0,99 €
Auf der Suche nach ihren Träumen kämpft sich die Studentin Vanessa von einem Job zum nächsten. Nichts scheint ihr wirklich zu liegen, kein Talent in ihr zu schlummern. Als sie jedoch das erste Mal auf der Bühne einen Zauberer sieht, ist sie maßlos von sich überrascht. Sie durchschaut beinahe jeden Trick des Magiers und setzt nun alles daran, einen Job als Assistentin zu erhalten. Unerwartete Hilfe erhält sie dabei von dem attraktiven Silvio, der ihr fortan nicht mehr aus dem Kopf geht. Mit der Zeit bemerkt Vanessa, dass sie tatsächlich über magische Hände verfügt, die die perfekte Illusionen schaffen können und anscheinend viele Jahre darauf gewartet haben, diese Bestimmung zu finden. Als ihr Mentor überraschend stirbt, soll sie die Show übernehmen. Silvio steht Vanessa zur Seite, doch andere wollen sie nicht auf der Bühne sehen. Ein dramatischer Kampf um ihre Liebe und ihr Leben startet. Als die Gondel, in der sie eingeschlossen ist, zu brennen beginnt und kein Trick der Welt ihr mehr helfen kann, scheint alles zu Ende zu sein ...
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
Inhaltsverzeichnis
Bezaubernde Vanessa
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Ende
Olaf Hauke
2015/2023
Copyright Olaf Hauke
Greifswalder Weg 14
37083 Göttingen
01575 889 7019
Cover: pixabay
„Wenn es dir nichts ausmacht, könntest du nachher noch die Blumen gießen, ehe du gehst?“
Vanessa hörte die Stimme von Frau Gerhardt, während sie, über die Toilettenschüssel gebeugt, sich bemühte, die Flecken von der Plastikbrille zu entfernen. Wobei sie jeden Gedanken daran verdrängte, aus was diese Flecken im Einzelnen bestanden. Sie legte die Klobürste beiseite und drehte sich um. Frau Gerhardt hörte nicht mehr besonders gut, sie musste deutlich sprechen und sich in die richtige Richtung drehen. „Mache ich gern, kein Problem“, rief sie.
Die Antwort kam prompt. „Was? Warum ist das ein Problem?“
Mit einem Aufseufzen ging Vanessa ins Wohnzimmer.
Frau Gerhardt saß inmitten einer riesigen Sammlung von Stofftieren auf ihrem Sofa und sah Vanessa irritiert an. „Nein, das ist kein Problem“, wiederholte sie mit einem milden Lächeln. „Ich kümmere mich gleich darum.“
Frau Gerhardt nickte zufrieden und drückte sich wieder ein wenig tiefer in den Berg ihrer Stofftiere. Sie vertiefte sich in ihre Zeitschrift, die reißerisch die neusten Dramen in den Königshäusern der Welt ankündigte. Seit ihrem Schlaganfall konnte sie sich nur noch sehr eingeschränkt bewegen. Vanessa kam zweimal die Woche zu ihr, um die groben Arbeiten im Haushalt zu verrichten, die Toilette und die Dusche zu putzen, Staub zu wischen, aufzuräumen und Besorgungen zu erledigen. Die Arbeit war ziemlich anstrengend, aber Frau Gerhardt war eine freundliche Frau und zahlte einen überaus großzügigen Stundenlohn.
Sie nahm wieder die Bürste zur Hand und schrubbte die Innenseite der Toilette. Ein scharfer Geruch nach Zitrone drang in ihre Nase. Seit vier Monaten arbeitete sie nun hier. Sie hatte noch zwei andere Stellen, mit denen sie sich finanziell über Wasser hielt. Offiziell galt sie zwar nach wie vor als Studentin, aber von der Universität hatte sie sich schon längst verabschiedet. Vielleicht war sie einfach nicht zur Germanistin geboren. Sie und die Universität hatten sich kennengelernt und festgestellt, dass sie nicht füreinander geschaffen waren. So einfach war es — und so kompliziert. Denn Vanessa fehlte eine zündende Idee, was sie aus ihrem Leben machen wollte. Dabei war sie bestimmt nicht faul, immerhin ging sie, wenn sie alle Arbeitsstellen zusammenzählte, fast dreißig Stunden die Woche putzen. An den meisten Abenden war sie derart erledigt, dass sie vor dem Fernseher einschlief. Und das mit sechsundzwanzig Jahren. Was würde aus ihr erst werden, wenn ich fünfzig war? Ein wenig resigniert zog sie die Spülung der Toilette.
Mit einem Aufseufzen beobachtete sie, wie der weiße Schaum am Becken entlangperlte, einzelne Blasen zerplatzten und als Flüssigkeit nach unten sickerten. Sie nahm ein Tuch und wischte die Fliesen, bis sie sich im Sonnenlicht spiegelten, das durch das offene Fenster schien.
Was würden ihre Eltern sagen, wenn sie sie hier mit den Jogging-Klamotten und den grünen Gummihandschuhen sehen würden? Vermutlich würden sie ziemlich schnell übereinkommen, dass sie es schon immer geahnt hätten. Was hatte ihr Vater immer so schön und plastisch gesagt? Jeder bekommt, was er verdient. Plötzlich überfiel sie das Bild, wie sie mit ihrer Schwester und ihren Eltern immer sonntags am Kaffeetisch gesessen hatte. Vater am Kopfende, ein Stück Kuchen auf dem Teller, der seine Kinder musterte. Wobei dieser Mann nicht ihr leiblicher Vater war, der war kurz nach ihrer Geburt gestorben. Mutter hatte einige Jahre später erneut geheiratet, so hatte Vanessa Schwester und Vater bekommen und war zum ungeliebten Kind geworden, das sich stets um Anerkennung bemühte, sie jedoch nie wirklich erhielt. Und nun schrubbte dieses ungeliebte Kind Toiletten bei fremden Leuten. Vater hatte mit seiner Einschätzung offenbar nicht ganz danebengelegen.
Er hatte den Kuchen immer eigenhändig aufgeteilt, und immer hatte ihre Schwester das größere Stück bekommen. Oder war dies nur ihrer kindlichen Einbildung entsprungen? Heute konnte sie es nicht mehr sagen. Jeder bekommt, was er verdient. Doch die Szene stand ihr so deutlich vor Augen, sie meinte, sogar den Kaffee zu riechen.
Im selben Moment begriff sie, dass es keine Einbildung war, es roch tatsächlich nach Kaffee. Frau Gerhardt war in die Küche gehumpelt und hatte die Kaffeemaschine gefüllt. Vanessa nahm einige Blatt Papier von der Toilettenrolle und putzte den Spiegel ab. Danach füllte sie einen Eimer mit Wasser, um das Badezimmer zu wischen. Als sie sich umdrehte, stand Frau Gerhardt im Türrahmen. Vanessa war derart in ihren Gedanken gefangen gewesen, dass sie zusammenzuckte, als sie die kleine, gebückte Gestalt dort stehen sah.
