem sie abgestiegen war. Es war leicht, frisch zubereitet, wurde von einem exzellenten Wein begleitet und freundlich serviert. Auch im Restaurant waren nur wenige Gäste, anscheinend hatte das Haus derzeit keine Saison. Das war Barbara nur Recht, sie genoss die Ruhe und entschloss sich schließlich entspannt und mit gefülltem Magen auf ihr Zimmer zu gehen.

Sie unterdrückte ein Gähnen, der morgige Tag würde anstrengend genug werden. Das Hotel lag ungefähr zehn Minuten entfernt von dem Dorf, in dem ihre Eltern gelebt hatten.

Ihr Blick streifte die Uhr hinter der Rezeption. Morgen Früh um halb zehn hatte sie den Termin mit dem Anwalt. Sie hatten sich vor ihrem Elternhaus verabredet. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie nicht wusste, wer sonst noch zu diesem Termin erscheinen würde.

Sie ignorierte das leichte Ziehen im Magen, das sie in den letzten Stunden völlig zur Seite hatte schieben können. Sie war nicht hier, um die Sauna zu besuchen oder einen charmanten Mann für eine Nacht kennenzulernen. Sie war hier, um sich den Geistern ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen.

Kapitel 4

Auch in dieser Nacht hatte ihr eine Tablette geholfen, um schnell und tief in den Schlaf zu finden. Vielleicht war es auch einfach die Müdigkeit nach dem langen Tag gewesen. Sie duschte sich und zog sich betont schlicht an, nur eine einfache Jeans und einen leichten Pullover mit Kapuze. Barbara hatte eine Weile überlegt und sich dann gedacht, dass es sinnvoller war, nicht als Anwältin aufzutreten. Sie packte eine kleine Tasche mit Dingen wie ihrem Mobiltelefon und Zigaretten, einer Packung Kaugummis und anderen nützlichen Dingen.

Als sie das Frühstücksbuffet betrachtete, stellte sie fest, dass sie, trotz des Unbehagens, hungrig war. Also gönnte sie sich zwei Becher Kaffee, eine Portion Rührei und einige belegte Brötchen. Und das, obwohl ich mit meiner schlanken, attraktiven Schwester in Konkurrenz treten muss, dachte sie mit einem schiefen Grinsen.

Im Gegensatz zum Restaurant war der Frühstücksraum gut gefüllt. Die meisten Gäste schienen Geschäftsleute zu sein mit den typischen Anzügen, Tablets und teuren After-Shaves.

Barbara überlegte, ob sie sich noch einen weiteren Kaffee gönnen oder lieber auf der Terrasse vor dem Raum eine Zigarette rauchen sollte, als jemand an ihren Tisch trat und einen Schatten über den leeren Teller warf.

Der Mann musste so um die Dreißig sein. Er war dünn mit einer kleinen, runden Brille und starken Gläsern, hinter denen nervös die Augen blinzelten. Er trug einen dezent gestreiften, dunklen Anzug mit hellem Hemd und lindgrüner Krawatte, die jedoch eher schlampig gebunden war. Darin hatte er anscheinend wenig Erfahrung. Auch das Sakko wies zu viele Falten auf, was auf eher mindere Qualität hinwies.

Seine Haare waren voll und sorgfältig nach hinten gebürstet, sahen durch das viele Gel aus wie eine Art Sturzhelm, der fest über seinen abstehenden Ohren klebte. Seine Lippen bildeten einen schmalen Strich, als er sie betrachtete, seine etwas zu hohlen Wangenknochen zuckten leicht.

„Frau Klammroth?“ fragte er. Als Barbara nicht sofort antwortete, fuhr er ein wenig zu hastig fort. „Entschuldigen Sie, aber die Dame an der Rezeption hat gesagt, Sie wären…“

Barbara musste etwas schmunzeln. „Es ist kein Geheimnis, dass ich Barbara Klammroth bin“, sagte sie ruhig. „Was kann ich für Sie tun?“

„Breitenbach, äh, Sebastian Breitenbach. Wir hatten telefoniert.“

„Ah ja, der Kollege hier vor Ort.“ Sie lächelte noch eine Spur breiter, das schien jedoch nicht seine Nervosität zu mildern. Sie machte eine einladende Handbewegung in Richtung des Stuhls ihr gegenüber. „Ich dachte, wir sind vor meinem Elternhaus verabredet?“ Sie versuchte, ihre Stimme auch bei der Erwähnung ihrer Eltern neutral zu halten. „Bis dahin sind es noch fast zwei Stunden.“

Der junge Mann sah sich um, als hätte er Angst, bei einem verbotenen Treiben erwischt zu werden.

„Nun ja, Sie sind eine bekannte Kollegin, die Kanzlei Langer ist ja weit über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannt.“

Barbara verstand den Hinweis. Ein junger Kollege aus der Provinz, der versuchte, den einen oder anderen Kontakt aufzubauen: Netzwerkbildung für Anfänger.

„Hören Sie, ich will hier keine Sonderbehandlung. Ich bin nicht hier, um irgendeinen Vorteil…“

„Nein, nein, so habe ich das natürlich nicht gemeint, ich…“

Barbara überlegte. „Ich hole mir noch einen Kaffee. Nehmen Sie sich doch auch einen, wenn Sie mögen.“

„Aber ich bin kein Gast des Hotels“, kam die postwendende Antwort.

„Na, das buchen wir mal unter dem Konto der allgemeinen Bewirtung“, sagte sie lachend und erhob sich.

Als sie wieder saßen und der junge Mann einen Schluck aus seiner Tasse genommen hatte, schien er sich ein wenig gesammelt zu haben.

„Wir müssen auch die Formalien wegen der Beerdigung regeln“, sagte er und zog aus seiner Tasche ein Notebook, das bereits einige Jahre auf dem Buckel zu haben schien. Um sie herum nahm das Stimmengewirr immer mehr zu, Barbara vermutete einen Reisebus, der soeben eingetroffen sein musste.

---ENDE DER LESEPROBE---