„Oh, tut mir leid, Kind, ich wollte dich nicht erschrecken.“ Sie lachte, wirkte, als würde sie in der nächsten Minute stürzen und in sich zusammenfallen.
Doch Vanessa kannte sie lange genug, um zu wissen, dass der Schein trog. Die alte Dame war zäher als sie aussah.
„Möchtest du einen Kaffee mit mir trinken, wenn du hier fertig bist?“
Sie wollte nicht so unhöflich sein und auf die Uhr sehen. Eigentlich hatte sie in wenigen Minuten Feierabend, denn das Bad putzte sie stets zuletzt, da es die meiste Zeit in Anspruch nahm. Sie hatte nichts vor, doch sie wollte den Bus nach Hause erwischen, sonst würde sie laufen müssen. Sie fühlte sich müde und zerschlagen. Andererseits wusste sie, dass sie alte Frau viel allein war und gern redete. So rang sie sich ein Lächeln ab. „Natürlich, gern.“ Sie zog die Handschuhe aus. „Ich wische noch kurz durch, dann komme ich in die Küche.“
Fünf Minuten später saßen sie in der geräumigen Küche und tranken Kaffee. Vanessa hatte es übernommen, die Frau zu bedienen, die Schwierigkeiten hatte, sich an der Spüle festzuhalten und gleichzeitig Kaffee einzuschenken.
„Ich bin wirklich froh, dass du mich so fleißig unterstützt“, sagte Frau Gerhardt und angelte sich einen Keks aus der großen Blechdose, die Vanessa auf den Tisch gestellt hatte.
„Es freut mich, wenn sie zufrieden sind.“ Eine Weile floss das Gespräch dahin. Vanessa beobachtete aus den Augenwinkeln die Uhr an der Wand. Vor drei Minuten war ihr Bus davongefahren. Das bedeutete eine knappe Stunde Fußmarsch zu ihrer kleinen Wohnung. Sie hoffte, dass man ihr ihren Ärger nicht ansah.
„Wie kommt es überhaupt, dass eine junge, hübsche Frau wie du putzen geht?“, fragte Frau Gerhardt unvermittelt.
Vanessa lachte. „Sauber machen ist keine Frage des Alters und des Aussehens. Ich muss mir schließlich mein Leben finanzieren.“
„Aber du könntest doch andere Arbeiten machen. Warum arbeitest du nicht in einer Bar? Oder wie sagt man heute dazu? Oder du könntest Mannequin werden.“
Vanessa musste auflachen über den herrlich altmodischen Begriff. „Ja, so sagt man heute. Aber als Model würde mich wohl niemand wollen. Ich bin nur eins siebzig groß. Und ein Model muss viel schlanker sein, als ich es bin.“
„Aber du hast diese wundervollen Haare. Und du siehst aus wie diese Schauspielerin, das habe ich schon ein paar Mal gedacht.“
O Gott, jetzt nicht schon wieder dieser dämliche Vergleich mit der Monroe. Hat denn niemand je einen Film mit ihr gesehen? Ich habe überhaupt keine Ausstrahlung, bin viel zu klein und viel zu dick. Frau Gerhardt war nicht die Erste, die die Ähnlichkeit festgestellt hatte. Aber an Vanessa prallte das, was als Kompliment gedacht war, ab. „Nein, nein, Frau Gerhardt, ich eigne mich weder zum Model noch zur Schauspielerin.“ Wieder rang sie sich ein Lächeln ab. „Ich sollte langsam sehen, dass ich nach Hause komme. Es ist noch ein weiter Weg, und ich bin ziemlich müde.“
„Tja, ich habe den Kaffee nicht so ganz ohne Grund für uns gekocht.“ Frau Gerhardt rang hörbar mit den Worten. „Weißt du, Kind, ich komme in meiner Wohnung immer weniger klar. Jede Kleinigkeit fällt mir von Tag zu Tag schwerer. Meine Knie spielen nicht mehr mit, ich vergesse auch mehr und mehr.“ Sie machte eine kleine Pause und faltete ihre zerbrechlich dünnen Hände im Schoß. „Ich habe mich entschlossen, in ein Seniorenheim zu gehen“, sagte sie schließlich.
Vanessa hatte so etwas kommen sehen. Sie würde sich also nach einer neuen Stelle umsehen müssen. Frau Gerhardt war ihre beste Einnahmequelle, die nun versiegen würde. „Ja, ich verstehe“, sagte sie etwas müde.
„Ich habe mir das eine ganze Weile hin und her überlegt“, sagte die alte Frau zu ihren eigenen Händen. „Natürlich ist das kein leichter Schritt, aber wenn ich hier umfalle, würde es eine ganze Weile dauern, bis mich jemand entdeckt. Mein Enkel hat da vermutlich ganz recht.“
Vor allem hatte er offensichtlich keine Lust, sich um seine Oma zu kümmern. Vanessa nickte und verkniff sich einen entsprechenden Kommentar.
Einen Augenblick lag ein bedauerndes Schweigen zwischen ihnen. Vanessa dachte an die Mühe, sich schon wieder eine neue Stelle suchen zu müssen. Die alte Frau dachte vielleicht an das Heim als ihre letzte Wohnung.
Du solltest nicht mehr putzen gehen“, sagte Frau Gerhardt irgendwann.
„Ich habe zurzeit keine andere Möglichkeit, Geld zu verdienen.“ Ihr Gespräch drehte sich im Kreis.
„Was wäre denn dein Traum?“
„Ganz ehrlich? Das weiß ich selber nicht. Ich kann genau erklären, was ich nicht will, aber mein Ziel habe ich noch nicht gefunden.“ Vanessa zuckte mit den Schultern. Sie machte Anstalten, ihre Tasche zu nehmen, die immer in der Küche über dem Stuhl hing, wenn sie hier arbeitete.
„Ich habe mit meinem Enkel über dich gesprochen“, sagte Frau Gerhardt. Wieder fiel ihr Blick auf ihre eigenen Hände.
Nun war Vanessa doch neugierig geworden. Sie ließ den Griff der bunten Tasche wieder los. „Was meinen sie damit. Sie haben mit ihrem Enkel über mich gesprochen?“, fragte sie misstrauisch. Vor einigen Wochen hatte die Frau bei einer anderen Arbeitsstelle von ihr versucht, sie mit einem äußerst merkwürdigen Mann zu verkuppeln, der plötzlich in der Wohnung aufgetaucht war und ständig hinter ihr hergelaufen war. Sie sah den dicklichen Kerl mit dem hässlichen Pullunder und dem leicht säuerlichen Mundgeruch vor ihrem geistigen Auge. Als sie allein gewesen waren, hatte er sich hinter sie gestellt und ihr zweihundert Euro geboten, wenn sie ihm in die Hose fassen würde. Vanessa hatte ihm erklärt, was sie dann mit seinem besten Stück und dem Reiniger anstellen würde, den sie gerade in der Hand gehabt hatte. Das hatte sein Interesse sofort auf null sinken lassen. Der Gedanke an Chlorreiniger auf Genitalien schien ihn wenig heiß gemacht zu haben. Unwillkürlich schüttelte sie sich und wünschte sich ein anderes Bild im Kopf.
„Mein Enkel kennt viele Leute.“ Wieder machte die Frau eine kleine Pause. „Er arbeitet beim Fernsehen“, sagte sie nicht ohne Stolz.
„Großer Gott“, entfuhr es Vanessa. Bei dieser Bemerkung ahnte Vanessa, dass die Frau Unsinn redete. Wer wusste schon, was dieser Enkel seiner Oma für Märchen aufgetischt hatte? Hatte sie vorher noch ein Fünkchen Hoffnung gehabt, dass die alte Frau ihr einen vernünftigen Vorschlag machen würde, war dieses zarte Pflänzchen mit einer Planierraupe überfahren worden.
Im Licht der Nachmittagssonne sah Frau Gerhardt besonders zerbrechlich und eingefallen aus. Wahrscheinlich war es wirklich das Beste, wenn die Frau intensiver betreut wurde. Ihr Enkel hoffte wahrscheinlich schon auf eine schöne runde Summe als Erbschaft. Und sie, Vanessa, konnte zusehen, wie sie die nächsten Mieten bezahlen würde.
Frau Gerhardt hatte offensichtlich mitbekommen, dass Vanessa anders auf ihre Bemerkung reagiert hatte, als sie das erwartet hatte. Bestimmt brachen ihre Freundinnen, mit denen sie Kaffee trank, immer in Verzückung aus und hofften auf Klatsch-Geschichten von sogenannten Prominenten. „Nein, wirklich, mein Enkel arbeitet tatsächlich beim Fernsehen. Er tritt natürlich nicht auf. Ich glaube auch nicht, dass er singen kann.“ Sie kicherte in sich hinein. „Aber er arbeitet hinter den Kulissen, dreht Fernseh-Shows und so. Dabei lernt er viele Menschen kennen.“ Ihre Hände zuckten, sie wurde unruhig.
Vanessa ging zu ihr und legte ihr ihre Hände für einen Moment in den Schoß. „Natürlich, Frau Gerhardt, es ist auch sehr lieb, dass sie sich Gedanken um mich machen. Aber sie sollten jetzt vor allem an sich denken. Wie lange soll ich denn noch kommen?“ Sie überlegte bereits, wo sie eine neue Stelle finden konnte, die diese ersetzen würde. Vielleicht sollte sie im Seniorenheim einen Aushang machen. Das kostete wenig Geld und traf genau auf die Zielgruppe, für die sie arbeiten konnte. Andererseits hatte das Heim nicht eigene Kräfte? Sie wurde wieder unsicher. Den Enkel und seine Arbeit beim Fernsehen hatte sie als vollkommen unsinnig verdrängt.
Frau Gerhardt beruhigte sich ein wenig und erhob sich. „Ich denke, bis zum Monatsende. Aber warte, ich wollte dir etwas geben.“ Sie ging etwas unsicher an den Schrank mit den Gewürzen, nahm den Deckel von einem der zahlreichen Krüge, holte einen gefalteten Umschlag heraus und drückte ihn Vanessa in die Hand. „Und jetzt geh nach Hause, eh es dunkel wird oder du deinen Bus verpasst.“ Sie wirkte müde, ihre Hand fühlte sich kalt an.
Vanessa lächelte und bedankte sich. Vielleicht war das Heim doch keine gute Idee. Sie würde sich etwas anderes einfallen lassen. Sie rang sich ein Lächeln ab und drückte der alten Frau zum Abschied die Hände. Dass der Bus längst über alle Berge war, sagte sie ihr lieber nicht.
Im Treppenhaus konnte sie ihre Neugierde nicht länger bezähmen und öffnete den Umschlag. Staunend zog sie sieben Fünfzigeuroscheine heraus. Mochte Frau Gerhardt auch einen merkwürdigen Enkel haben, großzügig war sie allemal. Einen Augenblick war sie versucht, noch einmal nach oben zu laufen, um sich zu bedanken, doch dann entschloss sie sich, den Heimweg anzutreten.
Draußen war es bereits dunkel geworden. Im September wurden die Tage wieder spürbar kürzer. Allerdings war es noch so warm, dass sie ihre Jacke über dem Arm trug. Vielleicht sollte sie den unverhofften Geldsegen dazu nutzen, sich wo eine Kleinigkeit zu essen zu kaufen, die nicht aus dem Discounter stammte. Weshalb sollte sie immer bloß die Sparsame spielen? Sie hatte sowieso, wenn auch auf sehr liebenswerte Weise, erfahren, dass sie ihren Job verloren hatte. Wenn sie sich ausrechnete, was sie bei den anderen Stellen verdiente, würde das kaum für Miete und Strom ausreichen. Schließlich musste sie ja auch was essen.
Der Weg führte sie aus der modernen Wohnsiedlung durch ein kleines Stück freies Feld, das in die Ausläufer der Stadt mündete, wo sie lebte. Sie wohnte in einer kleinen Einzimmerwohnung am Rande des Stadtzentrums. Ihre Eltern hatten die Wohnung für sie ausgesucht, damit sie es nicht weit zur Uni hatte. Dafür, dachte sie ironisch, war es umso weiter zu den Putzstellen. Natürlich hatten ihre Eltern von diesem Umstand in ihrem Leben keine Ahnung. Aber da sie auch sonst so gut wie nichts von ihrer Tochter wussten, spielte es eh keine Rolle. Irgendwann würde sie es ihnen erzählen; entweder würden sie toben oder kaum zuhören, weil sie zu sehr mit dem Enkel beschäftigt waren, den Anja im letzten Jahr in die Welt gesetzt hatte.
Anja war ihre Schwester. Sie war erst einundzwanzig, hatte eine abgeschlossene Berufsausbildung, einen Mann, ein Kind und ein Reihenhaus. Oder war das die falsche Reihenfolge? Wie auch immer, Anja war sportlich, immer gut gelaunt, konnte mit Geld und ihrem Leben umgehen, war bei allen beliebt, hatte für alles Verständnis. Vanessa war fünf Jahre älter, hatte nicht mal einen Freund, ihr Studium war in die Hose gegangen, sie wohnte in einer Mini-Wohnung und sie putzte die Toiletten älterer Frauen. Trotzdem mochte sie ihre Schwester, die nichts dafürkonnte, dass sie, Vanessa, bisher wenig auf die Reihe bekommen hatte.
Sie bog in einen Supermarkt ab und kaufte sich ein frisches Baguette, etwas Käse von der Theke und einen großen, fertig geschnittenen Salat, dazu einige Champignons. Dann setzte sie ihren Weg fort.
Nein, niemand war dafür verantwortlich zu machen, dass es in ihrem Leben einfach nicht rund lief. Ihr letzter Freund, Pierre, hatte sie nur eine Weile ausgenutzt, und war zu einer anderen gezogen. Vielleicht sollte sie auch in dieser Hinsicht ihr Leben überdenken. Pierre war Ende vierzig gewesen. Sie hatte immer eine Neigung zu älteren Männern gehabt. Meist waren diese Männer auch noch verheiratet gewesen. Pierre war hier eine Ausnahme gewesen, doch vermutlich nur, weil er der Ehe immer geschickt ausgewichen war.
Insgesamt waren sie ein halbes Jahr zusammen gewesen. Sie hatte Pierre auf der Geburtstagsfeier einer Bekannten kennengelernt. Er hatte in der Küche lässig am Kühlschrank gelehnt, ein Bier in der Hand und in eine lebhafte Diskussion vertieft. Er hatte unverschämt gut ausgesehen. Wie immer war sie überrascht gewesen, dass er sie überhaupt beachtet hatte. Sie hätte sich niemals getraut, einen Mann anzusprechen. Doch im Allgemeinen musste sie das auch nicht, die Männer kamen zu ihr. Es gab Phasen, in denen sie sich gut fühlte und dachte, dass anscheinend doch etwas an dem Vergleich mit Monroe dran sein könnte. Aber im Grunde genommen war das albern. Sie war nun mal blond, hatte grüne Augen, war nicht eben zierlich im modernen Sinne. Damit erschöpften sich ihrer Meinung die Ähnlichkeiten auch schon.
Pierre hatte sie angesprochen und schon am selben Abend versucht, sie ins Bett zu kriegen. Das hätte sie eigentlich schon misstrauisch machen sollen. Aber sie hatten sich wieder verabredet. Er war total charmant, weltgewandt und intelligent gewesen. Sie hörte noch seine Stimme, die immer von den entferntesten Plätzen dieser Erde berichtete, an denen er schon gewesen sein wollte. Erst später hatte sie erfahren, dass er sein Wissen nur aus dem Fernsehen hatte. Pierre hatte sich mehr und mehr zu ihr hin orientiert, sich in ihrer Wohnung eingenistet, aus ihrem Kühlschrank gelebt. Da ihr schmales Einkommen kaum für einen reichte, war ziemlich schnell Ebbe in der Haushaltskasse. Pierre versicherte wortreich, er würde sich um alles kümmern, doch leider blieb es bei den Ankündigungen. Er kaufte nicht ein, verschwand tagsüber. Zunächst erklärte sie sich das mit einer Arbeit. Dieser Punkt blieb jedoch stets nebulös. Sie hatte keine wirkliche Ahnung, was der Mann beruflich machte.
Irgendwann sah sie ihn auf dem Weg zu einer ihrer Putzstellen in einem Straßencafé mit einer anderen Frau. In diesem Moment war das Kartenhaus seiner Lügen in sich zusammengebrochen. Pierre war das, was man einen klassischen Schnorrer nannte. Er arbeitete nicht, hatte mehrere Frauen, die er beklaute, von denen er lebte. Als Abschiedsgeschenk plünderte er noch ihr Portemonnaie, ohne dass sie es ihm beweisen konnte. Damit endete für Vanessa der Vergleich mit Marilyn Monroe, denn der wäre so ein Fiasko mit Sicherheit niemals passiert.
Sie hatte den Monat tatsächlich von Brot und gekochten Nudeln leben müssen. Selten in ihrem Leben hatte sie sich bei jedem Essen so gedemütigt gefühlt. Als sie sich einer Freundin anvertraut hatte, war der Kontakt ziemlich schnell abgebrochen. So hatte Vanessa gelernt, lieber den Schein zu wahren, als ehrlich zu anderen Menschen zu sein.
Aber inzwischen hatte sie wieder genug Geld für einen Salat und sogar guten Käse, stellte sie mit einem lächelnden Blick auf ihre Einkaufstasche fest. Ihre Füße schmerzten, doch langsam näherte sie sich ihrem Ziel. Sie bog um eine Häuserecke.
Ein Radfahrer fuhr auf dem Bürgersteig, machte aber keine Anstalten, auszuweichen. Erst im letzten Augenblick vollführte er einen Schlenker. Er streifte ihre Tasche, die Henkel rissen, der Inhalt fiel auf den Boden, das Hinterrad rollte über den eingepackten Salat.
„Pass auf, du blöde Kuh“, schrie der Kerl noch, dann war er schon außer Sicht.
Vanessa starrte ihm fassungslos hinterher. Erst, als sie die Bescherung auf dem Asphalt sah, war sie den Tränen nah. Die Welt hatte sich anscheinend gegen sie verschworen. Sie sammelte die Reste ihres Abendessens vom Boden auf und stopfte sie, so gut sie konnte, zurück in die Tüte.
Der Radfahrer schoss erneut an ihr vorbei, dieses Mal verfehlte er sie um wenige Zentimeter. Sie beeilte sich, aus der Gefahrenzone zu kommen.
Als sie ihren Weg fortsetzte, fühlte sie, wie Tränen der Wut in ihr aufstiegen. Das Leben war einfach nicht gerecht. Sie hatte das drängende Gefühl, dass es endlich an der Zeit war, dass sie vom Leben etwas von dem zurückbekam, was sie die letzten Jahre gegeben hatte.
Als sie die Beerdigung endlich erreichte, war sie mehr als erschüttert. Um die ausgehobene Grube standen lediglich ein junger Mann und zwei alte Damen. Vanessa wusste nicht, womit sie gerechnet hatte, aber sie hatte sich eine Menge von Menschen vorgestellt, die tief bewegt um einen Sarg standen und heulten. Oder hatte sie am Ende die falsche Beerdigung erwischt?
Kurz entschlossen sprach sie den jungen Mann an. Er war hochgewachsen, schlank, fast schmal, hatte lange, dunkle Haare und das Aussehen eines Spaniers oder Italieners. Er trug einen dunklen Anzug mit weißem, schlichtem Hemd und dunkler Krawatte. „Entschuldigen Sie, ist das die Beerdigung Gerhardt?“ Nicht einmal ein Pfarrer war anwesend. Zwei Männer hantierten an der Grube, erst beim näheren Hinsehen begriff Vanessa, dass sie offenbar den Sarg gerade hinabgelassen hatten.
Der junge Mann drehte sich halb zu ihr um. Er sah sie an.
Für einen Moment hatte sie den Eindruck, als würde er rot werden. Aber bestimmt lag das nur an seiner leicht dunklen Hautfarbe.
„Ja“, sagte er etwas gedehnt und wollte damit wohl eine Frage ausdrücken.
„Ich war die Reinigungskraft von Frau Gerhardt.“ Das klang irgendwie merkwürdig.
Die beiden Frauen unterhielten sich mittlerweile miteinander, fanden offenbar, dass sie ihre Schuldigkeit erledigt hatten, und schickten sich an, zu gehen. Sie nickten dem jungen Mann noch einmal zu und drehten sich dann um.
„Oh.“, er überlegte einen Moment, „dann ist es aber sehr nett, dass Sie gekommen sind.“
„Nun ja, ich bin letzten Donnerstag wie immer zur Arbeit gegangen, aber die Tür war zu. Eine Nachbarin hat mir Bescheid gesagt.“
„Ach, verdammt, ich hatte vergessen, Ihnen abzusagen. Es tut mir schrecklich leid. Wenn Ihnen dadurch Kosten entstanden sind, dann bin ich gern bereit … “ Er brach ab. „Das war jetzt ziemlich unsensibel von mir, oder?“
Sie musste gegen ihren Willen schmunzeln. Der Mann sah wirklich gut aus, machte eine tadellose Figur in seinem Anzug. Doch wenn er den Mund aufmachte, wirkte er plötzlich schüchtern und beinahe unsicher. „Ein bisschen schon, aber es ist in Ordnung.“
Er nickte und überlegte kurz. „Ich bin Silvio Tomaso“, sagte er und streckte ihr seine Hand so forsch entgegen, dass Vanessa nichts anderes übrigblieb, als sie zu ergreifen.
„Vanessa Kaja. Sie sind der Enkel, nicht wahr?“
Er schmunzelte. „Ja, Heti war meine Oma. Ich bin der letzte Verwandte, der noch hier lebt und sich um sie gekümmert hat.“ Er sah traurig zum Grab, in dem der Sarg mit seiner Großmutter verschwunden war. Offenbar war er nicht hinter ihrem Geld her gewesen, seine Trauer wirkte echt. „Ich weiß nicht, ob sie es ihnen erzählt hat, aber sie kam mit ihrer Tochter, meiner Mutter, nicht besonders gut aus.“ Er lachte freudlos auf. „Es ist alles andere als leicht, mit meiner Mutter gut auszukommen. Ich dagegen habe mich immer gut mit Oma Heti verstanden. Ich habe einige Jahre bei ihr gewohnt, damals, als meine Eltern die Firma gründeten. Da war kein Platz mehr für ein Kind.“ Sein Blick war leer und auf die Grube gerichtet.
Die beiden Männer sahen ihn an und werteten sein Schweigen offensichtlich als Einverständnis, mit dem Zuschütten der Grube zu beginnen.
„Nicht mal zu ihrer Beerdigung sind sie gekommen, schrecklich.“ Er atmete tief durch. „Aber warum erzähle ich ihnen das, es wird sie kaum interessieren.“
„Nein, es ist völlig in Ordnung. Man sollte seinen Kummer loswerden können. Und wann hat man mehr Recht auf Trauer, als am offenen Grab eines geliebten Menschen?“ Sie legte etwas ungeschickt ihre Hand auf seine Schulter.
Er stand noch eine Weile bewegungslos da, dann drehte er sich schließlich unvermittelt um. Die Arbeiter hatten ihren Job fast erledigt.
„Ich denke, wir sollten gehen. Die Trauergemeinde ist ja ziemlich übersichtlich. Ich muss mich um die Wohnung kümmern. Nachher kommt eine Firma, die die Möbel abholt. Vorher muss ich natürlich durch die Schränke sehen. Bisher hatte ich nicht den Mut dazu.“
Vanessa schwieg, was sollte sie dazu auch sagen? Sie war nur gekommen, um kurz Abschied zu nehmen von einer freundlichen, aber ihr nicht wirklich näher bekannten Frau. Sie wollte Silvio so schnell wie möglich allein lassen.
„Sagen Sie …“
„Was denn?“
„Wenn es nicht zu unverschämt wäre und Sie Zeit hätten, dann … ich würde Sie natürlich auch bezahlen …“
„Tut mir leid, aber ich weiß immer noch nicht, was Sie wollen.“
„Würden Sie mir helfen und mich bei der Durchsicht der Dinge meiner Oma unterstützen? Ich zahle Ihnen natürlich Ihren gewohnten Stundenlohn und bringe Sie anschließend nach Hause.“
Geld konnte sie immer gebrauchen, und der Mann wirkte nicht unsympathisch. Er machte wirklich den Eindruck, als könnte er Unterstützung gebrauchen. Und sie benötigte dringend ein paar Euro in ihrer Tasche. Mit einem Nachmittag Arbeit konnte sie ihren Kühlschrank füllen. Er sah sie derart ehrlich an, dass sie lächelte. „Ich muss gestehen, dass mir ein paar Euro gelegen kämen.“ Irgendwie hatte sie Vertrauen zu ihm gefasst. Normalerweise hätte sie eine derart offene Bemerkung kaum einer Freundin gegenüber gemacht. Wahrscheinlich lag es an der Situation, an der Nähe des Todes, der Menschen dazu brachte, endlich ehrlich zu sein. Nichts war so ehrlich wie die Leere des Todes.
„Und Sie hätten jetzt Zeit?“
Der Gedanke schien ihn tatsächlich zu erleichtern.
Sie nickte und sagte, dass sie kein Problem hätte, ihn zu begleiten.
Auf dem Weg zu seinem Wagen erzählte er von Oma Heti, wie er sie nannte. Sie schien ihm wirklich wie eine Mutter gewesen zu sein. Er schilderte kleine Anekdoten aus seiner Kindheit, Erlebnisse und kleine Episoden, wie sie vermutlich die meisten Menschen erzählen.
Vanessa schmunzelte, weil sie begann, Frau Gerhardt in einem völlig anderen Licht zu sehen. Sie hatte sie ja nur als Chefin erlebt. Doch sie war damals jünger, kräftiger und voller Energie gewesen, eine Frau, die nichts mit der alten, fast durchsichtigen Frau auf dem Sofa zwischen all den Stofftieren gemeinsam hatte.
Zu ihrer Überraschung fuhr Silvio einen schwarzen, ziemlich teuer wirkenden Sportwagen. Vanessa musste sich mühen, überhaupt sitzen zu können. Der Motor röhrte dunkel auf, sie hatte fast das Gefühl, auf der Straße zu liegen. Zum Glück fuhr Silvio nicht zu schnell. Nach wenigen Minuten hatten sie ihr Ziel erreicht.
„Erstaunlich“, sagte Vanessa beim Aussteigen.
„Was finden Sie erstaunlich?“ Silvio wirkte leicht irritiert.
Er war wohl schnell zu verunsichern. „Sie fahren einen so sportlichen Wagen. Ich dachte, Sie rasen wie ein Irrer durch die Straßen. Doch Sie waren total langsam, nicht mal den Radler eben haben Sie überholt.“
„Weshalb hätte ich das tun sollen? Wir hätten ihn möglicherweise gefährdet. Und an der nächsten Ampel hätten wir warten müssen.“
„Aber warum fahren Sie dann so ein teures Auto?“ Vanessa besah sich das schwarze Schmuckstück. Sie schätzte, dass so ein Wagen einen sechsstelligen Betrag kosten musste.
„Warum nicht? Er sieht schön aus, er hat Charakter. Rasen dagegen hat keinen Charakter. Es ist dumm, gefährlich und dabei erschreckend langweilig.“ Er hob nur die Schultern und ging zielstrebig Richtung Haus.
Sehr ungewöhnlich, dachte Vanessa und folgte ihm.
Die Wohnung sah aus, als wäre Frau Gerhardt nur kurz zum Einkaufen gegangen und käme jede Sekunde wieder zurück. Sie würde schnaufend die Krücke in die Ecke stellen und sich langsam Richtung Wohnzimmer tasten, um zwischen ihren Stofftieren zu versinken. Doch Vanessa und Silvio wussten, dass nichts dergleichen passieren würde. Durch dieses Wissen lastete eine merkwürdige Stille in der Wohnung.
„Wie kann ich mich nützlich machen?“, fragte Vanessa. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie nicht mal gesagt hatte, was sie normalerweise pro Stunde verdiente. Nun erschien ihr der Zeitpunkt unpassend, denn Silvio schien wie erstarrt.
Er stand nur da und blickte ins Wohnzimmer.
Sie konnte nur ahnen, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen.
„Was meinen Sie? Ach so, ja, vielleicht fangen Sie in der Küche an. Ich habe eine Menge Säcke dabei, darin können wir die weniger sperrigen Dinge verstauen. Wenn Sie etwas von den Sachen brauchen können, sagen Sie es ruhig. Ich spende die Dinge eh einer wohltätigen Organisation. Meine Wohnung ist voll ausgestattet. Vielleicht hilft der Verkauf einigen Leuten weiter. Oma Heti hätte das sicher gewollt.“
Natürlich kannte sich Vanessa bestens aus, welches Inventar sie in der Küche finden würde. Wollte sie der Mann nur auf eine Art Probe stellen. „Sie wissen, dass Ihre Großmutter in der Küche eine größere Menge Bargeld aufbewahrt hat?“
„Wirklich? Nein, davon hatte ich keine Ahnung.“ Er sah sie offen an. „Oh, ich verstehe, Sie denken, das war so eine Art Test? Nein, ich muss Sie enttäuschen, Sie hätten sich hemmungslos bedienen können. Aber Oma hat Ihnen vertraut, und ich habe Oma vertraut, so einfach ist das.“ Er folgte ihr in die Küche und ließ sich das Geld zeigen. „Wow, das sind aber etliche Bündel“, sagte er und legte das Geld offen auf den Tisch. „Gibt es noch mehr solcher Verstecke?“
„Ja, unter der Matratze. Und im Nachttisch hat sie ihre Kontoauszüge und ein Sparbuch. Aber ich weiß nicht, wie viel Geld sie dort hat. Ich habe nie etwas angerührt.“
„Da bin ich mir absolut sicher. Gibt es sonst noch etwas, das ich wissen sollte?“
„Hinter der Wäsche hat sie ein Kästchen mit Schmuck. Ich kann Ihnen nicht sagen, ob er wertvoll ist, aber sie sollten ihn an sich nehmen, ehe das Räumkommando hier anrückt.“
Silvio nickte. „Das werde ich auf jeden Fall tun. Was für ein Glück, dass ich Sie getroffen habe.“
Sie sammelten die Wertgegenstände in der Küche und legten sie auf den Tisch. „Wissen Sie, dass ich mir schäbig vorkomme?“, sagte er.
„Nein, das ist Unsinn, Ihre Großmutter hätte sicherlich gewollt, dass Sie das Geld bekommen. Also sollten Sie nichts Schlechtes dabei denken.“
Silvio wollte etwas erwidern, doch im gleichen Moment klingelte es an der Tür.
Vanessa sah ihn fragend an.
Er zuckte nur mit den Achseln. Er war in Gedanken offenbar noch bei dem Geld und dem Schmuck auf dem Tisch. Silvio ging zur Tür.
Vanessa betrachtete das Geld, es war bestimmt um die zweitausend Euro. Sie lächelte in sich hinein. Schwer, da nicht in Versuchung zu geraten, zumal sie jetzt am Monatsende ziemlich pleite war und wieder die Nudeln vom Discounter drohten. Als Diebin stellte sie sich bestimmt zu ungeschickt an. Sie stand am Tisch und verschränkte, als könnte sie damit die körperliche Versuchung unterdrücken, die Hände hinter dem Rücken.
Silvio hatte beim Verlassen der Küche die Tür nur halb geschlossen, so hörte sie gedämpfte Stimmen vom Flur, die langsam lauter wurden. Zunächst dachte sie an die Männer, die die Möbel holen sollten, doch eine Stimme war klar weiblich. Es klang durchaus nicht friedlich, wie die Stimmen miteinander sprachen. Ehe sie lauschen und einzelne Worte identifizieren konnte, flog die Tür zur Küche auf.
Im Rahmen stand eine hagere, mittelgroße Frau undefinierbaren Alters. Sie trug ein teuer wirkendes, taubeneigraues Kostüm, einen merkwürdigen, leicht schief sitzenden, kleinen Hut und stand auf leuchtenden, hochhackigen Schuhen, mit denen sie sich anscheinend perfekt bewegen konnte. „Und wer sind Sie?“, fauchte sie Vanessa ansatzlos an. Ihre kleine, spitz zulaufende Nase bebte merkwürdig, wie bei einem Hund, der Witterung aufgenommen hatte.
„Ich bin die Reinigungskraft“, sagte Vanessa etwas schwach.
Die Frau würdigte sie keines weiteren Blickes und drehte sich halb um. „Silvio?“, rief sie nach hinten. „Du lässt die Putze mit dem Geld hier allein? Hast du sie noch alle?“
„Hören Sie, ich …
Die Frau schob Vanessa mit rot lackierten, leuchtenden Nägeln zur Seite. Sie steuerte auf das Geld zu.
Silvio kam herangeeilt.
„Leeren Sie ihre Taschen aus“, herrschte die Frau Vanessa an. Ehe Vanessa etwas entgegnen konnte, hatte sie sich schon wieder an Silvio gewandt. „Hast du den Verstand verloren?“ Silvio stand nur hilflos da und sagte keinen Ton. Auch Vanessa war mit der Situation vollkommen überfordert.
„Na los, machen Sie schon, dort, auf die Spüle!“ Die Frau wedelte mit den Händen und zog dabei rote Furchen durch die Luft.
Vanessa spürte, wie sich ihre Kehle vor Ärger zuschnürte. Ihr Kopf und ihr Körper wurden heiß.
Eine Hand der Frau schoss vor wie eine Klaue und wollte nach ihrer Tasche greifen.
Vanessa entriss sie der zuschnappenden Kralle der Frau. „Sie werden bestimmt nicht in meine Tasche sehen! Was fällt Ihnen ein?“
Beim Zurückziehen hatte sich offenbar ein Nagel der Frau im groben Stoff der Tasche verfangen. Sie schrie auf und zog die Hand an sich.
Vanessa sah ein rotes Stück Plastik an ihrer Tasche hängen.
„Sind Sie verrückt? Das werden Sie mir zahlen!“
Vanessa fühlte sich hilflos. „Sie haben doch nach meiner Tasche gegriffen.“
Doch die Frau war nicht zu bremsen. „Ich hole die Polizei, die wird sich um Sie kümmern!“ Sie hatte nur eine kleine, fast quadratische Tasche in der Hand und riss nun den Verschluss auf, um ihr Mobiltelefon herauszuholen.
Vanessa wusste selbst nicht, weshalb sie plötzlich Panik überfiel. Sie drehte sich um, stieß mit der Schulter die Frau zur Seite und verließ die Küche. In ihr war nur eine einzige, vernehmbare Stimme, die schrie: Flucht!
Hinter ihr zeterte die Frau weiter, doch sie drehte sich nicht mal um. Sie versetzte auch Silvio einen leichten Stoß, doch er war bereits zur Seite gesprungen. Sie floh das Treppenhaus hinunter, riss die Haustür auf und rannte nach draußen. Kopflos wandte sie sich nach rechts und stoppte erst, als sie um die Ecke gebogen war.
Sie brauchte eine Weile, um wieder Luft zu finden. Als sie die Hand hob, um sich die Haare aus dem Gesicht zu schieben, merkte sie, wie sie zitterte. Der Ansatz ihrer Haare fühlte sich feucht an. Was fiel dieser merkwürdigen, schrecklichen Frau eigentlich ein? Vermutlich war sie die Mutter dieses Mannes gewesen, den sie am Grab getroffen hatte, doch das war ihr vollkommen egal. Sie hatte doch nur helfen und sich ein paar Euro verdienen wollen. Wie kam diese Frau dazu, sie eines Diebstahls zu bezichtigen?
Doch, was war, wenn sie tatsächlich die Polizei gerufen hätte? Sie war fortgelaufen. Sah das nicht aus wie ein Schuldeingeständnis? Vanessa sah vorsichtig um die Ecke, um herauszufinden, ob ein Streifenwagen davorstand. Doch alles war ruhig. Allerdings waren seit ihrer Flucht erst wenige Minuten vergangen, sie konnten also noch kommen. Sie atmete tief durch und machte sich so schnell sie konnte auf den langen Weg nach Hause.
Am nächsten Morgen hatte sich Vanessa noch immer nicht ganz beruhigt. Natürlich war die Polizei nicht an ihrer Haustür erschienen, niemand hatte sie verhaften wollen.
Trotzdem hatte sie eine unruhige Nacht verbracht, immer wieder von Geld geträumt, das in ihren Taschen steckte und von anderen Leuten gefunden wurde.
Sie erwachte mehrmals schweißgebadet, sah sich irritiert in ihrem Zimmer um und schlief schließlich wieder ein, um anschließend von einem ähnlichen Traum heimgesucht zu werden.
Schließlich hatte sie aufgegeben, war aus dem Bett gekrochen, hatte sich ausgiebig geduscht und die Haare gewaschen.
Immer wieder sah sie das Gesicht der furchtbaren Frau vor sich. Ich bin wirklich zu empfindlich, dachte sie. Ihr fielen alle möglichen Erwiderungen ein, die sie auf die Vorwürfe hin hätte sagen können. In ihrem Geist spielte sie die Szene etliche Male durch, immer mit sich als Heldin. Doch die Wahrheit sah so aus, dass sie feig Reißaus genommen hatte. Wieder ein kleines, trauriges Kapitel in ihrem Leben, in dem sie verloren hatte. Sie stellte sich vor den Spiegel. Weshalb nur hatte sie diese Hemmungen? Eigentlich war sie nicht hässlich, im Gegenteil. Aber ihr fehlte einfach der Mut für alles, vielleicht sogar für das Leben im Allgemeinen.
Als sie dabei war, Kaffee aufzusetzen, klingelte es. Für einen Augenblick erstarrte sie. Wer konnte sie morgens um halb neun besuchen? Ihr fiel nur eine logische Erklärung ein. Die Polizei hatte bis zum nächsten Morgen gewartet und würde sie nun abholen. Die Frau hatte also doch nicht nur eine leere Drohung ausgesprochen. Was blieb ihr übrig, als zu öffnen? Sie konnte sich totstellen, doch die Polizisten würden mit Sicherheit wiederkommen.
Vanessa hielt die Luft an und schlich zum Fenster. Auf der Straße war nichts zu sehen, aber sie hatte aus ihrem Fenster auch nur einen beschränkten Überblick.
Es klingelte erneut.
Nein, dachte sie, verstecken macht keinen Sinn, sie kriegen dich sowieso. Sie atmete wieder aus und ging zur Tür. Resigniert sah sie durch den Türspion, in Erwartung, dort eine Uniform zu entdecken. Sie staunte nicht schlecht, als sie nur etwas Gelbes sah, was sie nicht genau identifizieren konnte. Machte sich da jemand einen Scherz mit ihr? Sie umfasste die Klinke und riss die Tür ruckartig auf.
Beinahe hätte ihr Silvio den riesigen Blumenstrauß ins Gesicht geschlagen, sie konnte gerade noch zurückweichen.
„Sie?“
Sie sah ihn verblüfft an.
„Ja, ich.“
Er rang sich ein Lächeln ab.
„Ich wollte … ach du meine Güte, ich habe eben erst bemerkt, wie spät es erst ist. Ich habe Sie bestimmt geweckt. Ich kann später noch einmal wieder … nein, das ist ja Unsinn, Sie sind bereits auf.“ Er ließ den Strauß sinken.
„Daran ist Ihre Mutter nicht ganz unschuldig, ich habe von ihr geträumt, und es war kein freundlicher Traum, das kann ich Ihnen versprechen.“
Silvio stand da wie festgewachsen. „Ja, sie kann fürchterlich sein. Um ehrlich zu sein, habe ich Sie beneidet.“
„Sie haben mich beneidet? Das verstehe ich nicht.“
„Na, Sie konnten weglaufen, ich musste dableiben.“ Er feixte. In diesem Moment sah er fast rührend aus in seiner Hilflosigkeit.
Vanessa überlegte einen Moment, Silvio blieb ebenfalls stumm. Ein Nachbar öffnete die Tür, ging an ihnen vorbei, grüßte desinteressiert und nahm die Treppe nach unten.
„Sind die für mich?“ Vanessa deutete auf die Blumen.
„O Gott, ja, natürlich, als Entschuldigung. Meine Mutter hat natürlich nicht die Polizei gerufen.“ Er schwenkte den Blumenstrauß wie eine Keule und reichte ihn ihr.
„Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?“, fragte Vanessa, um überhaupt etwas zu sagen. „Ich habe gerade frischen aufgebrüht.“
Silvio schien einen Moment zu überlegen. „Gern, warum nicht?“ Er folgte ihr in die Wohnung und sah sich um, sagte aber nichts.
Sie bot ihm einen Stuhl an und holte den Kaffee. Silvio nahm weder Milch noch Zucker. Vanessa stellte fest, dass sie nicht einmal eine passende Blumenvase für einen derart riesigen Strauß hatte. Der Einfachheit halber legte sie ihn in die Spüle.
„Meine Mutter ist ein ziemliches Monstrum. Ja, ja, ich weiß, sie ist immerhin meine Mutter, aber Sie haben sie ja gestern erlebt. Und ich kenne sie noch weitaus schlimmer.“
„Ist die Wohnung denn inzwischen leer?“, fragte Vanessa, um das Thema zu wechseln. Sie merkte, dass Silvio die Beziehung zu seiner Mutter auf der Seele lastete, aber sie hatte zurzeit genug mit sich selbst zu schaffen, um sich auch noch in die Sorgen anderer Menschen hineinzuversetzen.
„Nein, die Männer sind nicht wie verabredet gekommen. Das Geld und den Schmuck hat Mutter mitgenommen. Ich habe noch ein bisschen aufgeräumt, was mir schwer genug fiel.“
Er nahm einen Schluck Kaffee und hustete. „Entschuldigen Sie, ich trinke sonst immer Kaffee ohne Koffein.“
„Oh, ich kann Ihnen Milch anbieten, wenn Sie mögen.“
„Aber nein, ich habe auch schlecht geschlafen, die Sache mit Ihnen hat mir keine Ruhe gelassen. Ich habe Ihre Adresse bei meiner Oma gefunden, daher dachte ich, ich sehe bei Ihnen vorbei, um mich persönlich zu entschuldigen.“
Vanessa lächelte. „Das ist schon in Ordnung, ich stehe derzeit eh unter keinem guten Stern.“ Sie wollte nicht weitersprechen, doch Silvio sah sie aufmunternd an. „Die Stelle bei Ihrer Oma, das war meine Miete. Ich bin zwar offiziell Studentin, aber die Uni liegt mir überhaupt nicht. Insofern bin ich ziemlich pleite und habe keine wirkliche Vorstellung, wie es weitergehen soll.“
„Ich weiß.“
„Was?“
„Na ja, meine Oma hat mit mir über Sie gesprochen, daher weiß ich ein wenig über Sie. Ich hoffe, das war nicht indiskret? Es ist mir einfach so herausgerutscht.“
Wieder hatte sie den Eindruck, als würde er rot werden. „Immerhin weiß ich von Ihnen, dass Sie beim Fernsehen sind.“ Vanessa lachte leise.
„Ach, dann hat meine Oma auch über mich getratscht?“ Jetzt musste auch Silvio schmunzeln. „Aber machen Sie sich da mal keine falschen Vorstellungen, ich bin lediglich Regieassistent, das kleinste Rädchen im großen Getriebe.“
„Und was machen Sie da?“
„Oh, möchten Sie die offizielle Version? Also, ich bin verantwortlich für die Einhaltung des Zeitplanes, die Besetzung und Umbesetzung bei einer Produktion, ich erarbeite einen Drehplan und vermittle zwischen Regisseur und Produzent wegen des Budgets.“
„Aha, und inoffiziell?“
„Bin ich der Depp, auf dem alle herumhacken.“ Jetzt lachte Silvio breit. Offenbar schien ihm der Beruf trotz dieser wenig erfreulichen Beschreibung Spaß zu machen.
„Und was machen Sie für Filme?“
„Wir sind eine eigenständige Produktionsfirma, vor allem für Fernseh-Formate. Kennen sie Duell für fünf? Da war ich dran beteiligt. Oder auch Such den Star.“
Vanessa schmunzelte. „Na, ich denke, für solche Sendungen bin ich wohl eher nicht die geeignete Zielperson.“
„Ach, ich sehe schon, ich kann Sie damit nicht beeindrucken. Wir machen aber auch viel Werbung. Für die Flocken zum Beispiel, den Spot mit der jungen Kellnerin, die immer das Tablett fallen lässt. Da war ich an der Regie beteiligt.“ Er überlegte. „Meine Oma sagte, ich solle mir überlegen, ob es einen Job für Sie gibt.“
Vanessa rollte mit den Augen. „Oh, kommt jetzt die Traumrolle, für die ich erst mal mit Ihnen ins Bett gehen muss?“ Sie lachte. Dieses Mal wurde er tatsächlich rot. „Tut mir leid, ich war albern, ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.“
„Also, so hat meine Oma sich das sicher nicht gedacht. Aber jetzt, nachdem ich Sie kennengelernt habe … Ich glaube, ich hätte tatsächlich etwas für Sie.“ Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee. „Das Ganze ist natürlich ein wenig verrückt.“
Vanessa hatte keine Ahnung, was der Mann ihr gleich anbieten wollte. Aber sie machte sich wenig Hoffnung und wollte heute eigentlich eine Annonce in der Zeitung schalten, dass sie eine Stelle als Reinigungskraft suchen würde.
„Kennen Sie Mysterio?“, platzte es plötzlich aus Silvio hervor.
Vanessa musste lachen. „Nein, keine Ahnung, was Sie meinen. Ist das ein Clown? Oder nein, das ist so ein Superman oder Batman, so was in dieser Richtung, oder?“
Silvio schüttelte den Kopf und blieb ernst. „Nein, Mysterio ist ein bekannter Zauberer. Ich kenne ihn aus Der Zauber ist aus.